Laute Musik dröhnte durch meine Ohren und Bässe ließen meinen Körper vibrieren. Ohne meinen Blick von einem Mann zu lösen, welcher sich geschickt durch die tanzende Menge schlängelte, griff ich nach meinem Bier und trank einen tiefen Schluck.
Früher war ich genauso gewesen. Immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer, nach der nächsten Herausforderung. Ich hielt mich für besser als all die anderen, gutaussehender und klüger. War ich einmal nicht der Mittelpunkt der Party, machte ich mich eben dazu. Dabei bemerkte ich gar nicht wie viele wahre Freunde, ich mit meinem Verhalten vergraulte.
Wie viele Leute sich von mir abwandten, weil sie es einfach nicht mehr in meiner Nähe aushielten. Besserwisserisch, nannten sie mich. Unecht, Taktlos und Unverschämt. Dabei waren dies noch die freundlichen Begriffe gewesen, die gefallen waren. Einer nach dem anderen hatte sich von mir abgewandt, bis ich ganz alleine da stand und selbst zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch besser als alle anderen gefühlt.
Schließlich hatte ich ja noch Bekannte. Jene, die man immer nur auf Partys traf, sich dann besoffen schwor etwas zu unternehmen und bis zur nächsten Feier nie wieder sah. Ich hatte es nicht verstanden. Ich dachte meine Freunde wären neidisch auf mich gewesen, auf meine Eroberungen, mein Aussehen, einfach alles an mir.
Mir waren die angewiderten Blicke entgangen. Die gutgemeinten Ratschläge hatte ich lachend in den Boden getreten und wenn mich jemand direkt darauf ansprach, war ich aggressiv geworden und hatte nicht nur den ein oder andere unfreundlichen Kommentar hinterlassen. Rückblickend schämte ich mich für mein Verhalten. Für meine Taten.
Verhaltensweisen die ich jetzt an anderen Leuten beobachtete und bei denen ich nur seufzend den Kopf schütteln konnte, hatte ich früher als selbstverständlich angesehen. Sie sogar als cool empfunden. Zusammengefasst war ich der Kerl gewesen, dem alle nur „Arschloch“ hinterher riefen.
Ich trank den letzten Schluck meines lauwarmen Biers und stellte das Glas kräftiger als notwendig auf den Tresen ab. Der Barmann warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, aber ich umging ihn geschickte, indem ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann auf der Tanzfläche richtete. Wobei Tanzfläche zu hoch gegriffen war. Es waren ein paar Tische auseinander gerückt wurden und die freigeräumte Fläche wurde von Lichtstrahlern angepriesen. Die Kneipe war eigentlich viel zu klein für so eine Feier. Die Menschen standen dicht an dicht und trotzdem fanden sie noch eine Möglichkeit ihre Körper lasziv zu bewegen, die Arme über ihre Köpfe zu strecken und den Hintern an einem anderen Körper zu reiben.
Seit ich die Kneipe betreten hatte fielen mir die beiden Männer auf. Einer kräftiger als der andere, beide mit harten Gesichtszügen und unrasierten Kinn. Die Arme waren voller Tätowierungen und ihre breiten Schultern steckten in Lederjacken. Trotzdem schien sich keiner der beiden an den anderen heran zu trauen. Seit einer halben Stunde warfen sie sich schon feurige Blicke zu, umtanzten einander und gaben eindeutige Signale von sich und nicht einer der beiden harten Kerle traute sich, den ersten Schritt zu machen.
Weiteren zehn Minuten sah ich dem ungeschickten Spiel zu, ehe ich mich wieder umdrehte und den Barkeeper zu mir heranwinkte. Ein gut aussehender Mann. Mein Blick glitt an seinem Körper hinunter, ehe ich mein Bier dankend entgegennahm. Früher hätte ich nicht eine Sekunde gezögert ihn anzusprechen. Ich hätte ihm das Grüne vom Baum erzählt um ihn in mein Bett zu zerren, nur um ihn wenige Stunden später ohne ein weiteres Wort aus meiner Wohnung zu werfen. Ich hatte meinen Spaß ja gehabt. Ich grinste ihn leicht an, ohne Hintergedanken, einfach nur in freundliches Lächeln.
Allerdings schien das der kleine Kerl neben mir anders zu sehen. Ehe ich mich versah wurde ein spitzer Ellenbogen in meine Seite gedrückt und der junge Mann beugte sich über die Bar, griff den Barmann am Kragen und zog ihn zu einem innigen Kuss zu sich. Verblüfft sah ich dem Speichelaustausch vor meiner Nase zu. Mein Grinsen verbreitete sich. Da war wohl jemand ziemlich eifersüchtig. Ein Schmatzen ertönte, dann ein Kichern und kurz darauf lehnte sich der Kleine mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht zurück.
Er blickte mich an, die Augenbrauen hochgezogen und mit einem gewinnerischen Zug um den Lippen, der eindeutig sagte: Er gehört mir! Ich prostete ihm zu und trank dann einen Schluck. Auch wenn ich nicht vorgehabt hatte mich an den Barmann ranzuschmeißen, dieser Zug ging definitiv an ihn. Ich wollte mich gerade wegdrehen, als mir eine schmale Hand entgegen gestreckt wurde.
„Ich bin Cole“, stellte er sich freundlich vor. Das Grinsen lag noch immer auf seinem Gesicht, schien aber ein Stück freundlicher geworden zu sein. Er deutete, mit seiner anderen Hand auf den Mann hinter der Bar. „Und das ist Tyler. Mein Freund.“ Dieser nickte mir kurz zu, leckte sich über die rotgeküssten Lippen, ehe er seiner Arbeit nachging und die wartenden Kunden bediente. Nach einem kleinen Zögern ergriff ich Coles Hand. Sie war warm und der Händedruck fester als ich ihm zugetraut hätte.
„Pete“, verriet ich ihm auch meinen Namen.
„Warst du schon mal hier?“, fragte er mich, während er ungefragt nach meinen Bier griff, sich mit den Rücken gegen die Bar lehnte und den Inhalt mit einem Zug austrank. Ich warf einen bedauernswerten Blick auf mein leeres Glas, ehe ich den Kopf verneinend schüttelte. Ich war gerade erst hier her gezogen. Nach meinen Strapazen in der Vergangenheit hatte ich einen Neuanfang gebraucht. Den hatte ich auch bekommen, nur nicht ganz so wie geplant. Damals lagen meine Vorstellungen weit im Bereich des unmöglichen. Ich wollte eine große Wohnung haben, zentral in der Stadt, mit Balkon und viel Verbindungsmöglichkeiten. Die Bekannten die mir geblieben waren zurücklassen und genauso weiter machen wie bisher. Nur eben in einer anderen Stadt.
Meiner Rechnung nach waren die Leute in meiner Heimat einfach nur zu verklemmt gewesen. Es war leicht die Fehler bei anderen Leuten zu suchen, anstatt einfach mal unter die eigene Bettdecke zu blicken.
„Es ist hier normalerweise nicht so voll. Nur einmal im Monat findet hier eine Feier statt. Wenn du mich fragst, ist es den Aufwand nicht wert. Viel zu viel Arbeit.“ Er blickte auf den Boden, auf welchem Glasscherben von zerbrochenen Gläsern lagen, zerknautschte Flyer und allerlei anderes Zeug. Auf einer gewissen Weise musste ich ihm schon Recht geben. Ich würde nicht mit dem Kerl tauschen wollen, der hier morgen alles wieder sauber machen musste. Cole zog die Augenbrauen zusammen und überblickte weiter das ganze Chaos. Mit jeder Sekunde wurde sein Blick finsterer. Nur gut das sein Blick nicht mir galt, sondern zu seinem Freund huschte.
„Wie lange seid ihr schon zusammen?“, fragte ich interessiert. Seine Augen huschten zu mir und einen kurzen Augenblick bereute ich es die Frage gestellt zu haben. Funken sprühten durch die Gegend und ich war mir sicher, dass der nächste der von seinem Blick getroffen wurde, tot umfallen würde. Wie konnte in so einem kleinen Mann, so ein Teufel stecken?
„Drei Jahre schon. Wenn ich aber heute hier alleine sauber machen muss, wird es das letzte Jahr gewesen sein!“, knurrte er und beugte sich erneut über die Bar um seinen Freund, welcher gerade vorbeiging am Hosenbund zurück zu ziehen. Dabei schwappte die Hälfte des Biers, welches Tyler in der Hand trug, auf den Boden. Cole schnaubte auf und besah sich die Bescherung, die er selber angerichtet hatte. „Toll, dass muss ich jetzt auch noch wegwischen“, murrte er, die Hände fest in den Stoff der Hose gegraben. Sein Oberkörper beugte unvorteilhaft über der Bar und ich war mir sicher, dass einige der Männer hier, den Ausblick sehr genossen.
„Ist ja nicht schlimm. Jetzt habe ich wenigstens einen triftigen Grund um den Boden zu wischen“, lachte Tyler und spülte sich die klebrigen Hände unter dem Wasserhahn ab. Die beiden ergaben schon ein komisches Paar, aber merkwürdigerweise passte es. Die Chemie schien zu stimmen. Es knisterte gewaltig zwischen ihnen und das, obwohl sie schon drei Jahre lang zusammen waren. Obwohl ich sie gar nicht kannte, freute ich mich. Es war schön zu sehen, dass es noch Beziehungen gab die funktionierten.
Die beiden diskutierten kurz über die Aufräumaktion. Dabei wurden sie immer lauter und es endete damit, dass sich eine schlanke Hand fest um mein Handgelenk schloss und mich ruckartig vom Hocker zog. Ich schaffte es gerade so mein Gleichgewicht wieder zu finden, da wurde ich auch schon zielstrebig in die tanzende Menge gezogen.
„Was wird das?“, fragte ich verwirrt, die Füße in den Boden stemmend und mit einem fragenden Blick in Coles Richtung.
„Wir werden meinen Freund eifersüchtig machen, was sonst?“ Natürlich, was sonst. Hätte ich mir ja auch von Anfang an denken können. Immerhin schnappte ich mir auch immer einen Kerl, den ich gerade erst kennengelernt hatte und machte mit ihm meinen Freund eifersüchtig. Standardprozedur. Er warf mir einen kecken Blick zu, welcher mich sofort an Jamie erinnerte. Jamie. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, welches noch breiter wurde, als ich die hochgezogene Augenbraue von Cole sah.
„Aber Holla! An wen hast du denn gerade gedacht? Wenn ich nicht wüsste, dass du auf große Kerle stehst, hätte ich gedacht, dass du mich hier und jetzt vernaschen willst“, kicherte er und zwickte mir in die Seite. Ich wich lachend aus, ließ mich aber an seinen Körper ziehen. Gemeinsam bewegten wir uns im Takt und ich sah aus den Augenwinkeln den stechenden Blick von Tyler, welcher jede von unseren Bewegungen zu verfolgen schien.
„Also, an wen hast du gedacht?“, wiederholte er seine Frage. Ein Seufzen schlich sich tief aus meiner Brust nach oben.
„Jamie“ „Dein Freund?“, hakte er weiter nach. Die Musik war ruhiger geworden und inzwischen traten wir nur noch von einen Fuß auf den anderen. Die Tanzfläche war auch schon bedeutend leerer geworden. Nur einzelne Paare schmiegten sich verliebt aneinander, den Takt der Musik völlig ignorierend.
„Ex-Freund“, flüsterte ich und wich seinem forschenden Blick aus. Ich spürte wie er musternd über mich glitt und ich konnte die Fragen beinahe hören, die durch seinen Kopf schwebten. Er hielt tapfere fünf Minuten aus, bis er das Thema erneut anschnitt.
„Das klingt als wenn du jemanden zum Reden gebrauchen könntest.“ Ein unterschwelliges Angebot klang in seinem Tonfall mit. Ich brummte etwas Unverständliches vor mich hin, ehe ich einen Schritt zurück wich und ihn somit frei gab.
Er hatte schon Recht. Ich würde mir wirklich gerne alles von der Seele reden. Ich hatte keine Ahnung ob es helfen würde. Meine Vergehen würden dadurch nicht rückgängig gemacht werden, aber vielleicht konnte er wenigstens einen kleinen Positiven Teil darin entdecken.
„Vielleicht ein anderes Mal“, seufzte ich und blickte zur Bar. „Ich glaube wenn du Tyler wieder milde stimmen willst, solltest du jetzt damit anfangen. Ich hoffe dein Plan geht auf.“ Ich drückte ihn kurz an mich, ehe ich meine Jacke zuzog und mich durch die Massen nach draußen kämpfte.
Am Eingang stand das Paar, welches die ganze Zeit umeinander herumgelaufen war. Die Zungen tief um Mund des anderen und die Hände an Stellen, die sie sich lieber für das Schlafzimmer aufheben sollten. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht und ich fragte mich, wer schließlich den ersten Schritt gewagt hatte. Ich ging durch die schwere Holztür und schloss sie wieder hinter mir zu. Der kühle Wind blies angenehm über meine hitzige Haut und ich legte meinen Kopf kurz in den Nacken, schloss die Augen und genoss das Gefühl wie der Wind durch meine Haare strich. Wie zarte Finger die mich streichelten. Jamies Gesicht erschien vor meinen Augen und ich meinte sogar sein Parfum zu riechen, gemischt mit seinem eigenen Körpergeruch. Ich hatte ihm mehrmals gesagt, dass ich diesen viel lieber roch, als ein billiges Parfum. Obwohl dieses auch nicht schlecht roch. Der Geruch stieg mir wahrlich in die Nase und ich schlug überrascht meine Augen auf, als ich bemerkte, dass ich ihn wirklich roch. Nicht nur in Erinnerungen schwelgte.
Grüne Augen sahen mich enttäuscht an. Etwas mit dem ich gar nicht umgehen konnte. Enttäuschung. Sollte er doch lieber wütend auf mich sein, mich anschreien, weinen, mich schlagen. Dies alles wäre viel leichter zu ertragen als dieser Blick. Pure, tiefe Enttäuschung schlug mir entgegen und ich hatte sie mehr als nur verdient.
Er hatte mir alles gegeben, was ich mir in meinen kühnsten Träumen nur wünschen konnte. Nur hatte ich dies damals noch nicht erkannt.
„Jamie“, flüsterte ich erstickt und ging einen Schritt auf ihn zu. Ein Stück Hoffnung kam zurück, als er nicht vor mir zurück wich.
„Pete“ Er nickte mir zu und machte keine Anstalten auf mich zuzukommen. Also ergriff ich meine Chance und tigerte auf Armeslänge an ihn heran. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich hier treffe. Solltest du nicht schon lange wieder in Hamburg sein?“
Ich nickte bedächtig. Die Frage war nicht unberechtigt, immerhin hatte ich ihm das in unserem Streit an den Kopf geknallt.
„Ich habe mich um entschieden.“ Stumm stand er da und blickte mich an. Sein Blick durchstach mich, zerlegte mich in viele Einzelteile, wie er es schon so oft getan hatte. Nur beim letzten Mal hatte er vergessen diese wieder zusammen zu setzten.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wieder sehe.“ Er räusperte sich und senkte den Blick zu Boden. Die vergangenen Monate leuchteten vor meinem inneren Auge wieder auf. Jamie hatte sich eine eigene Wohnung gemietet und ich hatte keine Ahnung wo er steckte. Alle Mühe war vergeblich gewesen. Diejenigen die wussten wo er steckte, wollten es mir nicht sagen und jene die mir helfen wollten, hatten keinen blassen Schimmer.
Ich sah ihn genauer an. Es war immer noch Jamie, aber er war dünner geworden. Seine Wangen wirkten blass und eingefallen und seine Haare hingen platt am Kopf hinunter. Er sah genauso scheiße aus wie ich. Die vergangenen Monate hatten bei uns beiden ihre Spuren hinterlassen. „Es war schön dich mal wieder zu sehen.“ Er lächelte mir zu und ehe ich mich versah, hatte er mich umrundet und verschwand im „Tylers“, der Bar, aus der ich gerade eben noch getreten war. Fluchend riss ich die Tür auf und kämpfte mich durch die Massen hindurch. Die Chancen ihn hier drinnen wieder zu finden standen schlecht und nach einer halben Stunde musste ich mich geschlagen geben.
Mit hängenden Schultern lief ich nach Hause, schnappte mir kalte Pizza aus dem Kühlschrank und schmiss mich vor den Fernseher. Die Filme waren alle geschmacklos, die Nachrichten langweilig und nach einer Weile schloss ich einfach die Augen und versuchte zu schlafen. Den nächsten Tag meldete ich mich krank. Weder konnte noch wollte ich mich jetzt schon der realen Welt stellen. Ich blieb lieber auf meiner Couch liegen, aß Chips und müffelte vor mich hin. Aus dem einen Tag wurden zwei und aus diesen schließlich eine Woche.
Ich hätte noch weiter Trübsal geblasen, wäre nicht eine Karte von Jamie aus der Zeitschrift gefallen. Es war beinahe ein Jahr lang her, als er sie mir geschrieben hatte. Damals hatten wir noch in München gewohnt und ich hatte einen Durchhänger gehabt. Jamie war auf Geschäftsreise und hatte mir die Karte aus Madrid geschickt. „Durchhalten!“ stand groß und breit auf dem Cover und auf die Rückseite hatte er in liebevoll, in seiner krakeligen Schrift einen aufmunternden Text geschrieben.
Ich dachte ich hätte die Karte verloren. Die Sehnsucht nach ihm kam mit einem mal viel stärker zurück und trieb mir Tränen in die Augen. Früher hätte ich nur gelacht. Eine feste Partnerschaft? Einen Mann fürs Leben? Wer brauchte so etwas schon? Es stellte sich heraus, dass gerade ich sie dringend benötigte. Jetzt gab es nichts mehr, was ich mir sehnlicher wünschen würde, als Jamie in meinen Armen zu halten. Ich sprang förmlich von der Couch auf und unter die Dusche. Ich brauchte jemanden zum Reden, sonst würde ich noch platzen und ich wusste auch schon den perfekten Kandidaten, Cole. In Rekordzeit stieg ich in meine Klamotten und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter mir zu. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass er ebenfalls im „Tylers“ war. Ich hetzte den Weg entlang und blieb schnaufend vor dem Eingang stehen. Meine Lungen japsten nach Sauerstoff, mein Körper nach mehr Bewegung und mein Herz nach Liebe.
Ich drückte unsicher die Tür auf und blickte um die Ecke. Auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob Coles Angebot ernst gemeint war. Ich ging hinein und setzte mich an die Bar. Cole hatte Recht gehabt. Heute war die Bar deutlich leerer, wenn auch immer noch gut besucht. Tyler trocknete Gläser ab und hob überrascht die Augenbrauen, als er mich erblickte. „Hey Pete. Was führt dich her?“
Ungefragt wurde ein Bier vor meiner Nase abgestellt und ich griff sofort danach. Vielleicht würde es ja einfacher werden, wenn ich erst einmal betrunken war.
„Cole“, sagte ich. Fügte aber noch schnell ein „Ich möchte mit ihm reden“, hinterher, als ich seinen finsteren Blick bemerkte. Er schien kurz zu überlegen, dann zuckte er die Achseln.
„Geh nach oben. Er dürfte im Wohnzimmer sein. Und wehe du fasst was an!“, drohte er mir grinsend und ich wusste genau was ich nicht anfassen sollte, oder eher wen. Ich bedankte mich artig bei ihm und ging durch die Personaltür.
Dahinter verbarg sich eine schmale Treppe, welche direkt in den Hausflur führte. Neugierig blickte ich mich um. Die Wohnung war geschmackvoll eingerichtet und es herrschte gerade genug Chaos, damit man sich wohlfühlte und sich nicht wie in einem sterilen Heim vorkam. Ich klopfte an die Wohnzimmertür um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Sein Blick huschte erschrocken zu mir rauf, dann breitete sich aber ein Lächeln auf seinen Lippen aus. „Hey Pete!“ Bestimmend klopfte er neben sich auf die Couch.
Ich folgte seinen Forderungen und ließ mich seufzend neben ihn nieder. „Das mit dem Eifersüchtig machen hat funktioniert.“ Er zwinkerte mir verschwörerisch zu und rutschte unruhig hin und her und verzog leidlich das Gesicht. „Dafür tut mir jetzt der Hintern aber ganz schön weh.“ Ich lachte leise auf, als er mich um Mitleid bettelnd ansah. Da konnte er noch lange warten.
„Warum bist du hier?“, brachte er unser Gespräch direkt auf den Punkt und das Lächeln verschwand aus meinem Gesicht. Stattdessen knetete ich nervös meine Hände. Als ich ihm nicht antwortete sprach er weiter. „Du willst über Jamie reden, oder?“ Ich nickte leicht und sah ihn um Hilfe suchend an. Gerade verspürte ich nichts von der Selbstsicherheit, die mich früher immer umgeben hatte.
Wie ein Schutzmantel hatte ich sie um mich gesponnen und niemanden darunter blicken lassen. Bis auf Jamie, welcher sich einfach einen Weg an meinen Mauern vorbei gebahnt und sie vollständig niederrissen hatte. Cole sah mich abwartend an, aber ich brachte kein Wort über meine Lippen. Sie öffneten und schlossen sich wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber kein Laut verließ sie.
„Wenn du möchtest, kann ich dir erstmal was über mich und Tyler erzählen?“, bot er mir an und ein verständnisvolles Lächeln lag auf seinen Lippen. Dankbar nickte ich. Froh, noch eine Gnadenfrist erhalten zu haben.
„Du weißt ja schon, dass wir jetzt drei Jahre zusammen sind. Vor den drei Jahren bin ich wochenlang ins „Tylers“ gegangen, nur um ihn zu sehen.“ Seine Augen leuchteten und seine Wangen färbten sich rot, als er sich zurück erinnerte. „Ich bin nicht gerade gut darin, neue Leute kennenzulernen und hab mich einfach jeden Tag an die Bar gesetzt um ihn so nah wie möglich zu sein. Da wusste ich noch nicht, dass ich ihm schon die ganze Zeit aufgefallen war.“
Er lächelte verträumt vor sich hin. „An einem Tag habe ich die Zeit verpasst und ihm dann als Dank für ein paar Bier noch ausgeholfen. Eins ist zum anderen gekommen und ehe ich mich versah, sind wir beide im Bett gelandet. Er ist das Beste was mir je passiert ist.“ Ein Stich durchfuhr mich und ich musste mir selber eingestehen, dass ich neidisch war. Nicht auf Cole, weil er mit Tyler zusammen war, sondern weil die beiden sich hatten. Eine Beziehung führten und nicht mehr ohne einander sein wollten. Eine Weile saßen wir still nebeneinander, beide in Erinnerungen schwelgend, bis ich schließlich das Wort ergriff.
„Ich war früher ein Arschloch.“ Ein falsches Lachen entfuhr mich. „Ich meine ein richtiges Arschloch. Ich hielt mich für etwas Besseres. Behandelte alle anderen wie Dreck. Sie waren mir einfach egal.“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich hielt mich für den Kerl schlechthin und vergraulte meine Freunde nach und nach. Ein paar von ihnen haben noch versucht mit mir zu reden, aber ich hab sie nur abgewiesen.“
Cole hörte mir aufmerksam zu und ich spürte seine warme Hand auf meinem Arm, die mir Trost spendete. „Das ging schließlich so weit, dass ich niemanden mehr hatte. Keine Freunde, keine Bekannten, selbst mein Bruder wollte nichts mehr von mir wissen. Niemand. Außer Jamie.“ Ich blickte auf und sah direkt in Coles Augen.
Er sah mich abwartend an und keineswegs verurteilend, weswegen ich einfach weiter redete. Wie ein Strom quoll es aus mir heraus. „Er war der Einzige der sich einfach nicht vergraulen ließ. Egal was ich anstellte, er kam immer wieder. Wie eine Zecke hing er an mir und bohrte sich nach und nach bis in mein Innerstes vor. Ehe ich es bemerkt hatte, hatte er mich von oben bis unten durchschaut. Ich glaube es gibt niemanden der mich so gut kennt, wie Jamie.“ Cole drückte meinen Arm sanft und forderte mich auf weiter zu reden.
„Er hat mich immer aus der Scheiße gezogen. Wirklich immer. Und glaub mir, ich war nicht nett zu ihm. Ich habe anfangs alles versucht um ihn loszuwerden. Ich wollte meine Ruhe und nicht jemanden der meinte mich vollständig analysieren zu müssen. Jamie ist verdammt schlau. Er stellte mir nach und nach vor Augen was für ein Arsch ich doch war. Wie schlecht ich meine Mitmenschen behandelte und was für eine hohe Meinung ich von mir selbst hatte. Er hat mich wortwörtlich von meinem hohen Ross herunter gestoßen. Weiß du? Ohne Jamie würde ich immer noch dort oben sitzen und auf die anderen hinunterspucken. Er hat mir wortwörtlich den Hintern versohlt, als ich es einmal einfach nicht einsehen wollte“, lachte ich.
Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Abend. Jamie war so verdammt wütend auf mich gewesen. Ebenso wie ich auf ihn. Das eine führte zum andern und ein paar Sekunden später lag ich über seinem Schoß und heulte wie ein Mädchen. Mein Hintern tat noch Tage danach weh, aber keine von uns beiden hatte es bereut. Ich lehnte mich nach hinten und ergriff Coles Hand. Gedankenverloren spielte ich mit seinen Fingern, während ich mir alles von der Seele redete. „Er ist sogar mit mir hierher gezogen. Für mich! Ich hab ihn sein ganzes Privatleben geklaut. Weißt du was er einmal zu mir gesagt hat? : Ich habe kein Privatleben ... und deswegen alle Zeit der Welt, deins zur Hölle zu machen, also halt jetzt lieber die Klappe“ Cole sah mich amüsiert an.
„Anscheinend hat er das ja auch geschafft“, sagte er.
„Und wie. Ich war andauernd auf ihn sauer. Aber ich liebe ihn“, flüsterte ich erstickt.
„Was ist passiert?“
„Ich war so sauer auf ihn“, sagte ich und legte meinen Kopf in den Nacken um die Tränen wegzublinzeln. „Wir waren nicht richtig zusammen. Er war einfach immer da. Ich hab in ihn viel mehr gesehen, als meinen Freund, auch wenn mir das zu spät bewusst geworden ist. Ich habe ihm alles Mögliche an den Kopf geworfen. Wie sehr ich ihn hasse. Das … Das ich die ganze Zeit mit anderen Kerlen geschlafen habe, obwohl das nicht einmal der Wahrheit entsprach“, nuschelte ich.
„Wieso hast du es dann gesagt?“, fragte Cole sanft.
„Weil er mir zu nahe gekommen ist“, sagte ich und in dem Moment bemerkte ich, dass es der Wahrheit entsprach. Jamie hatte mich komplett auseinander genommen, ohne mir die Chance zu geben etwas zu verbergen. Er war bis an meine Grenzen vorgedrungen und meine Nerven waren einfach zusammengebrochen.
„Und wieso hast du nicht einfach danach mit ihm geredet?“
„Ich brauchte erstmal ein bisschen Zeit um das alles zu verdauen und als ich endlich bereit war um mit ihm zu reden, war er spurlos verschwunden. Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht.“ Ich ließ den Kopf hängen und wischte mir beschämt über die Wangen. Ich konnte nicht glauben, dass ich mich gerade einen beinahe Fremden anvertraut hatte. Ich hatte zuvor mit niemanden außer Jamie über meine Vergangenheit geredet und ich hatte es auch eigentlich niemals vorgehabt, aber es war die richtige Entscheidung gewesen, wie mir mein Herz mitteilte, von dem gerade eine große Last gefallen war, obwohl ich noch zu keiner Lösung gefunden hatte. Eine ganze Weile saßen wir noch im Wohnzimmer und spielten Seelenklemptner, bis Cole von Tyler nach unten gerufen wurde.
Die Kneipe machte bald auf und er brauchte Hilfe. Gemeinsam liefen wir hinunter und ich verabschiedete mich von Cole. Tyler beobachtete unsere enge Umarmung kritisch, sagte aber nichts, deutete nur mit einem Nicken an, dass er mich kurz sprechen wollte. Überrascht folgte ich ihm um die Ecke. Ohne jegliche Erklärung fing er an zu sprechen.
„Weißt du, ich hatte gestern einen ziemlich betrunkenen Gast. Groß, an die 1,90 Meter. Grüne Augen, blonde Haare. Faselte irgendetwas von einem Pete. Soll wohl ein klasse Kerl sein.“ Mein Herz stockte kurz, ehe es schneller weiter schlug. Hatte Jamie sich gestern wirklich volllaufen lassen? „Er konnte eigentlich von nichts anderen reden. Am Ende rutschte er halb vom Barhocker und warf mir eine Karte auf den Tisch.“ Tyler kramte in seiner Hosentasche und biss sich dabei konzentriert auf die Lippe. „Irgendein Jamie.“ Er hielt mir die Karte hin und zuckte grinsend mit den Achseln. Meine Hand zitterte, als ich sie nach der Karteikarte ausstreckte. Sein Name fiel mir als erstes ins Auge und dann … seine Adresse.
„Dachte du könntest die vielleicht gebrauchen.“ Noch während er sprach fiel ich ihm in die Arme. Er gab ein überraschtes Grunzen von sich, erwiderte dann aber meine stürmische Umarmung.
„Danke!“
„Finger weg von meinem Mann!“, ertönte es gespielt geknurrt neben meinem Ohr. Ich setzte einen erschrockenen Satz zurück und mein Platz in Tylers Armen wurde sofort von Cole beansprucht, welcher seine Lippen förmlich auf Tylers presste. Ich verdrehte meine Augen und rief den beiden verliebten ein „Auf Wiedersehen“ zu, auch wenn ich bezweifelte, dass einer von beiden es mitbekam. Ich lief nach draußen und hielt mir ein Taxi ein, nannte dem Fahrer die Adresse der Karte und fuhr mit pochendem Herzen in meinen Untergang oder auf meine Liebe zu.
Die Taxifahrt war leicht gewesen, das Aussteigen eher schwerer und noch schwieriger wurde es, als ich an der Haustür stand und mein Finger vor der Klingel verharrte. Die schwerwiegende Entscheidung wurde mir abgenommen, als die Tür sich von alleine öffnete und ein verdutzter Jamie mich ansah.
„Hey“, sagte ich nervös und deutete in die Wohnung. „Darf ich vielleicht reinkommen?“ Jamie nickte verdattert und ging zurück ins Haus. Ich folgte ihm nervös und streifte meine Schuhe im Flur von den Füßen. Sein Weg endete in der Küche. Er setzte sich Kaffee auf und stellte mir ebenfalls einen vor die Nase.
„Ich denke wir sollten reden“, begann ich schließlich, nachdem niemand etwas sagen wollte.
„Es gibt nichts zu bereden“, fauchte er und sprang hektisch vom Stuhl, sodass dieser nach hinten kippte und mit einem lauten Getöse auf dem Boden aufschlug. Er flüchtete in einen anderen Raum, knallte die Tür zu und ließ mich überfordert in der Küche sitzen. Das war das Letzte mit dem ich gerechnete hatte. Ich hatte gedacht, dass er mich wenigstens anhören würde, aber zurücküberlegt, war seine Reaktion mehr als nachvollziehbar. Langsam stand ich auf und folgte ihm. Mein Kopf sagte mir, dass ich ihm Zeit alleine geben sollte, aber mein Herz kämpfte dagegen an.
Es schrie laut und deutlich nach Jamie und Herz siegt nun mal gegen Kopf. Ich öffnete die Tür und blieb im Rahmen stehen. Jamie war in sein Schlafzimmer gerannt, hatte sich auf seinem Bett zusammengerollt und selbst wenn ich es nicht hören könnte, sah ich wie sein Körper von Schluchzern durchschüttelt wurde.
Mein Herz zog sich zusammen und meine Füße schritten wie von selbst auf ihn zu. Vorsichtig ließ ich mich neben ihn auf das Bett sinken und legte meine Hand in seinen Nacken. Ich konnte sehen wie er krampfhaft versuchte sein Weinen zu dämpfen. Sanft fuhr ich ihm durch die weichen Haare. Sie fühlten sich wie Seide unter meinen Fingern an. Jamie zuckte von mir weg, aber ich folgte ihm einfach.
„Es tut mir Leid“, flüsterte ich. „Ich wollte dich niemals verletzten.“ Ich schob mich weiter auf das Bett, sodass ich hinter ihm lag. Mein Arm schlang sich um seine Hüfte und drückte seinen Körper näher an mich heran. „Ich hasse dich nicht. Ich habe seit wir hier sind mit niemanden geschlafen und vor allem möchte ich nicht ohne dich leben!“ Ich schickte ein stummes Gebet, dass er mir glauben würde. „Du bedeutest mir alles Jamie. Alles!“ Ich drückte meine Lippen gegen seinen Nacken. Er reagierte nicht und er antwortete nicht. Lediglich seinen Tränen stoppten nicht. Und ich fühlte mich so hilflos.
Ich wollte nicht das er litt und schon gar nicht meinetwegen. Schwerfällig rollte ich mich über ihn rüber, sodass er mir ins Gesicht blicken musste. Seine Augen waren rot verquollen, seine Nase lief und trotzdem war er der schönste Mann für mich.
„Ich liebe dich Jamie und ich hoffe wirklich, dass du mir verzeihen kannst.“ Ich beugte mich zu ihm rüber und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. Ich verharrte einen Moment, ehe ich mich zurückzog. Ich hatte keine Ahnung was Jamie dachte, bis ich spürte, dass er mir folgte. Es blieb bei einem sanften, ruhigen Kuss, doch in ihm steckten so viele ungesagte Gefühle und ich wusste, er würde mir vergeben. Nicht vergessen, aber immerhin vergeben.
Sechs Monate später
„Blau!“
„Rot!“
„BLAU!“, knurrte Cole.
„Was ist denn hier los?“, fragte Jamie, welcher gerade in den Raum spaziert kam.
„Cole will blaue Servierten für die Hochzeit. Rote würden aber viel besser zu der Deko passen!“, wies ich ihn in unsere Probleme ein. Vor einem Monat hatte Tyler Cole einen Antrag gemacht und seit dem liefen die Planungen in voller Tour. Leider war Cole entweder Farbenblind, oder er hatte einen miserablen Geschmack. Außerdem hatte er das Talent in jedem Vorschlag etwas Schlechtes zu entdecken.
Jamie lachte laut auf und kam zu uns rüber. Grinsend schnappte ich ihn mir und zog ihn auf meinen Schoß. „Bekomme ich keinen Begrüßungskuss?“, schnappte ich gespielt beleidigt, worauf hin sich warme Lippen auf meine pressten. Feucht presste sich seine Zunge gegen meine Lippen und verlangte Einlass, den ich ihm nur zu gerne gewährte. Ein Räuspern ertönte, welches wir gekonnt ignorierten. Erst als Cole sich erneut räusperte lösten wir uns voneinander.
„Ihr seid ja schrecklicher als Tyler und ich“, knurrte er frustriert. Ich zuckte nur grinsend mit den Schultern, legte meine Hand in Jamies Nacken und zog ihn zu einem neuen Kuss zu mir hinunter. So ließ es sich gut leben.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2015
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