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Der doppelte Tod

Es begann alles mit einem Schuss.

Meine erste Erinnerung war, dass ich als Kind, ungefähr mit 8 Jahren, im Wohnzimmer saß und ein Buch las. Eigentlich nichts Besonderes, bis ich einen lauten Knall hörte. Ich wusste im ersten Moment nicht genau, was das war, doch ich konnte mich dunkel daran erinnern, dass in einigen Cartoons, die ich gesehen hatte, etwas Ähnliches geschehen war. Ein ähnliches Geräusch ertönt war. Ein Schuss. Sofort sprang ich von dem Sofa und versteckte mich unter einem Tisch.

Damals hatte ich unglaubliche Angst vor dem Tod. Ich hatte immer wieder gehört, dass man in den Himmel kommt, wenn man stirbt. Dass man dann einfach da oben ist – und nichts tut. Für immer. Weil man ja tot ist.

Ich hatte mir das so vorgestellt, als würde man einfach im Himmel herumschweben. Wahrscheinlich mit dem Gesicht nach unten, mit all den anderen Toten. Aber die Tatsache, dass es Tote waren, war nicht das, was mir am meisten Angst gemacht hatte. Sondern das „Für Immer“. Es wollte nicht in meinen Kopf rein, wie man für immer einfach nichts tun konnte. Nichts sehen, nichts fühlen, nichts hören, nichts riechen, nichts schmecken… Sich nicht bewegen. Nichts denken.

Ich hatte angefangen zu weinen, weil ich nicht wusste, wie ich mit dieser Angst umgehen sollte. Ich fühlte Druck auf meiner Brust, mein Herz schlug so schnell wie noch nie zuvor und ich dachte, dass es das war. Dass mein Leben jetzt vorbei war. Aber so war es nicht. Es war nämlich nichts passiert. Kein Einbrecher, kein Mörder, nichts im Fernseher (da er nicht angeschaltet war) und nichts auf der Straße. Ich war wahrscheinlich einfach verrückt.

Jetzt saß ich mit meinen dreiundzwanzig Jahren in einem Café und trank meinen Kakao. Ich war kein großer Fan von Kaffee, da ich alles, was bitter war, absolut ablehnte. Das war schon immer so. Und Kaffee war, offensichtlich, ziemlich bitter. So wie die Tatsache, dass ich gegenüber meiner besten Freundin im Café saß und anstatt mit ihr zu reden über den Tod nachdachte.

Was passiert eigentlich, wenn man stirbt? Ist es so, wie ich als Kind gedacht hatte, oder doch ganz anders? War man einfach weg? Oder existierte man irgendwo anders weiter? In irgendeiner anderen Form? Oder lag ich komplett falsch und keins von diesen Dingen war die Wahrheit? Was, wenn der Tod etwas war, von dem wir noch nicht einmal eine Ahnung hatten, dass es existierte? Eine Art Zwischendimension, jenseits unseres Universums? Eine Dimension, in das alle Seelen der Verstorbenen reisten, um für den Rest der Zeit in Frieden weiterzuexistieren?

Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Meine beste Freundin schien mir irgendetwas erzählt zu haben. Natürlich hatte ich keinen blassen Schimmer, worum es ging. Schließlich hatte ich ja keine einzige Sekunde zugehört. Das hatte sie jetzt bemerkt und sah ein wenig verärgert aus.

„Tut mir leid“ sagte ich. „Ich war ganz woanders.“

„Das habe ich gemerkt. In letzter Zeit klinkst du dich ganz schön oft aus. Worüber denkst du nach?“

Über den Tod. Das sollte ich ihr besser nicht sagen, es sei denn, ich hätte gewollt, dass sie mich in die nächste Klapse einweisen ließ.

Nebenbei bemerkt, ich wollte das nicht.

„Ach, nur über die Zukunft“ sagte ich stattdessen. Was ja nicht ganz gelogen war.

Sie nickte zustimmend. „Ja, darüber denke ich auch oft nach. Aber vor allem denke ich über den Tod nach.“

Ich stutzte. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Wie verrückt war das denn? „Echt? Worüber genau?“

Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es, ich hätte nicht davon anfangen sollen. Du hältst mich für verrückt.“

„Ganz und gar nicht!“ Ich beugte mich zu ihr vor. „Ehrlich gesagt, habe ich auch über den Tod nachgedacht.“

Sie machte große Augen.

So hatte ich mir den Tag eigentlich nicht vorgestellt. In einem Café über das am meisten deprimierende Thema der Welt zu sprechen. Aber so war es. Und wir verbrachten noch mindestens eine Stunde am Tisch und tauschten verschiedene abstruse Theorien aus.

 

Irgendwann war es Zeit, nach Hause zu gehen. Wir stellten das Geschirr zurück und verließen das Café.

Wir lachten, schauten uns gegenseitig an. Liefen den Fußweg entlang. Wechselten die Straßenseite. Achteten nicht auf den Verkehr.

Sahen nicht das Auto, das auf uns zugerast kam, bis eine Hupe und mehrere Schreie ertönte.

Ich schubste sie aus dem Weg, was mir nicht die Zeit ließ, die es gebraucht hätte, selbst aus dem Weg zu springen. Das Auto versuchte zu bremsen, aber es war zu schnell. Ich sah, wie die violett lackierte Motorhaube auf mich zugerast kam. Spürte den Aufprall für eine Millisekunde, spürte, wie sämtliche Knochen in meinem Schädel brachen.

Dann lag ich auf dem Boden. Nur, dass es kein Asphalt war. Es war irgendwie weich, flauschig, beinahe gemütlich. Wie ein Teppich. Nein, nicht wie ein Teppich. Es war ein Teppich.

Erst jetzt bemerkte ich, wo ich war. Ich lag auf dem Wohnzimmerboden meines Apartments. Und ich war nicht dreiundzwanzig. Ich war siebenundfünfzig. Ich hatte eine Frau und zwei Kinder.

Ein Kind, welches gerade meine Waffe zu Boden fallen ließ, die noch rauchte.

Ein weiteres Kind, welches schreiend danebenstand. Mich direkt anblickte, mit weit aufgerissenen Augen.

Meine Frau, die panisch am Telefon hing und irgendetwas hereinbrüllte.

Das Einschussloch, welches sich auf Herzhöhe befand. Die Kugel hatte sich wahrscheinlich in das Herz gebohrt. In mein Herz.

Der Schuss.

Es begann alles mit einem Schuss.

Gab es ein Leben nach dem Tod? Eine Seele, die einen Körper verlässt und sich zum Zeitpunkt der Geburt in einen anderen setzt. So viele Leute, so viele Wissenschaftler hatten sich schon so lange mit dieser Frage auseinandergesetzt. Aber niemals wurde ein richtiges, brauchbares Ergebnis erzielt. Selbst Leute, die eine Nahtoderfahrung gemacht hatten, waren niemals lang genug weg, um diese Frage beantworten zu können.

Aber was, wenn das Leben nach dem Tod komplett anders war, als wir uns es vorgestellt hatten?

Es wird gesagt, dass man, wenn man träumt, die Zeit langsamer wahrnimmt als sie tatsächlich vergeht. Ein paar Sekunden im echten Leben können sich wie Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre anfühlen.

Es wird gesagt, dass, wenn sämtliche Körperfunktionen heruntergefahren werden, man also klinisch tot ist, das Gehirn trotzdem noch für einige Sekunden arbeitet. Noch Stunden danach mit Glück ins Leben zurückgerufen werden kann.

Was ist, wenn das Gehirn die Seele des Menschen in einen Traumzustand setzt, der sich wie ein ganzes Leben anfühlt? Stunden werden zu Jahren, man baut sich eine alternative Welt auf, während man in Wirklichkeit gerade stirbt.

Das lässt nur einen Schluss zu. Wenn die Seele so etwas durchleben kann, dann ist die Seele kein Teil des Menschen.

Sondern dann ist die Seele der Körper. Dann ist die Seele der Geist.

Dann ist die Seele der Mensch selbst.

Dann bin ich die Seele.

 

 

ENDE

Faggot

 Als ich aussteige, richte ich meinen Blick nicht von dem Gebäude ab, das vor mir liegt. Selbst dann nicht, als ich mich von meiner Mutter verabschiede. Sie fährt mit dem blauen, kleinen Auto weg und ich stehe an der Treppe nach unten. Die Treppe, die mich zum Haupteingang meiner Schule führt. Die Schule, die ich seit zehn Monaten nicht mehr betreten hatte. Die Schule, von der ich geschworen hatte, sie niemals wieder zu betreten. Doch trotzdem setzte ich einen Fuß vor den anderen und ging die Treppe hinunter, bis ich auf den Haupteingang stoße. Ich öffne die Tür und trete ein.

Zuerst steigt mir der altbekannte Geruch von Gummi in die Nase. Ich weiß noch immer nicht, woher der kommt. So riecht es sonst nur in einem Fahrradladen. Aber ich habe ihn erwartet, also ist er kein Problem für mich. Er erinnert mich nur noch einmal mehr daran, wo ich bin und was ich vor habe.

Die Leute, die mir über den Weg laufen, kommen mir eher selten bekannt vor. Fast alle sind mindestens zwei Jahre jünger als ich. Ich komme mir total fehl am Platz vor. Ich schaue sie an - und hasse sie sofort. Ich hasse sie alle. Egal, ob Schwanz oder Titten, egal ob klein oder groß, ich hasse jeden einzelnen von ihnen. Ihre Markenklamotten von Hollister oder Adidas oder wo auch immer sie sie her haben, ihre Frisuren, für die sie morgens stundenlang vorm Spiegel stehen, ihre abschätzigen Blicke, wenn sie jemanden sehen, der nicht so tickt wie sie... In meinen Augen sind das alles Fotzen.

 Ich gehe die Pausenhalle entlang und alle starren mich an. Alle starren mir auf die Klamotten, alle starren mir auf den Körper, alle starren mir ins Gesicht. Ich starre nicht zurück. Ich konzentriere mich nur auf dem Weg zum Klassenzimmer. Das ist mein Primärziel. Mein Sekundärziel jedoch ist die Tür, die mich aus der Pausenhalle rausführt. Ich beschleunige meine Schritte und irgendwann, nach gefühlten Stunden von durchdringenden Blicken, erreiche ich sie auch. Ich ziehe sie ruckartig auf und husche durch, nur um sie direkt hinter mir wieder zuzuziehen. Klar, die Tür hat eine Scheibe, mich kann immer noch jeder sehen, aber trotzdem fühle ich mich geschützt. Als ich die anderen beobachte, merke ich, dass ihre Blicke gar nicht mir galten, sondern Rick Krotcher. Mein Blick verfinstert sich. Das beliebteste Arschloch der Schule. Ihn hebe ich mir bis zum Schluss auf. Eigentlich würde ich am liebsten jetzt schon zu ihm hinlaufen, aber dann würde ich wahrscheinlich Nachsitzen müssen und direkt am ersten neuen Schultag zu spät zum Unterricht kommen. Sozialpädagogen an Schulen sind ja so darauf bedacht, die Ordnung hier zu gewärleisten, dafür zu sorgen, dass niemand zu Schaden kommt. Das ich nicht lache. 

 Ich nehme meinen Weg wieder auf, gehe ein Stockwerk nach unten und Suche Raum 06. Nachdem ich mich wieder daran erinnert habe, welcher Gang zu welchen Räumen führt, finde ich ihn auch. Meine Füße gehen automatisch auf ihn zu, ich mache rein gar nichts. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen, aber mein Körper gehorcht mir nicht. Meine Hand nährt sich der Tür, drückt die Klinke nach unten, öffnet die Tür und ich schaue in ein leeres Klassenzimmer. Ich stoße eine Seufzer aus. Das ist ja nochmal gut gegangen. Zum Glück ist noch niemand da, ich hätte es nicht ausgehalten, wenn mich jeder angestarrt hätte. 

Ich suche mir einen Platz, ganz hinten in der Ecke, damit mich niemand bemerkt. Zum Glück schenken mir die Leute, die nach mir hineinkommen, nicht wirklich Beachtung. Relativ spät kommt auch ein Typ rein, ungefähr so alt wie ich, plus minus ein Jahr, schwarze Haare, schlank, drei-Tage-Bart. Er trägt übergroße Klamotten, so wie ich. Und er schaut sich um, in der Hoffnung, dass ihn niemand beobachtet, so wie ich. Also schaue ich schnell weg. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass auch er sich nach hinten verzieht und sich gezwungenermaßen direkt neben mich setzt. Er begrüßt mich nicht, ich begrüße ihn nicht. Lediglich stellt er seine Tasche auf den Tisch und schaut sie an. So wie ich.

Nach ein paar Minuten betritt ein Mann die Klasse, der Lehrer, wie ich vermute. Er begrüßt uns, stellt sich mit "Mr. Byrne" vor und ruft unsere Namen auf. Ich habe extra darauf geachtet, dass ich in keinem Kurs bin, in den mich der Lehrer oder die Lehrerin schon kennt, um ungemütlichen Fragen aus dem Weg zu gehen.

"River Thomas?" fragt Mr. Byrne.

"Ja" antwortet der Typ neben mir. River also. Man kann ihm ansehen, dass er sich unwohl fühlt, zu sprechen. Byrne blickt kurz auf, River hebt die Hand und Byrne trägt ihn ein.

Sofort geht es weiter. Und am Schluss bin ich dran. "Jones.. Jonesen? Jonesen Wesley?"

Mein Puls rast. Ich fange an zu zittern. Oh bitte, lass es schnell vorbei sein. Ich hebe die Hand und sage: "Ja".

Byrne blickt auf und schaut mich an. "Wie spricht man deinen Namen aus?" fragt er.

"Wie Jonathan, nur mit s anstatt th" antworte ich.

"Interessant. Ungewöhnlich, aber interessant" sagt Byrne, trägt mich ein und klappt das Kursbuch zu. Dann fängt er an, über den Kurs zu sprechen. Ich beruhige mich wieder und atme durch.

Den Rest der Stunde passe ich kaum auf, sondern konzentriere mich darauf, River aus den Augenwinkeln zu beobachten. Er zeichnet irgendwas in etwas, das ich für sein Notizbuch halte. Für einen Augeblick vergesse ich, warum ich hier bin. Aber nur für einen Augenblick.

Als es klingelt, stürme ich aus dem Raum. Mein Ziel ist die Pausenhalle, in der Hoffnung, dass er da ist. Mason. Mein erstes Ziel. Und als ich die Halle betrete, sehe ich ihn tatsächlich. Er zieht wieder irgendeine Show vor seinen Freunden ab. Man kann sehen, dass sie von ihm genervt sind. Warum sie dann mit ihm befreundet sind, verstehe ich nicht. Aber das soll nicht mein Problem sein. Ich gehe auf ihn zu, total in Ekstase, meine eigentlichen Bedenken sind wie ausgelöscht. Glücklicherweise steht er mit dem Rücken zu mir. Als ich nur noch meine Hände ausstrecken brauche, um ihn zu berühren, mache ich es. Ich greife den Bund seiner Hosen und ziehe sie runter. Für einen Moment ist es total still in der Pausenhalle. Dann brechen alle in schallendes Gelächter aus. Mason versucht verzweifelt, die Hose wieder hochzuziehen, aber es gelingt ihm erst nach ein paar Sekunden, als schon jeder die blanke Wahrheit gesehen hat. Sagen wir es so - viel zu sehen gab es nicht. Sofort dreht er sich zu mir um und starrt mich an. Sein Kopf war knallrot und alles, was ich mache, ist lächeln und weggehen. Er folgt mir nicht. Nur das Gelächter der anderen. Ich meine, auch einmal zu hören, wie jemand "Gut gemacht!" ruft. Ja, ich weiß. Das war wirklich gut. Ich kann gar nicht glauben, dass ich das tatsächlich gemacht habe. Unglaublich.

Für eine Sekunde blitzt bei mir ein schlechtes Gewissen auf. Ich erinnere mich daran, wie er einem dicken Jungen die Hose runtergezogen hatte. Er hatte sich dabei bestimmt genauso schlecht gefühlt, wie Mason sich jetzt fühlt. Aber genau deswegen hat Mason das auch verdient. Ich verdränge das schlechte Gewissen.

Die Pause dauerte nur zehn Minuten, und nun sitze ich wieder im Klassenzimmer neben River. Diesmal sitzt Mrs. Sinclair vor uns. Auch sie ruft unsere Namen auf. Diesmal bin ich nicht ganz so nervös. River aber schon. Ich verstehe nicht, warum.

Nach dem Klingeln ist River als erstes draußen. Er verschwindet auf Toilette. Ich gehe in die Cafeteria, schließlich ist Mittagszeit und ich bin am verhungern. Die Cafeteria ist nicht gerade der Rede wert. Sie ist nicht besonders groß und viel Auswahl gibt es auch nicht. Lediglich der M enschenauflauf, der sich jede Pause hier hineinquetscht, ist etwas besonderes. Wenn man nicht mindestens einmal angerempelt wird, hat man hier an der Schule den Status eines Heiligen. Demnach konnte ich bisher acht Rempelkontakte mit anderen Schülern verzeichnen. Als ich an der Essensausgabe ankomme, bestelle ich mir nicht viel, lediglich die Tagessuppe. Alles andere sieht aus, als wäre es schon durch die Münder von siebzehn Vorkostern gekommen. Nein, danke. Ich setze mich an einen freien Tisch. Hier an der Schule gibt es keine Sitzordnung. Entweder man hat einen Platz, oder nicht. Ich beginne, langsam die Suppe zu essen, oder wohl er zu trinken, da es nicht mehr zu sein scheint als Brühe. Und dann kommt Sam herein. Meine Hände ballen sich zu Fäusten und meine Augen verengen sich zu Schlitzen. Dann kommt eine Erinnerung hoch.

 

Der dicke Junge war fünfzehn, schon lange in Louisa verliebt, er hatte sich aber natürlich nie getraut, es ihr zu gestehen. Sie waren nur befreundet, auch wenn er die Vermutung hatte, dass sie nur aus Mitleid was mit ihm unternahm. Sie besuchte ihn ziemlich oft, meistens saßen sie nur in seinem Zimmer und schauten sich lustige Videos im Internet an. Manchmal waren sie aber auch draußen, lagen sich auf eine Wiese und redeten. Eines Tages erzählte sie ihm davon, wie sehr sie doch in Sam verliebt war. Der dicke Junge konnte das nicht verstehen. Sam war in seinen Augen ein Arschloch, einer, der die Leute nur ausnutzte und schlecht behandelte. Doch davon wollte Louisa nichts wissen und kam eines Tages sogar mit ihm zusammen. Sie trafen sich nicht mehr so oft wie vorher. Doch wenn sie es taten, hatten sie nicht mehr so viel zu besprechen wie vorher. Doch dann sprang der Junge über seinen Schatten und gestand Louisa seine Liebe. Sie sagte kaum etwas dazu. Sie lachte auch nicht. Sie umarmte ihn nur kurz und sagte, dass es ihr leidtut. Am nächsten Tag saß der Junge alleine in der Cafeteria. Sam kam auf ihn zu, Louisa versuchte, ihn aufzuhalten. Doch Sam schrie ihn an, dass er die Finger von seiner Freundin lassen sollte. Dann nahm er das heiße Essen des dicken Jungen und drückte es ihm ins Gesicht. Die ganze Cafeteria lachte.

 

Sam nähert sich mir. Ich kann meine Wut nicht kontrollieren. In der Hand hat er ein Tablett, auch darauf ist die Brühe, die sie uns als Suppe verkaufen. Ich stehe auf, gehe auf ihn zu und schlage die Hände unter das Tablett. Dann drücke ich es so hoch, dass die Suppe direkt in seinem Gesicht landet. Und auch wenn sie nicht schmeckt, sie ist heiß. Sam schreit auf. Ich reiße seine Cap von seinem Kopf und halte sie von meinem Körper weg. Langsam hört Sam auf zu schreien. Seine Freunde schauen mich nur schockiert an. Nachdem er die Brühe von seinem Gesicht gewischt hat, schaut auch Sam mich an. Ich lächele.

"Was bildest du dir eigentlich ein?" brüllt er.

Ich zucke mit den Schultern. "Die Finger von deiner Freundin lassen" antworte ich. Ich lasse die Cap in die verschüttete Suppe fallen, trete drauf und drehe mich um. Mich interessiert sein Gesichtsausdruck nicht. Ich weiß auch so, dass er weiß, wovon ich spreche. Er kommt mir nicht hinterher.

 Auf dem Weg zum Klassenzimmer höre ich Gelächter und Rufe. "Komm schon, gib der Schwuchtel, was sie verdient!" war einer davon. Ich gehe schneller und biege um die Ecke. Da steht Rick Krotcher. Seine Gang ist bei ihm. Und diesmal ist River sein Opfer. Seine Nase blutet. Und meine Bewusstsein driftet wieder davon. 

 

 

Der dicke Junge, mittlerweile siebzehn, sah es nicht kommen. Er war nicht darauf gefasst. Nicht auf Rick und seine Gang.

"Da ist ja die fette Schwuchtel" sagte Rick und seine Gefolgsmänner lachten.

Der dicke Junge sagte gar nichts, sondern hoffte nur, dass es schnell vorbei sein würde. Nur, weil er einen anderen Jungen geküsst hatte, hatten sie es auf ihn abgesehen. Ihn hatten sie schon verprügelt. Deshalb hatte seine Mutter ihn auch von der Schule genommen. Nun war der dicke Junge an der Reihe. Dann spürte er auch schon die erste Faust, die sein Gesicht traf. Die zweite, die dritte. Der Boden, der auf seinen Kopf krachte. Die Füße, die seinen Bauch, seinen Schritt, sein Gesicht trafen. Das Blut, dass seinen Körper verließ und nie mehr wieder kommen würde. Und mit dem Blut sein Lebenswille.

Als es vorbei war, wollte er nichts anderes, als diese Welt zu verlassen. Er ging nach Hause. Seine Eltern waren auf der Arbeit. Im Badezimmer durchsuchte er den Medikamentenschrank und suchte sich die Beruhigungspillen seiner Mutter raus. In seinem Zimmer zog er seinen Gürtel ab und funktionierte ihn zum Strick um. Nur zur Sicherheit. Nachdem er sich die Pillen eingeschmissen hatte, spürte er schon, wie seine Seele langsam seinen Körper verließ. Dann kam seine Mutter nach Hause. Nachdem er ihr nicht antwortete, als sie rief, kam sie in sein Zimmer. Das letzte, was er hörte, waren ihre Schreie.

Zumindest hoffte er das, denn im Krankenhaus wachte er wieder auf. Er schrie und schlug um sich, doch er wollte nicht gerettet werden. Deshalb wurde er gleich in die Klapse verfrachtet. Sein Vater verabschiedete sich nicht mal von ihm. In der Psychoklinik wurde er gleich in ein videoüberwachtes Zimmer gesteckt. Dies ließ auch seine letzte Hoffnung auf einen Abgang schwinden. Deshalb machte er einen Plan. Einen Plan, der vorsah, dass er seine Pfunde verlor, was er tat. In der Klinik gab es einen Trainingsraum. Einen Plan, der vorsah, sich nicht mehr so verschlossen zu geben, was er tat. Er unterhielt sich mit den Mitpatienten und freundete sich mit einigen von ihnen an. Die Ärzte beobachteten das alles und nach zehn Monaten waren sie sich sicher, dass er bereit war, wieder nach Hause zu gehen.

Von seiner Mutter wurde er abgeholt. Sie erzählte ihm, dass sein Vater abgehauen sei. Zuhause meldete er sich wieder an seiner Schule an. Er hielt den Kontakt zu den Freunden aus der Klinik. Denn sie waren die einzigen, die in der Zeit zu ihm gestanden hatten. Abgesehen von seiner Mutter, die ihn so gut wie jeden Tag besucht hatte. Doch obwohl er zu dem Zeitpunkt glücklich war, konnte er seinen Plan nicht vergessen. Konnte ich meinen Plan nicht vergessen.

 

Ich gehe auf Rick zu, packe seinen Hals und schiebe ihn von River weg. Er röchelt.

"Was willst du Schwuchtel denn?" brüllt er. Seine Gang beschimpft mich.

"Lass ihn in Ruhe" sage ich ruhig. "Geh einfach"

"Von dir lasse ich mir gar nichts sagen" Er holt aus, ich schiebe mich mit der Hilfe seines Armes an seine Seite und schlage ihm mit meiner Faust ins Gesicht. Mit aller Kraft. Ich fühle, wie seine Nase bricht und er taumelt zurück zur Wand.

"Lass ihn in Ruhe" sage ich. "Lass alle in Ruhe. Wenn nicht, gibt es mehr. Und jetzt verpiss dich"

Anscheinend sind alle so geschockt, dass sie tatsächlich auf mich hören. Sie helfen Rick hoch, der sich die Nase hält, und verschwinden. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich kann gar nicht glauben, was ich gerade gemacht habe. Dann legt sich eine Hand auf meine Schulter.

"Danke" sagt River. Er schaut mich an. Ich schaue ihn an. Wir schauen uns beide an. Und dann lächeln wir.

 

ENDE

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Tag der Veröffentlichung: 04.08.2022

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