Ich habe dich gehasst. Ich habe dich vom ersten Augenblick an gehasst. Ich wusste nicht wieso und es war mir auch egal, habe es nie hinterfragt. Gut fühlte ich mich nur wenn deine Nase unter meinen Schlägen zu bluten begann, wenn du dich ängstlich nach allen Richtungen umschautest bevor du den Klassenraum verlassen hast und wenn du zusammengezuckt bist weil du mich entdeckt hast. Oft habe ich einfach nur beobachtet wie du verängstigt Hacken schlägst die nichts brachten, denn ich hätte dich jeder Zeit und an jedem Ort packen und in eine Ecke ziehen können. Tja so ist das eben wenn die Eltern mehr Geld haben als sie jemals ausgeben könnten, alle kuschen.
Auch du hast gekuscht, hast auch einmal mit Tränen in den Augen gefragt was du mir getan hast. Ich habe dich höhnisch ausgelacht und weiter geschlagen bis ein ekelhaftes Geräusch mich zusammenzucken ließ. Wie ich später erfuhr hatte ich dir die Nase gebrochen. Mitleid keimte in mir auf.
Ich wolle dass du immer und überall zitterst vor Angst, dass dein Blut dir übers Gesicht läuft, aber niemals hatte ich dir etwas brechen wollen! Auch deine Frage beschäftigte mich, denn eigentlich war ich kein Schläger. Ich war Klassensprecher, hatte viele Freunde und ich meine keine Ja-Sager, sondern echte Freunde, bereits seit Kindertagen. Auch sie fragten mich manchmal was du getan hattest um dir meinen Zorn zu verdienen, denn zornig war ich sonst eigentlich nie. Doch wenn ich dich sah juckte es immer schon in meinen Finger und ich wollte nur noch meine Faust in dein Gesicht fliegen lassen.
Deine Nase verheilte, es folgten weitere Episoden in denen ich sie zum bluten brachte, jetzt aber immer vorsichtig genug, damit ich sie dir nie wieder brechen würde. Sie war etwas krumm zusammengewachsen. Beim ersten Blick auf diese kleine Veränderung in deinem Gesicht, die ich verursacht hatte, die dich für immer an mich erinnern würde, erfüllte mich eine abartige Art von Stolz. Den schloss ich aber sofort in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Ich wollte nicht stolz drauf sein dir ernsthaft weh getan zu haben. Und eigentlich war ich das auch nicht. Der Blick denn du mir zuwarfst traf mich tiefer als alles was ich bis dahin gekannt hatte. Panik lag darin. Du hattest schon immer Angst vor mir gehabt, solltest in ständiger Furcht vor mir leben, doch Panik hatte ich nie gewollt!
Was genau ich wollte wusste ich nicht, es war mir nicht mehr egal, doch so sehr ich mich auch um eine Antwort bemühte, um so weniger verstand ich und das machte mich wiederum wütend. Meine Wut ließ ich an dir aus und die Panik in deinen Augen wurde von Tag zu Tag größer, was mich von Tag zu Tag wütender machte. Du solltest keine Panik haben, du solltest in Angst leben! Ich konnte nicht nachvollziehen wieso du das nicht verstehen wolltest und meine Wut auf dich wuchs weiter an.
Und dann kam die heiß ersehnte Klassenfahrt. Alle freuten sich, alle außer dir. Warum die Lehrer uns beide in ein Zimmer einteilten weiß ich bis heute nicht, es war mir auch egal, aber dir nicht. Du wurdest bleich, zittertest am ganzen Körper und kalter Schweiz rann über deine Haut. Deine Augen blickten mich weit aufgerissen und tränennass an. Wieso tat der Anblick plötzlich weh?
Du sprangst auf und ranntest raus. Der Lehrer rief dir nach, doch du hörtest nicht, bliebst nicht stehen. Ein Tadel ins Klassenbuch wurde eingetragen, ich stand auf und räumte deine Schulsachen zusammen, stellte den Schulranzen neben meinen Tisch, der Lehrer blickte mich zwar erst fragend doch dann verstehend an und wir sprachen weiter über die Klassenfahrt. Ich wusste ja nicht, dass diese niemals stattfinden sollte, freute mich einfach nur auf die Woche weit weg von meinem leeren Haus.
Nach dem Unterricht schulterte ich meinen Rucksack und nahm deinen in die Hand. Langsam schlenderte ich den Weg zu dir nach Hause. Wo du wohntest wusste ich längst, hatte ich dich doch bereits oft genug verfolgt um dich kurz vor der Haustüre zu verprügeln. Heute läutete ich artig. Es war laut hinter der Türe. Mehrere Kinderstimmen schrien durcheinander, es schien sie spielte ein sehr lautes Spiel. Die Tür wurde für mein Gefühl viel zu spät geöffnet. Eine Frau, blas und mit verstrubelten Haaren stand vor mir, blickte mich fragend an. Ich reichte ihr deine Tasche und meinte du hättest sie heute vergessen. Verständnislos wurde ich angeblickt. Die Worte der Frau, dass du noch nicht daheim seist drangen verzögert zu mir durch. Ich begann zu zittern und Panik erfasste mich. Meine Atmung ging schwer, warum wusste ich nicht, doch ich hatte das Gefühl zu ersticken. Irgendwie formulierte ich die Worte, dass du bereits während der vierten Unterrichtsstunde das Schulgelände verlassen hattest. Die Frau schimpfte laut über deine Unzuverlässigkeit und das man sich seinen Problemen stellen sollte und nicht ständig weglaufen durfte. Ich blickte sie überrascht an. Ihr Blick sagte mir deutlich, dass sie wusste wer ich war, dass sie wusste was ich dir immer angetan hatte und noch mehr, dass sie der Meinung war du solltest das alleine regeln.
Ich drehte mich um und lief los. Ich musste zu den stillgelegten Gleisen außerhalb des Ortes. Hier hattest du dich oft vor mir versteckt und ich hatte dich dabei beobachtet. Jedes Geräusch hatte dich zusammenfahren lassen und dennoch war dies der Ort an dem du dich verstecken wolltest. Hier gab es etwas abseits der Gleise eine kleine Höhle. Wobei Höhle wohl zu viel gesagt war. Vor vielen Jahren war hier wohl ein Haufen Erde aufgeschichtete worden, von dem nun ein Teil fehlte, so dass ein kleiner Vorsprung entstanden war. Unter diesem Vorsprung hatte ich dich oft sitzen und in die Ferne starren gesehen. Eilig lief ich zu dem schmalen Trampelpfad der mich zu den Gleisen führen würde um dann ein Stück über die Gleise zu renne und linker Hand nach einigen Meter den Vorsprung zu sehen. Doch er war leer. Du warst nicht hier. Warum hatte ich plötzlich solche Angst? Was war es, dass mich dazu brachte jetzt mit zitternden Beinen beinahe zusammenzubrechen? Ich blickte in die Richtung in die du immer geschaut hattest und rannte einfach los. Ich folgte der Richtung in die dein Blick so oft gefallen war und meine Schritte wurden immer schneller. Völlig außer Atem erblickte ich noch ein gutes Stück entfernt eine Klippe. Sie war von dem Vorsprung aus und auch von meinen Verstecken aus denen ich dich beobachtete hatte, nicht zu sehen gewesen, doch mir wurde klar, du hattest von ihr gewusst. Panisch erkannte ich, dass dein sehnsuchtsvoller Blick nicht in die Ferne, sondern auf diese Klippe gerichtet gewesen war. Und die Erkenntnis, dass du diese Klippe nicht bewundert hattest sondern eine ganz andere Sehnsucht dich immer wieder in ihre Nähe trieb ließ mich heiße Tränen vergießen. Ich kam völlig außer Atem kurz vor der Klippe zum stehen. Meine Beine wollten sich weigern auch nur noch einen Schritte weiter zu tun, meine Augen tränten und meine Hände zitterten.
Wie lange ich brauchte um meinen Körper wieder zum Gehorsam zu zwingen entzieht sich meinem Wissen. Ich hatte jedwede zeitliche Wahrnehmung verloren. Mein Blick über die Klippe zeigte mir genau das was ich erwartet hatte und dennoch erschütterte es mich bis ins Mark. Du warst gesprungen. Dein zerschlagener Körper lag einige Meter unter mir auf harten und scharfen Felsen. Blut hatte viele von ihnen rot eingefärbt und ein leichter Wind ließ deine Haare, zumindest die die noch nicht zu schwer vom Blut wogen, tanzen. Es wirkte surreal, diese friedliche Umgebung, deine tanzenden Haare und dann dein zerschlagener Körper. Deine Gliedmaßen wirkten seltsam verdreht und ich ahnte bereits, dass dieses Bild mich mein Leben lang in meine Träume verfolgen würde. Eine Stimme klang an mein Ohr, doch sie klang blechern und verzerrt. Ich benötigte einige Sekunden um zu verstehen, dass ich mit meinem Handy den Notruf gewählt hatte. Dass ich hier draußen in dieser von Gott verlassenen Gegend überhaupt Netz hatte wunderte mich erst Jahre später doch jetzt berichtete ich mit von tränen erstickter Stimme über meinen Fund. Ich musste es mehrmals wiederholen und irgendwann schrie ich die Stimme am anderen Ende der Leitung an das endlich jemand kommen sollte, dich wieder ganz machen sollte, dich wieder heilen sollte. In diesem Moment schien die Stimme erst wirklich zu begreifen, dass ich Hilfe brauchte.
Meine Kraft verließ mich, die Beine brachen weg, das Handy fiel zu Boden und ich begann jämmerlich zu weinen. Denn ich wusste es, wusste es selbst jetzt, dass ich schuld war. Ich hatte dich gequält, dich bis zum Äußersten verletzt und in diese für dich ausweglose Lage manövriert. Ich war schuld an deinem Tot!
Irgendwann wurde ich in eine Decke gehüllt, Stimmen drangen von weit her an meine Ohren, ich wurde angehoben, man wollte mich von dir weg bringen, doch ich wehrte mich, wollte nicht weg. Ein kurzes Stechen am Arm und folgende wohlige Mattigkeit, die mich in einen traumlosen Schlaf schickte, folgten.
Als ich die Augen wieder aufschlug lag ich in einem weißen Krankenzimmer. Natürlich war es ein Einzelzimmer, etwas anderes wäre meinen Eltern für ihren Sohn, für den sie nie Zeit aber immer Geld hatten, auch zu wenig gewesen. Ich war alleine. Ich war immer alleine. Freunde gab es genug, doch zwischen ihnen und mir herrschte diese Kluft. Sie kehrten in belebte Elternhäuser und zu lebhaften Geschwistern zurück. Ich immer nur in ein leeres Haus. Jetzt lag ich hier. Allein.
In den kommenden zwei Wochen wurde ich im Krankenhaus behalten. Es war unnötig, doch meine Eltern bestanden darauf. Besuchen taten sie mich nicht ein einziges Mal. Meine Freunde kamen, meine Lehrer und einmal auch zwei Polizisten, die den genauen Hergang erfahren wollten, wie ich dich gefunden hatte. Immer noch wirkte alles so surreal. Ich erzähle, hatte aber das Gefühl neben mir zu stehen und einem Fremden bei der Schilderung der Vorgänge zuzuhören. Ich begann im Klassenzimmer, wie du weggerannt warst, wie ich deine Schultasche zu dir nach Hause brachte, mein Entsetzten das du noch nicht daheim warst und meine Vermutung. Sie meinten ich wäre ein guter Freund und ich solle mir keine Vorwürfe machen, dass du dich mir nicht anvertraut hattest. Wie falsch sie lagen konnte ich nicht sagte, denn ich brach in Tränen aus. Ich wollte mich nicht mehr beruhigen, die Ärzte mussten mir ein Beruhigungsmittel verabreichen und die Polizisten wurden des Zimmers verwiesen. Sie kamen nicht wieder.
Von Freunden und Lehrern erfuhr ich, dass du nicht tot warst. Doch am Leben warst du auch nicht wirklich. Du lagst einige Zimmer weiter im Koma. Ob du jemals wieder aufwachen würdest konnte niemand sagen. Deine Arme und Beine hattest du dir gebrochen, teilweise sogar mehrfach und auch andere Knochen in deinem Körper waren zerbrochen. Doch deine Nase nicht. Sie hatte den Aufschlag überraschenderweise weitgehend unbeschadet überstanden.
Wie oft stand ich in den zwei Wochen in denen ich an mein Krankenzimmer gefesselt sein sollte an deinem Bett? Wie oft wurde ich von deiner weinenden Mutter des Zimmers verwiesen, wie oft von deinen Brüdern und Schwestern aus dem Raum geschupst oder im Flur gestellt und bedroht? Wie oft stellten sie mir ein Bein, wie oft wurde ich von ihnen angerempelt, dass ich auf dem Boden landete? Wieso erst jetzt? Wieso hatte keiner von ihnen früher reagiert?
Erst Jahre später schaffte ich es ihnen diese Frage an den Kopf zu werfen. Jahre in denen ich dich immer noch regelmäßig besucht hatte, in denen ich mein Erbe nutzte um deine Behandlung zu bezahlen, dich in eine der besten Kliniken verlegen zu lassen, dir jeden nur erdenklichen Luxus gönnte. Die Frage traf deine Mutter und deine Geschwister hart, denn sie kannten keine Antwort. Wussten nicht was sie sagen sollten und ich beließ es dabei. Fortan ignorierten wir uns gegenseitig, selbst wenn wir alle um dein Bett herum standen. Deine Familie kam immer seltener, doch ich war so oft es ging an deinem Bett, hielt deine Hand und erzählte dir von meinem Tag.
Auch heute stehe ich wieder hier. Alt bin ich geworden, und auch du bist bereits leicht ergraut. 23 Jahre liegst du nun schon stumm vor mir. 23 lange Jahre darf ich deine wundervoll grünen Augen nicht mehr sehen und dein schüchternes Lachen nicht mehr hören. Ich war nach deinem Unfall völlig am Ende. Ein Psychologe klärte mich erst etwa ein Jahr später auf. Ich hatte mich verliebt. Liebe auf den ersten Blick. Doch statt mir meine Gefühle einzugestehen habe ich sie verleugnet, sie versucht zu begraben, sie einfach ignoriert. Weil ich nicht wusste was mit mir los war kanalisierte ich meine Wut auf mich in dem ich dich angriff. Und ich genoss es zu sehen, wie ich zu deiner ganzen Welt wurde. Ich wollte alles sein was du siehst, alles was du hörst, alles was du riechst und alles was du schmeckst. Ich wollte dein erster Gedanke am Morgen und der letzet am Abend sein. Nun, das hatte ich unbestritten geschafft. Leider erkannte ich erst viel zu spät, dass ich viel glücklicher gewesen wäre wenn ich dich in meinen Armen gehalten hätte, wenn ich mit dir unter dem Vorsprung gesessen und in die Ferne gesehen hätte. Nicht in Richtung der Klippe, sondern über sie hinweg in die weite Ferne. Aber mein Verstand war zu langsam, wollte und konnte nicht erkennen was mein Herz längst wusste.
Ich liebe dich. Und doch ist es zu spät, denn auch wenn ich die ersten Jahre noch hoffte, so weiß selbst ich, dass ein Erwachen nach 23 Jahren nicht nur unwahrscheinlich sondern statistisch praktisch unmöglich ist. Jetzt stehe ich hier mit meiner Liebe für dich und kann sie endlich richtig kanalisieren. Ich pflege dich. Vom waschen, Katheter-Beutel leeren, die Übungen für deine Muskeln, das Umlegen, damit du nicht wund wirst und allen andren Tätigkeiten die ich ohne medizinische Ausbildung machen kann übernehme ich so oft ich kann. Natürlich hast du aber auch Pfleger. Ich habe extra für dich die vier schönsten Pflegerinnen ausgesucht. Wenn du doch erwachst, dann soll das erste was du siehst eine wunderschöne Frau sein. Denn auch wenn ich dich liebe so wünsche ich mir nicht dass du aufwachst und ich dich dann für mich habe, sondern dass du aufwachst und dann endlich leben kannst. Das Leben führen kannst, das ich dir verwehrt hatte. Ich wünsche mir dass du aufwachst und dann glücklich wirst.
Also bitte, wach endlich auf.
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2016
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