Bräuche und Legenden der Pilger auf den Jakobswegen
Eine ethnologische Pilgerreise zu den bekanntesten Endpunkten
Autor: Sir Micheal – Ordensritter, selbstgeschlagen und online gesegnet
Townsend Sacred Ethnology Institute
Überkonfessionell, tolerant, imaginativ.
Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch wissenschaftlich korrekt oder zitierfähig zu sein. Stattdessen soll sie den Leser informieren, unterhalten, überraschen und vielleicht auch inspirieren sich selbst auf den Weg zu machen. Sie wird kostenlos zur Verbreitung zur Verfügung gestellt. Das Copyright für Text und Bilder verbleibt jedoch beim Autor. Für den Inhalt, insb. eventuelle Ähnlichkeiten zu realen Personen oder Institutionen oder ähnliche Problematiken wird keine Haftung übernommen, da diese rein zufälliger Natur sind. Alle Bilder und Texte wurden dem Autoren mit Einverständnis der Personen und Erlaubnis zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und dürfen nicht in anderem Kontext verwendet werden. Sir Micheal – Ordensbruder und -Ritter aus eigener Wahl (h.c.) Stuttgart, 17:50:44
Die Jakobswege, die nach Santiago de Compostela im spanischen Galicien führen, üben seit Jahrhunderten eine ungeheure Faszination auf Pilger aus aller Welt aus. Seit der „Camino“ durch Bücher und Filme wie „Ich bin dann mal weg“ oder „The Way“ in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind, zeichnet sich das Pilgern auf einem der sechs großen Wege als regelrechter Trend ab. Die Zahl der Pilgerinnen und Pilger, die sich im Pilgerbüro von Santiago haben registrieren lassen, stieg in den letzten Jahren rapide an und war im Jahre 2017 erstmalig über 300.000 Menschen. Auch wenn religiöse Motive für die Pilgerschaft heute sicherlich nicht mehr so im Mittelpunkt stehen wie noch im Mittelalter, als im 9. Jahrhundert nach Christus das Grab des Apostels angeblich durch einen Eremiten entdeckt wurde und sich bald darauf die ersten Gläubigen auf den beschwerlichen Weg ans nach damaliger Vorstellung „Ende der Welt“ machten (Vgl. Zeittafel (Herberts, 2006)), verzeichnet die Pilgerstatistik auch im Jahre 2015 noch weniger als 10% der Pilger, die angeben gänzliche ohne religiöse oder spirituelle Motive zu wandern.
Doch was sind es für Bräuche und Legenden, die die modernen Pilger auf dem Camino bis heute faszinieren und bewegen? Als ich selbst in den Jahren 2016 und 2018 auf dem camino portuguese und dem camino primitivo unterwegs war, wurde ich Zeuge zahlreicher Bräuche und Traditionen, die einige Pilger auf dem Weg mit großem Ernst vollführen und an andere weitergeben. Zudem war es mir möglich einige der Legenden, die seit Entdeckung des Grabes in Santiago über diese Stadt und andere wichtige Stationen des Weges mündlich und schriftlich weitergeben und noch heute häufig abends in den Herbergen unter den Pilgern erzählt werden, aufzuzeichnen. Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich einige dieser Bräuche und Legenden kurz darstellen und in den kulturellen Kontext ihrer Wurzel im Christentum und vorchristlichen Vorstellungen aufzeigen. Bei meiner Materialsammlung vor Ort stellte sich heraus, dass sich hierfür insbesondere drei Orte eignen, die als mögliche Endpunkte der Pilgerreise gelten und daher besonders reich an Geschichten und Brauchtum sind: Santiago de Compostela selbst, das Kap Finisterre und das Heiligtum Muxia.
„Hinter dem Brunnen erstreckt sich, wie wir schon erwähnt haben, das Paradies, das mit Steinen gepflastert ist“ so heißt es in einem Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert im Kapitel „Das Paradies der Stadt“. ( (Der Jakobsweg - Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, 2008, S. 123) In der Tat muss den Pilgern nach der langen beschwerlichen Wanderschaft auf dem Jakobsweg die Stadt wie ein Paradies vorgekommen sein. Der Pilgerführer erwähnt, dass sie sich dort neue Kleidung und Ausrüstung kauften, mit Wein und Speisen versorgen konnten und auch medizinische Hilfe erhielten. Zudem wurden als Zeichen der Erneuerung die alten Kleider verbrannt und Jakobsmuscheln als Beweis für die Ankunft in Santiago, mit denen man auf dem Heimweg einige Vorteile erhalten konnte, verkauft, wie uns eine einheimische Stadtführerin berichtete. Der Höhepunkt war aber sicherlich für religiöse Pilger damals wie heute der Besuch der Kathedrale von der es in dem historischen Pilgerbuch heißt: „ In dieser Kirche findet man wahrhaftig weder Risse noch Brüche, sie ist wunderbar gearbeitet, groß, geräumig, hell, von entsprechenden Ausmaßen, Breite, Länge und Höhe sind harmonisch aufeinander abgestimmt; eine unbeschreiblich herrliche Anlage, die sogar wie ein königlicher Palast doppelstöckig gebaut worden ist. Wer oben die Schiffe der Emporen geht, wird, wenn er traurig hinaufgegangen ist, froh und glücklich werden, nachdem er die vollkommene Schönheit dieses Gotteshauses geschaut hat.“ (Der Jakobsweg - Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, 2008, S. 119)
Im Mittelalter wurden ankommende Pilger bei ihrer Ankunft die Treppen hinauf in das obere Stockwerk der Kathedrale gebracht, wo sich Schlaf- und Kochstädten befanden. Es war Brauch, dass die Pilgerkleider, die von der Reise verschmutzt und abgenutzt waren auf dem Dach der Kathedrale am sogenannten „Lumpenkreuz“ zu verbrennen und die Pilger anschießend neu eingekleidet wurden. Dieser Brauch wird heute nicht mehr dort praktiziert, hat sich allerdings in gewisser Weise nach Finisterre verlagert, wie später in dieser Arbeit noch ausgeführt werden soll. Ebenfalls üblich waren die heute nicht mehr häufig durchgeführte Pilgerkrönung und Pilgernachtwachen am Altar. Eine Reihe von Ritualen, die bis heute erhalten geblieben sind und in beinahe jedem Pilgerführer zu finden ist, wird innerhalb der Kathedrale praktiziert: Es ist Tradition, dass ankommende Pilger die Statue mit dem Abbild des Apostels, die hinter dem Altar steht, von hinten umarmen und ihre Stirn gegen die Statue lehnen. In dieser Stellung wird kurz verharrt und die Nähe zum Apostel gespürt. Anschließend betrachten die Pilger in einer Höhle unter dem Altar den Sarg, in dem die Gebeine des Apostels auf gebart sein sollen (Vgl. (Joos, 2016)) . Unter Pilgern erzählt man sich, dass es unmöglich sei, seine Gebeine von dort weg zu bewegen. (Vgl. (Der Jakobsweg - Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, 2008, S. 132 ff))
Auch die übrige Gestaltung der Kirche der Kathedrale setzt in ihrer Wirkung sehr auf den unmittelbaren Sinneseindruck der Pilger. So ist bis heute ein Highlight der Pilgermesse der „Botafumeiro“, ein großes Weihrauchfass, das mit über 70 km/h über eine geschickte Seilkonstruktion durch die Kirche geschwungen werden kann, um den zumindest in früheren Zeiten etwas strengen Geruch der Pilger zu überdecken. Bei er Gestaltung der Fresken und Darstellungen bedienten sich die Baumeister der Kirche einer eingänglichen Bildsprache. So findet sich beispielweise eine Darstellung eines Konstantinischen Kreuzes über dem Westeingang, bei dem die Buchstaben Alpha und Omega vertauscht im Hinblick auf die übliche Reihenfolge dargestellt sind, um einen Neuanfang nach dem Ende des Weges zu versinnbildlichen.
Bis vor wenigen Jahren wurde beim Eintritt in die Kathedrale durch die Glorienpforte noch die Tradition gepflegt die Wurzel Jesse, die dort in Marmor eingearbeitet mit der Hand fest zu drücken, um sich damit symbolisch auf die Wurzel des Glaubens zurück zu besinnen. Dies wurde jedoch eingestellt, ebenso wie der Brauch Kinder mit der Stirn leicht gegen das Bildnis des Baumeisters Mateo zu schlagen, damit etwas von seiner Intelligenz auf diese übergehe. Offizielle Begründung für ersteres war, dass der über die Jahrhunderte ausgeübte Druck durch die Pilgerhände tatsächlich zu baulichen Schäden geführt habe.
Transkribiert nach original Aufnahmen der 62-jährigen Pilgerin Karen M. die diese Geschichte einer Gruppe anderer Pilger nach dem Abendessen in der Herberge erzählte, um die Herkunft des Namens zu erklären.
(Stellenweise zum besseren Verständnis leicht vom Original abweichende Übersetzung des Autors, Original Transkript der Tonaufnahme im Anhang):
Nun, warum nennt man es Santiago de Compostela? Es gibt einige Bibel Geschichten, die dieser großartigen Geschichte den Weg bereiten: Also der heilige Jakobus arbeitet in Spanien, so erzählt man sich. Fakt ist, dass er nach Jerusalem zurück ging, Fakt ist, dass es zum ersten Bischof der Kirche gemacht wurde, Fakt ist, dass er geköpft wurde. Fakt ist, er war der erste christliche Märtyrer. Aber dann wird die Geschichte erneut aufgegriffen und berichtet, dass seine Schüler den Körper wegschafften, ihn auf ein Boot schmuggelten und zurück nach Spanien segelten, während die Römer durchgehend hinter ihnen hereilten. Die Römer verfolgten sie, da sie den aufkommenden christlichen Glauben unterdrücken wollten. Sie erreichen also Spanien und die Schüler hetzten durchs Land. (Und gerade heute sind wir über eine Brücke gekommen, die der Legende nach, ähnlich wie in einer anderen Bibelgeschichte, als die Römer ihnen dich auf den Fersen waren, unter ihren Füßen einstürzte, sodass die Schüler mit dem Leichnam entkommen konnten). Später holten die Soldaten erneut auf und es sah aus als würden sie bald von ihnen gefangen genommen werden. Daher gruben sie eilends auf dieser großen Ebene… diesem Feld... diesem campo… diesem Brachland ein Loch, vergruben den Leichnam, rannten davon und verschwanden. Und es vergingen mehrere Hundert Jahre bevor ein Eremit über das gleiche campo, das gleiche Feld, die gleiche Ebene, wanderte einem Stern, (im spanischen) einem „estrella“ folgend. Und er gelangte unter diesen Stern in der Mitte dieses Feldes und er entdeckte in Galicien die Knochen von SAINT JAGO DE COMPOSTELLA.
Die abschließende Enthüllung, die während der Erzählung bereits geschickt durch (scheinbar zufälliges) einstreuen der nötigen Vokabeln vorbereitetet und fast schon dramatisch aufgebaut wurde, löste bei einigen der Zuhörer überraschte Ausrufe aus, die anzeigten, dass sie es plötzlich begriffen hatten. Karen selbst, die mir berichtet hatte, dass sie sich bereits zuhause seit längerem mit „Story telling“ befasst hatte und daher einige Stilmittel wie Wiederholungen, Übertreibungen und etwas freiere Auslegung historischer Fakten hatte einfließen lassen, war mit der Wirkung ihrer Erzählung anschließend sehr zufrieden. Diese Geschichte ist wohl eine der populärsten, die (meist jedoch in weniger eleganter Form und Ausschmückung) häufig von Pilgern auf dem Weg erzählt oder aus Büchern und Reiseführern vorgelesen wird. Der lockere moderne Sprachstil ist meiner Beobachtung nach der gängigen Art, in der sich Pilger heute gegenseitig die sakralen Geschichten erzählen und hat wohl wenig mit dem ehrfürchtigen Ernst früherer Zeiten zu tun.
Das kleine Küstenstädtchen Muxia ist wohl der am wenigsten frequentierte Endpunkt des Jakobsweges. Die meisten Touristen nehmen den Bus von Santiago oder Finisterre, nur wenige laufen die 30 km von Finisterre oder 87 km von Santiago zu dem kleinen Örtchen mit der Kirche an der schroffen Felsenküste, die an dem Ort errichtet wurde, wo es der Legende nach zu einer Marien Erscheinung gekommen ist. Doch auch dieser Ort ist Heimat einiger Legenden und Brauchtümer, deren Wurzeln zum Teil bis in vorchristliche Zeiten reichen.
Diese Geschichte wurde in einer Erzählsituation von Karen erzählt wie zuvor die Legende von Santiago de Compostela, diesmal jedoch um die Bedeutung Muxias als Pilgerort zu erklären. Die Erzählerin selbst gab an diese Geschichten zu kennen, da sie ihr selbst von Pilgern auf ihren Wanderungen auf dem Caminos erzählt worden sind:
(Aufgezeichnet als Tonaufnahme, es folgt eine zum besseren Verständnis etwas abgewandelte Übersetzung des Autors, englisches original Transkript im Anhang)
„Ihr kennt die Legende von heiligen Jakobus? Die Legende besagt, dass er in nord-west Spanien begraben ist und das ist der Grund warum die Leute seit mehr als 1000 Jahren nach Nord-West Spanien pilgern. Wie ist er dorthin gekommen? Wenn ihr euch an die Bibelgeschichte erinnert, erwachten die Apostel am Pfingstsonntag und sprachen verschiedene Sprachen und der heilige Jakobus erwachte und sprach Spanisch. Also kam er auf die Iberische Halbinsel, ans Ende der Welt, um das Christentum zu predigen. Und während seiner Missionarszeit, war er sehr niedergeschlagen, da er nicht dachte, dass die Leute positiv reagierten. Und das erstaunliche am Christentum ist, dass es all diese Geschichten hat und denkt daran „lasst niemals einen Fakt einer guten Geschichte in die Quere kommen!“ Und dies ist eine der großartigen Geschichten des Christentums. Denn hier haben wir den Heiligen Jakobus, der herumeiert, da niemand zum Christentum konvertiert und er ist an der Nord-Westküste Spaniens in Muxia. Und wer kommt auf einem Boot segelnd vorbei? Niemand anderes als die Jungfrau Maria! Und sie sagt:“ Jakobus, du leistest gute Arbeit, mach weiter so!“ Und er fasst neuen Mut und predigt weiter in Spanien. Und dann gibt es zwei Versionen der Geschichte: die erste besagt, dass sie in den Sonnenuntergang segelt, aber ihr Boot zu Stein wird, während sie in den Himmel zurückkehrt. Und die Felsen in Muxia sind die Segel ihres Bootes. Und daher wird die Kirche dort Iglesias del Barca, die Kirche des Bootes genannt. Und die andere Version berichtet, dass sie auf einem steinernen Boot in die Stadt segelte! Und als es Zeit für sie war zu gehen, stieg sie einfach wieder auf in den Himmel und ließ Boot an der Küste. Und das ist der Grund warum es als Heiligtum bezeichnet wird.“
Auch diese Legende ist verbreitet unter Pilgern, speziell unter jenen, die sich auf den Weg nach Muxia machen und in abgespeckter Form auch in Reiseführern zu finden. Sie erklärt einerseits die religiöse Bedeutung des Ortes, die für Muxia auch touristisch relevant ist und fungiert gleichzeitig als Erklärungslegende für den Namen der Kirche und den wie ein Segel geformten Felsen vor ihrem Eingang, wie auch weitere Monolithen in der Nähe die an einen Schiffsrumpf erinnern. Diesen Felsen werden wie im Falle anderer Monolithen Kultstätten, magische Kräfte zugesprochen. Auch in der Dekoration der Kirche wird die Legende durch Darstellungen des Wunders und zahlreichen Modellschiffen, die von der Decke hängen eingearbeitet.
Das Motiv eines steinernen Bootes findet sich auch in alten irischen und keltischen Legenden. In diesen befördern solche Schiffe Heilige oder Verstorbene ins Reich der Toten. Dieses Reich befand sich nach alter keltischer Vorstellung im äußersten Westen des Atlantiks, also jenseits der Küsten von Muxia und Finisterre, die auch als „Costa da Morte“ bezeichnet wird, als Küste der Toten. Der Name leitet sich darauf zurück, dass es hier früher häufig zu Schiffsunglücken in der tückischen Strömung gekommen sein soll, die die Küstenbewohner zu Geschichten über die Gegend inspirierten. Da die keltischen Siedlungen in ganz Europa in regem Handelsaustausch und Schiffsverkehr standen, ist es unwahrscheinlich, dass diese Parallelen in den Legenden und Geschichten zufälliger Natur sind, sondern eher anzunehmen, dass diese sich gegenseitig beeinflussten. (vgl. (Mitterauer, 2014, S. 129 ff)) Die Legende von der Jungfrau auf dem Steinboot zeigt sich also noch einmal besonders deutlich eine vorchristliche mögliche Vorlage für spätere christliche Legenden.
Ein in einigen Reiseführern zitierter Brauch, der mir auch von der deutschen Pilgerin Louisa H. erklärt wurde, ist unter dem „a pedra dos cadris“ (dem angeblichen steinernen Segel aus der Legende) neun Mal hindurch zu kriechen, um so von Rheuma oder Nierenleiden geheilt zu werden. Auch wenn Heilwunder durch religiöse Reliquien für den Katholizismus nicht ungewöhnlich sind, lässt die Zahl Neun doch argwöhnen, dass hier durchaus auch keltische Einflüsse eine Rolle spielen, da diese Zahl als mächtige magische Zahl galt.
Ein weiteres Brauchtum, das eher auf vorchristliche Traditionen zurückgehen dürfte, ist das Mitbringen von Steinen und errichten von Steinhaufen durch die Pilger. Michael Mittauer spricht diesen Brauch in dem Kapitel “ Im Norden leben die Toten“ als besonderen Brauch der Region, der auf den Jakobswegen überlebt hat, obwohl er zur Zeit der Reformation von Geistlichen kritisiert worden war, an.(Vgl. (Mitterauer, 2014)) Seinen Angaben nach stammt der Brauch aus vorchristlicher Zeit und galt als „Opfergabe“ an heidnische Götter der Wege, wie den keltischen Gott Lugh, oder im römischen Merkur bzw. griechischen Hermes.
Heute werden die Steinhaufen oder auch Türmchen, die in Spanien als „milladioros“ oder „amilladioros“ bezeichnet werden, hauptsächlich als Zeichen des Dankes für die bewältigte Strecke oder auch als Bitte um Hilfe für die weitere Strecke verstanden. Man findet sie häufig auf den Monolithen entlang der Wege oder eben auch in großer Zahl an der Steinküste und den Stränden von Muxia oder Finisterre. Manche Pilger bringen zu diesem Zweck extra Steine aus ihrer Heimat mit, tragen sie auf dem Weg bei sich und legen sie am Endpunkt, teils als Symbol für ihre Sünden, ab. In dieser Form lässt sich diese sakrale Praxis auch von der Kirche dulden, die einige der Steinhaufen durch das Aufstellen von Kreuzen an der Spitze bereits christianisiert hat. Dennoch bleibt der heidnische Ursprung der Praxis, der kaum einem Pilger heute noch bewusst ist, weiterhin recht offenkundig. (Vgl. (Mitterauer, 2014, S. 136 ff)
Bereits im Mittelalter gab es manche Pilger, die nach ihrer Ankunft in Santiago noch die zusätzlichen 90 km Weg an die Küste Spaniens, die damals als westlichster Punkt der bekannten Welt und daher als „Ende der Welt“ gesehen wurde, auf sich nahmen, um sich dort ihre Jakobsmuschel selbst zu suchen. Heute erfreut sich dieser Endpunkt des Weges zunehmender Beliebtheit, besonders bei spirituell orientierten Pilgern, die sich von der kleinen Küstenstadt mit dem Leuchtturm auf den Felsen mehr Ruhe und inneren Frieden erhoffen, als von geschäftigen und touristisch geprägten Santiago. Die besondere Stimmung dieses Ortes machte ihn aber schon zu vorchristlicher Zeit zu einer Kultstädte der Kelten, die hier angeblich einige Opferplätze unterhielten. (Joos, 2016, S. 222) An diesem Ort mischt sich also besonders stark die christliche Pilgertradition mit vorchristlichem Brauchtum.
Die klassischerweise in Pilgerführen beschriebene ritualisierte Verhaltensweise, die Pilger am Ende der Welt durchführen sollen, ist am Kap Finisterre, dem zumindest westlichsten Punkt des Jakobsweges, schweigend den Sonnenuntergang zu beobachten und sich dann nach Verbrennen eines Kleidungsstückes zum ersten Mal wieder nach Osten um zuwenden. (Joos, 2016, S. 244) Das andächtige, schweigsame Beobachten des Sonnenuntergangs kann womöglich mit heidnischer Astralreligiosität in Verbindung gebracht werden, in der Sonne und Mond wie Götter verehrt wurden. Dazu passt auch die starke Betonung der Himmelsrichtungen, die in keltischen Ritualen und Begräbniszeremonien eine entscheidende Rolle spielten. (Mitterauer, 2014, S. 136 ff) Das Verbrennen des Kleidungsstückes, das sich wie zuvor bereits erwähnt womöglich von Santiago de Compostela hierher verlagert hat, wird als symbolische Repräsentation des Endes des Weges oder sogar eines alten Lebens verstanden und die Wende nach Osten als Beginn von etwas Neuem. Einige Pilger lassen zudem eine Art „Opfer“ an bestimmten „Opferstellen“ auf den Felsen zurück, die nicht explizit religiös gestaltet sind, sondern eher mit Friedensbotschaften der in dem Ort seit Jahrzehnten ansässigen Hippiekultur verziert. Insgesamt wirkt der Ort insbesondere im Vergleich zu Santiago und Muxia weniger christlich geprägt, obwohl es auch hier eine prächtige Kirche und eine Vielzahl von Kreuzen gibt. Einen größeren Einfluss auf das Verhalten der Pilger am Ende der Welt haben jedoch wie es scheint die lokale Künstlerkultur und das vorchristliche Brauchtum.
Zum letztgenannten zählen wohl auch die „heiligen Steine“ auf einem kleinen Berg nahe des Kaps, die ein beliebter Anlaufpunkt geführter Pilgerwanderungen sind. Hier finden sich zwei mächtige Felsbrocken, die man besteigen und durch leichte Bewegungen zum Wackeln bringen kann. Eine italienische Pilgerin übersetzte uns die Erklärung des einheimischen Touristenführers, diese Steine hätten die Macht einen von einer Begierde zu befreien. Dafür müsse man sich nur auf die Felsen stellen, an die unerwünschte Begierde denken und den Felsen zum Wackeln bringen. Durch die Anzahl der Felsen sei die Zahl der Begierden, von denen man sich lossagen kann jedoch auf zwei limitiert. Auch wenn dieses Brauchturm durch die Befreiung von einer Begierde einen christlich wirkenden Anstrich erhalten hat, so erinnert die ausgeführte Praxis viel eher an heidnische Geomantie und sogenannte „Kraftorte“ als an christliche Vergebungs- oder Befreiungspraktiken.
Weitere Träger eines eher heidnisch spirituell orientierten Brauchtums ist die seit mehreren Jahrzenten insbesondere in den Sommermonaten dort ansässige Pilger- und Künstlergesellschaft „World Family“ die eine private Pilgerherberge so wie ein Camp im Wald nahe der Hafenstadt betreiben. Nach eigenen Aussagen betreiben viele der Mitglieder als offiziell nicht erlaubte aber geduldete Tradition in den Sommermonaten eine Art Feuerkult. Dieser wird seit etwa 6 Jahren in jeder trockenen Nacht am Playa Mar de Fora, einem der größten Strände der Gegend in einer kleinen Bucht, die vor Blicken weitgehend geschützt ist, betrieben. Einige der Mitglieder berichteten uns, dass dieser Ort schon seit Jahrtausenden als Opferstelle genutzt wurde und daher „eine magische Aura“ besitze. Auch von den auffälligen Steinformationen rechts und links der Bucht wussten sie zu berichten, dass diese den Drachen und die Schildkröte, die Schutzwesen von Finisterre repräsentieren. Mit etwas Fantasie lassen sich diese durchaus in den schroffen Felsen erahnen.
Da sich die personelle Besetzung der Gesellschaft im ständigen Wechsel befindet, werden die Geschichten über den Ort aber auch praktische Anweisungen wie die besten Stellen zum Auffinden von Feuerholz oder auch die Zerkleinerung und Anordnung für ein Lagerfeuer, unter den Teilnehmern mündlich weitergegeben und vor der Abreise der „Hauptverantwortlichen für das Feuer“ Neue eingelernt. Auf diese Weise, so erzählte mir Marius E., ein ehemaliger Pilger, der seit 2 Monaten in der Kommune geblieben war und dafür seine Rückreise verschoben hatte, gebe es beinahe jeden Abend ein Feuer oder auch eine Kerzen Zeremonie, mit zwischen 20 und 100 Teilnehmern, bestehend aus Pilgern, Künstlern und Einheimischen. Das gehe bereits seit etwa 6 Jahren so und immer wieder gäbe es Pilger, die nach einer solchen Zeremonie den Sommer über in der Gesellschaft bleiben. Am Feuer werden Speisen und Getränke mit allen Anwesenden geteilt, mittels der verschiedensten Instrumente Musik gemacht und getanzt. Auch wenn es eher eine modernisierte Imitation dessen ist was man sich populär als heidnisches Fest vorstellen könnte, stellt die Gesellschaft hier doch den Anspruch in einer überlieferten Tradition zu stehen, die auf Zeiten vor dem Christentum zurückreicht.
In einer Hafenkneipe in Finisterre wussten einige einheimische Fischer und Pilger eine Geschichte zu erzählen die sich angeblich am Kap zugetragen haben soll und die Symbolik der Muscheln im Zusammenhang mit dem Apostel Jakobus zu erklären versucht. Die Geschichte wurde von einer Mitpilgerin ins Englische übersetzt und wird hier aus meiner Erinnerung auf Deutsch wiedergegeben:
„Als der Heilige Jakobus ans Ende der Welt kam, stürmten die Leute auf ihn zu und baten ihn verzweifelt um Hilfe. Ein Reiter sei mit seinem Pferd am Kap von den Felsen abgerutscht und ins Meer gefallen. Er folgte den Menschen, doch als er am Kap ankam war im Wasser niemand mehr zu sehen. Reiter und Pferd waren bereits in den Fluten ertrunken. Der Apostel kniete sich nieder und begann zu beten und als er geendet hatte, hoben sich Reiter und Pferd lebendig aus dem Wasser und gelangten sicher an Land. Ihr gesamter Körper jedoch war über und über mit Jakobsmuscheln bedeckt, die seither Erkennungszeichen des Apostels waren.“
Die Zuordnung der Legende nach Finisterre ist durchaus nicht eindeutig. So wurde mir eine ähnliche Geschichte auch von der Pilgerführerin in Santiago erzählt, mit dem Unterscheid, dass diese sich an der Nordküste Spaniens zugetragen haben soll. Auch die Symbolik der Muschel wird ansonsten von Pilgern seltener mit einem konkreten Wunder des Apostels in Verbindung gebracht, sondern eher sinnbildlich verstanden. Für die meisten Pilger repräsentiert die Jakobsmuschel eher ein Symbol der unterschiedlichen Jakobswege die sich wie die Strahlen der Muschel an einem Punkt nämlich in Santiago vereinen. So ist die Muschel auch schematisiert auf den Wegweisern der Caminos angedeutet.
Zu den hier geschilderten Beobachtungen passt auch die Tatsache, dass Finisterre als Ende des Weges trotz Beschilderung und „Null Kilometer Stein“ am Leuchtturm nie als offizielles Ende des Weges von der katholischen Kirche anerkannt wurde – im Gegensatz zu Muxia. Gut möglich, dass die Legenden über Geister, Monster des offenen Meeres und insbesondere der galizische Hexenglaube, die insbesondere in der Gegend bis heute lebendig geblieben ist, den Würdenträgern nicht christlich genug erschienen um den Ort als christliches Pilgerziel anzuerkennen. Doch Finisterre lebt eben auch nicht von der christlich religiösen Bedeutung, sondern vom spirituellen und touristischen Aspekt des Ortes, der in den letzten Jahren immer weiter zugenommen hat. Die große Kirche „Santa Maria des Areas“ öffnet nur einmal in der Woche sonntags für eine kurze, mäßig besuchte Messe. Dafür sind die Felsen des Kaps beinahe jeden Abend mit hunderten Pilgern und Bustouristen besetzt, die hier am „Ende der Welt“ schweigend den Sonnenuntergang betrachten.
Während sich die Motive der Pilger in früheren Zeiten noch auf religiöse Vergebung der Sünden oder Pilgerschaft als Strafe für ein begangenes Verbrechen herunterbrechen ließen, besteht bei heutigen Pilgern eine unglaubliche Diversität an Motiven und religiösen bzw. spirituellen Hintergründen. Man begegnet gestressten Managern, die eine Pause brauchen, eher spirituell geprägten Pilgern, die den Weg als meditatives Erlebnis begreifen, Abenteurern, aber auch weiterhin streng religiösen Pilgern. Die Moderne Pilgerkultur hat in gewisser Weise eine integrative Wirkung auf die Pluralität und verbindet was auf den ersten Blick scheinbar nicht zusammen passt (vgl. (Norman, 2011, S. 47-60)).
So wird man auf den Caminos häufig Zeuge des Phänomens, dass Pilger, die sich als vollständig unreligiös bezeichnen, dennoch gerne die locker und modern erzählten religiösen Legenden des Weges hören und sich dann bei Erreichen des Ortes der Erzählung nicht einer gewissen Ehrfurcht und Faszination dessen entziehen können, was sich der Legende nach dort zugetragen haben soll. Und auf der anderen Seite begegnet man auch religiös motivierten Pilgern, die mit Begeisterung an Ritualen und Bräuchen teilnehmen, die von der Amtskirche als nicht christlich genug und deutlich heidnisch geprägt bezeichnet werden. Die über Jahrhunderte gewachsene Pilgertradition hat auf dem Camino eine hohe Toleranz hervorgebracht, die das Ausprobieren, Erleben und Integrieren von neuem in die eigene Spiritualität und die Pilgerkultur des Weges fördert. Dies könnte einer der Gründe sein, warum heute auch so viele Menschen, die nicht gläubig im eigentlich katholischen Sinne sind sich auf den Weg machen (vgl. (Norman, 2011, S. 160-180)). Die religiöse Bedeutung des Weges mag im Gegensatz zum Mittelalter aus dem Zentrum der Motive zur Pilgerschaft gerückt sein, vergessen wurde sie deshalb allerdings nicht. Dazu trägt die Erzählkultur von Legenden und Brauchtümern unter den Pilgern bei. Zwar gelten heute die religiösen Zentren nicht mehr als wichtigstes Ziel der Pilger, vielmehr wird der Weg selbst und die Entwicklung auf dem ganzen Weg als solches verstanden, dennoch verleihen die Legenden und Rituale auf dem Weg und an den Zielpunkten diesen noch heute etwas Besonderes und Bedeutungsvolles.
Wenn dies nicht so wäre, gäbe es wohl kaum eine Erklärung dafür, warum auch wenig religiös interessierte Pilger die teils weite Anreise nach Spanien in Kauf nehmen, statt einfach auf einem beliebigen Weg in ihrer Nähe zu wandern. Für die meisten gehört die Ankunft in Santiago oder Finisterre und das Wandern auf den alten Wegen des Camino weiterhin einfach zu der Erfahrung dazu.
Zusammenfassend konnte ich auf meiner Reise auf den spanischen Jakobswegen Zeuge einer modernen Pilgerkultur werden, deren Legenden und Bräuche vor allem mündlich und durch Hintergrundinformationen in Reiseführern weitergegeben werden. Die Wurzeln dieser einzigartigen Pilgerkultur sind hauptsächlich im christlich katholischen Jakobus Kult, der in Iberien zur Zeit der Rückeroberung des Landes aufkam, begründet haben aber auch moderne und vorchristliche Einflüsse, die auf die keltische Besiedelung Asturiens und Galiciens zurückgehen, integriert.
Diese moderne Pilgerkultur, die man vielleicht auch selbst als einen Kult bezeichnen könnte, macht für viele der Pilger, egal ob religiös geprägt oder nicht, einen entscheidenden Teil des Erlebnisses auf der Wanderschaft auf dem Jakobsweg aus, der von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden, und wird daher lebendig gehalten. Da es schwerfällt ein solches Erleben zu beschreiben, sei jedem Interessierten, unabhängig von den persönlichen Motiven und religiösen Hintergründen, dazu geraten die besondere Atmosphäre, die auf den Wegen herrscht, einmal selbst aus erster Hand zu erleben.
Autor, Unbekannt. (2008). Der Jakobsweg - Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert. Stuttgart: Reclam.
Botheroyd, S. (1992). Lexikon der keltischen Mythologie. München: Eugen Diederichs Verlag.
Gómez-Montero, J. (2012). Im Jakobsland - Eine literarische Kartographie des Jakobsweges im Nordwesten Spaniens. Kiel: Ludwig Verlag.
Herberts, K. (2006). Jakobsweg - Gesichte und Kultur einer Pilgerfahrt. München: C.H. Beck WISSEN.
Joos, R. (2016). Camino Portugues - von Porto nach Santiago und Finisterre. Welver: Konrad Stein Verlag.
Maier, B. (2015). Die Kelten - Geschichte, Kultur und Sprache. Tübingen: A. Franke Verlag.
Mitterauer, M. (2014). St. Jakob und der Sternenweg - Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt. Wien: Böhlau Verlag.
Norman, A. (2011). Spiritiual Tourism - travel and religious practice in western society. London: Continuum Publishing Group.
Rautenstrauch-Jost-Museum. (2018). Pilgern - Sehnsucht nach Glück. Köln.
Transkript von Karens Erzählung zu Santiago de Compostela:
So why do they call it „Santiago de compostela“? There are several bible stories, that work their way into this amazing story: So, Saint James is working in Spain, so the story goes. The fact is, that he went back to Jerusalem, in fact he was made the first bishop of the church, in fact he was beheaded, in fact he was the first Christian martyr. But then the story picks up again and the story is that his disciples cleared away his body, slipped it on a boat and sailed it back up to Spain, with the romans running after them the whole time. The romans where pursuing them, because they wanted to suppress this Christianity stuff. So, they get up to Spain and the disciples are kind of scurrying across the land. (And today we walked across a bridge, that allegedly, similar to another story from the bible, when the romans come following them and pursuit, the bridge crumbled beneath their feet and so the disciples got away with the body.) Later on, the soldier caught up with them again and they were going to get caught. So, they hurryingly… on this giant plain… this field… this campo… this bare land place… dug a hole, they buried him, and they ran away and dispersed. And it was several hundred years before an hermit wandered across the same campo, the same field, that same plane, following a star, an „Estrella“. And he got underneath this star in the middle of this field and he rediscovered the bones in Galicia of SAINT JAGO DE CAMPO STELLA.
Transkript der Legende von Muxia:
You know the legend about Saint James? The legend is that he is buried in north-west Spain and that is why people for more than a thousand years have made pilgrimage to north-west Spain. How did he get there? The point is that if you remember your bible story on Pentecost Sunday the Apostles all woke up speaking different languages and Saint James woke up speaking Spanish. So, he came up to the Iberian Peninsula, to the end of the known world, to preach Christianity. And while he was preaching, he got very depressed, because he did not think the people were responding. And so, the marvelous part about Christianity is that it has all these stories and you should never let a fact get into the way of a great story! And this is one of the great stories of Christianity. Because here is Saint James, like… moping around, because nobody is converting to Christianity and he is up on the coast of north-west Spain in Muxia. And who comes, sailing in on a boat…but the virgin Marie! And she says: “James, you are doing a great job! Keep it up!” And he is emboldened, he continues preaching in Spain. And then there are two different versions of the story: the first, is that she sails away into the sunset, but her boat turns into stone as she disappears into heaven and the rocks in Muxia are the sails of her boat. And that’s why the church is called Iglesias del Barca, is the church of the boat. And the other version, is that she sailed into town on a stone boat! And when it was time for her to leave she just descended back into heaven and let the boat on the coast and that is why they call it a sanctuary.
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2020
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Widmung:
Meinen Lieben, der Freheit jeder Religion, und den vielen Freunden auf dem Weg. Und dem großen Geist.