Cover

1

Peter stand jetzt seit bald vier Minuten am Kopierer und hatte noch nicht eine Seite seines Pamphlets kopiert. Er konnte wie so häufig den Blick nicht von seinen beiden Kollegen Justin und Mischa abwenden. Wobei er sich schon lange eingestehen musste, dass nicht Mischa der Grund für sein beinahe schon ungesundes Interesse an den beiden war.


Er wusste es. Er wusste, dass die beiden der gleichgeschlechtlichen Liebe zugetan waren und er wusste, dass sie ein Paar waren. Das sah er sofort an der Art, wie sie miteinander umgingen.

Natürlich würden sie nie so weit gehen sich in den Firmenräumlichkeiten zu küssen oder Händchen zu halten oder mündliche Liebesbekenntnisse zu äußern, aber die Art wie Mischa seinen Arm auf die Schulter von Justin legte, wenn er sich zu ihm beugte um auf seinem Monitor mit zu lesen. Oder wie Justin Mischa nachsah, wenn dieser wieder zu seinem Platz ging. Wie sie immer zusammen Urlaub einreichten und immer von der Sonne verwöhnt nach zwei bis drei Wochen das Büro wieder zusammen betragen. Wie einer den anderen pflegte, wenn es ihm nicht gut ging oder wie sie sich nach erfolgreichen Projektabschlüssen „freundschaftlich“ in die Arme sanken.
Das taten andere Kollegen zwar auch, doch nicht auf diese besondere, beinahe schon intime Art. Und aus Peters Sicht dauerten diese „freundschaftlichen“ Umarmungen immer einen Tick zu lang.
 

Peter wäre das alles aber sicher nicht aufgefallen, wenn er nicht eines schönen Donnerstags nachmittags plötzlich hätte feststellen müssen, dass Justin die wundervollsten blauen Augen auf diesem Planeten hatte. Das war nun bereits dreieinhalb Jahr her und seit dem beobachtete er die beiden so oft es ging. Er hoffte zwar das ganze unauffällig zu tun, aber Sandra, seine Kollegin aus der Finanzbuchhaltung hatte ihn doch tatsächlich vor einiger Zeit darauf angesprochen.

 

Sie fragte ob er auch glaube, dass die beiden ein Paar wären und ob er das auch so abstoßend fände. Sämtliche Sympathie, die er bis dahin für Sandra gehegt hatte war mit diesem Satz verpufft. Dass sie derart oberflächlich und Homophob war hatte er nicht gewusst. Seit diesem Tag sprach er nur noch das nötigste mit ihr.


Seltsam fand er aber, dass Sandra mit Justin und Mischa völlig normal sprach. Auch jetzt gerade näherte sie sich den beiden mit einem Lächeln im Gesicht. Konnte sie wirklich so gut Schauspielern?
 
Müde vom Grübeln begann er nun doch endlich die Kopien für seinen Vorgesetzten zu machen. Da Peter bereits mit dem kompletten aktuellen Projekt fertig war, dass erst in drei Tagen Abgabefrist hatte, konnte er sich seine Träumereien momentan leisten.

Schlimm wurde es, wenn er in der Stressphase seine Aussetzer in Form von Tagträumen beim beobachten der beiden hatte. Das hatte ihm schon so manche Standpauke von Olaf eingebracht. Aber zu seinem Glück war Peter so kompetent und schnell bei der Arbeit, dass er die verträumte Zeit immer rasch wieder gutgemacht hatte.

 

Das wusste auch Olaf, darum hatte er ihn vor sieben Jahren direkt nach der Ausbildung zu sich in die Abteilung geholt. Und mit Olaf als Chef hatte Peter häufig viel freiere Hand als andere.

Der ließ ihn machen, weil er wusste, dass jedes Ergebnis bisher die Anforderungen meistens noch übertroffen hatte. Wenn man Peter aber zu sehr mit Regeln und Auflagen belastete, dann war auch das Arbeitsergebnis bisher nie zufriedenstellend gewesen.

Darum hatte Olaf sehr schnell ein breites Spektrum an Freiheiten für Peter eingeräumt, die wiederum für den Neid vieler Kollegen sorgten. Ja, Peter hatte sie bemerkt, die oft neidischen kurzen Blicke in seine Richtung.

 

In seiner Ausbildung war er in einer komplett anderen Abteilung gewesen, die zwischenzeitlich aufgelöst und sämtliche Mitarbeiter entlassen worden waren. Er wusste, er hatte unglaubliches Glück gehabt, dass Olaf auf ihn aufmerksam geworden war. Peter war zum Personalgespräch gerufen worden und hatte erfahren, dass die Abteilung in der er tätig war aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr länger tragbar sein würde. Man teilte ihm mit, dass er nach Beendigung seiner Ausbildung zwar übernommen werden könnte, hier aber für maximal ein Jahr Berufserfahrung sammeln könne, ehe die Abteilung der Gewinnoptimierung zum Opfer fallen sollte. Damals war Peter aus allen Wolken gefallen. Nie hatte er sich vorstellen können in einer anderen Firma tätig zu sein. Er hielt sich für unfähig und absolut nicht flexibel genug, um sich an neue Arbeitsabläufe in einer anderen Firma gewöhnen zu können.

 

Doch nachdem Olaf, mit ihm hatte er das Gespräch geführt, mit Peter über eine neue Verkaufsidee gesprochen hatte und Peter spontan realistische Einschätzungen der Marktsituation und der Kosten von sich gab wurde Olaf neugierig. Nach einem weiteren Gespräch war Peter in die Abteilung von Olaf gewechselt. Er hatte eine Assistentenstelle ergattert, auf die andere bereits seit längerem spekuliert hatten. So zumindest hatte Olaf ihn bereits vor Arbeitsantritt vorgewarnt.

 

Und Olaf sollte leider wie so oft Recht behalten. Peter wurde von sämtlichen Kollegen in seinem Umfeld entweder nicht wahrgenommen, oder man drehte sich direkt weg, wenn Peter versuchte ein Gespräch zu beginnen. Es war eigentlich traurig, aber außer Sandra und Olaf sprach in der Firma praktisch niemand mit ihm. Einzig die vom Neid zerfressenen Blicke der Kollegen hafteten ab und zu wenige Sekunden auf ihm.

 

Doch Justin und Mischa schienen Peter nicht einmal absichtlich zu ignorieren, bei ihnen wirkte es eher so, dass sie bisher überhaupt noch nicht bemerkt hatten, dass er existierte. Und das obwohl sie bereits seit Peters Wechsel vor sieben Jahren im gleichen Großraumbüro arbeiteten.

Tja wenn man in einer festen Beziehung war und sich praktisch 24 Stunden am Tag nur gegenseitig zu umkreisen schien, dann war es wohl normal die direkte Umwelt nur teilweise wahrzunehmen.


Peter seufzte leise und gequält. Die Kopien in der Hand stand er immer noch vor dem monströsen Gerät und musste daran denken, dass er mit seinen achtundzwanzig Jahren bisher außer in seinen Träumen noch keine einzige Erfahrung in Liebesdingen hatte sammeln können.
 
Wenn man Peter ansah, dann hatte man ihn meist Sekunden später wieder vergessen. Er war die typische graue Maus. Keiner interessierte sich länger als nötig für ihn.

Nur Olaf schien da eine Ausnahme zu sein. Er hatte sogar so etwas wie eine Freundschaft zu seinem Vorgesetzten aufgebaut. Sie hatten sich in den letzten sieben Jahren Bereits mehrmals auf ein Bier getroffen und Peter freute sich immer, wenn Olaf ihn aus seinem eingefahrenen Trott heraus holte.
 
Einmal hatte Olaf ihn sogar zu sich nach Hause eingeladen. Peter wusste nicht, was er mitbringen sollte. Auch die Kleiderfrage brachte ihn an den Rand der Verzweiflung.

Beinahe zwei Wochen war er wegen der Einladung wie Falschgeld durch sein Leben getorkelt. Als Gehen hatte man diese geistesabwesende Gehampel leider wirklich nicht mehr bezeichnen können. Und dann war er einfach wie immer in seine Alltagskleidung geschlüpft und hatte einen Rotwein gekauft, der laut Verkäufer im Fachgeschäft immer passte.


Olaf hatte sich anscheinend über den Wein gefreut. Und Peter war erst jetzt wirklich aufgegangen, dass Olaf ihn zu seiner Geburtstagsparty eingeladen hatte. Viele Leute, auch aus der Firma, waren hier. Peter hatte nicht einmal gewusst, wann Olaf Geburtstag hatte.

 

An diesem Tag lernte er Olafs Frau Maria und seine zwei süßen Töchter Melanie und Melinda kennen. In einem kurzen aber recht informativen Gespräch mit Maria hatte er erfahren, dass Olaf am 30.06. Geburtstag hatte und die große Feier veranstaltete, weil er in diesem Jahr 50 Jahre alt wurde. Auch wusste er jetzt, dass Olaf keinen Rotwein, sondern nur Weißwein trank.

Natürlich hatte er sich gleich Olafs Lieblingswein ins Gedächtnis eingebrannt, um ihm im nächsten Jahr das Richtige zu schenken.

 

Peter erinnerte sich noch heute voller Scham daran, dass er überlegt hatte wieso Maria, eine damals gerade einmal 33 Jahre alte Frau sich für einen 17 Jahre älteren Mann entschieden hatte. Immerhin war Olaf zwar für sein Alter wohl sicher gutaussehend, aber doch eher im durchschnittlichen Bereich. Gehässig wie Peter sein konnte war ihm sogar für einige Millisekunden die Erklärung, dass Olafs Einkommen als Mitglied der Geschäftsleitung Maria angelockt haben könnte realistisch vorgekommen. Doch Maria war eine derart herzensgute Frau und warf Olaf immer wieder solch verliebte Blicke zu, dass Peter sich für diese Gedankengänge noch heute in Grund und Boden schämen könnte.
 
Noch eine Sache, für die sich Peter schämte war, dass die Flasche Weißwein für Olaf bereits seit zwei Jahren unangetastet in seinem Kühlschrank stand. Er hatte sich nicht getraut Olaf den Wein zu schenken, geschweige denn Olaf zu irgendeinem folgenden Geburtstag zu gratulieren.

Immerhin hatte Olaf nie erwähnt, wann er Geburtstag hatte oder welchen Wein er gerne trank. Was wenn Peter seine Grenzen mit dem Gespräch überschritten hatte und Olaf es an dem Wein und den terminlich stimmigen Glückwünsche merken würde?

 

Peter wollte Olaf auf keinen Fall verärgern! Also stand der Wein im Kühlschrank wo er Spinnenweben ansetzten würde. Denn Peter trank keinen Alkohol. Selbst die leicht mit Alkohol verfeinerten Eisbecher in Eisdielen führten bei ihm zu einem starken Brennen im Rachen und häufig auch einer leichten Übelkeit. Dadurch fielen natürlich sämtliche alkoholischen Getränke nicht in seinen Genussmittelbereich.

 

Die Geburtstagsparty von Olaf war vor drei Jahren gewesen. Auch hier hatte Peter einen großen Bogen um alle alkoholischen Getränke gemacht und sich am Kindertisch mit Kinderpunch oder Softdrinks bedient. Und er hatte bedauert, dass weder Justin noch Mischa hier waren. Auch Sandra und Elke, die Kollegin aus der Logistik fehlten. Doch wem wollte er etwas vormachen? Peter bedauerte eigentlich hauptsächlich, dass Justin nicht hier war. So hätte er nach dem Gespräch mit Maria wenigstens jemanden zum anhimmeln gehabt. So jedoch konnte er mit keinem der anderen Gäste ein Gespräch führen und stand praktisch die komplette Zeit alleine in einer Ecke, bevor er endlich die Uhrzeit erreicht hatte, zu der er sich verabschieden konnte ohne als unhöflich wahrgenommen zu werden.

 

Die absolute Abstinenz gegenüber Alkohol war beim ersten Treffen mit Olaf außerhalb der Arbeit ein Punkt, der seinen Chef anscheinend zu stören schien. Wie sollte man denn gemeinsam Bier trinken gehen, wenn der andere nur alkoholfreie Getränke konsumierte und Bier damit nicht in Frage kam? Peter hatte Olafs Unverständnis nachvollziehen können. Er eckte mit seiner Unverträglichkeit für alle alkoholischen Getränke nicht zum ersten Mal an.

 

Wenn Peter jetzt so darüber nachdachte, dann waren er und Olaf bereits seit fast zwei Jahren nicht mehr gemeinsam ein Bier trinken gewesen. Wie erbärmlich, dass dennoch Olaf das war, was einem Freund am nächsten kam. Sollte man mit Freunden nicht einen etwas innigeren privaten Kontakt pflegen?

 
Erneut leise seufzend nahm Peter seine Kopien und die Originale in die Hand und drehte sich endlich wieder um. Er musste zurück an seinen Arbeitsplatz und die Projektabgabe vorbereiten. Er würde nicht heute abgeben, aber morgen wollte er alles fertig haben. Immerhin plante er den Freitag frei zu nehmen um die längst überfälligen Dinge des privaten Alltags zu erledigen, zu denen er an den Wochenenden leider viel zu häufig nicht kam, weil er von der Arbeit völlig erschlagen wie ein Sack Kartoffeln auf der Couch lag.

Dazu zählte auch endlich wieder Gelbe Säcke beim Rathaus zu holen, ein Gespräch mit seinem Berater bei der Bank betreffend, der sich summierenden Beträge auf seinem Girokonto und ein Kleiderkauf, den er auf keinen Fall im Samstagsgedränge zur Tortur werden lassen wollte.
 
Das machte er immer so, da er keinen Freundeskreis hatte benötigte er den Jahresurlaub nur um einmal im Jahr für zwei Wochen mit seinen Eltern in den Urlaub zu gehen.

Ansonsten waren die restlichen fünf Wochen Urlaub eigentlich vergeudet. Er fragte sich heute noch so manches Mal, wieso er so auf die sieben Wochen Urlaub bestanden hatte. Doch kannte er die Antwort nur zu gut. Wusste er zu genau, dass er zu diesem Zeitpunkt noch daran geglaubt hatte durch die Arbeit als Projektverkäufer mutiger und offener zu werden. Dann, so laut seinen jugendlich hochtrabenden Plänen, dann würde er sich vor allen outen, nachdem er einen riesigen Freundeskreis um sich geschart hatte, mit denen er auf Partyurlaube gehen würde.

Alleine dieser unreife Gedanke war Peter unsagbar peinlich. Partyurlaube mit ihm? Wer wollte sich den bitte den Antialkoholiker bei einem Partyurlaub ans Bein binden? Auch sein damaliger Traum, während einem dieser Urlaube seinen Traummann zu finden war geboren aus Naivität und fehlendem Realitätssinn.

Nicht nur, dass er als einziger Nüchterner Partyteilnehmer sicher wenig interessant für Andere war, nein auch weil Urlaubsbekanntschaften meistens nicht um die Ecke wohnten. Und von Fernbeziehungen hatte Peter noch nie etwas gehalten.

 

Frustriert musste Peter sich eingestehen, dass er die Träume nicht nur nicht erfüllt hatte, nein, er wusste auch, dass sie unerfüllbar blieben, weil sie fernab jedweder Realität entsprungen waren.

 

Himmel, er hatte es bisher ja noch nicht einmal geschafft sich vor seinen Eltern oder seinen Geschwistern zu outen. Und das obwohl Peter wusste, dass sie ihn so liebten wie er war und ihn jederzeit unterstützen würden. Wie sollte er so seinen Traummann auf wildern Partyurlauben finden, die er mitmachte, weil seine nicht vorhandenen Freunde ihn so unbedingt nüchtern dabei haben wollten?
 
Müde und frustriert durch seine eigenen Gedanken, setzte er sich an seinen Platz. Die Marktforschung für das neue Projekt war abgeschlossen. Peter wusste alles Wissenswerte über die Produktion von hochwertigen Verpackungen. Besonders im Fokus waren die außerordentlich hohen Anforderungen an das Füllmaterial gestanden. Hier hatte er verschiedene Optionen zur Gewährleistung der Produktsicherheit trotz edler Verpackung gefunden, die auch empfindliche Produkte auf dem Versandweg ausreichend schützen würden.

 

Jetzt konnte er endlich an die Kundenakquise gehen. Aber auch damit hatte er eigentlich schon begonnen. Das lief bei ihm meistens nebenher, so dass er bereits fünf mögliche Kunden für sein neues Projekt gefunden hatte. Die direkten Ansprechpartner waren herausgesucht und die E-Mails mit der kurzen Produktvorstellung und der Bitte um ein persönliches Gespräch waren bereits individuell für jeden möglichen Kunden vorbereitet.

Die Marktanalyse, die Liste mit den möglichen Lieferanten und Kombinationen sowie die Liste der möglichen Kunden mit den zugehörigen vorbereiteten E-Mails musste jetzt nur noch als Anhänge an eine E-Mail aufbereitet und angehängt werden. Dann noch die geplante Vor-Ort-Projektpräsentation für die Kunden mit den wichtigsten Schlagworten und Informationen anhängen und die E-Mail mit kurzer Erklärung an Olaf schicken.

 

Die Kopien der Präsentation in einer Folie verpacken und auf Olafs Schreibtisch in das „Eingangsfach“ legten. Dann seine Originale in Klarsichtfolie im entsprechenden Ordner ablegen und seinen kompletten Anfrage- und Angebotswust auf dem Laufwerk, dass er mit Olaf teilte ablegen und in Ordnung bringen.

 

Wenn ihn oder Olaf morgen jemand irgendetwas zu dem Projekt fragen würde, dann müssten sie mit einem Mausklick das entsprechende Angebot oder die entsprechende Anfrage raussuchen können.

 

Dann könnte er seine physischen Ordner ins Archiv bringen, dass er anscheinend alleine nutzte. Irgendwann hatte er den Raum eher zufällig als Archiv entlarvt, obwohl kein Schild oder ähnliches darauf hinwies, dass er diese Funktion erfüllen sollte.

Da es aber die Türe direkt neben den Toiletten war hatte er sich einmal versehendlich in dem kleinen staubigen und fensterlosen Raum mit den rieseigen leeren Regalen befunden.

 

Das er in wilder Flucht vor Justin gewesen war, der anscheinend ebenfalls die Toilettenräume aufsuchen wollte hatte sicher erheblich, wenn nicht völlig zu diesem Fehlgriff beigetragen.

Justin war er ungesehen entkommen, ohne überhaupt von ihm verfolgt worden zu sein und seine Scham, als er sich die Situation in diesem kleinen Raum vergegenwärtigte übertraf seine bis dahin aufgestellte Peinlichkeitsscala bei weiten.

Nun aber ein Gutes hatte es wenigstens, denn seit dem räumte er alle Ortner immer direkt hier in die Regale, und musste nicht im Büro immer neue Schränke anfordern um sie aufzubewahren. Schränke waren im Büro nicht gerne gesehen, so hatte er auch nur einen kleinen Schrank in den er auf zwei Ebenen jeweils maximal zehn Ordner unterbringen konnte.

Jedes Dokument in den Ordner hatte er natürlich einzeln feinsäuberlich mit seinen Initialen versehen. Weiter hatte er, damit niemand auf die Idee kommen konnte, das wären alte Unterlagen, die ohne Rücksprache entsorgte werden könnten, auch auf jedem Ordner einen Hinweis mit seinem Namen und dem frühesten Entsorgungstermin, nämlich niemals, auf dem Etikett eingetragen.

 

Peter rief sich zur Resour, er hatte nun wirklich lange genug in Gedanken verweilt. Auch wenn das Projekt beendet war gab es noch einige Abschlussarbeiten zu erledigen, damit er am Freitag ungestört seine To-Do-Liste abarbeiten konnte.

 

Also begann er mit der digitalen Ordneranlage. Bevor er diese wirklich angehen konnte musste er sich immer bereits ein grobes Schema an Ordner mit der korrekten Bezeichnung anlegen. Dann begann er sämtliche digitalen Unterlagen in die jeweiligen Ordner zu schieben. Durch seine jahrelange Erfahrung wusste er genau, welche Ordner er brauchte. Nur selten musste er nachträglich einen Ordner für ungewöhnliche Unterlagen anlegen.

Weiter verfasste er für sich immer noch eine kurze Zusammenfassung sämtlicher wichtigen Informationen zu dem Projekt. Diese Zusammenfassung legte er allerdings nur auf seinem persönlichen Laufwerk ab. Sie war meist Stichwortartig und wäre für jeden anderen wohl wenig hilfreich. Diese Zusammenfassung musste er noch schreiben. Auch die wichtigsten Dokumente zu jedem Projekt befanden sich fein säuberlich mit Peters Kürzel auf seinem privaten Laufwerk.

 

Alles in allem war er guter Dinge, das er noch heute mit der Aufarbeitung und Ablage fertig werden könnte. Wenn er morgen Vormittag dann an die Aufräumaktion seines E-Mail Postfaches ging und zum frühen Nachmittag hin die E-Mail an Olaf schicken würde, dann wäre der restliche Nachmittag sicher mit süßem Nichtstun gefüllt. In diesen Zeiträumen hatte er immer mehr als genug Gelegenheit um verstohlene Blicke zu Justin werfen  zu können und sich dabei vorzustellen, wie dieser Traum von einem Mann ihm die Unschuld nahm.


Doch jetzt galt es zuerst die Ablage in Ordnung zu bringen und nicht irgendwelchen unrealistischen Tagträumen nachzuhängen. Nicht nur, dass Justin mit Micha einen absoluten Traum an seiner Seite hatte, selbst wenn Justin nicht gebunden wäre, dann würde Peter auf seiner Liste begehrter Eroberungen sicher nicht einmal im untersten Bereich einen Platz finden. Er schüttelte den Kopf um die nicht gerade konstruktiven Gedanken los zu werden und widmete sich ganz seiner Aufgabe.
 
Doch wer hätte gedacht, dass er bereits um 15:39 Uhr mit allem fertig sein würde. Er musste noch bis 17:00 Uhr durchhalten und hatte momentan nichts mehr zu tun. Olaf sah plötzlich zu ihm rüber, als würde er etwas ahnen und Peter lächelte unsicher. Olaf nickte ihm kurz zu und sah dann wieder auf seinen Monitor.

Diese furchtbaren verglasten Büros! Es war als wäre man im Aquarium. Peter hatte noch nicht verstanden, wieso die Vorgesetzten alle Büros aus durchsichtigen Glaswänden hatten, die mit der Türe ins Großraumbüro führten.

Es war wie ein rundum Aquarium mit lauter Vorgesetzten, die man begaffen konnte, oder von denen man begafft wurde.

Die Büros waren mit zwei Glasscheiben vom Großraumbüro getrennt und zwischen diesen scheiben waren Lamellen, die bei Bedarf geschlossen werden konnten und somit einen Sichtschutz boten. Aber Olaf hatte diese Lamellen noch nie geschlossen. Bei anderen hatte Peter es schon gesehen, doch Olaf hatte seine Scheiben immer offen.


Müde stand Peter auf. Er würde sich in der Küche einen Kaffee holen um etwas Zeit totzuschlagen. Dass er den Kaffee hier nur so liebte weil Justin ihn jeden Morgen zubereitete gestand er sich in diesem Augenblick lieber nicht ein, sonst hätte das nur wieder zu Tagträumen geführt, wie er Justin morgens und praktisch unbekleidet empfangen und… NEIN AUS! Diese Gedanken waren definitiv fehl am Platze und gehörten in Peters eigene vier Wände!

 

Gerade als er die Tasse gefüllt hatte und sich umdrehte stieß er gegen eine Betonwand. Das Ergebnis war, dass der heiße Kaffee sich auf seinem Hemd und dem Hemd der Betonwand verteilte. Da Peter etwas zu viel Schwung gehabt hatte saß er jetzt mit nassem und brennendem Oberkörper auf dem Boden und sah sich zwei schwarzen Herrenschuhen gegenüber. Es dauerte eine Weile, bis er wirklich realisierte, was gerade passiert war und die Frage, seit wann eine Betonwand ein Hemd und schwarze Schuhe trug abschütteln konnte.
 
Eine tiefe Stimme brachte ihn dazu aufzublicken und direkt in zwei anklagende blaue Seen zu schauen.

Gott, musste es wirklich unbedingt Justin sein? Justin mit seinen unglaublichen roten schmalen Lippen, Justin mit dieser wundervollen kantigen Nase, Justin mit diesem markanten Gesicht in dem alles einfach zusammenpasste, Justin mit seinen traumhaft braunen Haaren, die ihm in ca. 4 cm langen Strähnen vom Kopf vielen, Justin, der mit seinem muskulösen aber nicht aufgedunsenen Oberkörper wie ein Traum wirkte? Justin, der einfach so aussah, als könnte er jeder Modezeitschrift der Welt entsprungen sein?

 

Die Worte klangen erst sehr viel später wirklich zu ihm durch. „Was bist du den für ein Praktikant? Kannst du nicht mal richtig Kaffee für den Chef holen!“

Der wütende Blick war nicht aus diesem traumhaften Gesicht gewichen und dennoch war es wunderschön.

 

Wie oft hatte Peter sich das erste Gespräch mit Justin vorgestellt und wie oft waren sie sich in seiner Fantasie direkt nach dem ersten tiefen Blick küssend in den Armen gelegen? Und jetzt? Das sollte ihr erstes Gespräch sein? Das sollte der viel herbeigesehnte erste Kontakt mit seinem Traummann sein?

Seine Brust brannte, ob vom heißen Kaffee, oder durch die tiefe Enttäuschung konnte er nicht sagen. Sein Hintern brannte durch den heftigen Falls. In ihm kochte heiße Wut hoch und ganz gegen seine Gewohnheit hielt er Justin mit seinem besten Killerblick fest.

„Wie nett, der Gorilla kann sprechen. Ich dachte die letzten sieben Jahr ja, dass das Mischa für dich tun muss.“

Der Blick in Justins Gesicht änderte sich von wütend in überrascht. „Sieben Jahre?“

Peter streckte Justin, entgegen seiner sonst schüchternen Art, auffordernd die Hand entgegen und dieser griff danach. Die Berührung schickte Stromschläge durch seinen ganzen Körper. Doch das durfte er sich natürlich nicht anmerken lassen. Also kämpfte er all die Schmetterlinge nieder. Er besiegte das Bedürfnis eine Gänsehaut zu bekommen und rot anzulaufen erfolgreiche und setzte sein bestes Pokerface auf.

 

Justin musste trotz Peters jetzt stehender Position zu ihm runter schauen. So nah war Peter ihm noch nie gewesen. Dass er groß war hatte Peter ja schon gesehen, aber er war beinahe zwei Köpfe größer als er selbst und Peter war mit seinen 1,86 m auch kein Zwerg.

Peter gab sich mühe möglichst wütend auszusehen um seine Aufregung, die nach der unverhofften Berührung die Wut, trotz seines Inneren Versuchs sie aufrecht zu erhalten, bereits überlagert hatte, zu überspielen.


Herausfordernd reckte er sein Kinn hoch und sah Justin direkt an. „Ist schon klar, dass du und dein Schatzi vor lauter flirten eure Umwelt nicht so wahrnehmt, aber dass ihr seid über sieben Jahren Kunden betreut, denen ich meine Produkte verkauft habe hätte euch dann doch mal auffallen können.“

 

Jetzt sah Justin ihn mit einem Grinsen im Gesicht an. „Mein Schatzi?“ Peter war nicht klar gewesen, dass er Mischa so bezeichnet hatte und er musste erneut mit aller Kraft dagegen ankämpfen um nicht rot anzulaufen. Wie er diesen Kampf zum wiederholten Male erfolgreich gewonnen hatte wusste er zwar nicht, aber er war dankbar dafür.

 

Komischerweise half ihm seine Wut wieder dabei sich nicht wie ein verliebter Teenager in Justins Arme zu schmeißen oder schwülstig zu Seufzen und irgendwelche Liebesbekundungen oder noch schlimmer Bitten ihm seine Unschuld hier und jetzt in der Büroküche zu rauben zu äußern.

„Oho, das war ja klar, nur das hat der Gorilla verstanden. Das ich aber kein Praktikant, sondern seit über sieben Jahren Produktentwickler und Produktverkäufer in dieser Firma bin, das ist ihm völlig entgangen. War wohl zu viel Input für dein Primatenhirn. Immer nur eine Sache auf einmal.“

 

Peter versuchte sich an einem süffisanten Grinsen, sah sich vorab aber geistig kläglich versagen. Es schien ihm dennoch besser zu gelingen als gedacht, denn jetzt entglitten Justin tatsächlich für einige Sekunden sämtliche Gesichtszüge.

 

„Du bist einer von uns und fängst nicht an zu sabbern wenn du mich siehst?“ Peter benötigte wieder einige Sekunden um zu verstehen, was Justin sagte. Diese wundervolle Stimme vernebelte ihm derart das Hirn, dass er fürchten musste bald nur noch eine breiartige Masse in seinem Kopf vorzufinden.

Er erwischte sich sogar kurzzeitig bei der Frage, ob das so schlimm wäre, wenn er diese Stimme dafür immer hören dürfte.
 

Peter wiederstand mit aller Gewalt dem Drang sich durch ein leichtes Kopfschütteln von den wirren und momentan sehr unproduktiven Gedanken zu befreien. Er verbreiterte sein Grinsen und brach dann in schallendes Gelächter aus. Wie gut, dass Peter für seine Familie so oft den gut gelaunten und glücklichen Mann spielen musste. Sonst hätte er diese Scharade niemals überzeugend spielen können.

 

Justin schien vor den Kopf gestoßen.
Peter beruhigte sich wieder, nachdem er innerlich bis 58 gezählte hatte. Nach seiner bisherigen Erfahrung war das genau die richtige Länge um ein überzeugendes gespieltes Gelächter aufrechtzuerhalten ohne ins Unglaubwürdige abzudriften. Dann setzte er einen, wie er hoffte verführerischen Schlafzimmerblick auf und berührte Justin leicht an der Schulter. Er zog sich praktisch zu Justin rauf, um ihm ins Ohr hauchen zu können.

Auf Zehenspitzen war er seit der Schulzeit nicht mehr gestanden und das machte es ihm nicht gerade leichter sein Gleichgewicht zu halten, aber Justin hatte eine breite Schulter an der er sich abstützen konnte.

Mit, wie er weiter hoffte, verführerischer Stimme flüsterte er leise „Wieso sollte ich auf unterbelichtete Primaten stehen?“.

 

Dann ließ er von der Schulter ab, stellte sich gerade hin und drehte sich um, um die Tasse ins Spülbecken zu stellen. Er war darauf bedacht auf keinen Fall in Justins Nähe einzuatmen. Wer wusste schon, was der Duft dieses Traummannes mit seinem Schauspielerischen Talent anstellen würde! Er konnte es sich und seinem eh schon angeknacksten Ruf nicht leisten jetzt schwach zu werden!

 

Er wollte tief durchatmen oder sich irgendwie anders auf die jetzt folgenden Sekunden vorbereiten, doch Justin war zu nah und hätte jede Regung bemerkt. Also dreht er sich mit arrogantem Blick um, wedelte wie man einen Hund aus dem Weg wedeln würde, mit der Hand und zu seinem Erstaunen bewegte Justin sich tatsächlich zur Seite. Peter rauschte in einem filmreifen Abgang von dannen.
 
Er war müde und jetzt auch total durchnässt. Sein Herz raste immer noch vor Aufregung und sein Magen zog sich wegen der herben Enttäuschung über Justins Arroganz beinahe schmerzhaft zusammen. Natürlich war Peter klar gewesen, dass ein Mann wie Justin bei seinem Aussehen eine gewisse Arroganz an den Tag legen würde. Aber musste ausgerechnet er es sein, der sie so deutlich zu spüren bekam?

Er hatte eine Entscheidung getroffen. Heute würde er Überstunden abbauen und morgen wie auch übermorgen würde er Urlaub nehmen. So hätte er vier Tage um sich von diesem Erlebnis zu erholen und wieder in seine alltägliche Routine eintauchen zu können.

Eilig löste er die Bildschirmsperre auf seinem PC mit dem korrekten Passwort um dann die E-Mail an Olaf rauszusuchen und sofort auf senden zu drücken. Dann fuhr er seinen Rechner runter und machte sich mit den notwendigen Unterlagen auf den Weg in Olafs Büro.
 
Als er eintrat erkannte er, dass Olaf seine E-Mail bereits las. Er schaute auf und bedeutete ihm sich hinzusetzten. Dann vertiefte er sich wieder in den Entwurf. Peter legte die Unterlagen in das Fach und setzte sich dann auf einen der beiden Stühle, die für kurze Besprechungen vor Olafs Schreibtisch standen.

Peter kannte den Ablauf. An jedem anderen Tag hätte er Olaf mindestens zwei Stunden eingeräumt um die E-Mail zu lesen, aber heute musste er dringend hier raus.

Er wollte aus dem dreckigen und nassen Hemd, er wollte aus der Reichweite von Justin und er wollte einfach nur alleine in Selbstmitleid zerfließen, weil die Welt so ungerecht zu ihm war.

Doch jetzt hieß es aushaaren. Olaf würde sich beeilen, er beeilte sich immer, wenn Peter sich sofort nach dem E-Mail Versand zu ihm ins Büro bemühte. Das war erst zwei Mal vorgekommen.

 

Das erste Mal war seine Mutter ins Krankenhaus gekommen. Erst als er völlig fertig nach Einreichung seines Urlaubes nach Hause zu seinen Eltern gefahren war hatte er erfahren, dass sie sich lediglich den Arm gebrochen hatte und schon wieder zuhause war. Keiner verstand, wieso Peter wegen eines Armbruchs gleich zwei Tage Urlaub genommen hatte.

 

Und das zweite Mal hatte seine Schwester ihm mitgeteilt, dass sie Schwanger war und ihn sofort brauchte.

Olaf wusste also, dass Peter jetzt nicht hier säße, wenn er keinen triftigen Grund dafür hätte. Aber er hoffte inständig, dass Olaf ihn nicht danach fragen würde. Wie sollte er den bitte erklären, dass er jetzt hier saß weil die Welt so ungerecht war? Weil Justin sich nicht sofort Hals über Kopf in ihn verliebt und ihn noch in der Personalküche … STOP!!! Falsche Richtung.

 

Peter atmete tief durch, was ihm einen kurzen Blick von Olaf einbrachte. Mühsam versuchte er die versteiften Glieder zu entspannen und einen Punkt direkt hinter Olaf an der Wand zu fixieren. Es wollte nicht so gelingen wie sonst, aber es half ein bisschen um seine Atmung wieder untern Kontrolle zu bringen und die Röte weiterhin aus seinem Gesicht fern zu halten.
 
Nach knapp zehn Minuten sah Olaf von der E-Mail auf und lächelte Peter beruhigend an. „Du bist wieder einmal unglaublich. Wie schaffst du das nur immer? Ich habe deinem Entwurf nichts hinzuzufügen. Du kannst morgen mit der Kundenakquise beginnen.“

Peter rutschte unruhig auf dem bequemen Stuhl hin und her. „Peter, was ist denn los? Und wie sieht denn dein Hemd aus? Ist das Kaffee?“ Peter sah Olaf etwas verlegen an. „Ich wollte Urlaub.“

 

Olaf sollte nach knapp über sieben Jahren an Peters wortkarge Art gewohnt sein, doch er schien nicht richtig zu verstehen, was Peter sagen wollte. „Urlaub? Hmm also du kannst gerne Urlaub nehmen, aber fährst du nicht sonst erst im September mit deiner Familie weg? Es ist doch erst Mai. Wolltet ihr den Urlaubsort einmal ändern?“ Olaf lächelte Peter gewinnend an und Peter hatte das Gefühl im Erdboden versinken zu müssen.

Wieso schaffte er es nicht einmal bei der einzigen Person, die für ihn einem Freund nahe kam einen vernünftigen und vor allen Dingen verständlichen Satz zu artikulieren?

Wobei er es heute durchaus schon geschafft hatte verständliche Sätze zu artikulieren. Er hatte Justin immerhin in verständlicher Grammatik und ordentlichem Satzbau angegiftet.

Oh Gott, er wollte sterben vor Scham!

 

Mühsam versuchte er sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren und merkte, wie ihm eine leichte Röte ins Gesicht schoss. „Nein. Nur bis nächste Woche.“ Jetzt schien es bei Olaf zu klicken. Außerdem schien es Peter, als hätte Olaf kurz damit zu kämpfen etwas zu sagen, was er dann aber doch hinunter schluckte. Peter war dankbar, dass Olaf keine Fragen stellte, die Peter sicher nicht ohne Stottern beantworten könnte. „Zwei Tage? Das ist aber auch selten. Etwas Schönes geplant?“ Wieder dieses offene Lächeln, das Olafs Gesicht fast immer zierte und Peter immer wieder zeigte, wie verschlossen er im Vergleich zu anderen doch war.

 

Müde von dem Erlebten und der Selbstkritik, oder vielleicht besser des Selbsthasses, schüttelte er den Kopf. Olaf schien zu verstehen. „Gut, dann wünsche ich dir ein schönes verlängertes Wochenende. Ich werde die von dir rausgesuchten Kunden kontaktieren, dann kannst du am Montag in aller Ruhe mit dem neuen Projekt starten.“ Olaf lächelte Peter erneut auf seine ganz bestimmte Art an. Eine leichte und ja, fast Lausbubenhafte Art. Eine Art, die Peter beinahe dazu bringen könnte Olaf sein Herz auszuschütten. Er war das, was einem wahren Freund am nächsten kam. Und dennoch schaffte er es nicht offen zu seinem Gegenüber zu sein.

„Danke.“ Quetschte er zwischen den Lippen heraus und stand dann ungelenk auf.

„Bis Montag.“ Flötete Olaf ihm hinterher während er das Büro gebückt verlassen wollte.

 

Als er jedoch durch die Scheiben in das Großraumbüro blickte, konnte er erkennen, dass Justin ihn direkt ansah. Also streckte Peter sein Kreuz durch und setzte den arrogantesten Blick den er aufbringen konnte auf. Er schlenderte aus dem Büro und zu seinem Schreibtisch, nahm seine Jacke bevor er nach seiner Aktentasche griff und ging dann gemächlich Richtung Ausgang.
 
Im Aufzug war er glücklich kurz alleine zu sein und in sich zusammensacken zu können. Das hatte ihn alles ziemlich mitgenommen. Dieses Schauspiel könnte er sicher nicht viel länger als ein paar Minuten aufrecht erhalten. Justins Augen würde das verhindern. Sie würden ihn einfangen, ihn in Ketten legen und alles von ihm nehmen, was er nicht bereit war zu geben.

 

Mit einem grimmigen Lächeln schüttelte Peter den Kopf. So etwas dämliches auch nur zu denken. Als ob Justin irgendetwas von ihm wollte! War es nicht eher so, dass Peter bereit wäre Justin beinahe alles zu geben, dieser aber gänzlich uninteressiert war?

Gerade als der Aufzug das Erdgeschoss erreicht hatten konnte er sich wieder sammeln und aufrecht hinstellen um wenigstens das bisschen Würde, dass ihm die Kollegen mit ihrer kalten und schneidenden Art noch nicht hatten nehmen können, zu behalten.

 

Als er gerade das Gebäude verlassen wollte wurde er am Arm gepackt und zurück gezerrt. Er spürte einen kurzen durchdringenden Schmerz und verzog das Gesicht. „Sorry, ich wollte dir nicht weh tun. Aber sag mal arbeitest du etwa für den Olle?“

Peter schaute wieder in diese unglaublichen blauen Tiefen und hätte beinahe alles um sich herum vergessen, doch er zwang sich zur richtigen Reaktion und nicht zu verliebtem dummen Gebrabbel. „Dass ein Neandertaler wie du keinerlei Feingefühl hat habe ich bereits erwartet. Für dich ist Olaf immer noch Herr Kernig!“

Mit würdevollem Abgang wollte er sich umdrehen und der Situation schnellstmöglich entfliehen, doch Justin packte seine Schultern und diesem Schraubstockartigen Griff hatte Peter so überhaupt nichts entgegenzusetzen. Wobei Schraubstockartig wohl übertrieben war. Immerhin tat Justin ihm nicht weh. Aber sein Griff hielt ihn beinahe unbeweglich an Ort und Stelle fest. „Nimm dich vor dem in Acht, das ist ein Arschloch.“

 

Peter wurde sich just in dieser Sekunde bewusst, wie nah Justin ihm gerade war, dass er ihn sogar berührte. Heiße Schauer der Erregung glitten von seinen Schultern durch seinen gesamten Körper und wollten sich in seiner Körpermitte gerade zu einem kleinen Zelt formen, als Peter nach einiger Verzögerung die Worte dieser unglaublichen Stimme, die ihn neben den warmen Hände einlullen wollte, wirklich verstand.

Jetzt entglitten ihm sämtliche Gesichtszüge. Er spürte es deutlich. Doch nur wenige Millisekunden, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Was fällt dir ein schlecht über Olaf zu sprechen? Er ist einer der aufrichtigsten und rücksichtsvollsten Menschen die ich kenne und hat es nicht verdient, von einem unterbelichteten Primaten wie dir verunglimpft zu werden!“

 

Wut flackerte wie Feuer in ihm auf. Vieles hatte er sich erträumt, vieles erhofft. Nichts ging in der Realität in Erfüllung.

Schlimmer noch, jetzt beleidigte Justin auch noch Olaf.

 

„Wenn du so einen als rücksichtsvoll ansiehst, dann kennst du nicht viele Menschen.“ Das hatte gesessen. Peter riss sich los und drehte sich erhobenen Hauptes um. Hier hielt ihn nichts mehr. Er würde jetzt daheim mit einem riesen Eimer Schokoladeneis irgendeine Liebesschnulze anschauen gehen und behaupten, dass er wegen des schrecklichen Dramas weinte, obwohl er wusste, dass ihm bereits jetzt die Tränen in die Augen drängten.

 

Justin war ein Arschloch. Er hatte ihn umgerannt, verhöhnt und jetzt auch noch beleidigt. Er war es nicht wert und trotzdem brannten seine Augen bereits. Wieder wurde er aufgehalten, doch er weigerte sich mit aller Macht sich umdrehen zu lassen. Also stand er mit dem Rücken zu Justin gewannt an der Türe und kämpfte mit aller Kraft die Tränen soweit nieder, dass Justin sie nicht bemerken konnte.


„Du scheinst wirklich große Stücke auf den Idioten zu halten aber glaub mir, ich kenne ihn schon länger als du. Wenn du wissen willst, was für ein Mensch der ist, dann komm am Freitag ins Lolbella.“

 

Entsetzt drehte Peter sich nun doch um. Tränen oder andere Gefühlsregungen waren vergessen. „Lolbella?“ hauchte er ängstlich. Justin sah ihn erst perplex an, dann grinste er breit. „Man, so wie du das aussprichst könnte man meinen, du wärst eine Jungfrau, die sich noch nie in den Schuppen rein getraut hat.“

Das wohl darauf geplante Lachen blieb Justin jedoch im Hals stecken. Peter spürte auch deutlich wieso, denn sein Gesicht brannte wie Feuer. „Sag bloß das ist wahr? Du bist noch ne ungeküsste Jungfrau? Sag mal wie alt bist du?“

 

Peter spürte den Trotz aufsteigen und er wusste in dem Moment, als sein Mund aufging, dass er sich wie ein trotziges Kleinkind anhören musste. „Ich bin 28 Jahre alt Opa. Und wann ich meinen ersten Kuss bekomme hat sicher nichts mit dir zu tun. Muss ja nicht jeder so primitiv und sexualgesteuert sein wie gewisse unterbelichtete Primaten, die nicht wissen wann man den Mund zu halten hat!“
 
Mit diesen Worten wollte er sich umdrehen und wieder einen filmreifen Abgang hinlegen, doch zwei starke Arme schlossen sich von hinten um ihn.

„Oh unsere kleine ungeküsste Jungfrau ist ja eine richtige Primadonna. Soll ich dich aus diesem ungeküssten Zustand erlösen.“ Die raue und verführerische Stimme, das leichte Lecken der fremden Zunge über seine Ohrmuschel und dazu die feste und doch zarte Umarmung der starken Arme machten Peter schwindelig. Er bebte. Er spürte es deutlich, er bebte vor heiß ersehnter Erregung.

 

Doch dann drang die Bedeutung des Gesagten wirklich zu ihm durch und nun bebte er vor Wut. Justin schien jedoch zu glauben, dass Peter sich nach ihm verzehrte. Gut, hätte Justin den Satz nicht geäußert, dann wäre Peter bereits in seinen Armen zerflossen. Doch zuerst beleidigte er Olaf und dann meinte er sich erbarmen zu müssen um Peter aus seinem „ungeküssten Zustand“ zu erlösen.

Justin trat langsam um Peter herum und schien sich bereits auf einen Kuss vorzubereiten, denn seine Augen waren  geschlossen und er lehnte sich leicht nach vorne.

Peter jedoch war zu wütend um wirklich zu realisieren, wie oft er sich diesen Augenblick bereits erträumt hatte. Er holte aus.

 

Der völlig perplexe Gesichtsausdruck von Justin und die rote Wange ließen Peter wieder einigermaßen im Hier und Jetzt ankommen. „Unterbelichteter Primat!“ presste er atemlos hervor, bevor er eilig das Gebäude verließ. Das war dann wohl wirklich ein richtig filmreifer Abgang gewesen.

2

Wie er es geschafft hatte nach Hause zu kommen war ihm nicht wirklich bewusst, er nahm sich und seine Umwelt erst wieder wahr, als er die Türe ins Schloss geschmissen hatte, die Schuhe von den Füssen getreten waren und der Mantel neben der Arbeitstasche auf dem Boden lag. Er schloss die Türe aus blinder Gewohnheit ab und stellte den Schlüssel quer, damit keiner von außen aufschließen konnte.

 

Seine extreme Ordnungsliebe verlangte das sofortige Aufhängen des Mantels, das Aufstellen der Arbeitstasche in seinem kleinen Arbeitszimmer unter dem Schreibtisch und die Entledigung der verdreckten Kleidung, ehe er in sein Schlafzimmer rannte, sich aufs Bett warf und laut in sein Kissen schrie.

Der durchs Kissen erstickte Schrei hatte sich einfach gelöst. Peter war sonst niemand, der an die Uhrschrei Theorie und deren angeblich beruhigende Wirkung glaubte, doch jetzt gerade wusste er sich nicht anders zu helfen.

Nicht nur, dass er dem lang ersehnten Kuss nicht mit freudiger Erregung entgegen gestürmt war, nein er hatte auch noch jemanden geohrfeigt. Und dieser Jemand musste auch noch Justin, der Traum seiner schlaflosen Nächte, sein. Und das so heftig, dass seine Hand immer noch leicht brannte.

Peter fühlte sich so endlos verzweifelt, dass er begann laut zu Schluchzen und sich dann einem Tränenmeer ergab, dass ihn nach Verebben in wilde Schluchzer und seltsame körperliche Zuckungen führte, bevor er endlich in den Schlaf entlassen wurde.

 

Der nächste Morgen brachte einen verspannten Nacken. Peter hatte in einer sehr ungünstigen Körperhaltung geschlafen. Dazu hatte er sich nicht zugedeckt und schien bereits leichte Verstopfungserscheinungen seiner Nase zu spüren. Und das sollte nun der Beginn seines freien Tages sein? Peter war wütend auf sich selbst, wütend auf Justin und wütend auf Olaf.

Doch Olaf konnte nichts dafür, dass Justin schlecht über ihn sprach, also war Peter noch wütender auf sich und Justin, weil sie Olaf mit in ihren Streit einbezogen hatten.

 

Nach einer ausgiebigen Dusche, einem starken Kaffee und einer ordentlichen Rasur fühlte er sich wieder vorzeigbar und wagte sich todesmutig unter Menschen. Er hatte ja nicht aus Spaß an der Freude am Freitag frei nehmen wollen. Seine „To-Do“ Liste umfasste immerhin die Themen:

 

  1. Gelbe Säcke
  2. Lebensmittel einkaufen
  3. KFZ-Werkstatt aufsuchen und Birne vorne wechseln lassen
  4. Termin auf der Bank versuchen auf heute zu verschieben und Termin wahrnehmen
  5. Mutter anrufen
  6. Schwester anrufen
  7. Geburtstagsgeschenk für die Nichte kaufen
  8. Muttertagsgeschenk und Muttertagskarte kaufen
  9. Vatertagsgeschenk und Vatertagskarte kaufen
  10. Neue Puzzel mit guten Motiven suchen
  11. Alle Dokumente für die Steuererklärung zusammensuchen
  12. Steuererklärung machen

 

Das sollte eigentlich alles sein, doch Peter merkte hinterher immer, dass er noch etwas vergessen hatte.

 

Die Punkte des Birnenwechsels, der Gelben Säcke und der Karten für Mutter und Vater waren recht schnell abgehackt und er konnte sich auf die Geschenke-Suche begeben.

Das wiederum schlauchte ihn jedes Mal aufs Neue. Er hasste es Geschenke für andere aussuchen zu müssen. Er konnte sich so schlecht in andere Personen hineinversetzten, dass er einfach keine Idee hatte, was man schenken könnte.

Nach zwei Stunden und mehreren prüfenden Blicken des Personals des kleinen Ladens unter denen er sich wie ein Ladendieb fühlte, griff er nach seinem Handy und rief seine Schwester an.

 

Den Anruf hatte er sofort bereut. Natürlich hatte seine Schwester die jüngste Tochter geschnappt und war ins Auto gesprungen. Sie freute sich immer, wenn er einmal unter der Woche Zeit für sie fand. So verbrachte er bereits die vierte Stunde mit seiner Schwester.

Die Geschenke waren nach dem Anruf sein kleinstes Problem gewesen. Seine Schwester hatte beinahe blind in die Regale gegriffen und für seinen Vater ein Pfeifenset, für seine Mutter ein Kochbuch irgendeines Fernsehkochs und für ihre eigene Tochter einen Gutschein für den nahegelegenen Vergnügungspark in den Einkaufskorb zu Peters Puzzles gelegt.

 

Seine Puzzleleidenschaft hatte sie noch nie verstanden und auch jetzt erhielt er nach einem kurzen Blick auf die Motive mit Einhörnern, Feen und Stränden nur einen mitleidigen Blick.

 

Nach dem bezahlen hatte sie aber unbedingt noch Kleidung einkaufen wollen. Natürlich hatte sie Peter komplett neu eingekleidet. Momentan fragte er sich, ob das Gespräch mit dem Bankangestellten morgen nicht bald gegenstandslos sein würde, wenn scheine Schwester weiterhin sein Geld mit vollen Händen ausgeben sollte.

 

Jetzt saß Peter also mit den Geschenken, einer komplett neuen Garderobe und einer neuen Frisur in der Eisdiele und durfte seine Schwester als Dankeschön für ihre Hilfe einladen.

Die kleine Tanja war bisher wirklich brav gewesen und schmatzte jetzt an ihrem Eis herum. Die dreijährige schaute ihn immer wieder mit großen leuchtenden Augen an und grinste mit verschmiertem Mund.

 

Irgendwie verpasste dieser Anblick Peter immer einen Stich ins Herz. Auch wenn er schon lange wusste, dass er der gleichgeschlechtlichen Liebe zugetan war wünschte er sich doch schon ewig Kinder. So kleine süße Fratzen, wie die seiner Schwester.

 

Alle glaubten immer er könnte nicht mit Kinder umgehen, weil er sie mied. Tatsächlich versuchte er aber dem Schmerz, den ihr Anblick ihm jedes Mal ins Herz bohrte zu entkommen.

 

Müde nahm er seine Liste und strich die erledigten Dinge durch:

 

  1. Gelbe Säcke
  2. Lebensmittel einkaufen
  3. KFZ-Werkstatt aufsuchen und Birne vorne wechseln lassen
  4. Termin auf der Bank versuchen auf heute zu verschieben und Termin wahrnehmen
  5. Mutter anrufen
  6. Schwester anrufen
  7. Geburtstagsgeschenk für die Nichte kaufen
  8. Muttertagsgeschenk und Muttertagskarte kaufen
  9. Vatertagsgeschenk und Vatertagskarte kaufen
  10. Neue Puzzel mit guten Motiven suchen
  11. Alle Dokumente für die Steuererklärung zusammensuchen
  12. Steuererklärung machen

 

Nun, er hatte trotz der gewalttätigen Unterbrechung seiner Pläne durch seine Schwester einiges geschafft. Und sogar was er vergessen hatte aufzuschreiben wer erledigt. Immerhin hatte er dringend neue Kleidung benötigt.

Aber die Outfits die seine Schwester für ihn ausgewählt hatte würde er wohl nie tragen können. Es waren zwei sehr eng anliegende Hosen, die sämtliche Konturen seiner Beine und vor allem seines nicht vorhandenen Pos deutlich erahnen ließen. Dazu ein weißes Hemd, das man nicht schließen konnte und eine Art Netztop das man laut seiner Schwester drunter trug.

Als er dann mit dem ihn lieben weiten Hosen und unspektakulären T-Shirts, Pullovern, Socken und Unterhosen zurück war hatte sie ihn nur nüchtern angeschaut und erneut stumm den Kopf geschüttelt. Sie schnappte die Unterhosen und Peter hatte sich schon gefragt was sie damit wollte, da war sie schon davon gestürmt und wenige Minuten später erneut vor ihm gestanden.

 

Zu seiner Erleichterung hatte sie die von ihm gewählten bequemen Boxershorts nicht weggelegt, nein, aber sie hatte grausame kurze Unterhosen, die sich als Männertanga bezeichnen lassen konnten mit auf seinen Stapel gelegt. Dann drückte sie ihm noch ein paar weiße und ein paar schwarze Socken in die Hand. Taten es seine Tennissocken nicht auch?

 

Als er nach dem Bezahlen des Eis dachte endlich erlöst zu sein wurde er aber gleich ins nächste Schuhgeschäft gezerrt und nun besaß er zu allem Überfluss auch noch zwei paar edle Herrenschuhe, die er zu den nächsten Beerdigungen oder Hochzeiten anziehen könnte.

Er war müde, er war erledigt und er würde heute sicher keinen Termin mehr mit der Bank oder Vorbereitungen für die Steuererklärung machen.

 

Auch die Frage ob er seine Mutter wirklich heute noch anrufen musste wallte kurz in seinem Geist auf. Doch das musste er sich selbst, wenn auch zähneknirschend, bejahen.

Immerhin würde seine Schwester sofort nach dem heim kommen Mutter anrufen, um ihr von den „tollen“ neuen Kleidern zu berichten, die sie für ihn ausgesucht hatte.

 

Wiederholt seufzte er leise. Doch seine Schwester kannte ihn einfach zu gut. Sie sah ihn direkt an und er wusste genau, was dieser Blick zu bedeuten hat.

Sie wollte ihm damit stumm mitteilen, dass er die gemeinsamen Eltern und auch die anderen Geschwister ruhig häufiger anrufen oder gar gleich besuchen könnte.

Müde lächelte er ihr zu und wusste, dass sie ihn ebenfalls sofort verstand. Er würde weder das eine noch das andere jemals in die Tat umsetzten.

 

Nach einer, wie es für Peter schien, endlosen Zeit im Schuhgeschäft durfte er sich endlich von Schwester und Nichte verabschieden und seiner eigenen Wege gehen. Nun war es aber bereits nach siebzehn Uhr und er konnte nur noch die Lebensmittelbeschaffung in Angriff nehmen.

 

Als er endlich, daheim die Türe ins Schloss fallen ließ wäre er am liebsten sofort auf den Boden gesunken und eingeschlafen. Doch das war natürlich unmöglich. Erst musste er sämtliche Einkäufe versorgen. Die Lebensmittel in die Küche, die Geschenke und Karten ins Schlafzimmer zum einpacken und die neuen Kleider in die Wäsche. Das Waschen nahm er sofort in Angriff. Immerhin galt es auch noch das seit gestern eingeweichte Hemd mit dem Kaffeefleck wieder sauber zu bekommen. Die Wäscheladung war schnell in der Maschine und diese röhrte in ihrem dumpfen Wummern los.

 

Dann noch die neuen Schuhe imprägniert und auf den Balkon zum auslüften und fertig. Jetzt war es so weit, jetzt könnte er sich hinlegen. Aber weit gefehlt, genau in dem Moment, als er sich mit einem Kaffee auf seine Couch zubewegen wollte klingelte sein Telefon.

Tja, die Kommunikation zwischen seiner Mutter und seiner Schwester war seit Whatsapp noch schneller geworden.

Müde nahm er das Gespräch entgegen und wusste, jetzt würde er länger Zeit nicht zu Wort kommen.

 

Die drei Stunden, in denen seine Mutter ihn ausführlich über den Gesundheitszustand jedes Verwandten, jedes Nachbarn und sogar der jeweiligen Haustiere aufgeklärt hatte, ihm von dem neuen Fitnesscenter mit den süßen Trainerinnen erzählt hatte, ihm mehrmals Vorwürfe wegen seiner seltenen Anrufe und Besuche gemacht hatte konnte er endlich erschöpft und völlig erschlagen auflegen.

Während dem Redefluss seiner Mutter hatte er es doch tatsächlich geschafft sämtliche Unterlagen für die Steuererklärung rauszusuchen und diese sogar schon anzufangen. Jetzt war es auch schon egal, wenn er einmal begonnen hatte mochte er es nicht Dinge unvollendet liegen zu lassen, wenn er sie beenden konnte.

 

Gähnend beendete er um halb zwei in der Nacht seine Steuererklärung und machte sich daran die letzte Ladung der gewaschenen Wäsche aufzuhängen. Erst nach dem er noch einmal in jedem Raum geprüft hatte, dass die Fenster und Fensterläden geschlossen waren, dass es aufgeräumt war und dass nirgends etwas nicht an seinem Platz lag ging er ins Badezimmer um sich bettfertig zu machen.

 

Frisch geduscht, mit geputzten Zähen und bewaffnet mit einem Glas Wasser für den Nachttisch betrat er wieder gähnend sein Schlafzimmer. Dort lagen die Geschenke noch nicht eingepackt auf dem Bett und so etwas konnte Peter nun wirklich nicht haben.

Seine Geschwister hatten ihn oft damit aufgezogen, dass er den Satz „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Nicht nur lebte, nein er schien ihn zu atmen.

 

Doch Peter konnte diese Art nicht abstellen und so hatte er häufig Freizeit gehabt, wenn andere noch dringend irgendwelche Hausarbeiten auf den letzten Drücker machen mussten.

Er sah das nicht als Schwäche, sondern eher als Stärke, so war er den anderen fast immer mindestens einen Schritt voraus.

Dennoch hätte er jetzt auf diese Eigenschaft dankend verzichten können. Er war müde, er müsste morgen um neun Uhr aufstehen um pünktlich um 11 Uhr den Termin mit seinem Berater bei der Bank wahrnehmen zu können und es war bereits nach halb drei. Doch er wusste, er würde nicht ruhig einschlafen können, wenn er wüsste, dass die Geschenke uneingepackt und die Karten ungeschrieben neben ihm liegen würden.

 

Also holte er das Geschenkpapier und seine speziellen Stifte aus dem Schrank. Er hatte extra Metallic-Stifte um Karten aller Art zu beschriften. Auch das war eine seiner Eigenarten. Eine Karte, die zu einem Geschenk gehörte durfte nicht einfach mit einem profanen Kugelschreiber oder Füller geschrieben werden. Sie musste schon von der Stiftfarbe her etwas Besonderes sein!

 

Endlich wirklich fertig schleppte er sich um viertel nach Drei in sein Bett. Müde aber dennoch stolz warf er einen letzten Blick auf die sauber eingepackten Pakete und die Karten, die in ihren Briefumschlägen steckten, welche den jeweiligen Empfängernamen in Metallic-Farben auswiesen. Dann löschte er das Licht mit dem Schalter am Kopfende seines Bettes und war bereits wenige Sekunden später wieder stocksteif. Er schaltete das Licht wieder ein und schnappte seinen Wecker. Beinahe hätte er vergessen ihn zu stellen und das wäre für Peter einem Weltuntergang gleichgekommen. Termine aller Art waren ihm beinahe schon heilig und er hasste es sich bei irgendetwas zu verspäten. Ebenso hasste er Verspätungen anderer Personen.

 

Den Schreck noch in den Gliedern kontrollierte er noch drei Mal, ob der Wecker wirklich gestellt war, ehe er das Licht wieder löschte und sich zurück in die Kissen fallen ließ.

Jetzt dauerte es nur noch Minuten und er war im Land der Träume.

 

Träume die von Ohrfeigen und unterbelichteten Neandertaler-Gorillas handelten.

Träume die ihm heiße Schauer der Erregung und kalte Schauer der Wut den Rücken hinab jagten.

Wirre Träume, in denen er Olaf sah, der von einem Gorilla bedroht wurde und sich mit Bananen gegen ihn wehrte.

Als das Schrillen seines Weckers ihn aus diesen Träumen riss benötigte er länger als sonst, um zu realisieren wo er war und das es Zeit war das Bett zu verlassen. Gähnend und mit dem Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein zerre er seine matten Glieder in die Dusche. Der eiskalte Duschstrahl ließ Leben in seinen Körper zurückkehren. Mist, er hatte wieder kein warmes Wasser!

Das war häufiger der Fall. Das Haus war alt und wenn alle Bewohner geduscht hatten war der Vorrat meist erst Stunden später wieder aufgefüllt.

Sonst, wenn er morgens zwischen sechs und sieben Uhr duschte gab es da eigentlich keine Probleme, aber jetzt war es bereits beinahe halb zehn und fast alle Bewohner des Hauses, wenn nicht sogar alle, dürften bereits geduscht haben.

 

Zitternd vor Kälte seifte er sich dennoch notgedrungen ein und ließ das eiskalte Wasser erneut über seinen Körper fließen.

Steifgefroren verließ er das Bad und beeilte sich in sein Schlafzimmer an den Kleiderschrank zu kommen um sich sofort in frische Wäsche zu flüchten.

 

Immer noch zitternd betrat er angezogen die Küche und musste feststellen, dass seine morgendliche Routine versagt hatte. Er hatte vor dem Duschen vergessen die Kaffeemaschine einzuschalten und jetzt musste er ohne Kaffee aus dem Haus.

 

Es war zum verrückt werden, doch nicht zu ändern. Also beeilte sich Peter in seine Schuhe und wollte gerade aus der Wohnung stürzen, als ihm einfiel, dass er seine Zähne gar nicht geputzt hatte. Was sollte heute eigentlich noch alles schief gehen?

 

Während des Zähneputzens tropfte Zahnpasta auf sein T-Shirt und er musste noch einmal ins Schlafzimmer um sich ein neues zu holen. Dann musste er noch feststellen, dass er nach dem letzten T-Shirt griff. Zu seinem Glück hatte er erst gewaschen und würde die Wäsche sicher spätestens morgen abhängen können. Also durfte er das T-Shirt einfach bis morgen nicht dreckig machen.

 

Stunden später schmiss Peter völlig am Ende die Türe hinter sich ins Schoss.

Auf dem Weg zur Bank hatte er sich einen Coffee to Go gegönnt, der bis zur Hälfte ausgetrunken anschließend auf seiner Kleidung landete.

Sein Bankberater war krank und man hatte vergessen ihn zu verständigen, dass der Termin ausfallen würde und vor lauter Bedauern hatte man ihm einen Termin mit einem, wie Peter mehrmals zynisch dachte, frisch eingestellten AZBI gegeben.

Der junge Mann, den er maximal auf siebzehn schätzte, hatte ihm von Adam und Eva bis hin zur Industrialisierung sämtliche Tätigkeiten der Bank aufgezählt und war dann irgendwo hängen geblieben, als es um eine Überleitung zu Peters Girokonto ging.

Peter hatte lächelnd alles über sich ergehen lassen. Sogar die ständigen Blicke des Burschen auf den riesen Kaffeeflecken auf seinem T-Shirt und seiner Hose hatte er unkommentiert ertragen.

 

Wobei er sich fragte, was dem Bengel eigentlich einfiel, wo er selbst ihm mit, von Kaffee verdreckter Kleidung gegenüber saß.

Glaubte er etwa, nur weil seine Flecken kleiner und bereits verwaschen waren würden sie weniger auffallen?

Wäre Peter nur ein bisschen wie seine Schwester, dann hätte er dem Burschen erst einmal die Leviten gelesen, ihn auf die Unmöglichkeit seines Aufzuges und seines Verhaltens hingewiesen und wäre dann hinaus gestürmt um sämtlichen Anwesenden seinen Unmut über die Behandlung kund zu tun und anschließend mitzuteilen, dass er sämtliche Konten auflösen würde.

Den filmreifen Abgang hätte er sicher nicht halb so gut wie sie hinbekommen, aber nach dem Auftritt wäre das wohl kaum noch aufgefallen.

 

Das entlockte ihm jetzt trotz seiner Erschöpfung ein verschmitztes Lächeln. Er hatte die Türe bereits abgeschlossen, die Kleidung eingeweicht und fiel jetzt in sein Bett. Er schaffte es gerade noch sich zuzudecken, ehe der Schlaf ihn übermannte und in tiefe Traumwogen riss, die er nicht verstehen würde.

Justin, Olaf und Mischa leisteten ihm in den wirren Träumen von Kaffeeflecken die ihn jagten, verpickelten Teenager-Gesichtern die ihn verhöhnend anschauten und Geldscheinen, die ihn zu ersticken versuchten, Gesellschaft.

 

Müde schlug er neben sich, als er das schrille Klingeln seines Weckers wahrnahm.

Doch egal wie oft er auch auf den Wecker schlug, er wollte einfach nicht ausgehen. Nur langsam kehrte er halbwegs in die Realität zurück und identifizierte das Klingeln als den Ton seines Handys.

 

Verwirrt drückte er auf annehmen und legte sich das Handy ans Ohr. Eine tiefe und melodische  Stimme sprach mit ihm. Was sie sagte konnte er nicht verstehen, doch dieser Klang war einfach herrlich. So könnte man ihn ruhig immer wecken.

Das plötzliche Tuten in der Leitung ließ ihn wirklich wieder in der Realität aufschlagen. Wie bereits am Mittwoch erreichte die Bedeutung von Justins Worten erst verspätete Peters vom Schlaf immer noch leicht benebeltes Gehirn.

 

„Glaub ja nicht, dass du einfach nicht antworten brauchst und alles ist gut. Ich bin in spätestens einer halben Stunde bei dir und wehe du bist dann nicht fertig.“

 

Kein Paukenschlag, egal wie nah an seinem Ohr, hätte ihn effektiver aufwecken können. Verwirrt blickte er auf sein Smartphone, auf dem eine neue Whatsapp Nachricht leuchtete.

 

Die hatte er gar nicht eingehen gehört. Mit zittrigen Fingern öffnete er die App und erkannte, dass die Nachricht von einer ihm unbekannten Nummer versendet worden war. Eine unbekannte Nummer, deren Profilbild aber einen grinsenden und von der Sonne verwöhnten Justin zeigte. Er benötigte mehrere Anläufe, um mit seinen zitternden Fingern die Nachricht zu öffnen.

 

„Hallo Peter, ja ich weiß zwischenzeitlich, dass du kein Praktikant bist. Du bist dieser stumme Gehilfe vom Arschloch. Nach dem du Mittwoch so schnell weg warst hat Sandra mir freundlicherweise deine Handynummer und deine Adresse gegeben. Ich hol dich heute Abend gegen zehn Uhr ab. Du wirst im Lobella verstehen, wieso er für Mischa und mich nur der Arsch heißt.“

 

Was sollte den das um Himmels Willen heißen?

 

Erst jetzt fiel Peter siedend heiß wieder ein, dass er vor lauter Stress gar nicht mehr dazu gekommen war über die Geschehnisse vom Mittwoch nachzudenken. Beklommen blickte er auf die Uhr und erkannte mit entsetzten, dass es bereits neun Minuten vor Zehn war.

 

Peter sprang regelrecht aus dem Bett und flog beinahe in die Dusche. Eine Katzenwäsche wäre jetzt auf Grund der Zeitnot zwar angebrachter, aber wenn er Justin gleich wiedersehen würde, dann wollte er frisch geduscht sein. Egal wie hirnlos das war, momentan beherrschte dieser Gedanke alles.

 

Die Haare noch mit dem Handtuch trockenreibend stürmte er zum Kleiderschrank und riss diesen auf. Entsetzt musste er sich wieder in Erinnerung rufen, dass sämtliche seiner T-Shirts in der Wäsche waren.

 

Am Kleiderständer der nächste Schock, nur das Netzhemd und das weiße Hemd, das seine Schwester gestern ausgesucht hatte waren trocken. Die schwarzen Socken gingen auch als leicht klamm durch und da keine seiner eher weiten Hosen zu den neuen Oberteilen passte griff er nach einer noch recht klammen, aber dennoch bereit tragbaren schwarzen Hose, die seine Schwester ebenfalls ausgewählt hatte.

 

Jetzt stand er vor dem nächsten Problem. Zu dieser engen Hose konnte er keine Boxer anziehen. Beinahe ehrfürchtig griff er nach einem dieser dünnen Streifen, der sich als Unterhose bezeichnete und glitt dann mit fragendem Blick wieder ins Schlafzimmer.

 

Die Unterhose war überraschend bequem und die schwarzen Socken hatten optisch tatsächlich ein völlig anderes Bild an seinen Füssen ergeben, als sonst die Tennissocken.

Als er gerade in die Hose glitt klingelte es. Entsetzt schaute er auf die Uhr und musste feststellen, dass es bereits fast halb elf war. Eilig schloss er die Hose, zog das Netztop an und warf sich im Renne noch das weiße Hemd über. Die Schuhe standen seit dem Vortag auf dem Balkon und waren schnell reingeholt.

Zu seinem Glück hatte es nicht geregnet, denn er hatte heute Morgen vergessen die sie reinzuholen und bei Regen wären sie jetzt völlig ruiniert.

 

Auf dem Balkon musste er feststellen, dass es recht frisch war und er rannte wieder in sein Schlafzimmer. Keine seiner Jacken würde auf dieses Outfit passen. Die Verzweiflung wollte ihn übermannen, als es erneut klingelte.

 

Sich seinem Schicksal ergebend griff er in den hintersten Winkel seines Kleiderschrankes und holte ein Geschenk seiner Schwester heraus. Es war ein dunkler Herrenmantel. So etwas trug Peter sonst nicht. Er liebte seine grauen oder braunen Männerjacken, die auch schon sein Vater und sein Großvater gerne getragen hatten. Doch zu diesem Outfit wäre das völlig unmöglich gewesen.

 

Entsetzte fiel sein Blick im Garderobenspiegel jetzt aber nicht auf sein Outfit, sondern auf seine Haare. Für das Gespräch in der Bank hatte er sie mit Gel glatt gestrichen und die blonden Strähnen waren kaum aufgefallen, doch jetzt standen sie in wildem Wirrwarr von seinem Kopf ab und die blonden Stränchen waren in seinem hellbraunen Haar nicht zu übersehen.

 

Peter hätte sich jetzt gerne in seinem Bett verkrochen und wollte nie mehr raus kommen, doch sein Chauffeur schien langsam ungeduldig zu werden, denn Peter musste davon ausgehen, dass sein Finger auf der Türklingel festgewachsen war. Dazu begann es jetzt auch noch an seiner Türe zu klopfen.

Wie um alles in der Welt war der ins Treppenhaus und hier hoch gekommen? Das Klopfen wurde lauter und Peter resignierte.

 

„MENSCH MACH KEINEN STRESS ICH KOMME JA!“ keifte er lautstark durch seinen Hausflur und griff im Gehen nach seinem Geldbeutel und seinem Schlüssel. Doch das nächste Hindernis war geschaffen. Die Hose war zu enge für seinen Geldbeutel und in die Seitentasche wollte er ihn definitiv nicht packen.

Überlegend schaute er seinen Geldbeutel an. Dann griff er in die Schublade der Garderobe und holte ein schmales Heftchen heraus. Es war ein Adressbüchlein in das er einen 50 Euroscheine und seinen Ausweis zwischen die Seiten und sich anschließend das Büchlein in die Gesäßtasche steckte.

 

Gerade als das Klopfen wieder einsetzte riss er die Türe auf. „ICH HAB DOCH GESAGT ICH KOMME. ALSO NERV HIER NICHT RUM!“

Im Hausflur blickte ihn ein verstörter Justin an. „Peter????“ Peter rollte genervt die Augen. „Nein St. Nikolaus.“

Damit griff er nach seinem Schlüssel, drehte sich um und zog die Türe hinter sich zu. Nachdem er sie abgeschlossen hatte steckte er den Schlüssel in die rechte Hosentasche und ging die Treppe runter.

 

Justin benötigte einige Sekunden um ihm zu folgen. Warum hatte der Typ so ein Theater gemacht, wenn er jetzt trödelte? Und außerdem, hatte der nicht zehn Uhr geschrieben? Jetzt war es immerhin schon halb elf vorbei und auch wenn es für Peter in diesem einen und bisher einzigen Fall Glück gewesen war, er hasste Verspätungen!

 

Durch die Verspätung bereits mehr als nur leicht verstimmt stürzte er durch das Treppenhaus der Haustüre entgegen. Er machte sich nicht die Mühe die Türe für Justin aufzuhalten. Den leisen aber dumpfen Klang, als Justin die zufallende Türe wieder auffing um selbst auf die Straße zu treten hörte er zwar, wollet sich aber nicht mit ihm befassen. Stattdessen lenkte er seine Füße zu seinem, am Straßenrand stehenden, Wagen.

 

Wie schon zwei Tage zuvor schlangen sich plötzlich starke Arme um ihn und er spürte den heißen Atem über seine Ohrmuschel streicheln. Diesmal nahm er aber auch das leichte Beben des Körpers hinter sich wahr. Unterdrückte Justin etwa gerade das Lachen?

„Und wo wollen wir hin?“ Diese unglaubliche Stimme wollte Peter wieder einlullen, ihn seinen Unmut über die Verspätung und überhaupt über die ganze reale Person namens Justin vergessen lassen.

Doch Peter würde nicht so einfach nachgeben. „Zu meinem Wagen.“ Antwortete er barsch und versuchte sich aus der Umarmung zu lösen.

 

„Und wer sagt, dass wir mit deinem Wagen fahren?“ Das leichte Beben von Justins Körper wurde stärker und Peter wollte es heiß und kalt den Rücken hinab laufen. Sie würden Justins Wagen nehmen? Justin würde Peter mitnehmen? Und wieder Heim bringen?

Und genau in diesem Moment machte es „klick“. Peter wurde wieder wütend.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich so einem wie DIR vertraue, dass er mich später wieder sicher nach Hause bringt!?! Wahrscheinlich verschwindest du gleich im Darkroom und ich darf schauen wie ich wieder zurückkomme!“

 

Natürlich hätte Peter sich jeder Zeit auch ein Taxi nehmen können, aber er hasste es ohne die Sicherheit seines Wagens unterwegs zu sein. Das Beben verschwand und er wurde umgedreht. Justin sah ihm mit ernstem und leicht verärgertem Blick an. „Jetzt hör mal zu Peter, ich bin kein Schwerenöter, der alles was nicht bei drei auf den Bäumen ist nageln muss! Ich werde dich mitnehmen und später wieder heimfahren. Sonst läuft man bei dir sicher Gefahr, dass du rein gehst und sofort wieder umdrehst. Ohne deinen Wagen ist die Gefahr nicht so groß und du wirst eine Weile bleiben. Da ich Leute wie dich kenne habe ich Mischa schon gesagt, dass ich heute früher fahren muss. Ich gehe davon aus, dass bei dir ab zwei oder spätestens drei Zapfenstreich ist.“

 

Peter hatte Justin genau verstanden. Auch war ihm klar, dass Justin absolut richtig mit seiner Einschätzung lag und Peter sicher kurz nach der Ankunft heimlich wieder verschwunden wäre. Aber hatte er unbedingt „Leute wie dich“ mit dieser leicht abfälligen Mimik und Stimme aussprechen müssen? Was waren denn Leute wie er?

„Und was sind Leute wie ich?“ Er funkelte Justin wütend an und dieser seufzte genervt. „Leute die eher daheim sitzen als Abends mal richtig Party zu machen. Wann warst du denn das letzte Mal einfach nur so weg?“

 

Peter wurde rot vor Wut und Scham zugleich. Justin war wirklich unmöglich. Musste er einem, solche Dinge wirklich so unverblümt ins Gesicht schleudern? Peter zitterte vor Wut und Justin schien diesmal die korrekte Gefühlsregung aus Peters Gesicht zu lesen.

Er hob entschuldigend die Hände. „Tut mir leid, ich weiß, ich bin viel zu direkt. Mischa sagt mir das bald täglich.“

Peter nickte lediglich knapp und sah sich dann um. Und da stand er. Der schwarze Flitzer, mit dem Justin und Mischa immer auf dem Firmenparkplatz einfuhren.

 

Irgendwie nervte es Peter, dass trotz des jetzigen Wissenstandes um Justins unmöglichen Charakter immer noch ein leichter Stich durch sein Herz ging, wenn er an Mischa dachte.

 

Justin und Mischa. Mischa und Justin. Das absolute Traumpaar. Die hatten, was Peter sich so sehnlich wünschte. Wobei er Mischa in dieser Beziehung eindeutig mehr beneidete als Justin. Mischa sah zwar ebenfalls umwerfend aus, aber Justin war einfach, naja eben Justin. Jeder Zentimeter seines Körpers sorge bei Peter für Tagträume der aller ersten Güte. Peter schüttelte leicht den Kopf um diese Gedanken los zu werden und schritt dann mit ausladenden Schritte auf den Wagen zu. Justin benötigte wieder einige Sekunden um zu folgen.

 

Vor dem Wagen angekommen erkannte Peter, dass Mischa bereits auf dem Beifahrersitz saß und ihn wenig erfreut musterte. Tief seufzend riss er die Türe zum Rücksitz auf und ließ sich in den Wagen fallen. Überrascht stellte er fest, dass Justin direkt hinter ihm stand und galant die Türe schloss.

 

„Man was bildet sich dieser Gorilla eigentlich ein? Mich hier einfach aus dem Schlaf zu klingeln und mitzuschleppen. Und nicht mal selbst fahren lässt der einen. Unmöglich dieser Nervkopf!“ Peters genuschelte Beschwerde wurde mit schallendem Gelächter kommentiert.

 

Irritiert schaute er auf und sah, dass Mischa sich zu ihm umgedreht hatte. „Bis eben war ich ziemlich angepisst, dass Justin einen mir unbekannten Mann mitschleppen wollte. Aber ich glaube ich kann dich gut leiden Pit.“ Er zwinkerte dem etwas überfahrenen Peter zu.

 

Erst jetzt merkte Peter, dass Justin sich bereits auf den Fahrersitz gesetzt und den Motor gestartet hatte. Er wurde tief in die Sitze gepresst, als Justin mit viel zu viel Gas davonraste. Eilig tastete Peter in dem dunklen Wageninnenraum nach dem Gurt um sich anzuschnallen. Bei dem Fahrstil sollte er sich später vielleicht doch lieber ein Taxi nehmen.

 

3

Das hier war die Hölle! Peter war sich absolut sicher nie etwas Schrecklicheres erlebt zu haben. Die Musik dröhnte ihm seit gefühlten Tagen durch die Ohren und sein Kopf meldete bereits ein leichtes Ziehen an, das sich sicher noch zu einer richtigen Migräne auswachsen könnte. Dann hatte man ihm bereits mehrmals versucht irgendetwas Alkoholisches unterzumischen. Er hatte es jedes Mal am Brennen im Hals bemerkt und sich einmal sogar übergeben müssen! Seit dem war zu seinem Glück jeglicher weitere Versuch unterlassen worden ihn mit Alkohol zu vergiften.

 

Auch stand Peter nicht, wie er befürchtet hatte, alleine in einer Ecke. Doch ob er über die Gesellschaft wirklich glücklich sein sollte konnte er nicht sagen. Bereits als er mit Justin und Mischa den Club betreten hatte waren sie auf eine kleine Gruppe von ca. 4 Personen zugesteuert. Zwischenzeitlich waren sie gut 15 Mann, die heftig über sämtliche Themen diskutierten und vor allem über die Vor- und Nachteile der anderen anwesenden Gäste.

Leider bezogen sich diese Vor- oder Nachteile immer nur auf das eine, so dass Peter bisher noch kein Wort zum Gespräch beigesteuert hatte. Gut, bei der Musiklautstärke hätte er auch schreien müssen und das wollte er seinen armen Stimmbändern nicht antun.

 

Ärgerlich waren auch die neugierigen und teils eindeutigen Blicke in seine Richtung. Mischa war bereits das ebenfalls gefühlte hundertste Mal mit irgendeinem Typen verschwunden. Und Peter wunderte sich langsam, dass Justin die ganze Zeit in seiner Nähe blieb. Nur jetzt drehte er sich um und ging in Richtung Toiletten. Unverzüglich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Die gehörte zu Rico. Der Typ hatte Peter bereits den gesamten Abend angestarrt. Was sollte das jetzt werden?

 

Irritiert sah er auf und direkt in braune Augen, die ihn zu verschlingen schienen. „Na endlich, ich dachte schon der lässt dich gar nicht mehr aus den Augen.“ Peter verstand zwar kein Wort, aber Ricos Nähe war ihm eindeutig zuwider. Er schüttelte die Hand ab. „Hey jetzt stell dich nicht so an, wenn du Justin ran lässt, dann kannst du mich ja auch mal rann lassen. Glaub mir ich besorgs dir besser als er.“

Der widerwärtige Ausdruck, der jetzt auf Ricos Gesicht lag jagte Peter kalte Schauer über den Rücken und sein Magen machte sich unschön bemerkbar. Peter hoffte sich nicht gleich wieder übergeben zu müssen. „Ich lass weder Justin noch dich ran. Wäre ja noch schöner, vergebene Typen interessieren mich nicht!“

 

Jetzt gaffte ihn Rico verständnislos an. „Wen meinst du mit vergeben? Wir sind hier doch alle Singles.“ Jetzt war es an Peter irritiert zu schauen. „Aber Justin und Mischa sind doch…“ er kam nicht weiter, denn Rico brach in schallendes Gelächter aus.

 

So dumm war sich Peter seit der Grundschule nicht mehr vorgekommen. Doch statt wie sonst verlegen auf den Boden zu schauen rammte er dem Angeber seinen Ellenbogen in die Seite, dass dieser leicht in sich zusammensackte und erst ein paar Mal nach Luft japsen musste.

 

Peter lächelte ihn diabolisch an. „Was ist denn so lustig? Ich würde gerne mit lachen.“ Rico japste noch einmal kurz, ehe er sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete. „Man bist du verrückt? Du hättest mir ne Rippe brechen können!“

Schmollte der jetzt etwa? Peter schaute ihn böse an.

 

„Man, ist ja schon gut, jetzt schau nicht so fies!“ Peter verlagerte sein Gewicht und bemühte sich den angeblich fiesen Blick beizubehalten. Rico schien kurz zu zittern, dann jedoch begann er zusprechen. „Mensch du weißt es echt nicht oder? Mischa und Justin sind Stiefbrüder. Mischas Vater hat Justins Mutter geheiratete, da waren die beiden noch im Kindergarten. Die zwei sind viel, aber garantiert kein Paar!“

 

Jetzt entglitten Peter sämtliche Gesichtszüge. Die beiden waren kein Paar? Sie waren Geschwister? Sollte diese Vertrautheit zwischen den beiden wirklich nur durch dieses Band bestehen und nicht Zeichen einer tiefen Liebesbeziehung sein?

Plötzlich legte sich eine große Hand auf seine Schulter und er spürte wieder die langsam vertraut werdenden Lippen an seinem Ohr. „Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen Süßer. Soll ich ihn für dich vertreiben?“ Der heiße Atem, die Nähe und die eben erhaltene Information sorgten bei Peter für eine Fehlfunktion und so landete sein Ellenbogen mit mehr Schwung als vorhin bei Rico in Justins Seite. Dieser lies augenblicklich seine Hand sinken und sank ebenfalls leicht in sich zusammen. Die Seite reibend japste er nach Luft und versuchte wieder Herr seiner Sinne zu werden.

 

Als seine Atmung sich langsam beruhigt hatte baute er sich bedrohlich vor Peter auf. „SAG MAL GEHT’S DIR ZU GUT ODER WAS? WAS SOLLTE DAS? UND DIE OHRFEIGE AM MITTWOCH? GLAUBST DU DAS HAB ICH SCHON VERGESSEN? BIST DU LEBENSMÜDE? SOLL ICH MAL ZUSCHLAGEN?“

 

Peter stand wie ein Ölgötze vor dem brausenden Orkan. Alles in ihm schrie nach Flucht und doch wollten seine Beine sich einfach nicht bewegen. Er starrte Justin direkt in die Augen und wusste, wenn er nicht fliehen konnte, dann sollte er sich jetzt ganz klein machen.

 

Doch irgendetwas in ihm schien Suizidgedanken zu hegen, denn er öffnete den Mund und schrie jetzt seinerseits Justin an, dass sämtliche umstehenden Personen, die Justins Ausbruch noch nicht bemerkt hatten, spätestens jetzt wussten, dass hier ein Streit vorm Zaun gebrochen wurde. „WAS FÄLLT DIR UNTERBELICHTETEN GORILLER EIGENTLICH EIN? DIE OHRFEIGE HAST DU VERDIENT! WAS ERLAUBST DU DIR AUCH MICH KÜSSEN ZU WOLLEN? UND JETZT JAMMER HIER WEGEN EINEM LEICHTEN RIPPENSTOSS NICHT WIE EIN BABY RUM. DER EINZIGE DER HIER GRUND ZUM JAMMERN HAT BIN ICH!!! IMMERHIN WURDE ICH HEUTE EINFACH AUS DEM BETT GEKLINGELT UND DANN OHNE IRGENDEINE FRAGE HIER HER GEZERRT. NICHT MAL MEIN EIGENES AUTO KONNTE ICH NEHMEN, DAMIT ICH AUCH JA NICHT OHNE DICH NACH HAUSE KOMME!!!! UND GLAUB JA NICHT, DASS ICH DEN VERSUCH MICH MIT ALKOHOL ZU VERGIFFTEN BEREITSE VERGESSEN HÄTTE, AUCH ICH HAB FREITAGS ABENDS BESSERES ZU TUN ALS KOTZEND ÜBER DER KLOSCHÜSSEL ZU HÄNGEN!!!!! ALSO GEH MIR GEFÄLLIGST NICHT AUF DIE NERVEN, SONDER HOL MIR LIEBER NOCH EIN WASSER, ICH HAB DURST!“

 

Mit allem hatte wohl jeder der hier Anwesenden gerechnet, aber nicht damit, dass Justin sich umdrehte und schimpfend in Richtung Bar stolzierte.

 

Peter zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und versuchte sich möglichst unauffällig auf einen der beiden freien Plätze an dem kleinen Tisch einige Schritte links neben ihm fallen zu lassen. Er verlor kurzzeitig das Gleichgewicht und fiel mehr, als dass er sich wirklich setzte. Bei einem Blick in die Runde sah er aber keinerlei Schalk, er wurde eher bewundernd angeschaut. Anscheinend hatte ihm niemand zugetraut den zwei Köpfe größeren Justin derart anzuschreien.

Tja, da hatte er ja endlich eine Gemeinsamkeit zwischen sich und den anderen Anwesenden gefunden, denn er hätte bis eben auch nicht geglaubt so etwas Hirnloses tun zu können.

 

Er zuckte erschrocken zusammen, als ein Glas Wasser vor ihm beinahe schon auf den Tisch geschmissen wurde. “Bitte schön euer Hoheit, kann ich sonst noch etwas für euch tun?“ Peter sah Justin völlig perplex an. Justins Mine hellte sich schlagartig auf und er lächelte sogar. Dann ließ er sich Peter gegenüber auf den zweiten freien Stuhl fallen. „Du kannst ja doch völlig überfordert schauen. Ich dachte schon du wärst so ein abgeklärter Kerl, der nicht mal weiß wie Unsicherheit geschrieben wird.“

 

Das Grinsen auf Justins Gesicht wuchs, doch es hatte nichts Spöttisches. Viel mehr schien er sich wirklich über Peters Überraschung zu freuen. Das Grinsen war ansteckend und Peter merkte bereits, wie auch seine Mundwinkel sich im beinahe spitzen Winkel zu einem Monstergrinsen anhoben. Dann nahm er sein Wasser und trank einen riesen Schluck.

„Tja und der Gorilla kann auch freundlich sein, wer hätte das gedacht. Ich hatte schon befürchtet deine Arroganz und dein Ego währen zu groß für diesen Saal.“ Justin musste nun schallend loslachen und Peter stimmte mit ein. So befreit hatte er seit Jahren nicht mehr gelacht.

 

Nachdem sie sich beruhigt hatten lehnte Justin sich leicht über den Tisch und hielt Peter die Hand hin. Dieser verstand zwar nicht Sinn und Zweck dieser Aktion, aber da Justin ein freundliches Lächeln im Gesicht trug beugte er sich synchron vor und reichte ihm die Hand.

 

„Ich glaube wir haben das Ganze völlig falsch angefangen. Also auf ein Neues. Hallo ich bin Justin und arbeite in der Verkaufsabteilung.“ Peter musste jetzt ebenfalls breit grinsen und erwiderte „Hallo ich bin Peter und arbeite in der Produktentwicklungs- und Kundenakquiseabteilung.“

Justin stockte kurz. „Kundenakquise?“

Peter nickte ihm lächelnd zu. „Ja. Ich habe erst am Mittwoch ein größeres Projekt abgeschlossen. Wir werden bald eine neue Verpackungslösung auf dem Markt anbieten. Schwerpunkt hier wird nicht sein eine schicke Verpackung für besondere Gegenstände zu verkaufen, das könnte jeder, nein wir verkaufen Lösungen für die Transportsicherheit, nicht nur von Standard Ware, sondern auch von zerbrechlichen Gütern. Trotz des hohen Sicherheitsgedanken sollen die Transportbehälter auch einer schicken Verpackung entsprechen. Das Thema hat mich die letzten zwei Monate voll in Beschlage genommen. Aber ich hatte die Marktanalysen zum Glück bereits Anfang des Jahres gemacht und musste nur noch aktualisieren. Es scheinen auch hochwertige Produkte immer häufiger über den Versandweg verkauft zu werden. Nichts ist ärgerlicher für einen Kunden und Rufschädigender für einen Onlinehändler, als wenn teure Produkte beschädigt eintreffen. Also benötigt man gerade im Bereich zerbrechlicher Teile einen besonderen Schutz. Aber das an und für sich wäre noch kein großes Problem. Das Problem ist, dass bei hochwertigen Produkten natürlich auch der innenliegende Produktschutz hochwertig sein muss. Das war die eigentliche Herausforderung, ein Transportschutz für verschiedene Produkte, der hochwertig wirkt. Hier habe ich verschiedene Lösungsansätze erarbeitet und dann gleich noch fünf Unternehmen gefunden, die an solchen Lösungen momentan bereits interessiert sein könnten. Wenn die Lösungen auch nur bei drei dieser Kunden umgesetzte werden, dann wird das ganze Thema ein Selbstläufer. Gerade, wenn der große Amelra Versand das Produkt bei uns einkaufen würde, stell dir mal die Verkaufszahlen vor.“

 

Peter lächelte zufrieden. Er war stolz auf seine Leistungen. Justin sah ihn plötzlich ziemlich mitleidig an. „Du hast dich nie informiert wie es mit deinen Projekten intern weitergeht, oder?“ Peter sah ihn irritiert an. „Doch natürlich. Ich beobachte die Verkaufszahlen. Ich habe auch Listen in denen ich die Verkaufszahlen ähnlicher Produkte der Konkurrenz im Vergleich sehe und auch unsere internen Übersichten sämtlicher Produktverkäufe behalte ich immer im Auge. Wenn Produkte von mir nicht richtig laufen, dann gehe ich dem sofort nach und kann häufig mit einer kleinen Änderung bereits wieder die Verkaufszahlen erhöhen. Meine Produkte laufen seit Jahren immer auf den obersten Rängen.“

Eigentlich war Peter kein Angeber. Es interessierte ihn kaum, auf welchen Rängen seine Produkte standen, doch der Stolz war natürlich dennoch allgegenwärtig, wenn wieder eines seiner neuen Produkte alte Verkaufsrekorde brach.

 

Justin schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anscheinend im letzten Moment anders und nickte Peter lediglich zu. „Auf so etwas kann man stolz sein. Es macht Spaß deine Produkte zu verkaufen, man merkt, dass du dich direkt am Kunden und nicht am möglichst günstigen Einkauf orientiert hast. Das machen viele andere nicht.“ Das war ein ehrlich gemeintes Lob und doch schwang etwas Bedauerndes mit.

Peter fühlte sich gerade zu wohl, um darüber nachzudenken. Hier zusammen mit seinem Traummann zu sitzen und Smaltalk zu betreiben war mehr, als er jemals erwartet hatte. Natürlich war es weniger als erträumt, aber wer glaubte schon daran, dass Träume wahr werden könnten?

Also Peter war Realist und zusätzlich Pessimist. Darum hätte er sich noch vor wenigen Stunden einen derartig vertrauten Umgang mit Justin in der Realität nie vorstellen können.

 

Die Zeit verflog und Peter hatte zwischenzeitlich eine Menge über Justin erfahren. Justin erzählte gerne und er schmückte seine Erzählungen anscheinend auch gerne etwas aus. Doch langsam wurde Peter müde. Justin hatte während der Erzählungen mehrmals zum Glas gegriffen, so dass Peter bereits vor gut zwei Stunden aufgehört hatte zu zählen, wie viele alkoholischen Getränke Justin mittlerweile intus hatte. Doch langsam sollten sie ans aufbrechen denken. Er streckte sich etwas und gähnte verhalten. Justin grinste ihn an. „Hast länger durchgehalten als ich dachte. Mischa ist schon seit gut ner Stunde weg und die schließen hier auch bald.“

 

Peter blickte Justin irritiert an, was diesen zum Lachen brachte. Dann ließ er seinen Blick über die fast leeren Räumlichkeiten schweifen. Ihm fiel erst jetzt auf, dass die Musik ausgeschaltete war. Auch in dem großen Raum saßen nur noch vereinzelt Leute zusammen und alle samt schienen bereits in Aufbruchsstimmung zu sein.

Überrascht schaute Peter auf seine Armbanduhr und zuckte zusammen. 06:48 Uhr leuchtete ihm entgegen.  Das konnte nicht stimmen! Wieder gluckste Justin und Peter schaute auf. „Du siehst aus wie ein verschrecktes Reh. Hast noch nie eine Nacht auswärts durchgemacht?“

 

Peter überlegte und wusste, die korrekte Antwort wäre „Nein.“ Aber langsam hatte er Justin gut genug kennengelernt um zu wissen, dass diese Antwort nur zu einigen blöden Sprüchen führen würde. „Du willst doch nur wissen ob ich wirklich noch jungfräulich bin, oder ob ich dich nur an der Nase herumführe. Aber so leicht mach ich es dir nicht.“ Peter nahm grinsend den letzten Schluck seines Wassers und beobachtete wie Justin glucksend nach seiner Garderobenmarke fischte. Er tat es ihm gleich und sie standen auf.

 

Erst an den paar Treppenstufen außerhalb des Clubs merkte Peter wie betrunken Justin wirklich war. Der Kerl konnte kaum noch geradeaus laufen! „Gib mir die Schlüssel.“ Justin sah ihn irritiert an. „Warum sollte ich? Sind meine!“.

Peter versuchte tief durchzuatmen. Ja er hatte gehört, dass logische Argumentationen bei Betrunkenen meist vergeblich waren, aber er wollte es wenigstens versuchen. „Weil du betrunken bist!“ Justin gluckste und kicherte. „Bin ich nicht, war schon dichter mit dem Wagen unterwegs.“ Das wiederum beruhigte Peter kein Stück.

 

Er stellte sich Justin in den Weg. Dieser wollte stoppen, geriet aber ins Taumeln und fiel beinahe auf Peter. Peter konnte nur noch versuchen, den Riesen irgendwie auf den Beinen zu halten.

„Ups.“ Meinte dieser, und Peter wurde langsam richtig wütend. „UPS??? SAG MAL SPINNST DU JETZT TOTAL? DU ZWINGST MICH MIT DIR MIT ZU FAHREN UND JETZT WILLST DU MICH IN DIESEM ZUSTAND HEIM FAHREN? DU KANNST JA NICHT EINMAL MEHR GERADE AUS LAUFEN! MEIN LEBEN IST MIR ABER ZU WERTVOLL, ALS DASS ICH ES WEGEN EINES IDIOTEN WIE DIR WEGWERFE. UND UM DEINEN SCHÖNEN WAGEN TUT ES MIR JA AUCH FAST SCHON LEID!!!“

 

Wieder kicherte Justin. Peter musste kämpfen um nicht laut los zu lachen. Er sah geistig das Bild vor sich, wie des Riesen auf den Zwerg gebeugt stand und kicherte. Jeder Passant hätte seine helle Freude. Zu ihrem Glück lag das Lobella in einem Industriegebiet. Hier war an einem Samstag kurz nach sieben Uhr morgens praktisch nichts los.

 

„Mit Arbeitskollegen fange ich nichts an. Hab ich einmal gemacht, schwerer Fehler. Warn Scheißkerl, hat mich verarscht und nicht nur meine Zeit, sondern auch meine Arbeitserfolge geklaut. Aber sind in der gleichen Branche, muss ihn immer wieder sehen.“ Peter hatte sich versteift. Auch wenn er es gewusst hatte, dass er bei Justin keine Chance hatte, es so offen ins Gesicht geschleudert zu bekommen und dazu noch zu erfahren, dass auf dem Herz seines Traummannes bereits herum getrampelt worden war tat weh.

 

Er schaffte es sich in wenigen Sekunden wieder zu beruhigen und Justin strafend anzuschauen. „SCHLÜSSEL, JETZT!“ Wieder gluckste der Hüne amüsiert, griff aber in seine Hosentasche und überreichte Peter den Schlüssel. „Mein Wagen kommt aber nur zu mir und nicht zu dir!“ Damit löste er sich von Peter und stolperte auf die Beifahrertüre seines Wagens zu. Peter benötigte einige Augenblicke um sich wieder zu fangen und entriegelte dann den Wagen. Er wollte eigentlich gleich einsteigen, doch so wie Justin sich anstellte entschied er, dass es sicherer war erst Justin irgendwie in das Auto zu bugsieren.

 

Das war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Justins Körpergröße hatte Peters Versuche stark behindert und als Justin endlich saß musste er den Riesen auch noch anschnallen. Völlig außer Atem und mit schweißnasser Stirn stieg nun auch Peter ein. Nachdem er den Wagen gestartet hatte drückte Justin irgendwelche Köpfe und plötzlich bewegte sich etwas an den Armaturen und ein Navi wurde sichtbar. Das Navi schien ein vorprogrammiertes Ziel zu haben. Peter würde nichts anderes übrig bleiben als den Anweisungen der metalernen Stimme zu folgen.

 

Nach einer, wie es Peter schien, schier endlosen halben Stunde Autofahrt quer durch die beinahe menschenleere Stadt erreichten Sie ein Viertel, in dem nur größere Häuser standen. Hier wohnten wohl die Besseren. Peter folgte den Anweisungen weiter und bog in die Einfahrt eines dieser wundervollen Häuser ab. Durch die fortgeschrittene Stunde war es bereits hell und er konnte erkennen, dass er hier auf ein Haus mit großem Garten zufuhr. Direkt an das Haus angebaut war eine Garage. Er sah im Augenwinkel, dass Justin wieder irgendetwas drückte und das Garagentor öffnete sich.

Peter lenkte den Wagen sicher in die Garage und beobachtete, wie das Tor sich hinter ihnen schloss. Heiße Erwartung schoss ihm durch die Adern, bevor er sich der Situation tatsächlich bewusst wurde.

 

Justin hatte ihm bereits mitgeteilt, dass er als Arbeitskollege keine Chance hatte. Weiter war der Kerl so betrunken, dass es an ein Wunder grenzte, wenn er selbständig wasserlassen könnte. Es war also nicht nur unwahrscheinlich, nein es war sogar unmöglich, dass sich Peters heiße Träume in der Realität erfüllen könnten. Das hatte er aber bereits während der Träume selbst gewusst, wieso war er dann jetzt so enttäuscht?

 

Müde schleppte er sich und den jetzt fast eingeschlafenen Justin durch eine Verbindungstüre von der Garage in das Haus. Den Schlüssel um diese Türe aufzuschließen hatte er zuvor am Schlüsselbund, an dem auch der Autoschlüssel hing, gefunden. Er fand sich in einem geräumigen Flur wieder. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann dürfte ihm gegenüber ein Wohnzimmer liegen. Dorthin schleppte er den nicht mehr ansprechbaren Justin und warf ihn mehr, als dass er ihn legte, auf die riesige Liegewiese. Dann zog er ihm die Schuhe und das Oberteil aus.

An der Hose angekommen musste er mehrmals heftig schlucken, bevor er ihm auch diese vorsichtige vom Körper löste. Dann legte er alles fein säuberlich zusammen. Er platzierte die Kleidung gut sichtbar auf dem Wohnzimmertisch, damit Justin sie morgen nicht suchen musste.

 

Peter war peinlich genau darauf fixiert Justins Körper nicht zu mustern. Er fand es nicht richtig, denn beinahe besinnungslosen Riesen in diesem Zustand anzuschmachten.

Im Haus war es zwar nicht kalt, aber dennoch könnte man sich nur in Boxer verkühlen, also musste als nächstes eine Decke her.

 

Irgendwann während seiner Suche in dem riesigen Haus mit den riesig scheinenden Zimmern führten ihn seine Schritte in Justins Schlafzimmer. Dort nahm er die Decke vom Bett und schleppte sie zurück ins Wohnzimmer.

Er deckte Justin zu und wollte eigentlich gleich ein Taxi rufen, doch seine Beine fühlten sich so weich an. Also setzte er sich für ein paar Minuten in den bequemen Sessel, gegenüber der Couch.

 

Peter träumte wirr. Erst spürte er eine hauchzarte Berührung auf seinen Lippen, dann fühle er sich als würde er schweben. Oder wurde er getragen? Eine starke Brust wurde zu seinem Kissen und er kuschelte sich selig schlummernd näher an die bequeme Wärmequelle. Er hatte das Gefühl, die Brust würde leicht beben, wie bei einem unterdrückten Lachen, doch er war viel zu sehr im Wonnegefühl der Geborgenheit gefangen, als dass er sich darüber Gedanken machen wollte. Er träumte, dass er auf Rosen gebettet würde und wieder eine hauchzarte Berührung auf seinen Lippen empfing.

„Jetzt ist meine kleine Prinzessin nicht mehr ungeküsst.“ Summte eine wundervolle Stimme, ehe er eine freche Zunge über seine Ohrmuschel lecken spürte.

Die Nähe und Wärme verschwand und er warf sich auf den Rosenblättern unruhig hin und her. Doch dann wurde er von wundervollen Wolken aus weicher Watte zugedeckt und seine Wärmequelle war wieder da. Er kuschelte sich nah an die wundervoll bequeme Brust und sog ihren betörenden Duft tief in sich ein.

Die folgenden Träume hatten schon eher wieder die gewohnten Züge. Justin und er, er und Justin.

 

Ein vorwitziger Sonnenstrahl weckte Peter sachte aus seinen wundervollen Träumen. Er benötigte einige Minuten, doch bereits im Halbschlaf war ihm klar, irgendetwas stimmte hier nicht. Seit wann hatte er ein großes warmes Stofftier in seinem Bett? Müde blinzelte er um dann sofort die Augen aufzureißen. Vor ihm befand sich eine breite Männerbrust. Die Behaarung war anscheinend abrasiert worden und Peter spürte die weiche Haut unter seiner Hand.

OH GOTT!! WO BITTE LAG SEINE HAND DA? Vorsichtig zog er sie zurück. Mit einer leichten Bewegung landete er plötzlich direkt mit dem Gesicht an die Brust gepresst.

Es dauerte wieder etwas, bis ihm klar wurde, dass da Arme um ihn geschlungen waren. Arme die ihren Griff etwas verstärkt hatten und ihn damit noch näher an diesen wundervollen Oberkörper zogen.

 

Peter konnte sich zwar nicht erklären wie er hier her kam, doch er wusste genau wo hier war. Er lag in Justins Armen. Er wollte diesen Augenblick ewig währen lassen, doch die menschlichen Bedürfnisse auf Grund des hohen Wasserkonsums in der Nacht machten sich vehement bemerkbar. Jetzt blieb nur die Frage, wie er sich aus dieser Umarmung befreien konnte, ohne Justin aufzuwecken.

Dieser schien etwas Schönes zu träumen, denn Peter hörte ihn leise seufzen. Egal wie gerne er auch hier liegen bleiben wollte, er musste dringend das stille Örtchen aufsuchen, sonst würde Justin gleich nicht mehr so zufrieden seufzen, sondern ihn hochkant hinaus werfen.

 

Nach einiger Mühe war es Peter gelungen sich aus der doch überraschend kräftigen Umarmung zu befreien. Müde streckte er sich. Zu seiner Überraschung knackte nichts und er war auch nicht verspannt.

Tja Justins Arme waren wohl doch die bequemste Schlafstätte. Zu schade, dass er hier sicher nicht öfter schlafen würde.

 

Leise seufzend erhob er sich und suchte die Toilette. Während er sich Erleichterung verschaffte sickerte sachte in sein Gehirn, dass er hier nur in seiner nichts bedeckenden Unterhose und seinen Socken saß.

 

Knall rot im Gesicht war er wie versteinert mehrere Minuten auf der Toilette sitzen geblieben. Wo waren seine Kleider? Und noch wichtiger, wieso hatte Justin ihn ausgezogen? Und überhaupt, wieso hatte er ihn mit ins Schlafzimmer genommen? Die Couch wäre doch absolut ausreichend gewesen.

 

Als der erste Schreck vergangen war stand Peter auf und schaute in den großen Spiegel über dem Waschbecken. Dafür, dass er das erste Mal in seinem Leben eine komplette Nacht durchgemacht hatte sah er eigentlich recht erholt aus.

Intuitiv griff er nach dem griff des Alibertschranks und zog die Türe auf. Erst in der nächsten Sekunde fiel ihm wieder ein, dass er ja nicht zuhause war. Unschlüssig sah er sich dennoch den Inhalt des Alibertschrankes an.

 

Er hatte mehrere geschlossene Packungen mit Zahnbürsten und eine Schachtel mit Schmerztabletten vor sich liegen. Überlegend griff er eine der Zahnbürsten und die Schmerztabletten. Die Zahnpasta entdeckte er ebenfalls, es war sogar die gleiche Marke, die er daheim immer benutzte.

Zittrig öffnete er die Zahnbürstenpackung und putzte sich dann die Zähne. Anschließend nahm er die Schmerztabletten und ging in die Küche um ein Glas mit Wasser zu füllen. Damit bewaffnet betrat er erneut das Schlafzimmer.

 

Was er völlig vergessen hatte war seine fehlende Körperbedeckung. Mit knall rotem Kopf trat er rückwärts zurück in den Flur. Dort stellte er Wasser und Tabletten auf den kleinen Schrank neben der Schlafzimmer Türe ab und durchsuchte erst einmal das ganze Haus nach seinen Kleidern. Finden tat er jedoch nichts außer ein wundervoll eingerichtetes Haus, dass auf zwei Etagen verteilt insgesamt fünf Zimmer hatte. Im Erdgeschoss gab es eine weiße Designerküche, die mehr Chrom als Arbeitsfläche zu enthalten schien. Es gab einen Durchgang von der Küche ins Esszimmer. Hier viel Peter vor allem der dunkle Fliesenboden auf. Der war traumhaft. Dazu der riesige Glastisch mit den zugehörigen verchromten Stühlen und die zwei Großen Buffets, in denen man teures Porzellangeschirr bewundern konnte.

 

Das Esszimmer konnte man aber auch direkt durch den Flur betreten. Erst jetzt viel Peter auf, dass dieser traumhafte schwarze Fliesenboden im kompletten Erdgeschoss verlegt worden war. Auch Flur und Küche wiesen ihn aus. Das L-förmige und riesige Wohnzimmer ebenfalls und die kleine Gästetoilette auch. Über eine Treppe gelangte man in den ersten Stock. Hier war im Flur auch dieser absolut traumhafte Fliesenboden verlegt. Man konnte vom Flur sechs Türen abzweigen sehen. Eine führte in das große Badezimmer. Das Badezimmer war komplett in Weiß gehalten und besaß eine ebenerdige riesige Dusche und eine Eckbadewanne mit Wirlpool-Funktion. Eine weitere Türe führte in ein Gästezimmer. Dieses Zimmer war im Vergleich zu den anderen Räumen nicht so groß, aber ein dreitüriger Kleiderschrank mit Bodentiefem Spiegel, ein Designer-Glasschreibitsch mit zugehörigem Chefsessel und ein 2x2 m Bett fanden bequem ihren Platz. Neben dem Gästezimmer befand sich ein Arbeitszimmer. Beide Räume waren mit hellem Laminat in Holzoptik ausgelegt. Der Arbeitsraum enthielt zwei Schreibtische, die mit ihren Glasplatten und den geschwungenen schwarzen Metallbeinen ebenfalls sehr teuer wirkten. Die Schreibtische standen nah zusammen und es waren natürlich sehr flache Markenlaptops auf jedem Schreibitsch zu finden. Die Chefsessel wirkten unglaublich bequem und wenn Peter seine Kleider anhätte, dann hätte ihn fast nichts von einmal Probesitzen abgehalten. Es waren noch verschiedene Aktenschränke aus Metall im Raum vorhanden. Der dritte Raum war das Schlafzimmer, in dem Peter sich verbot alles genau zu inspizieren. Der vierte Raum war abgeschlossen. Was sich hier wohl verbarg?

Doch zu weiteren Überlegungen hatte er keine Zeit, er musste seine Kleider finden! Der letzte noch nicht durchsuchte Raum war das Schlafzimmer.

 

Todesmutig betrat er die Höhle des Löwen und schaute sich um. Er konnte ein riesiges Bett ausmachen, in dem der noch schlafende Justin sich leicht bewegte. Neben dem Bett standen rechts und links Nachttische, die anscheinend zum Bett dazu gehörte. Auch der siebentürige Kleiderschrank schien zur Einheit zu gehören. Ein weicher runder Teppich lag vor dem Bett auf dem Boden, der mit Laminat in dunkler Holzoptik ausgelegt war. Er sah einen Hocker, auf dem diverse Kleidungsstücke von Justin lagen und gegenüber des Bettes war an der Wand ein riesiger Flachbildschirmfernseher angebracht. Darunter stand eine weiße moderne Kommode.

 

Doch so sehr Peter auch suchte, von seiner Kleidung fehlte weiterhin jede Spur. Langsam wurde er wütend. Was fiel diesem Gorilla eigentlich ein? Einfach ausziehen und dann Kleider verstecken, waren sie im Kindergraten?

Peter konnte sich gerade noch daran hintern laut mit dem Fuß aufzutreten. Was sollte er denn jetzt bitte tun? Er stand hier immerhin in einem Männertanga mitten in der Wohnung eines vor drei Tagen noch völlig fremden Arbeitskollegen.

 

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Arbeitskollege. Mehr würde er nie sein können. Wegen irgendeinem Arschloch, das Justins Herz gebrochen und ihn übel ausgenutzt hatte würden sie nie mehr sein können als Arbeitskollegen. War seine Vernarrtheit vorher auch schon aussichtslos gewesen, so war sie es wegen seiner eigenen Unzulänglichkeiten. Das Wissen, dass es nicht einmal diese Waren, die eine Beziehung mit Justin verhindern würden war härter als er gedacht hätte. Er konnte überhaupt nichts tun um die Situation zu ändern und das ließ ihn die Ausweglosigkeit seiner Träume noch deutlicher spüren als jemals zuvor.

 

Müde ließ er sich an der Wand hinab gleiten. Einige Minuten blieb er so sitzen, die Beine angewinkelt, den Kopf zwischen die Beine gedrückt und überlegte was er jetzt tun sollte.

 

Kurz entschlossen sprang er auf und ging an Justins Kleiderschrank. In den hintersten Ecken fand er abgetragene Kleidung, die Justin wohl nur noch daheim trug. Er schlüpfte in eines der viel zu großen T-Shirts und in eine der viel zu großen Boxer. In der Boxer war oben bereits ein leichter Riss, durch den er den Gummi ziehen konnte und dann so festknoten, dass das Zelt irgendwie saß.

 

Jetzt, notdürftig bedeckt, fühlte er sich zumindest etwas besser. Also ging er zurück in den Flur und holte das Wasserglas und die Schmerztabletten. Er trat an das Bett heran und stelle beides auf dem Nachttisch ab. Als er seine Hände langsam wieder zurückziehen wollte wurde sein rechter Arm gepackt.

 

Erschrocken hielt er in der Bewegung inne und starrte Justin an. Der wiederum blickte ihm völlig verschlafen aber wenigstens wach entgegen. „Du… was… wie.. warum? Tabletten?... Danke.“ Seine Hand wurde los gelassen und Justin setzte sich hin. Er nahm eine Tablette und spülte sie mit dem von Peter bereitgestellten Wasser hinunter. Dann sah er langsam hoch.

 

Peter wurde schmerzlich klar, dass Justin sich sicher fragte, wieso er seine Kleidung anhatte. 

 

„Du hast meine Lieblingsunterhose kaputt gemacht.“ Was sollte das denn jetzt bitte schön wieder sein? Peter bebte erneut vor Wut und Justin sah immer noch völlig verschlafen aus. „Ich habe überhaupt nichts kaputt gemacht. Wenn der werte Herr Gorilla die Boxer wieder anzieht, dann zieht sich der Gummi wieder in seine ursprüngliche Form zurück.“

Peters Stimme hatte vor unterdrückter Wut leicht gezittert.

 

„Hmm die anderen haben immer meine getragenen Kleider übergezogen, aber die Prinzessin braucht natürlich frische Sachen.“ Justin schien langsam fit zu werden und Peter wusste nicht wie lange er sich noch beherrschen konnte. „Was wer mit wem und wann mit dir oder deinem Kleiderschrank macht ist mir herzlich egal. Ich wüsste nur gerne wieso ich hier lediglich in Unterhose bekleidet, von dir in schraubstockähnlicher Umarmung festgehalten, aufwache und meine Kleider verschwunden sind!“

 

Justin sah etwas irritiert zu Peter auf. „Wie, deine Kleider sind verschwunden?“ Jetzt schlug Peter wütend mit der Faust gegen die Wand. „Ich bin hier gestern auf dem Sessel eingeschlafen, gerade als ich mir ein Taxi rufen wollte. Ich beliebe nicht in Unterwäsche in Taxen zu steigen. Als ich aufwachte war meine Kleidung allerdings weg und ich finde sie nirgends!“ Peter wunderte sich, dass er trotz der Wut so ruhig gesprochen hatte.

 

„Scheiße!!!“ Peter blickte Justin ob dieses plötzlichen Kraftausdrucks direkt an. Ihm schienen sämtliche Gesichtszüge zu entgleiten und seine Gesichtsfarbe erschien plötzlich einige Farbtöne heller. „Das war kein Traum?“

 

Da Peter die Frage mit den ihm vorliegenden Informationen nicht beantworten konnte tat er sie als rhetorische Frage ab und räusperte sich lediglich um Justin zum weiter sprechen zu animieren. Justin blickte ihn an, als hätte er völlig vergessen, dass sie sich gemeinsam im selben Raum befanden. Dann stand er auf und ging ins Badezimmer.

 

Peter überlegte noch, ob er ihm folgen sollte, doch da Justin zu dem kleinen Schränkchen ging betrat Peter nach ihm ebenfalls das Badezimmer. Gerade als er erklären wollte, dass er eine Zahnbürste benutzt hatte schlug Justin seinen Kopf gegen die Wand. „SCHEIßE!!!“

 

Peter war ob der heftigen Reaktion zusammengezuckt und blickte Justin nun überrascht an. Dieser hielt seine Kleider in der Hand. Wieso um Himmels Willen hatte er diese bitte in den Badezimmerschrank gelegt. Hier hätte Peter als aller Letztes nachgeschaut.

Und plötzlich traf es ihn, hier hätte wohl jeder erst zum Schluss gesucht, außer man hätte geduscht und wäre auf der Suche nach einem Handtuch. War das etwa Absicht gewesen? Unbekleidet aufwachen, etwas gemeinsame „Aktivität“ mit anschließendem Duschen und die Kleider hier in diesem Schrank waren sozusagen der Wink mit dem Zaunpfahl, dass man jetzt gehen sollte?

 

„Justin, kannst du mir erklären wie meine Kleidung in diesen Schrank kommt?“ Peter war erneut überrascht wie ruhig seine Stimme ob der aufkeimenden Wut, ja beinahe schon ob der aufkeimenden Raserei, war. Justin drehte seinen Kopf zu Peter und dieser sah die durch den harten Aufprall mit der Wand rote Stirn und den schuldbewusste Blick.

 

„Es tut mir leid, ich war anscheinend komplett betrunken und habe das alles nicht mehr wirklich unter Kontrolle gehabt.“

 

Dass Justin völlig betrunken gewesen war hatte Peter gestern selbst gesehen, aber was hatte er nicht mehr unter Kontrolle gehabt? Fragend hob er seine Augenbraue und Justin atmete tief ein.

„Es ist mir nicht alles ganz klar in Erinnerung geblieben, aber soweit ich weiß bin ich aufgewacht, weil es mir zu hell wurde. Dann habe ich dich gesehen. Du bist fast vom Sessel gefallen, so verknotet wie du eingeschlafen warst. Ich dachte, dass das nicht bequem sein kann und habe dich vom Sessel auf die Couch gelegt. Doch so mit Schuhen und voll bekleidet sah das auch nicht wirklich bequemer aus. Also habe ich dich ausgezogen. Ich habe die heiße Unterhose bemerkt und überlegt ob ich sie dir auch ausziehen soll. Aber als ich an die brennende Backe vom Mittwoch dachte habe ich es lieber gelassen. Irgendwie ist in meinem alkoholisierten Hirn der Gedanke aufgekommen, dass du heute nicht einfach abhauen sollst, also habe ich deine Sachen hier versteckt. Und als ich wieder zurück kam hattest du die Decke geschnappt und diese total süß umarmt. Ich habe sie langsam aus deinen Armen befreit und gerade als ich dich zudecken wollte sind mir deine leicht angefeuchteten Lippen aufgefallen.

Naja, ich ähm, naja also ich ähm. Verflixt ICH HAB DICH GEKÜSST, OK?

Dann habe ich dich nicht alleine im Wohnzimmer liegen lassen wollen, also habe ich dich ins Schlafzimmer getragen und wieder geküsst. Dann bin ich die Decke hohlen gegangen und habe mich neben dich gelegt. Du hast dich sofort an mich gekuschelt und irgendwas gemurmelt, dass ich nicht ganz verstanden habe.“

 

Justin sah wütend aus. Wieso sah bitte Justin wütend aus? Immerhin war es Peter, der in hilfloser Lage geküsst wurde. Wie immer bei Justin brauchte Peter länger um zu begreifen, was der tiefere Sinn seiner Worte war.

Justin hatte ihn also geküsst. Justin hatte ihn im Schlaf geküsst. Justin hatte ihn, ohne seine Einwilligung geküsst. Justin hatte ihm seinen ersten Kuss gegeben.

 

NEIN! Justin hatte ihm seinen ersten Kuss geraubt! Und nicht nur, dass er dieses von Peter herbeigesehnte und einmalige Erlebnis erzwungen hatte, nein, er hatte es auch noch erzwungen, während Peter in tiefem Schlaf überhaupt nichts wahrgenommen hatte!

 

Er hatte ihm seinen ersten Kuss geraubt und Peter hatte überhaupt nichts gespürt! Wie oft hatte er sich in seinen Träumen gewünscht seinen ersten Kuss von Justin zu empfangen. Aber immer war er voll bei Bewusstsein gewesen und hatte jede Sekunde genossen. Und in keinem seiner Träume tat Justin das hinterher mit Kraftausdrücken ab.

 

Oh Gott! Nicht nur, dass Justin ihm seinen ersten Kuss gestohlen hatte, er fand es auch noch furchtbar!

 

Tränen der Wut und der Verzweiflung so wie Tränen geboren aus tiefem Schmerz rannen seine Wangen hinab. Er ballte seine Hände zu Fäusten und begann auf Justins Brustkort einzuschlagen. „DU ARSCHLOCH, DU IDIOT, DU MISTKERL, DU DU DU“ Er brach schluchzend ab und wurde von Justin an seine Brust gezogen.

 

Er versuchte sich zu befreien, sich von ihm weg zu drücken, doch Justin war stärker und drückte ihn immer feste an seine Brust. „Es tut mir so leid, bitte entschuldige.“ Diese leise geflüsterte Entschuldigung von Justin ließ in Peter bittere Galle aufsteigen.

 

„Was tut dir den leid? Das du mir meinen ersten Kuss gewaltsam geraubt hast, oder das es für dich so scheiße war?“ Plötzlich wurde er von Justin weggedrückt. Sein Kinn wurde angehoben, damit er Justin direkt in die Augen schauen musste. „Wer hat den bitte gesagt, dass ich es Scheiße fand?“

Wollte der ihn jetzt komplett verhöhnen? „Na wenn jemand aufwacht und das erste Wort, nachdem er sich an die vergangene Nacht erinnert – Scheiße – ist, dann dürfte das wohl eindeutig sein!“

 

Justin schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Ich habe Scheiße gesagt, weil mir eingefallen ist, dass ich dir deinen ersten Kuss gestohlen habe. Ich weiß, dass der dir sehr wichtig war. Glaub mir, meine Wange hat echt noch bis Freitagnachmittag wehgetan. Und darum tut es mir auch leid. Sag mal Peter, glaubst du ernsthaft, dass ich dir noch einen zweiten Kuss geraubt hätte, wenn ich es scheiße finden würde?“

 

Justins fragender Blick ließ Peter wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Er beruhigte sich etwas. Nach drei tiefen Atemzügen entwand er sich Justins Arm und trat ans Waschbecken um sein Gesicht zu waschen. Als er wieder aufsah hatte Justin das Bad verlassen. Er hörte ihn im Schlafzimmer, er schien am Kleiderschrank zu sein.

 

Peter zog die Boxer und das T-Shirt von Justina aus um in seine Kleider zu schlüpfen. Dann prüfte er ob das Geld und der Ausweis noch in der Gesäßtasche waren und verließ beinahe fluchtartig das Badezimmer. Nach dem Badezimmer brachte er den Flur, die Treppe und dann die Haustüre hinter sich.

 

Er wusste nicht wann, doch er musste irgendwann angefangen haben zu rennen. Völlig außer Atem lehnte er sich an einen Baum. Er war in einer Art Park. Mist, jetzt hieß es erst einmal herausfinden wo er war, damit er ein Taxi rufen konnte. Erst in diesem Augenblick wurde Peter klar, dass sein Handy bei ihm daheim auf dem Bett lag, wo er es entsetzt nach dem Anruf von Justin fallengelassen hatte. Und was jetzt?

 

4

 

Peter ließ sich völlig entkräftet in seine Badewanne gleiten. Eigentlich badete er ungern, doch nach diesem schrecklichen Tag wollte er nur noch entspannen und am liebsten alles vergessen. Er war etwa zwei Stunden durch den Park geirrt, ehe er eine etwas versteckt liegende Bushaltestelle fand.

Natürlich fuhren samstags die Buse nicht so häufig und er sah noch wie der gerade abgefahrene Bus um die Ecke bog. Das hieß für ihn eine Stunde Wartezeit an der Bushaltestelle.

 

Als der Bus endlich kam konnte der Fahrer Peters fünfzig Euro nicht wechseln und Peter hatte nichts anderes dabei. Nach einigem Hin und Her hatte der Busfahrer zu Peters Glück ein Einsehen und ließ ihn umsonst mitfahren. Natürlich hatte der Bus keinen Stopp in der Nähe von Peters Haus und so musste er in die Innenstadt fahren, dort am Bahnhof etwas kaufen um Kleingeld zu erhalten und dann die Straßenbahn nehmen, die in der Nähe seiner etwas abseits liegenden Wohnung hielt.

 

Danach einige Stationen mit dem Bus und anschließend immer noch gut fünfzehn Minuten zu Fuß.

Das war also sein Samstag gewesen. Da er erst gegen acht Uhr heute Morgen eingeschlafen und auch erst um vierzehn Uhr wieder wach geworden war, hatte er den kompletten Samstag vergeudet. Jetzt war es bereits halb elf und Peter würde gleich nach dem Bad schlafen gehen. Nach diesem Abenteuer würde er sicher gleich einschlafen, wenn er im Bett lag. Er fühlte sich dermaßen urlaubsreif, wie noch niemals zuvor in seinem bisherigen Leben.

 

Peter war am Samstag wirklich nur noch ins Bett gefallen. Am Sonntag hatte ihn ein vorwitziger Sonnenstrahl geweckt, der durch die nur halb zugezogene Gardine hereingeschlichen war. Peter murrte leicht, war aber auch dankbar aus den Wirrungen der Träume herausgefunden zu haben. Es war wieder alles mehr als verwirrend gewesen und hauptsächlich erinnerte er sich noch an eine Flucht durch einen Park. Er floh vor Justin, der ihn immer und immer wieder abknutschen wollte.

 

Es war bereits nach dreizehn Uhr und Peter streckte sich erst einmal genüsslich. Anschließend bereitete er alles für ein ordentliches Sonntagsfrühstück vor. Das bestand für ihn aus Kaffee und einem belegten Wecken vom Bäcker. Also musste er in seine Kleider schlüpfen und schnell zum Bäcker um die Ecke rennen. Das tat er natürlich erst, nachdem die Zähne geputzt und die Haare ordentlich mit Gel in Form gebracht waren.

 

Da er aber sonst immer früher wach war stand er jetzt vor geschlossenen Pforten. Irritiert starrte er auf das geschlossen Schild und konnte nicht glauben, was hier gerade passiert war. Er hatte sein Sonntagsfrühstück verschlafen! Natürlich hatte Peter irgendwo im Hinterkopf abgespeichert, dass der Bäcker sonntags nur bis dreizehn Uhr offen hatte, aber da er sonst immer spätestens um neun Uhr aufstand war das noch nie ein Problem gewesen. Was sollte er jetzt tun? Er war immerhin hungrig!

 

Das Problem hatte er also erkannt, jetzt galt es eine Lösung zu finden. Die fand er auch in einem spontanen Sonntagsbesuch bei den Eltern. Die würden zwar schon zu Mittag gegessen haben, aber Kühlschrank und Speisekammer waren immer reichlich gefüllt und Peter müsste nicht länger Hunger leiden.

 

Also rannte er beinahe zurück nach Hause um die Autoschlüssel zu holen und fuhr dann zu seinen Eltern.

 

Es war überraschenderweise ein gelungener Besuch geworden. Seine drei Schwestern und sein jüngerer Bruder, alle waren sie daheim gewesen. Es gab Kaffee und Kuchen und viele lustige Gesprächsthemen. Seine Schwester Brigitte erzählte von dem gemeinsamen Einkauf und wies Peter darauf hin, dass er die Haare mit der neuen Frisur nicht so am Kopf festklatschen dürfte, weil sonst ja niemand die tollen Stränchen sehen könnte. Das Peter genau aus diesem Grund eine Tonne Gel im Haar trug war zwar allen klar, doch niemand ging wirklich darauf ein. Seine Schwester Barbara amüsierte sich köstlich über Peters Gier beim Verschlingen des Sonntagskuchens und sein Bruder Paul saß wie immer schweigend aber meist mit breitem Grinsen am Esstisch. Als sich seine Schwester Bettina darüber beschwerte, dass er auf ihre SMS von Samstag nicht geantwortet hatte, erzählte Peter wie er von einem Arbeitskollegen regelrecht entführt worden war. Natürlich änderte er den Namen des Clubs aber ansonsten erzählte er ihnen beinahe alles, was passiert war. Nicht einmal die Anmache von Rico ließ er aus. Er trug deutlich zur Erheiterung aller bei, wobei seine Erzählung des vergessenen Handys eher auf Unverständnis stieß. Erst jetzt viel ihm auf, dass er das Handy schon wieder vergessen hatte.

 

Abends kehrte er heim und suchte als erstes sein Handy. Als er es nach einer knappen halben Stunde Suche immer noch nicht gefunden hatte rief er sich vom Haustelefon aus selbst an. Doch der gewünschte Erfolg dieser Mission scheiterte an Peters unbedachtem Umgang mit seinem Handy. Der Akku schien leer zu sein, so dass kein Klingeln Peter verraten würde, wo das Gerät sich versteckt hatte.

 

Also suchte er weiter. Nach einer weiteren knappen halben Stunde hatte er das Handy eingeklemmt zwischen Bett und Wand gefunden. Wie es dort landen konnte entzog sich gänzlich Peters Verständnis. Er hatte doch tatsächlich das Bett ein kleines Stück von der Wand wegziehen müssen, um das Handy überhaupt zu sehen. Er schloss es gleich ans Ladegerät an und beobachtete zufrieden, wie der Ladeblanken auf dem dunklen Display begann die Akkuladefortschritte anzuzeigen.

Dann machte er sich Bettfertig um am Montag frisch und ausgeruht an seine Arbeit gehen zu können.

 

Die Ablenkung durch Justin wäre sicher schlimmer als jemals zuvor, da galt es wenigstens ausreichend Kraftreserven aufzubauen, um wenigstens körperlich volle Leistung bringen zu können. Dann würde er morgen eben die Ordner ins Archiv bringen oder ähnliches, das neue Projekt könnte er auch erst am Dienstag anfangen.

 

Der Montagmorgen begann zu Peters Freude wie jeder andere Montag davor. Der Wecker klingelte ihn aus seinen heißen Träumen, er dachte daran die Kaffeemaschine einzuschalten bevor er duschen ging, er hatte warmes Wasser und als er frisch geduscht und neu eingekleidet seine Frisur mit viel Gel wieder an seinem Kopf festgeklatscht hatte um die blonden Strähnchen zu verstecken, setzte er sich mit einem beruhigten Lächeln im Gesicht an den Küchentisch. Er hatte zwischenzeitlich noch sein Handy vom Ladegerät geholt und schaltete es ein, während die ersten Schlucke herrlich heißen Kaffees seine Speiseröhre hinab liefen.

 

Und ganz plötzlich war die Normalität vorbei. Erst hielt Peter es für einen Fehler, dann überlegte er, ob seine Schwester verrückt geworden war und dann musste er einsehen, dass heute kein normaler Montag werden würde.

 

Auf seinem Handy standen gut 20 verpasste Anrufe von denen sieben mit Sprachnachrichten auf der Mailbox endeten. Weiter hatte er 17 WhatsApp Nachrichten erhalten. Eine davon war von seiner Schwester, die wissen wollte, ob Peter am Sonntag auch zu den Eltern kommen würde. Das war auch alles, was Peter erwartete hatte.

 

Sämtliche Anrufe und alle Nachrichten die außer der einen WhatsApp Nachricht seiner Schwester eingegangen waren kamen von Justin. Was um Himmels Willen wollte der den noch von ihm? Zittrig überwand Peter sich die Sprachnachrichten auf seiner Mailbox abzuhören.

Schon bei der Ersten wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Justin schrie beinahe ins Telefon, dass Peter sich nicht so anstellen sollte und die Türe aufmachen. Peter hörte im Hintergrund noch seine Nachbarin Frau Strolz schimpfen, dass der Junge Herr endlich leise sein solle, er würde ihren armen Benni ganz verrückt machen.

 

Alleine jetzt drehte sich Peter bereits der Magen um. Justin war am Samstag vor seiner Haustüre gestanden? Schlimmer noch, er hatte ein derartiges Theater veranstaltet, dass sich seine Nachbarn gestört fühlten! Peter war noch nie mit einem von ihnen aneinander geraten. Er war ein immer höfflicher und sehr ruhiger Mieter. Das schätzte man im Haus sehr. Nur darum hatte er den Mietvertrag überhaupt bekommen. In diesem Haus wohnte sonst eher das ältere Semester und dieses wollte weitgehend einfach nur seine Ruhe. Es kam sehr selten vor, dass Peter durch Geräusche von Nachbarn gestört wurde.

 

Peter sank völlig in sich zusammen. Der Esstisch stützte ihn und der Stuhl verhinderte, dass er fiel. Zum ersten Mal hatte Justins Stimme keinerlei einlullende oder schmeichelnde Wirkung auf ihn. Nein, ganz im Gegenteil, sie trieb ihm den kalten Schweiß der Panik auf den Rücken.

 

Der zweite Anruf war nicht besser, er hörte Justin gegen eine Türe hämmern, während er ins Telefon oder was wahrscheinlicher schien, gegen die Türe schrie, dass Peter sich nicht wie ein Mädchen aufführen sollte, nur weil er homosexuell sei. Dieses Mal war es nicht nur Frau Strolz, die im Hintergrund erstickte Laute des Entsetzens oder des Eckels von sich gab. Nein auch der Nachbar Schubert war den Geräuschen nach zu dieser Zeit ebenfalls im Treppenhaus zugegen.

 

Das war nicht gut. Das war so was von gar nicht gut. Was wenn man mit so einem wie ihm nicht unter einem Dach wohnen wollte? Was wenn er jetzt in den nächsten Tagen von der Hausverwaltung die Kündigung erhalten sollte?

 

Peter begann entgegen seiner Gewohnheiten an seinen Fingernägeln zu kauen. Es blieben noch fünf Anrufe übrig und er wünscht sich jetzt schon mehrere Meter tief unter die Erde. Wie viele Nachbarn würde er auf den nächsten Mailboxnachrichten noch im Hintergrund hören? Wie viele Personen würden ihn jetzt mit Eckel betrachten?

 

Der dritte Anruf verdunkelte Peters Sicht. Erneut schrie Justin in den Hörer, dass Peter aufmachen sollte und sich nicht wie eine feige Schwuppe verstecken. Plötzlich hörte er im Hintergrund deutlich die Stimme von Herrn Neumann aus dem ersten Stock. Er war einer der jüngsten Mieter des Hauses obwohl auch er mit seinen beinahe 65 Jahren eher dem älteren Semester zu geordnet werden musste.

 

Er war ein sehr resoluter Mann. Als die Hausverwaltung sich noch nicht um die Flurreinigung kümmerte hatte Peter einmal gewagt an einem Samstag nach 11 Uhr den Flur zu fegen. Dieses Verhalten führte zu einer längeren Predigt von Herrn Neumann, in der er ihm vorhielt, dass er doch um diese Zeit nicht den Flur putzen könne.

Immerhin waren die anderen Hausbewohner genau um diese Zeit häufig zu Samstagseinkäufen, Familienfrühstücken mit den Kindern und Enkelkindern oder ähnlichem unterwegs. Oder sie kehrten im schlimmsten Fall mit Einkaufstüten von den Samstagseinkäufen zurück.

 

Herr Neumann hatte Peter tatsächlich mehrmals aufgezählt, welche schweren Verletzungen durch einen Sturz im hohen Alter hervorgerufen werden könnten. Und noch schlimmer, er schilderte Peter sehr plastisch, wie das Ausrutschen auf feuchter Treppe bei einem unglücklichen Fall sogar zum Tode führen könnte. Er hatte Peter drei Mal direkt gefragt, wie er sich als Mörder eines freundlichen Nachbarn fühlen würde.

Peter hatte sich während dieser Predigt wie ein fünfjähriger Lausbub gefühlt, der einem anderen das Bonbon geklaut hatte.

 

Herr Neumanns laute Stimme auf der Mailbox riss Peter aus seinen Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Herr Neumann schrie Justin an was ihm eigentlich einfiele derart unempathisch zu sein. Er erklärte, dass Peter seit gestern Abend gegen halb elf ausgegangen sei und es überhaupt nicht seine Art war das Haus zu solch nachtschlafender Stunde zu verlassen. Dass er sich langsam sorgte, weil er noch nicht zurück war. Und überhaupt was ihm einfiele derartige Schimpfworte zu verwenden um den vermeintlich eingeschlossenen aus seiner Wohnung zu locken. Er erklärte noch irgendetwas von wieder der Natur als die Verbindung endete.

Justin musste derart überrascht gewesen sein, dass er das auflegen vergessen hatte.

 

Peters Kopf lag jetzt auf der Tischplatte und er musste kämpfen um nicht in Tränen auszubrechen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Hatte er wirklich noch die Kraft die restlichen vier Nachrichten abzuhören? Doch was blieb ihm schon anderes übrig? Er würde Justin in wenigen Stunden in der Firma wieder sehen und es war besser vorbereitet zu sein.

 

Er schluckte hart und drückte dann auf die nächste Nachricht. Widererwartend steigerte sich seine Laune bereits während des Abhörens. Justin entschuldigte sich in gemäßigtem Ton für die vorhergehenden Anrufe und erklärte, dass er den Nachbarn mitgeteilt hatte, dass sie Freunde waren und er sich nur sorgte weil Peter plötzlich verschwunden wäre, nachdem er ihn gestern mit auf eine Feier genommen hätte.

Auch das mit dem Vorwurf er würde Männer bevorzugen hätte er aufgeräumt und ihn als dummen Versuch Peter aus seiner Wohnung zu locken erklärt. Er bat Peter ihn zurückzurufen, sobald er die Nachrichten abhörte.

 

Peters Kopf schnellte hoch und er spürte die unendliche Erleichterung in sich aufpoppen. Er würde keine Kündigung der Wohnung erhalten und seine Nachbarn dachten jetzt nur er hätte einfach ohne ein Wort eine Party verlassen und einen Freund damit Sorgen bereitet. Mit diesem Wissen ließ es sich um einiges besser leben als noch vor wenigen Minuten.

 

Die nächsten drei Nachrichten waren der vorherigen sehr ähnlich. Justin hatte auch am Sonntag versucht Peter zu erreichen und bat ihn sich bei ihm zu melden. Warum er das wollte wusste Peter zwar nicht, aber da Justin jetzt wieder ruhiger klang würde er ihn heute in der Firma fragen können.

 

Jetzt galt es nur noch die 16 WhatsApp-Nachrichten zu lesen. Dann könnte Peter gewappnet zur Arbeit fahren. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich beeilen musste. Er hatte bereits eine halbe Stunde für das Abhören der Nachrichten benötigt. Er lag also deutlich hinter seinem üblichen Zeitplan.

 

Peter saß noch etwas steif in seinem Auto. Er hatte sich in letzter Minute umentschieden und war direkt nach dem Abhören der Mailbox los gefahren. Die WhatsApp Nachrichten las er erst, als er seinen üblichen Parkplatz auf dem Firmengeländer erreicht hatte. Er wunderte sich zwar kurz, dass der Parkplatz noch frei war, obwohl er so spät dran war, doch die Gedanken tat er kurzerhand einfach ab.

Die Nachrichten von Justin hatten ihn irgendwie beinahe zu Tränen gerührt.

 

Gut, die ersten Nachrichten weniger, die waren eher der Laune der ersten drei Anrufe angepasst. Aber ab der zwölften Nachricht Klang Justin eher besorgt. Er fragte, ob es Peter gut ginge. Wenn man sich die erste mit dem Wortlaut

– Bist du total durch? Was haust du einfach ab? – über Nachrichten wie

– Was soll der Scheiß du Arschloch! Einfach abhauen und dann nicht melden. Gott es war nur ein Kuss! Reg dich ab!!! – hin zu

– Wenn du Blödmann nicht sofort die Türe aufmachst, dann schlag ich sie ein! Mich lässt man nicht einfach stehen! – durchlas konnte man beinahe in wilde Raserei geraten.

 

Doch dann folgten plötzlich Nachrichten, die Peter zeigten, dass Justin sich lediglich Sorgen um ihn machte. Das lag wohl an seinem schlechten Gewissen, weil er Peters ersten Kuss geraubt hatte, aber Peter fand es dennoch lieb. Es zeigte ihm, dass Justin doch kein komplettes Arschloch war, sondern Gefühle zu haben schien.

 

Am besten gefielen Peter die erste und die letzte freundliche Nachricht. Sie lauteten

– Komm schon Peter. Es tut mir leid, ich hätte dich nicht küssen sollen. Ich meine, ich wusste doch wie wichtig dir dein erster Kuss ist und den wolltest du sicher mit jemand ganz Besonderem teilen und nicht mit irgendeinem Idioten wie mir. Aber Mensch gib doch wenigstens ein Zeichen von dir, dass es dir gut geht. Du warst total aufgelöst als du aus meinem Haus gerannt bist! – und

– Peter ich mach mir langsam echt Sorgen. Du bist doch gut nach Hause gekommen, oder? Ich hab es gegoogelt, es wurde niemand angefahren oder umgebracht gefunden, aber es ist jetzt schon Sonntag 23.47 Uhr und du hast immer noch kein Lebenszeichen von dir gegeben. Wieso ist dein Handy so lange aus? Verflixt, ich hoffe du kommst morgen gesund und munter zur Arbeit. Gute Nacht. -

 

Peter schluckte noch einmal hart, bevor er sich aus dem Wagen hievte und auf den Eingang zuging. Als er den Aufzug betrat hörte er ein gehetztes „HALT“ hinter sich und wusste genau, wem diese Stimme gehört. Er drehte sich um und hielt die Aufzugtüre auf. Justin jedoch schien nicht einmal zu bemerken, wen er da angesprochen hatte. Er war völlig außer Atem und stützte sich gerade auf den Knien ab um die normale Atmung wieder zu finden.

 

Schneller als gedacht richtete er sich wieder zu seiner volle Größe auf, während er bereits ein „Danke“ äußerte und dann mitten in der Bewegung stockte, als er Peter erkannte. Dieser lächelte ihn schüchtern an und nickte ihm kurz zu.

 

Jetzt kam wieder Leben in den Riesen und er baute sich bedrohlich vor Peter auf. „Mensch Peter, da bist du ja. Wieso bist du abgehauen und hast dein Handy ausgeschaltete?“ Peter hatte bereits auf der Herfahrt überlegt, wie er Justin wohl am besten begrüßen könnte, doch seine Präsenz in diesem viel zu engen Fahrstuhl, sein ganz eigener Geruch und diese unglaublichen Tiefen wollten ihm einfach alles was er sich zurecht gelegt hatte wieder entreißen. Von wegen wollten, sie taten es einfach und ließen ihn einer Antwort unfähig zurück.

 

Justin wirkte zunehmend verstimmter und als der Aufzug sich öffnete und Peter ohne Antwort hinaus treten wollte schien er wütend zu werden. Er packte ihn an der Schulter und drückte ihn mit mehr Kraft als nötig an die Aufzugwand, während er den Knopf für das oberste Stockwerk drückte.

Was wollte er da oben? Und wieso zwang er Peter mit ihm hoch zu fahren?

 

„ICH WARTE!“ Justins Augen blitzten und sein ganzes Gesicht strahlte seine Verärgerung aus. „Und komm mir nicht wieder mit deinem arroganten Grinsen und dem lässigen Kopfnicken. Ich nehme dir die Coole-Tour nach der Show-Einlage am Samstag garantiert nicht mehr ab!“

 

Coole-Tour? Arrogantes Grinsen? Show-Einlage? Hatte der Typ sie eigentlich noch alle? Egal was Peter tat es schien für Justin nicht gut genug. Musste er ihm wirklich so dermaßen deutlich unter die Nase reiben, dass er nicht gut genug war, um auch nur dieselbe Luft wie Justin atmen zu dürfen?

 

Er spürte die bekannte Wut in sich aufsteigen. Die Wut, die ihn in letzter Zeit immer wieder überkam und ihn zu unüberlegten und irrationalen Ausbrüchen verleitete. Die Wut, die scheinbar nur Justin wecken konnte.

Peter schubste Justin mit einem ordentlichen Stoß von sich und baute sich dann seinerseits vor dem Riesen auf. Er verbot sich jeden Gedanken daran, wie lächerlich es aussehen musste, wenn er versuchte Justin, dem absoluten Traum- und zwei Meter-Mann mit seinen eigenen, lächerlichen 1,86 Meter Körpergröße zu drohen.

 

„Dir haben sie doch ins Gehirn geschissen! Was glaubst du eigentlich wer du bist? Ich bin zu spät dran und nicht jeder kann es sich so bequem machen und andere seine Arbeit überlassen, wie du!“

 

Justin sah ihn ungläubig an. „Hört, hört, die Tippse vom Olle hat was zu tun. Musste etwa neuen Kaffee kochen, weil der letzte auf meinem teuren Designerhemd gelandet ist?“

 

Peter glaubte sich verhört zu haben. Er und eine Tippse? Und was war eigentlich mit seinem Hemd? Ging es hier nur um Justin?

Natürlich, für Justin ging es sicher immer nur um sich selbst. Wütend holte Peter aus, doch Justin fing die Ohrfeige ab. „Nein mein Kleiner, zweimal kommst du mir damit nicht durch!“

 

Justin drückte Peters Arm fester als er müsste und Peter spürte einen unangenehmen Schmerz aufsteigen. Wenn Justin ihn nicht bald los ließ, dann würde er hier noch in Tränen ausbrechen. Er versuchte seinen Arm freizubekommen, erntete aber nur ein müdes Lächeln von Justin. Resigniert wollte er inne halten, als die Wut ihm wieder einen Strich durch die Rechnung machte.

 

„Sag mal, hast du dich in mich verknallt oder was stimmt bei dir nicht? Du wolltest mich mit in den Club schleifen, das hast du. Du wolltest meinen ersten Kuss, den hast du. Was willst du eigentlich noch von mir? Vielleicht mein erstes Mal? Vergiss es Junge, das bist du garantiert nicht wert!“

 

Justin ließ Peters Arm abrupt los. „Bild dir mal nichts ein Prinzeschen. Ich hab mich sicher nicht in Olles dämliche Tippse verliebt, die zu blöd ist zwei und zwei zusammenzuzählen und deren Daseinsberechtigung in dieser Firma nur darin besteht, dass Olle sie flachlegen will.“

 

Keine Ohrfeige hätte Peter härter treffen können als diese Beleidigung. Er riss sich den Arsch auf um für die Firma immer die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen und Justin ließ ihn wie eine unfähige Vorzimmerdame dastehen. Was wenn er solche Ammenmärchen in der Firma erzählen würde? Sein Ruf wäre für alle Zeit komplett dahin!

 

Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und blickte Justin direkt in die Augen. Dieser schien jetzt erst langsam zu realisieren, was er da gerade eben gesagt hatte. Doch noch ehe er den Mund auf machen konnte um weiter seinen Schwachsinn zu äußern, oder vielleicht auch um sich zu entschuldigen, schrie Peter schon los. „DU GEHIRNAPUTIERTER GORILLA!!! DU SAU DUMMER NEANDERTALER!!!! DU UNFALL DER NATUR!!!! DU…DU…DU!!

Was bildest du dir eigentlich ein? Zuerst stellst du dich so blöd in die Türe, dass ich mir den ganzen frisch aufgegossenen Kaffee aufs Hemd kippe, so dass ich wegen dir Überstunden abbauen musste nur um mich daheim umziehen zu können! Doch damit nicht genug reißt du mich an einem Urlaubstag erst mal mit deinem scheiß Anruf aus dem Schlaf, so dass ich in der von dir erzeugten Hektik mein Handy daheim vergesse. Dann schleifst du mich bis zum späten Morgen in diesen Club, der mein Trommelfeld wahrscheinlich langfristig geschädigt hat.

Und als ob das nicht alles schon genug wäre bist du dann auch noch so betrunken, dass ich fahren muss. Aber bloß nicht zu mir, nein dein Wagen fährt nur zu dir! Selbst im besoffenen Zustand drohst du einem noch. Musst dir zwar ins Auto helfen lassen, weil du sonst eher auf dem Asphalt gelandet wärst, aber drohen, das können wir noch! Lässt dich in deine Villa kutschieren, auf die Couch schleppen und Bettfertig machen. Dann darf man erst mal das ganze Haus nach ner Decke für den schlafenden Säufer durchsuchen. Und als ob das alles noch nicht genug währe fällst du mich auch noch an, nachdem ich völlig übermüdet einfach umgekippt bin.

Sag mal was glaubst du eigentlich was ich den ganzen Samstag gemacht habe? Hää?? Oh keine Ahnung? Na ist ja klar, außer dir gibt es in deinem Leben wahrscheinlich nichts wichtiges, warum sich also mit anderen Menschen beschäftigen!

Dir ist es natürlich egal, das ich mich nur wegen deinem scheiß Verhalten erst mal nach längerem Laufen in einem Park verlaufen habe, dann den Busfahrer beknien musste, dass er mich mitnimmt, weil er meine 50 € nicht wechseln konnte um dann einmal quer durch die Stadt fahren musste um irgendwann gegen kurz nach zehn endlich daheim anzukommen!

Und als ob er mich noch nicht genug gequält hätte muss ich nachdem ich mein Handy endlich wieder gefunden und geladen habe am Montagmorgen erst einmal diverse Beleidigungen über mich ergehen lassen. Aber das hat dir ja noch nicht gereicht, du musstest gleich noch meine Nachbarn mit einbeziehen. MAN HAT DICH SICHER BIS TIMBUCKTU SCHREIEN HÖREN!“

 

Völlig außer Atem stand Peter Justin gegenüber und blickte diesen aus, vor Wut funkelnden Augen an. Justin wiederrum schien erst einmal wie festgewachsen. Peter schlängelte sich halb an Justin vorbei, um den Knopf für die richtige Etage zu drücken. Immerhin waren sie schon vor einiger Zeit im obersten Stockwerk angekommen, so dass sich die Fahrstuhltüre bereits geöffnet und dann auch wieder geschlossen hatte.

Als die Türe in der richtigen Etage aufsprang verließ Peter den Fahrstuhl. Er versuchte nicht zu rennen, nur keine Angst zeigen. Das war mit Wackelpudding in den Beinen ein beinahe unmögliches Unterfangen, doch irgendwie gelangte er doch an seinen Schreibtisch. Bei einem kurzen Blick erkannte er sofort Olafs missbilligenden Blick auf sich. Nach der Sichtung seiner Armbanduhr war auch sofort klar, warum er Olafs Unmut geweckt hatte.

Er hatte die Kernzeit verletzt. Es war bereits sieben Minuten nach neun Uhr. Gut, das dürfte das erste Mal gewesen sein, darum sagte Olaf wahrscheinlich auch nichts, aber dennoch so etwas durfte Peter nicht passieren. Er hasste Unpünktlichkeit!!

 

Er musste sich sammel. Einige Male atmete er tief durch, bevor er sich mit geschlossenen Augen zu seinem Rechner nach unten beugte. Nachdem er den Rechner gestartet hatte und sich wieder dem Monitor zuwandte, der in Richtung Großraumbüro stand, sah er Justin vor seinem Schreibtisch stehen. Er unterdrückte ein ängstliches Geräusch und sah Justin stattdessen nur an. „Du hast dich in einem Park verlaufen? Du bist nicht wirklich bis zum Park gelaufen, oder? Der ist gut zwölf Kilometer von meinem Haus weg!“

 

Peter verstand nicht, was er mit dieser Information nun noch anfangen sollte, also starrte er Justin weiterhin möglichst ausdruckslos an. „Oh man, das tut mir leid. Hätte ich gewusst, dass du in die völlig falsche Richtung rennst, dann hätte ich dich einsammeln können. Peter ich habe mir echt Sorgen gemacht, dass du mir so aufgelöst wie du warst vor ein Auto rennst. Darum hab ich mir nur kurz Trainingskleidung übergezogen und hab dich anschließend im Haus gesucht. Als mir dann klar wurde, dass du weg bist bin ich in mein Auto gesprungen und dir nachgefahren. Oder naja, zumindest dachte ich, dass ich dir nachfahre. Wenn du aber zum Park bist, oh man das ist wirklich Richtungsmäßig absolut falsch. Ich meine, du bist doch gefahren, hast du dir den Weg nicht gemerkt?“

 

Langsam wusste Peter wirklich nicht mehr wohin mit seiner Wut. Doch hier würde er auf keinen Fall schreien. Er flüsterte daher nur. „Ich war durch das bescheuerte Navi abgelenkt. Du warst zwar zu besoffen um mir zu sagen wo ich langfahren muss, aber das Navi hast du noch aktiviert bekommen.“

 

Er drehte sich leicht weg und versuchte sich auf seinen Monitor zu konzentieren. „Scheiße was hast du denn da gemacht?“ Justins überraschter Ausruf ließ Peter innehalten und ihn verständnislos zu Justin sehen. Justins Blick schien auf Peters Handgelenk gerichtete, also folgte er ihm mit seinem eigenen Blick und wünschte im nächsten Moment, er hätte es nicht getan.

 

Sein komplettes Handgelenk war rot und schon leicht blau. Das würde ein herrlicher rundum Bluterguss werden. In der Sekunde, als er die Verfärbung sah begann er auch das unangenehme Ziehen bewusst wahrzunehmen und musste sich mit aller Gewalt davon abhalten vor Justin weinerlich sein Handgelenk mit der anderen Hand zu umschließen. Sattdessen starte er ungläubig auf die Verfärbung und versuchte sich verzweifelt zu erinnern, woher er diese Blessur hatte. Dann durchzuckte ihn die Erinnerung. Die einzige Möglichkeit sich eine derartige Verletzung zugezogen zu haben war Justins Klammergriff vorhin im Aufzug.

 

Wütend blickte er auf. „Na super. Jetzt reicht es dem Herren nicht mehr mich nur so zu nerven, jetzt muss er mir auch noch blaue Flecken verpassen. Sorry auf so was stehe ich überhaupt nicht.“ Peter spürte genau, dass seine Augen beinahe Funken sprühten, so wütend war er. Justin wiederrum sah eher wie ein treudoofer Bernadina aus. „Wie ich? Wann soll ich denn… SCHEIßE!! Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich hab dich doch vorhin im Aufzug nicht etwa..??“

 

Peter blickte Justin erneut ausdruckslos an. „Naja wenigstens das Erinnerungsvermögen funktioniert noch. Und jetzt verschwinde, ich muss arbeiten.“

 

Gerade als Justin wieder ansetzten wollte etwas zu sagen klingelte Peters Telefon. Die Nummer war ihm nur all zu bekannt. Es war Herr Profits. Herr Profits war der Geschäftsführer einer ihrer Kunden. Peter hatten Herrn Profits vor einigen Jahren eine Werbelösung verkauft. Sonst war es üblich, dass Peter die Kunden kontaktierte, sie über das jeweilige Produkt informierte und anschließend alles an Olaf weitergab. Doch Herr Profits wollte nicht weitergereicht werden. Er bestand auf die direkte Betreuung durch Peter.

 

Olaf hatte damals zwar alles versucht, doch Herr Profits wollte sich nicht überzeugen lassen und so war Peter der Betreuer dieses einen Kunden geworden. Und die Kundenbetreuung von Herrn Profits machte ihm sogar richtigen Spaß. Er mochte den älteren Herren, der immer ein Lächeln und einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte.

 

Peter spürte regelrecht, wie sich seine Gesichtszüge entspannten, während er zum Hörer griff. „Peter Schreibert Firma Solutionsfactorie, guten Tag Herr Profits was darf ich für sie tun?“Auch wenn der Spruch bei vielen anderen Kunden einfach nur eine Floskel darstellen würde, bei Herrn Profits meinte Peter jedes einzelne Wort ernst.

 

Es war wieder ein sehr erheiterndes Gespräch gewesen. Herr Profits hatte nur zwei kurze Fragen zu neuen Werbemöglichkeiten gehabt, die Peter für die Unternehmung von Herrn Profits als unrentabel, auf Grund falscher Zielgruppe erklärte. Den Rest des Gespräches hatten sie über verschiedene alltägliche Themen gesprochen.

 

Als Peter auflegte hatte er Justin schon völlig vergessen und arbeitete einfach an der Vorbereitung seines neuen Projekts. Das wiederrum nahm ihn diesmal völlig ein. Er hatte vor einiger Zeit gelesen, dass immer mehr Unternehmen sich über die beschränkten Möglichkeiten der temporären Personalbeschaffung beschwerten. Zeitarbeitsfirmen zahlten häufig so schlecht, dass auch nur dem entsprechend Personal mit wenig bis gar keiner Berufserfahrung zur Verfügung stand, oder schlimmer noch, Personal an dessen Zuverlässigkeit gezweifelt werden musste.

Peter würde den Markt prüfen und sich Lösungsmöglichkeiten überlegen. Ihm schwebte eine Art Arbeitgeberpool vor. Eine eigene kleine Abteilung in der Firma, die natürlich erst gegründet werden müsste, um dort Firmen, die Mitglieder des Pools waren, die Möglichkeit zur Personalanfrage zu bieten. Die Firmen sollten nach Peters Vorstellung hier die Option erhalten, dass Personal direkt einzustellen. Gerade für Personen, die nur befristet Arbeitssuchend waren oder sich bereits über befristet Tätigkeiten freuten, wäre das sicher eine optimale Anlaufstelle.

Arbeitsuchende sollten in verschiedenen Karteikartensystemen geführt und je nach Bedarf abgerufen werden können. Peter war sich sicher, dass hier auch eine Zusammenarbeit mit Arbeitsämtern im ganzen Land möglich sein könnte. Er sah geistig bereits den Verleih von eigenem, qualifiziertem Personal vor sich. Das sollte natürlich nicht direkt bei den Firmen unter Vertrag genommen werden können.

Aber ob das wirklich alles so einfach wäre wagte er zu bezweifeln. Immerhin gab es sicher Gründe, dass noch kein anderer auf diese Idee gekommen war und die Zeitarbeitsfirmen immer noch ihre Berechtigung am Markt hatten.

 

Nach sechseinhalb Stunden Internetrecherche war Peter versucht aufzugeben. Er hatte die Mittagspause durch gearbeitet und sein Magen rief ihm die fehlende Nahrungsaufnahme jetzt mit einem tiefen Knurren in Erinnerung. Müde hievte er sich aus seinem Stuhl und steuerte die Personalküchen an. Ein Kaffee würde ihn zumindest geistig wieder auf die Höhe bringen.

 

Peter war nur noch wenige Schritte von der Küchentüre entfernt, als er stockte, weil er Justins Stimme aus eben dieser hörte. Zu seinem Glück musste man um in die Küche zu gelangen aus dem Großraumbüro in einen Flur gehen.

Der Flur war nicht lang und hatte nur sechs Türen. Die eine Türe führte ins Großraumbüro, die zweite in das kleine Archiv, die dritte in die Herrentoilette, die vierte in die Damentoilette, die fünfte in die Küche und die sechste ganz am Ende führte in ein kleines Treppenhaus, das die Stockwerke miteinander verband. Da es von oben betrachtet dem Haupttreppenhaus mit Aufzug gegenüber lag war es lediglich als Flucht und Rettungsweg gedacht.

Peter hatte dieses Treppenhaus nur einmal versehendlich betreten, als er in wilder Flucht vor Justin die falsche Türe erwischt hatte. Tja genauso wie er sein Archiv nur seiner panischen Flucht vor Justin verdankte.

Es wurde noch lächerlicher, wenn man bedachte, dass Justin zu diesen Zeitpunkten nicht einmal gewusst hatte, dass Peter überhaupt existierte. Peter war tatsächlich vor einem Jäger geflohen der ihn niemals jagen würde. Und das obwohl er in seinen Tagträumen nichts sehnlicher wünschte als Justins Beute zu werden. Das war dermaßen erbärmlich, dass es Peter die Kehle zuschnürte.

 

Aber jetzt rannte Peter nicht. Wieso sich sein Verhalten Justin gegenüber dermaßen ins Gegenteil verkehrt hatte wollte er nicht wissen, denn er wäre ja gerne los gerannt, aber seine Beine gehorchten nicht. Peter hätte gerne den Kopf gegen die Wand geschlagen. Früher hätte er es nicht gedacht, aber es ging tatsächlich noch peinlicher als vor jemandem zu fliehen der einen gar nicht jagte. So entging man zumindest der Entdeckung des Fehlverhaltens durch andere. Aber jetzt? Er stand völlig erstarrt im Flur und konnte sich nicht rühren. Wie peinlich war das bitte? Er spürte bereits die Röte in seinem Gesicht aufsteigen.

 

Dennoch blieb er unfähig sich zu rühren einfach im Flur kurz vor der Küchentür stehen und lauschte Justins herrlichem Lachen. Im nächsten Augenblick wünscht er sich, er wäre gerannt. Er vernahm Erikas Stimme, die abfällig meinte „Sag Justin, was hast du den jetzt plötzlich mit der Tippse vom Olaf? Ich meine dieser Typ ist mehr als unfähig und dazu noch absolut unhöflich. Ich schlage drei Kreuze, wenn der endlich gekündigt wird!“

 

Plötzlich stand Peter wie festgefroren neben der Türe und vermochte sich momentan vor Schock nicht mehr zu bewegen. War das jetzt besser oder schlechter als durch den Klang von Justins Stimme wie festgewachsen zu verharren?

Doch den Gedankengang konnte Peter nicht zu Ende denken, weil direkt nach Elke jetzt auch Edgar seinen Senf loswerden wollte. Er klang mindestens ebenso gehässig, wenn nicht sogar noch gehässiger als wenige Sekunden zuvor Elke. „Oh ja, die Tippse vom Olle. Ich warte auch nur noch drauf, dass er den Typen endlich ins Bett zieht und ihn dann verabschiedet. Ich meine mal ehrlich, wir reißen uns hier den Arsch auf um der Firma Geld zu bringen und was tut die Firma? Steckt es so einem Schmalspurhirni in den nicht mal knackigen Hintern! Was will der Olle von dem Flachspurschwachmatten überhaupt? Der hat weder Hirn, noch Figur noch Aussehen oder gar Charme! Ich bitte euch, selbst der Olle könnte was Besseres haben. Habt ihr seinen letzten Aufriss im Lobello gesehen? Da stinkt dieser Idiot doch völlig gegen ab!“

 

Als er Justins Stimme erklingen hörte bewegten sich seine Beine endlich wieder. Sich nach diesen bodenlosen Unverschämtheiten jetzt auch noch Justins Meinung über seine Person anhören zu müssen wäre eindeutig zu viel gewesen, weshalb er seinem Körper für die zwar verspätete Reaktion, aber immerhin für die Reaktion an und für sich, im Stillen dankte.

 

Peter schaffte es noch in eine der Toilettenkabinen, bevor die Flut begann. Seine Augen tränten und er schluchzte unterdrückt. Justin hatte es wirklich getan! Er hatte ihn tatsächlich vor sämtlichen Kollegen als unfähige Tippse dastehen lassen. Das so etwas so schnell gehen konnte traf Peter beinahe tiefer als die Tatsache, dass die Kollegen diese Lügen nur allzu bereitwillig glaubten.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er die Tür zu den WC´s aufgehen und unterdrückte jedes weitere Schluchzen. Dass er dann aber plötzlich seine Kolleginnen Sandra und Elke sprechen hörte irritierte ihn so sehr, dass er seine Verzweiflung, Verletzung und Wut völlig vergaß.

 

„Mensch Sandra stell dich nicht dumm! Du weißt es genau so gut wie ich, dass dieser Schreibert eine Null ist. Spätestens seit er ohne irgendeinen Grund nicht mehr mit dir spricht müsste selbst dir verliebten Huhn klar sein, dass der Typ nichts taugt!“

„Du kennst ihn doch überhaupt nicht! Peter ist ein toller Mann! Er ist lieb, zuvorkommend und freundlich. Und ich glaube einfach nicht, dass er unfähig sein soll! Er hat mir so oft kompetent Rat gegeben, jemand der so dämlich ist wie hier alle sagen könnte das nicht! Und ich habe es dir schon einmal erklärt, er spricht nicht mehr mit mir weil er mich wahrscheinlich für homophob hält und er völlig vorurteilsfrei ist und Menschen mit Vorurteilen meidet!“

„Oh man dich hats ja echt erwischt. Wie lange hechelst du dem ach so tollen Peter jetzt schon hinterher? Drei Jahre? Vier Jahre? Kapier endlich, dass er ein Arschloch ist. Du hast was Besseres verdient! Ich mein, schau dir doch Justin an! Du kommst gut mit ihm aus und er ist ein Bild von einem Mann! Wieso versuchst du es nicht bei ihm? Soweit ich weiß hat er doch momentan keine Freundin!“

„Das ist… kompliziert. Justin ist nicht meine Liga. Außerdem sind wir schon seit ich denken kann befreundet. Ich meine, ich habe ihm damals im Kindergarten die Schaukel an den Kopf geschlagen.“

 

Elke lachte höhnisch und Peter spürte wie ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Gut, dass die Kollegen hier alle der Meinung waren, er wäre eine Lusche, dass hatte er eben ja schon erfahren. Aber Sandra war in ihn verliebt? Und noch wichtiger, Sandra kannte Justin bereits seit so vielen Jahren und sah ihn als Freund? Sie fand ihn nicht ekelhaft? Zu seinem Glück saß er schon, denn diese Informationen hätten ihm sonst sicher die Beine wegknicken lassen.

 

„Mensch Elke. Du gehst mir heute echt auf die Nerven!“

Eine Türe schlug zu und Elke lachte noch lauter. Plötzlich wurde es ganz ruhig. „Wieso musst du unbedingt auf Typen stehen? Ich würde dich viel glücklicher machen als es jeder Typ jemals könnte.“

 

Jetzt war Peter der Ohnmacht nahe. So viel intimes Wissen über seine Arbeitskollegen hatte er nie sammeln wollen! Er atmete erleichtert aus, als sich die Türe auch hinter Elke endlich schloss. Bis ihm etwas klar wurde. In der ganzen Zeit war nicht ein Mann hier herein gekommen. Es waren nur Elke und Sandra hier gewesen, die auch durch eine geschlossene Toilettenkabinentüre unschwer als weiblich zu identifizieren waren.

 

Peter traute weder Sandra noch Elke zu sich in der Firma derart ungezwungen in den Männertoiletten unterhalten zu können. Ein schrecklicher Verdacht wallte in Peter auf, begann sein Bewusstsein zu überfluten und ihn beinahe panisch nach Luft schnappen zu lassen. Er wusste nicht, wie er mit seiner zwar noch unbestätigten aber dennoch ziemlich wahrscheinlichen Befürchtung umgehen sollte.

Saß er hier womöglich auf den Damentoiletten? Hatte seine panische Flucht vor Justin dieses Mal wirklich in den Damentoiletten geendet? Gab es etwas noch klischeehafteres? Und wenn ja, gab es etwas noch peinlicheres? Sein Ruf war doch schon mehr als ruiniert, musste er diesem jetzt wirklich noch den Todesstoß versetzten, indem er der Spanner aus der Damentoilette wurde?

 

Sein Gesicht glühte, seine Beine fühlten sich an als wären sie nicht mehr existent, seine Arme spürte er ebenfalls nicht mehr und seine Augen zeigten ihm lauter verschwommene farbenfrohe Punkte, die vor ihm hin und her tanzten. Er merkte nach kurzem, dass seine Atmung unregelmäßig kam und viel zu laut in seinen Ohren wirkte. Er versuchte sich zu beruhigen was ihm aber eindeutig misslang. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ihn Schwindel und seltsame schwarze Ränder die sich im äußeren Bereich seines Sichtfeldes befanden, bald in den Wahnsinn trieben entdeckte er seltsame kleine Papiertaschen an einer Seite der Toilettenkabine. Unüberlegt griff er danach, riss mehrere der Taschen auf den Boden um sich dann mit zittrigen Fingern eine der Taschen auf den Mund zu drücken. Hyperventilieren gehörte bisher zwar noch nicht zu seinem Repertoire, aber er hatte irgendwann einmal gelesen, dass man sich eine Tüte auf den Mund drücken sollte um die Atmung wieder zu beruhigen. Peter war nicht gutgläubig genug um die sich vom äußeren Rand seines Wahrnehmungsbereiches immer weiter ausbreitenden schwarzen Ränder als ungefährlich einzustufen. Er stand wahrscheinlicher eher kurz vor einer Ohnmacht. Und was könnte peinlicher sein, als hier, in einer geschlossenen Kabine der Damentoiletten ohnmächtig aufgefunden zu werden? Benötigte man dann noch irgendeinen anderen Grund um ihn zu feuern, oder würde es als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ausgelegt werden und zu sofortigen fristlosen Kündigung führen? Wie auch immer, er versuchte mit der Tüte vor dem Mund seine Atmung zu beruhigen um der Ohnmacht zu entgehen und es klappte.

 

Nachdem die Atmung normalisiert, die Gesichtsfarbe wohl nur noch leicht gerötet, die Beine nur noch halb aus Wackelpudding und die schwarzen Ränder nicht mehr wahrnehmbar waren, besah er sich seine Retterin genauer. „Für Hygieneabfälle“. Na das war ja eine Aussage. Und was sollte das bitte sein? Nach genauerer Betrachtung ließ er die Tüte überrascht fallen. Da waren Tampons und Binden abgebildet. Er kannte diese Objekte nur aus den Einkaufswägen seiner Schwestern und seiner Mutter. Aber er war einmal wagemutig genug gewesen seine Schwester danach zu fragen und hatte eine derart ausführlich Erläuterung erhalten, dass er beinahe riechen konnte wie ein benutztes Objekt dieser Art wahrscheinlich riechen würde. Peter schüttelte sich.

 

Nur mit viel Überwindung schaffte er es die Papiertüten aufzusammeln und in den kleinen Mülleimer zu werfen, der anscheinend genau dafür an der Kabinenwand angebracht war. Zu seinem Leidwesen hatte wohl eine Dame Probleme damit die Tüten zu verwenden, denn ein roter Tampon mit getrocknetem Blut lag auf dem Boden des Mülleimers. Zuerst merkte Peter das nicht, doch als er den Deckel des kleinen Mülleimers anhob roch er nicht mehr nur geistig wie ein getragenes Utensil riechen würde, nein er durfte dieses Vergnügen in dieser Sekunde am eigenen Leib erfahren. Und er musste sich eingestehen, dass es noch viel ekelerregender roch, als er jemals befürchtet hatte. Er schüttelte sich vor Ekel und frage sich, wie die Frauen diesen Geruch nur ertragen konnten und vor allem wie sie es schafften diesen Geruch derart zu kaschieren, dass er ihn vorher noch nie hatte wahrnehmen müssen.

Ihm wurde bereits schlecht und er beeilte sich die Tüten in den Mülleimer zu bekommen um diesen schnell zu schließen.

 

Dann wollte er tief durchatmen, doch die Türe öffnete sich erneut. Dieses Mal kam jemand harschen Schrittes auf seine Kabine zu, rüttelte an der Türe, seufzte schwer und schien dann in die Kabine nebenan zu gehen.

 

Das nächste was Peter hören musste war eigentlich wieder in der Kategorie „Wollte ich niemals wissen“ angesiedelt. Peter wusste, wenn er ordentlich Druck hatte klang das auch recht laut, aber die Geräuschkulisse der Dame während des Urinierens entsetzte ihn unglaublich. Waren die immer so laut?

 

Dann hörte er mehrmals die Halterung des Toilettenpapiers klappern, bevor die Spülung anscheinend das Aufschließen der Türe übertönte. Denn das nächste was Peter an Geräuschen wahrnahm war der Wasserhahn und anschließend der neumodische Handtrockner.

Diese elektrischen Geräte standen seit kurzem auch in den Herrentoiletten und Peter konnte sich nicht damit anfreunden seine Hände in ein Gerät zu stecken um sie im Wind trockenblasen zu lassen. Er bevorzugte die altmodische Variante mit Papiertüchern. Was sollte denn so viel umweltschonender an diesen neumodischen Apparaten sein? Sie benötigten Strom und Strom wurde auch nicht unbedingt immer auf umweltfreundliche Weise gewonnen. Die Papiertücher waren aus Recyclingfasern und konnten nach Nutzung noch einige weitere Male recycelnd werden, bevor die eigentliche Faser, die aus dem Ursprünglichen Holz gewonnen worden war zu kurz wurde um ein weiteres recyceln zu ermöglichen.

 

Nachdem auch die für Peter immer noch unbekannte Dame die Toilettenräume verlassen hatte begann er endlich über seine Auswegmöglichkeiten, oder besser gesagt, über seine Fluchtmöglichkeiten aus dieser unangenehmen Situation, nachzudenken. Ein Blick auf seinen Arm verriet ihm, dass er über Justins Nachrichten auf seiner Mailbox heute Morgen seine Armbanduhr vergessen hatte. Super! Dieser Typ könnte es schon bald geschafft haben Peter ins Grab zu bringen und würde niemals erfahren wie hoch seinen Anteil an Peters doch recht verfrühtem Ableben wäre.

 

Er unterdrückte geschickt einen Seufzer. Wäre doch sämtliche Planung dahin, wenn just in dem Moment, in dem er seufzte die Türe geöffnet würde und die eintretende Dame sofort zurückschreckte weil ein Herrenseufzer nicht in die Räumlichkeiten der Damentoilette gehörte.

 

Müde rieb er sich über die Augen. Was blieb ihm eigentlich übrig? Einfach aufs gerade Wohl und gut Glück hoffend die Kabine verlassen und nach draußen treten? Abwarten bis das Putzpersonal kam? Und was dann? Waren nicht verschiedene Kollegen ganz gut mit den Angestellten der Reinigungsfachfirma? Würde nicht auch hier die Gefahr bestehen, dass seine Verirrung in die Damentoilette die Runde machen könnte?

 

Peter wollte gerade wieder panisch werde, als ihm plötzlich alles egal wurde. Sein Ruf war hinüber, Justin ein Arschloch, Sandra in ihn verliebt, Elke in Sandra verliebt, Frauen Urinierten extrem laut und weibliche Hygieneartikel verströmten eine derart ekelharten Gestank, dass Peter beinahe ohnmächtig geworden wäre. Was gab es jetzt noch zu verlieren? Am Rande seiner Wahrnehmung begriff Peter das sein Zustand beinahe schon an eine Depression grenzte, doch er hatte nicht die Muse etwas dagegen zu unternehmen. Stattdessen griff er einfach nach der Türe und verließ die Toilettenkabine. Er trat durch die Türe in den Flur und hatte keinerlei Erleichterungsgefühl, als er auch hier niemandem begegnete.

 

Als er ins Großraumbüro trat war dieses verlassen. Er sah zwar noch einige Vorgesetzte, aber von den Mitarbeitern war niemand mehr da. Als er an seinem Platz ankam und den Rechner endsperrte erkannte er auch warum, es war bereits nach 19 Uhr. Wieso war das Putzpersonal heute nicht gekommen? Kamen die nicht jeden Tag? Peter musste sich eingestehen, dass er gar nicht wusste in welchen Intervallen das Reinigungspersonal hier war, weil es ihn noch nie interessiert hatte, wie häufig die Büroräume und Toiletten gereinigt wurden.

Er vermied es in der Regel die Toilettenräume außerhalb seiner eigenen vier Wände aufzusuchen. Gut die Räumlichkeiten seiner Eltern und Geschwister waren hier die große Ausnahme. Wobei, da Peter ja keinen Freundeskreis besaß könnte er nicht einmal beantworten, ob es alle andere Toilettenräume waren die er mied, oder nur alle anderen öffentlichen Toilettenräume. Als er zu Olafs fünfzigstem Geburtstag eingeladen war hatte er diese Frage auch nicht beantworten müssen, weil kein Harndrang ihn dazu genötigt hatte.

 

Peter hielt in diesen absurden und absolut unnötigen Gedanken inne und schalt sich innerlich einen Vollidioten. Er stellte nebenbei fest, dass seine beinahe depressive Stimmung anscheinend vergangen war und er wieder einigermaßen „normal“ funktionierte.

 

Völlig entkräftet fuhr er den Rechner runter und packte seine Aktentasche. Er schritt keine sieben Minuten nach Verlassen der Damentoilette aus dem Gebäude und fuhr zu sich nach Hause. Erst als er in seiner Wohnung vier Mal kalt geduscht hatte, weil er das Gefühl nach dem benutzten Tampon zu stinken einfach nicht los wurde, nahm er ausgekühlt und zitternd sein Handy zur Hand. Erneut meinte er den Geruch des benutzten Hygieneutensils deutlich wahrzunehmen, bevor sein Gesicht in heißer Wut entflammte und sämtliche Gedanken an irgendwelche Damenhygieneartikel verschwanden.

 

Acht Nachrichten von Justin! Und dazu drei verpasste Anrufe. Na wenigstens keine Sprachnachrichten! Peter benötigte einige tiefe Atemzüge und den sicheren Sitz auf seiner Couch, bevor er zitternd WhatsApp öffnete und todesmutig die erste Nachricht sichtete.

 

- Hallo Peter. Ich hoffe dein Handgelenkt schmerzt nicht. Ich muss dringend mit dir sprechen. –

- Peter wo steckst du? Seit gut einer Stunde hat dich niemand mehr gesehen. Aber ich sehe deine Aktentasche, du bist also sicher nicht zuhause.-

- Mensch Peter hast du dein Handy etwa wieder unbeachtete irgendwo liegen? Meld dich wenn du das hier liest –

- Mensch Junge jetzt komm mal in die Puschen ich muss auch irgendwann Feierabend machen!-

- OK, ich hätte das gerne heute geklärt, darum fahre ich jetzt bei dir vorbei und hoffe du bist da -

- Peter wo steckst du? Ich sehe deinen Wagen auf dem Firmenparkplatz. Deine Tasche ist auch noch oben. Was ist los? Ist was passiert? -

- Also ich stehe seit gut einer Stunde vor deiner Türe und es ist eiskalt, darum fahre ich jetzt heim. Aber morgen müssen wir dringend miteinander sprechen! -

- Morgen 12:00 Uhr Kantine -

 

Peter schlug hart in der Wirklichkeit auf, als sein Handy in seiner Hand zu vibrieren begann. Justin! Wieso versuchte er denn jetzt schon wieder anzurufen? Es war immerhin bereits nach zehn Uhr! Kannte der Typ keinerlei Anstand?

 

Peter nahm das Gespräch an, brachte aber keinen Laut über seine Lippen. „Peter? Hallo? Peter? Bist du dran?“ ein leises „ja“ konnte er hauchen, bevor seine Stimme wieder erstarb. War es jetzt die allgemeine Reaktion, die Justins Stimme immer bei ihm auslöste oder stellte die Wut Peters Stimmbänder ab? Es war egal, denn Justin schien das gehauchte Wort zu genügen. „Mensch Junge, wo warst du denn so lange? Ich hab ab halb sechs versucht mit dir zu sprechen. Es gibt wichtige Umstrukturierungen in der Firma und wenn du nicht aufpasst wirst du entlassen. Du musst unbedingt…“ Weiter kam er nicht, denn Peter hatte genug gehört.

Er konnte es nicht fassen! Justin wagte es ihm so etwas mitzuteilen? Hatte der gar kein Gewissen? War er nicht dafür verantwortlich, dass Peter um seine Stelle bangen musste? Immerhin verbreitete er solche widerwärtigen Lügen über ihn, dass die komplette Belegschaft ihn als völlig unnötige Arbeitskraft erachten musste!

 

„SAG MAL DIR HACKTS WOHL!!! ERST VERBREITEST DU IRGENDWELCHE ABSTRUSEN LÜGEN ÜBER MICH UND JETZT WAGST DU ES MICH ZU WARNEN, WEIL DEINE LÜGEN AUF FRUCHTBAREM BODEN GELANDET SIND UND MEINE STELLE GEFÄHRDET IST?!? ICH REISSE MIR SEIT JAHREN FÜR DIE FIRMA DEN ARSCH AUF UND BRINGE AUCH RICHTIGE ERFOLGSPRODUKTE HERVOR ABER ALL DAS ZÄHLT NICHT MEHR WEIL DER WERTE JUSTIN DER MEINUNG IST LÜGEN ÜBER MICH VERBREITEN ZU MÜSSEN??? WIE HAST DU DAS GESCHAFFT? WIE HAST DU ES GESCHAFFT INNERHALB EINES TAGES MEINEN RUF DERART ZU ZERSTÖREN, DASS ICH JETZT SOGAR UM MEINE ANSTELLUNG FÜRCHTEN MUSS?? OHH NEIN, SAGS MIR LIEBER NICHT, ICH WILL NICHTS VON DIR HÖREN, NICHTS VON DIR SEHEN UND VOR ALLEM NICHTS VON DIR WISSEN!!!

WEGEN DIR ARSCHLOCH BIN ICH KOPFLOS IN DIE FRAUENTOILETTEN GESTÜRMT UND MUSSTE GETRAGENE TAMPONS SEHEN UND RIECHEN UND …“

 

Knall rot anlaufend realisierte Peter, was er da eigentlich gerade preis gegeben hatte. OK, sein Ruf war unrettbar verloren! Er legte auf und schaltete sein Handy im gleichen Moment aus. Dann rannte er in sein Schlafzimmer und warf sich aufs Bett um ungehemmt loszuheulen. Nach unendlichem Wehklagen und vielen markerschütternden Schluchzern triftete er in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

5

Der erlösende Schlaf wurde jäh vom kreischenden Klingeln einer Glocke durchbrochen. Entsetzt sprang Peter aus dem Bett. Es war laut und markerschütternd und es hörte nicht auf. Und jetzt hämmerte es auch noch!

 

Er fühlte sich übernächtigt und unausgeruht! Was war hier eigentlich los? Verwirrt schaute er sich in seinem Schlafzimmer um, fand aber den Grund des extrem lauten Klingeln und Hämmerns nicht. Irgendwie drang plötzlich Justins melodische Stimme in sein vom Schlaf noch völlig umnebeltes Gehirn. Doch die Stimme hatte plötzlich eine völlig andere Reaktion bei ihm zur Folge als sonst. Er wurde nicht eingelullt und seines klaren Verstandes beraubt, nein jetzt im Moment geriet Peter bei ihrem Klang in Panik!

 

Entsetzt hastete er zur Wohnungstüre und schaute durch den Türspion. Da stand er! Justin! In all seiner Pracht! Naja, Pracht wollte Peter diesen Anblick heute nicht unbedingt nennen. Justin schien tiefe Augenringe zu haben. Weiter fehlte seinem Gesicht jeder Funken Freude. Er schien eher, ja, Peter wagte es kaum zu glauben, aber Justin schien verzweifelt! Wieso das? Hatte Justin nicht alles erreicht, was er wollte? Hatte er Peters Leben und seine Karriere nicht bereits völlig ruiniert? Warum sah er jetzt so verzweifelt aus? Etwa weil Peter ihn durchschaut hatte? Oh nein, eher weil Peter ihn durchschaut hatte, bevor er ihn flachlegen konnte! Anders konnte man sich Justins Verhalten auch nicht erklären. Wozu sollte er Gerüchte in die Welt setzten, die Peter seinen Job kosten würden und ihn dann, wenn eh schon alles zu spät war vor eben diesen Gerüchten warnen? Hatte er etwa gehofft hinterher als Peters tröstende Schulter fungieren zu können und ihn so rum zu kriegen?

 

Siedend heiße Wut schoss durch jede Bahn in Peters Körper. Beinahe hätte sie ihn dazu verleitet die Türe zu öffnen und Justin laut anzuschreien. Doch zu seinem Glück hatte sein Verstand sich dieses Mal nicht beim Klang von Justins Stimme in den Winterschlaf verabschiedet. Eigentlich funktionierte sein Verstand momentan trotz der Übermüdung und Justins sonst regelrecht hypnotisierender Stimme überraschend gut.

Peter schlich in sein Schlafzimmer zurück, nahm sein Handy und schaltete es ein. Er ignorierte die vier WhatsApp Nachrichten und die Information, dass er mehrere Anrufe verpasst hätte. Alles von Justin war wertlos. So schwer es Peter auch fiel das zu akzeptieren, aber der reale Justin war kein Traummann, er war ein Alptraum!

 

Peter wählte Justins Nummer und hörte im Hausflur doch tatsächlich „Call me Maybe“ erklingen. War der Typ eigentlich ein völliger Psychopath? Peter kannte Justins Handyklingelton, immerhin hatte er das Handy in der Firma nicht immer auf lautlos und Peter als Justins ständiger Spion hatte seine meist eher neutrale Klingeltonwahl bei den letzten beiden Modellen bewundert. Ja, Peter wusste sogar wie viele unterschiedliche Handys Justin in den letzten drei Jahren hatte und er war teilweise verführt gewesen sich das selbe Model zu besorgen, nur um Justin wenigstens gefühlsmäßig etwas näher zu sein. Und genau so gut wie Peter Justins wechselnde Handymodelle kannte waren ihm auch Justins Klingeltöne bekannt und Call me Maybe war sicher keiner davon! Justin hatte bei jedem neuen Modell immer den ganz neutralen Ton eines alten Telefons als Rufton für alle Anrufer eingestellt. Das wusste Peter, weil selbst Justins über alles geliebter Mischa keinen anderen Klingelton zugewiesen bekommen hatte! Wieso um Himmels Willen hatte Justin dann für Peter diese lächerliche Phase inszeniert? War dieses Getue ebenfalls ein Teil von Justins Plan um Peters Jungfräulichkeit zu stehlen?

 

Peters Zähne mahlten aufeinander, seine Fingerknöchel sprangen weiß hervor, so stark ballte er die Rechte zur Faust während er mit der linken das Handy dermaßen stark umklammerte, dass er fast fürchten musste es zu zerbrechen. Die Anspannung war mörderisch und Peter wusste nicht, ob er es schaffen würde jetzt ruhig zu bleiben. Denn er würde Justin sicher nicht los werden, wenn er ihn anschrie und wegschickte. Er musste Justin glaubwürdige Option vorspielen, damit er glaubte Peter auch weiterhin umgarnen zu können. Zumindest so lange, bis er sein Ziel erreicht hätte und Peter seine Jungfräulichkeit an Justin verlor.

 

Doch das würde nicht passieren! Peter würde kämpfen! Seine Jungfräulichkeit war ihm zwar oft lästig und mehr als einmal wünscht er sie endlich abstreifen zu können, aber nicht an Justin! Justin war es nicht wert!

 

Das Klopfen und auch das Klingeln der Türglocke verstummten. Ebenfalls endete die Melodie von Justins Handy endlich, während Peter das Enden des Freizeichens hörte und tief Luft holte.

 

„Peter lass mich rein!“

„Das geht nicht.“

„Mensch Peter komm schon mach diese verdammte Tür auf!“

„Justin, ich habe verschlafen. Ich stehe hier gerade unbekleidet in meinem Schlafzimmer. Ich bin weder geduscht noch habe ich meinen Morgenkaffee intus. Können wir das bitte später in der Firma klären?“

„Hast du meine Nachrichten gelesen?“

„Nicht alle und ich habe jetzt auch keine Zeit. Tut mir leid Justin ich muss dich abwürgen. Ach, danke fürs wecken.“

 

Peter legte auf bevor Justin etwas sagen konnte. Dann rannte er ins Bad. Er wusste wie hellhörig das Haus war und er würde eine glaubwürdige Performance abliefern! Er sprang unter die wiedermal kalte Dusche und wusch sich so schnell er konnte mit der Zahnbürste im Mund. Dann rannte er in seine Küche, schaltete die Kaffeemaschine an um gleich darauf in sein Schlafzimmer zu verschwinden und sich anzukleiden. Als nächstes rannte er wieder in Richtung Küche, stoppte aber abrupt und schlich zum Türspion. Neugierig beäugte er den Raum vor seiner Türe. Er war leer. Mit schnellen Schritten war er an seinem Küchenfenster und riss es auf. Auch auf der Straße vor seinem Haus war Justin nicht zu sehen. Weder die Person, noch sein Wagen.

 

Während Peter sich Kaffee in eine Tasse goss rief er Olaf an.

„Peter wo steckst du? Ist alles in Ordnung?“ Ja, Olaf war ein echter Freund. Er ließ sich weder über Peters plötzliches und stundenlanges Verschwinden gestern aus, noch über seine Verspätung heute. Olaf war wirklich Peters Freund. Er atmete einmal tief durch bevor er stockend zu erzählen begann.

 

„Nein, es ist nichts OK Olaf. Ich bin völlig fertig! Ich habe einen Stalker! Er lässt mich seit Tagen nicht in Ruhe, verfolgt mich sogar bis in die Firma. Und gerade eben hat er an meiner Haustür Radau geschlagen und ständig die Anrufe und die Nachrichten. Ich kann nicht mehr, was soll ich nur tun? Ich kann heute definitiv nicht in die Firma kommen. So wie der eben an meiner Haustüre ausgerastet ist tut der mir noch sonst was an. Ich muss hier weg. Vielleicht komme ich in einem Hotel unter.“

 

Peter war völlig außer Atem und er musste erst einmal wieder tief Luft holen. So viele aneinandergereihte Sätze hatte er noch nie an Olaf gerichtet. Sein Gesprächspartner schien auch erst einmal völlig überfahren, denn Peter hörte keinen Mucks vom anderen Ende der Telefonleitung.

 

Nach einigen Sekunden ergriff ihn plötzlich die kalten Angst, Olaf hätte vielleicht aufgelegt. „Hallo Olaf, bist du noch dran?“

 

Es dauerte kurz, dann klickte es seltsam in der Leitung, bevor Olaf sich wieder äußerte. „Oh mein Gott Peter. Das ist ja furchtbar. Das mit dem Urlaub ist gar kein Problem. Aber ein Hotel, da kommt doch jeder rein. Wenn der erst einmal raus gefunden hat wo du bist, dann ist der doch im Handumdrehen bei dir im Zimmer. Nein, also das geht nicht. Du kannst zu mir.“

 

Peter überlegte kurz. Olafs kleine Prinzessinnen die ganze Zeit um sich? Das würde er noch weniger ertragen als Justin.

 

„Das geht doch nicht Olaf. Was würden den deine Frau und deine Töchter davon halten plötzlich einen Fremden bei sich aufzunehmen. Ein Hotelzimmer wird wirklich das Beste sein.“ Gut, Olaf hatte Peter gerade mächtig eingeschüchtert mit seiner Erklärung, wie schnell jemand Fremdes in ein Hotelzimmer eindringen konnte. Da Peter noch nie in einem Hotel Gast gewesen war kannte er sich damit leider überhaupt nicht aus. Seine Eltern fuhren ja nur mit Wohnmobil in den Urlaub. Aber man hörte ja auch immer wieder von den Diebställen in Hotels. Olaf hatte ihn also zu Recht auf die Gefahren eines Hotelaufenthaltes aufmerksam gemacht.

 

„Peter wovon sprichst du eigentlich? Ich bin nicht verheiratet und Kinder habe ich auch keine!“

 

Ok, das überfuhr Peter jetzt etwas. „Aber Maria und die zwei süßen Prinzessinnen auf deiner Geburtstagsparty…“

Jetzt lachte Olaf herzhaft los. Peter wusste nicht was so lustig war, doch Olaf benötigte mindestens eine Minute, bis er sich wieder beruhigt hatte.

 

„Bitte Entschuldige. Oh man, Peter, das war ein guter Scherz. Sag dass bloß nicht Maria, die würde dir für so eine Unterstellung die Augen auskratzen. Peter, Maria ist meine Schwester. Als unsere Eltern gestorben sind habe ich auf meinen Erbanteil am Haus verzichtete und sie mit den Kindern einziehen lassen. Der Vater der beiden süßen Prinzessinnen hat sie einfach ohne alles sitzen lassen, da konnte ich doch gar nichts anderes tun. Und sie richtet dafür meine Partys aus, die ich auch in meinem Elternhaus feiern darf. Also sag ihr bloß nie, dass du sie für meine Frau gehalten hast. Wie kommst du nur auf so Ideen?“

 

Peter wurde rot. Ja, wie war er eigentlich auf diese Idee gekommen? Vielleicht durch die Ähnlichkeit der kleinen Prinzessinnen und Olaf? Aber die war völlig natürlich, immerhin war er ihr Onkel! Und wie war er eigentlich auf die Idee gekommen, dass Justin und Mischa ein Paar wären? Gut als Stiefbrüder hatten sie keinerlei äußere Ähnlichkeiten, aber wie hatte Peter sich nur so irren können? War da eher die Eifersucht auf Mischa und seinen vertrauten Umgang mit Justin die Mutter des Gedanken gewesen? Peter hätte seinen Kopf jetzt gerne gegen eine Wand gehauen, doch das wäre Olaf gegenüber sehr unhöflich. Wieso beschäftigte ihn dieser Schwachmat von Justin immer noch dermaßen?

 

„Weiß nicht.“ Nuschelte er peinlich berührt ins Telefon. Er erntete ein erneutes Kichern. „Gut Peter, nachdem das geklärt ist pack bitte das nötigste und triff mich in einer Stunde am Eiskaffee Cortinari. Kennst du das?“

 

„Ja, ich werde da sein. Danke.“ Damit hatte Peter das Gespräch bereits beendet ohne Olaf eine weitere Möglichkeit zu geben irgendetwas zu sagen und begann hecktisch zu packen um dann seine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Auch ein verrücktgewordener Justin war kein Grund die Ordnung in seiner Wohnung zu vernachlässigen!

 

Eine Stunde später stand Peter vor dem Eiskaffee. Auf Olaf wartete er aber noch gut zwanzig Minuten. Dieser kam abgehetzt an und blieb vor Peter stehen. „Oh man, das war jetzt ein Stress. Irgendwas stimmt in der Firma gerade nicht. Mir wurden viele Fragen zu deiner Person gestellt.“ Peter erschrak. Justin hatte ihm ja bereits gestern am Telefon gesagt, dass seine Stelle in Gefahr war. Doch dass das so schnell gehen sollte war absolut unglaublich! Wie viel Macht musste Justin haben um so schnell für Peters Kündigung zu sorgen? Mühsam erhielt er seine neutrale Mimik bei und nickte Olaf lediglich zu.

 

„Wo ist dein Gepäck?“ „Im Auto, wieso?“ „Gut, dann lass uns zu deinem Wagen gehen.“

 

Peter war zwar irritiert, ging aber mit Olaf zu seinem Wagen. Sie stiegen ein und fuhren eine Querstraße weiter in eine Tiefgarage. Olaf lotste ihn auf einen Stellplatz und Peter parkte ein. Dann führte Olaf ihn zu einem Aufzug, der ihn aus der Garage heraus in den zweiten Stock beförderte. Es war ein älteres Haus und recht schmucklos aber vor allem lieblos gebaut. Peter hätte nicht gedacht, dass Olaf in so einer, ja Bude, leben würde.

 

Wortlos öffnete Olaf eine Türe am Ende des Gangs. Eine andere Türe öffnete sich und eine überschminkte Frau mit verlebter Haut und wasserstoffblondem zu einem Vogelnest drapierten Haar trat auf den Flur.

 

„Olle, auch mal wieder da. Und was für einen Süßen du da mit bringst. Gehört der nur dir oder teilst du?“ Sie zwinkerte Peter zu und dieser spürte die Gänsehaut auf seinen Armen und in seinem Genick. „Hallo Edeltraut. Nein, der ist nicht zum teilen. Viel Spaß heute.“ Olaf lächelte die überschminkte Dame an und trat dann in die Wohnung. Peter folgte ihm schnell und war froh, als die Türe hinter ihnen ins Schloss fiel.

 

„So Peter, das ist mein Reich. Es ist nichts besonderes, aber fühl dich ruhig wie zuhause. Ich bin nicht sonderlich ordentlich und hoffe du siehst mir das nach.“ Wieder setzte Olaf dieses schiefe Lächeln auf, das Peter dazu brachte ihm zu vertrauen und sich in seinem neuen zeitweiligen Unterschlupf beinahe wohl zu fühlen. „Danke.“ Hauchte er und sah sich dann um.

 

Er stand in einem kleinen Flur. Hier stand eine in die Jahre gekommene Garderobe mit einigen Jacken verschiedenster Materialien, Schnitte und Farben. Ganz oben hing eine schicke Lederjacken. Seit wann trug Olaf denn Leder? Peter kannte ihn nur im Anzug. Aber es fiel ihm irgendwie gar nicht schwer sich Olaf auch in Ledergarnitur vorzustellen. Peter musste grinsen.

Auf dem Boden standen überall Schuhe. Es gab abgetragene Turnschuhe, Sneakers und einige teuer wirkende Herrenschuhe. Die Herrenschuhe hatte Peter erwartete, mit den Sneakers könnte er auch gerade noch so die Grenzen seiner Fantasie ausfüllen, aber Turnschuhe? Und dann noch teilweise so abgetragene? Olaf überraschte ihn wirklich gerade ziemlich.

 

Bei weiterer Betrachtung erkannte er fünf Türen. Eine ganz am Ende des kleinen Flures ihm als praktisch von seiner jetzigen Position mit der Wohnungstüre im Rücken genau gegenüberliegend und auf jeder Gangseite jeweils zwei Türen, die sich jeweils gegenüber lagen.

 

Olaf betrat die erste Türe links. Peter erkannte bereits von seiner Position aus, dass es sich um eine Küche handelte. Als er sie betrat war er dennoch überrascht, wie klein dieser Raum war. Nicht einmal ein Tisch passte hinein. Sie standen nur zu zweit hier und dennoch schien es zu eng. Der Stuhl, der direkt an die Arbeitsplatte unter dem Fenster geschoben worden war sollte wohl im Zusammenspiel mit der Arbeitsplatte einen Küchentisch ersetzten, doch eigentlich nahm der Stuhl dem eh schon winzigen Raum noch unnötig Fläche. Hier zu kochen dürfte mühsam werden. „Ich esse fast immer auswärts. Was soll ich mir die Mühe machen für eine Person zu kochen? Es sind auch fast keine Vorräte im Haus. Ich fürchte du musst einkaufen gehen.“ Olaf lächelte ihn entschuldigend an.

 

Peter nickte ihm wieder zu und drehte sich dann um. Gegenüber der Küche lag ein fensterloses Badezimmer, das diese Bezeichnung eigentlich nicht verdiente. Es handelte sich um einen Quadratischen Raum. Wenn man die Türe öffnete, dann ging diese nach rechts auf und stieß im 90 Grad Winkel an das WC. Gegenüber von Peter, der im Türrahmen stand war ein Waschbecken angebracht. Unter diesem befand sich ein kleiner Holzschrank mit Glastüren. Es waren einige Handtücher durch das trübe Glas zu erkennen. Zu seinem Glück hatte Peter an eigene Handtücher gedacht, weder das Schränkchen noch die Handtücher machten einen sauberen Eindruck. Rechts neben dem Waschbecken war eine völlig verkalkte Duschkabine angebracht, die direkt neben dem ebenfalls verkalkten WC endete. Peter müsste sich an das unsauber wirkende Waschbecken zwängen um dann die Türe schließen zu können, wenn er duschen oder auf die Toilette wollte. Einen näheren Blick in die Toilette verbot er sich nach dem bisherigen Anblick vehement. Schnell schloss er diese Türe wieder.

 

Links neben der Türe zum „Badezimmer“ war ein weiterer Raum. Nach dem Öffnen der Türe erkannte Peter, dass es sich um das Wohnzimmer handelte. Der Raum war zwar etwas größer, wirkte aber durch die Möbel sehr eng. Eine Couch auf der maximal drei Personen sitzen konnten die aber breit genug war, dass sich auch drei Personen nebeneinander darauf hinlegen könnten, ein viel zu wuchtig wirkender Wohnzimmertisch aus dunklem Holz wie ihn Peters Oma daheim stehen hatte, eine Art Schrankbuffet das aus den Zeiten von Peters Urgroßeltern stammen müsste, ein länglicher Fernsehschrank der überraschend modern wirkte, ein nicht in den Raum passender moderner Flachbildschirmfernseher und ein alter Schreibtisch aus ebenfalls dunklem Holz mit zugehörigem Chefsessel und einem bereits vor langem in die Jahre gekommenen PC füllten den Raum beinahe komplett aus, so dass kaum Fläche zum Laufen blieb. Der Raum war seltsam geschnitten. Die Türe ging nach rechts auf und stieß im 90 Grad Winkel an die Wand dahinter. Die Wand war aber nicht durchgängig, sondern bot sich nach einigen Schritten nach rechts. So entstand der Eindruck eines kleinen Raums im Wohnzimmer. Tatsächlich erkannte Peter, dass dieser Teil des Wohnzimmers direkt hinter dem Badezimmer lag, wodurch diese seltsame Raumform zu erklären war.

Darum hatte das Badezimmer auch kein Fester, es lag nicht an der Hausaußenwand, es war vielmehr ein kleiner Raum direkt im Wohnzimmer den man aber eben nur über den Flur erreichen konnte. Der kleine Raum, der auf Grund dieser Bauart hinter dem Bad entstanden war, schien eine Art Miniaturbüro darzustellen. Der Schreibtisch aus dunklem Holz war nicht sehr breit aber er fasste einen Drucker und einen Flachbildmonitor. Unter dem Schreibtisch stand der bereits deutlich in die Jahre gekommene Rechner. Peter hätte Olaf eher für einen Laptop-User gehalten, wieso also stand hier ein völlig überholter alter Rechner?

Doch hatten nicht bereits die Schuhe und die Jacken im Flur Peter deutlich gezeigt, dass er Olaf nicht kannte? War der Irrtum im Beug auf Maria, die er für die Ehefrau und nicht für die Schwester gehalten hatte nicht bereits Beweis genug, dass Peter absolut keine Ahnung davon hatte was für ein wundervoller Mensc Olaf war? Innerlich ohrfeigte er sich für seine negative Wahrnehmung der Wohnung, die ihm doch Schutz vor Justin bieten würde.

„Der Rechner funktioniert nicht mehr richtig, ich habe aber einige wichtige persönliche Daten darauf die ich noch nicht retten konnte. Darum muss ich dich bitte ihn icht zu benutzen. Aber wenn ich das richtig sehe hast du einen eigenen Laptop dabei. Wir haben hier Internet, das Modem mit dem WLAN CODE ist hinter dem Drucker an der Wand angebracht. Du kannst es einfach sachte nach oben drücken, dann löst es sich und du kannst den CODE lesen. Ein Haustelefon besitze ich aber nicht, weil ich zu selten zuhause bin und mein Handy habe ich immer dabei.“ Peter drehte sich um. Olaf war hinter ihn getreten. Peter empfand ihre Entfernung als zu gering und wäre gerne ausgewichen, doch der vollgestopfte Raum ließ das nicht zu. Olaf lächelte wieder. Und Peter wünschte sich zum wiederholten Male nur halb so offen lächeln und auf Menschen zugehen zu können wie Olaf.

 

Olaf war ein toller Mann. Er schien selbst nicht viel zu besitzen, nahm Peter aber ohne große Nachfrage bei sich auf und teilte was er hatte. Und Peter? Der dachte über alte Rechner und zu kleine Räume nach. Er war ein schrecklicher Mensch!

 

Peter schaffte es dennoch nicht Olaf mehr als ein müdes Lächeln zu schenken. Er spürte selbst, dass dieses Lächeln nicht halb so offen war wie Olafs. Doch es war alles, was Peter in seinem völlig ausgebrannten Zustand zustande brachte. „Wo ist das Gästezimmer?“

 

Olaf sah ihn kurz überrascht an. „Entschuldige bitte Peter, ein Gästezimmer habe ich nicht. Aber ich dachte, wenn wir das Bett frisch beziehen kannst du das Schlafzimmer benutzen. Ich werde auf die Couch hier ausweichen.“

 

Peter sah Olaf verblüfft an. „Ich kann auch auf der Couch schlafen.“ „Nein Peter, das geht nicht. Der WLAN Adapter meines Laptop ist deffekt, darum benötige ich immer häufiger das LAN Kabel um eine Internetverbindung herzustellen. Weil ich auch von Zuhause arbeite benötige ich den Raum darum teilweise bis spät in die Nacht oder bereits in den frühen Morgenstunden. Darum bitte ich dich das Schlafzimmer zu nehmen. Es ist die Türe gleich gegenüber. Bettzeug liegt im Regal.“

 

Peter nickte steif und drückte sich an Olaf vorbei, der so ungeschickt im Türrahmen stand, dass Peter ihn berühren musste um das Wohnzimmer zu verlassen und mit mulmigem Gefühl im Magen die Schlafzimmertüre anzusteuern. Der Raum selbst war wieder recht klein. Es passte aber ein 1,8x2,0 m Bett und ein längliches Regal hinein. Gegenüber dem Bett befand sich eine kleine Kommode, auf der ein alter Röhrenfernseher stand. Und hier schlief Olaf? Selbst Peter konnte sich mehr Luxus leisten, wieso war Olaf als sein Vorgesetzter derart schäbig eingerichtet?

 

Peter ohrfeigte sich erneut innerlich. Eben noch hatte er festgestellt was für ein toller Mann Olaf war. Er nahm ihn bei sich auf, bewilligte sofort seinen Urlaub und stand auch sonst immer hinter Peter. Und Peter echauffierte sich über den fehlenden Luxus? Er war wirklich erbärmlich! Beschämt stellte er die Tasche ab und trat auf das Regal zu. Hier lagen diverseste Kleidungsstücke in wilder Unordnung verteilt. In den Oberen Fächern lag Bettwäsche. Petter musste sich richtig strecken. Das Regal war mindestens zwei Meter breit und nahm damit die komplette Wand hinter der Türe ein. Und dieses Monstrum war nicht nur breit, es reichte auch noch fast bis komplett unter die Decke die für einen Altbau, wie Peter jetzt erst feststellte überraschend hoch war.

Als er den Bettbezug gegriffen hatte und sachte zu sich zog kamen ihm mehrer riesen Staubkugeln entgegen. Hier schien schon ewig nicht mehr sauger gemacht worden zu sein. Das gesamte Regal und alle auf ihm befindlichen Kleider waren staubig. Wie konnte Olaf so etwas nur tragen? 

Doch Peter hatte Olaf auch noch nie derart staubig gesehen. Er trug immer fein säuberlich gebügelte und gefaltete Anzüge. Ein kurzer Blick zeigte Peter aber, dass hier kein Kleiderschrank war, wo also lagerte Olaf seine Anzüge? 

Mühsam riss er sich von den unsinnigen Gedanken los. Sicher hatte Olaf nur eine geringe Anzahl an Anzügen, die er immer im Wechsel in die Reinigung brachte und darum waren sie immer sauber und gebügelt.

 

Als Peter sich von den unnützen Gedanken befreit hatte und mit der frischen Bettwäsche umdrehte stand Olaf im Türrahmen. Er grinste Peter breit an. Peter wusste nicht warum, aber er mochte dieses Grinsen nicht. Doch im nächsten Moment wurde es Peter klar, es war nicht Olafs Grinsen, das ihn störte. Es war die Tatsache, dass er das zweite Mal im Schlafzimmer eines anderen Mannes stand und das erste Mal löste nun keine wirklich schönen Erinnerungen in ihm aus.

 

Eilig drehte er sich um und begann er hustend das Bett frisch zu beziehen. Der Staub hier ließ ihn kaum Atmen und wie er in diesem Raum schlafen sollte war ihm ein Rätsel. Olaf war derweil zurück ins Wohnzimmer gegangen. Als Peter fertig war ging er in die Küche und sichtete die Schränke. Er würde Definitiv einkaufen müssen und das heute noch. Es fehlte nicht nur an allen nötigen Grundnahrunsmitteln, sondern auch an Waschmittel, Geschirrspülmittel und anderen Reinigungsutensilien.

 

Als er sich umdrehte stand Olaf wieder im Türrahmen. „Peter ich muss wieder in die Firma. Irgendetwas geht da vor sich und es gefällt mir nicht. Der Zweitschlüssel liegt in der Schublade neben dem Besteck. Ich werde heute wohl durcharbeiten müssen und im Büro schlaffen. Also bitte fühl dich wie zuhause.“ Mit diesen Worten trat Olaf auf ihn zu und drückte ihm ein flüchtiges Bussi auf die Wange ehe er die Wohnung verließ.

 

Peter war in der Bewegung eingefroren. Die freundschaftliche Verabschiedung von Olaf hatte ihn bis tief ins Mark erschüttert. Nicht einmal weil er es nicht gewohnt war, nein viel mehr, weil Peter sich bei der Berührung das angewiderte Schütteln verkneifen musste. Er hatte Olafs Berührung als unangenehm und beinahe schon ekelhaft empfunden.

 

Nach mehreren Minuten war es Peter wieder möglich sich zu bewegen. Er schrieb mechanisch die Einkaufsliste nachdem er sich die stellte die Olaf berührt hatte ordentlich mit dem kläglichen Rest des Spülmittels auf der Spüle gewaschen hatte und suchte den Schlüssel um anschließend einkaufen zu gehen.

 

Müde öffnete Peter am nächsten Morgen die Augen. Er war völlig erledigt. Nachdem er gestern vom Einkaufen zurück gekommen war hatte er erst einmal mit den gekauften Putzutensilien die komplette Küche geschrubbt. Was dabei so alles zum Vorschein gekommen war wollte er überhaupt nicht näher identifizieren. Jetzt war der kleine Raum lupenrein sauber und Peter hatte seine Lebensmitteleinkäufe mit gutem Gewissen in den Kühlschrank räumen können. Auch das Geschirr war komplett von alten Verkrustungen befreit und mit Essig und kochendem Wasser desinfiziert. Dennoch hatte Peter sich auch gleich einige eigene Besteckstücke gekauft, wie einen tiefen und einen flachen Teller, eine Tasse ein Glas und Besteck. Wie Olaf mit so wenig Geschirr und dazu noch solch verdrecktem leben konnte würde sich Peter wohl niemals erschließen. Aber das war auch nicht wichtig. Olaf war nicht Peter und er durfte leben wie es ihm gefiel. Und seine unordentliche Lebensweise änderte ja nichts an Olafs liebenswertem und hilfsbereitem Charakter.

Nach der Reinigung der Küche war Peter erneut einkaufen gegangen um die Kühlwaren wie Milch, Wurst und Käse zu kaufen. Auch etwas Eis wanderte in das jetzt enteiste uns saubere Gefrierrfach.

 

Als nächstes war Peter ins Badezimmer gegangen, während das Vorkriegsmodell von Waschmaschine in der Küche mit Desinfektionsmitteln auf 90°C leer lief um alle möglichen Keime abzutöten. Peter hatte zuvor das Flusen-Sieb gereinigt. Das war von Olaf wohl noch nie getan worden und auch das stinkende Wasser hatte er aus der Maschine abgelassen.

 

Die Maschine war jetzt weitgehend gefahrlos zu benutzen und auch das Badezimmer konnte nach der Reinigungsaktion ohne Ekel betreten werden. Peter war es kalt den Rücken hinab gelaufen, als das Putzwasser bereits nach Reinigung der Fliesenwände schwarz geworden war. Wie es nach Reinigung von Dusche und WC aussah wollte er nur noch vergessen. Er war einfach dankbar gewesen die dicken und vor allen Dingen bis zu den Armen hochziehbaren Putzhandschuhe gekauft zu haben. Den Gestank aus dem Klo konnte er trotz des starken Putzmittels immer noch lange riechen. Er erinnerte ihn stark an den Geruch des benutzten Damehygieneartikels auf der Damentoilette. Der Würgereiz hatte Peter einige Male überkommen wollen und war nur mit äußerster Willenskraft zu unterdrücken gewesen.

 

Selbstverständlich war Peter gleich nach dem Bad weiter in den Flur gewandert. Auch hier war der Boden eine einzige Katastrophe gewesen und die Jacken und Schuhe mussten teilweise schon seit Jahren unberührt an Ort und Stelle gestanden und gehangen haben. Nach kräftigem Auslüften und abstauben aller Schuhe und Jacken durch die verschiedenen Fenster der Wohnung konnte er diese nach Reinigung der Garderobe wieder ordentlich versorgen und er würde jetzt auch Barfuß durch den Flur gehen können ohne Angst haben zu müssen irgendwo festzukleben. 

Das hatte länger gedauert als er vorab dachte, denn einige der Jacken und Schuhe musst er mit einem Schwamm behandeln um Staub und Verschmutzungen ganz zu entfernen. Waschen wolte er die Jacken nicht, wusste er ja nicht was Olaf möglicherweise in den Taschen vergessen hatte und diese zu durchsuchen kam für Peter nicht in Frage.

Die nächste Herausforderung war es gewesen das Bett wieder abzuziehen und erst einmal sämtliches Bettzeug und alle staubigen Kleider aus dem Regal zu waschen, während er in Wohn- und Schlafzimmer versuchte dem Ekel Einhalt zu gebieten. Er hatte extra diverseste Mittel gekauft um das Bettzeug und die Matratze zu desinfizieren und nutzte diese auch bei der Couch. Zu seinem Entsetzten wurde die leicht Beige Couch plötzlich weiß. Zuerst hatte er gedacht, er hätte die Couch mit einem Mittel beschädigt das für die Oberfläche nicht geeignet gewesen war, doch dann musste er erkennen, dass die ursprüngliche Farbe der Couch weiß war! Er hatte ewig gebraucht um diesen Farbton auf dem gesamten Sitzmobiliar wieder herzustellen. Seine Hände taten heute noch von der verkrampften Umklammerung der diversen Putztücher, Schrubber und Putzmittel weh.

Die Türe am Ende des Gangs hatte Peter zwar auch öffnen wollen, doch diese war abgeschlossen. Was Olaf hier wohl verbarg? Peter hatte sich bereits die verrücktesten Dinge von einem Harem über Goldbarren zusammengereimt.

 

Nachdem er zum Schluss noch alle Türen und Fenster der Wohnung gereinigt hatte war er Duschen gegangen. Im Stillen dankte er danach noch einmal innerlich dafür, dass er sein eigenes Bettzeug mit Bezügen mitgebracht hatte, das noch mit letzter Kraft auf das Bett kam, ehe er in selbiges gefallen und in einen traumlosen Schlaf gesunken war.

Jetzt war es Mittwochmorgen und Peter wusste nichts mit seiner Zeit anzufangen. Die Wohnung war geputzt die letzte Maschine Wäsche hing zum Trocknen an dem verrosteten aber überraschend riesigen Kleiderständer und zur Arbeit konnte er nicht. Müde wischte er sich über die Augen und quälte sich dann aus dem Bett. Er würde nach einer ausgiebigen Dusche entscheiden, was er heute tun wollte.

 

Nach der Dusche, die trotz der Fortgeschrittenen Morgenstunde wundervoll warm gewesen war, hatte er seinen obligatorischen Morgenkaffee konsumiert, bevor er sich mit seinem Laptop ins Wohnzimmer zurückgezogen hatte. Dort hatte Peter weiter betreffend des Projekts mit den Arbeitskräften nach Lösungen gesucht.

 

Erschrocken riss er den Kopf hoch, als er plötzlich ein leises Räuspern vernahm. Es war dunkel im Raum. Peter konnte kaum etwas sehen. Plötzlich flammte Licht auf und Peter musste erst einmal Blinzeln, bevor er sich an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnen konnte.

 

Olaf stand schmunzelnd im Türrahmen und er schien sehr gut gelaunt zu sein. „Peter, du hast die Wohnung geputzt? Vielen Dank das hätte ich längst tun müssen aber ich komme einfach nie dazu. Ich habe gute Nachrichten für dich. Ich kann den Rest der Woche von Zuhause aus arbeiten. Dann bist du nicht so alleine.“

 

Olaf lächelte Peter freudig an und dieser zwang sich mühsam ebenfalls ein Lächeln auf die Lippen. Olaf hatte wegen ihm solche Umstände in Kauf genommen? Peter fühlte sich schäbig, weil er sich fragte, wie sie die Zeit in der winzigen Wohnung gemeinsam überstehen sollten ohne sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Er war wirklich zu nichts zu gebrauchen. Nicht nur, dass er sich nicht gegen Justin wehren konnte, nein, bei Problemen wusste er niemanden, an den er sich wenden konnte weil er keinen einzigen Freund hatte. Keinen außer Olaf. Und wenn dieser ihm half fand er immer noch genug Gründe zur Unzufriedenheit. Peter fühlte sich wie der schäbigste Mensch auf diesem Planeten.

 

Ein Gedanke überraschte ihn so unvorhergesehen, dass Peter verkrampfte. Er hatte plötzlich den unvorhersehbaren Wunsch, er hätte sich in Olaf verliebt und nicht in diesen arroganten Gorilla Justin. Doch er konnte es nicht ändern. Er spürte noch deutlich das Unbehagen, dass das kurze Bussi vom Vortag in ihm hervorgerufen hatte. Olaf würde wohl leider nicht in Frage kommen. Peter könnte seinen Körper dafür schlagen, dass er den einzigen Menschen, der wirklich für ihn da war nicht willkommen hieß, ja ihn nicht einmal als trostspendende Schulter akzeptierte! Diese beschissene Verliebtheit musste doch irgendwann aufhören! Was müsste Justin bitte noch alles tun, damit Peter ihn endlich loslassen und sich neuen Männern zuwenden könnte? Männern die so hilfsbereit und liebevoll waren wie Olaf?

 

Ein Seufzen konnte Peter sich gerade noch verkneifen, sein Magenknurren jedoch war grollend zu vernehmen. Olaf lachte laut auf und Peter wurde rot. Das wiederrum veranlasste Olaf noch lauter zu lachen. Peter klappte energisch den Laptop zusammen und sprang auf. Er versuchte sich an Olaf vorbeizudrücken, doch dieser hielt ihn kurz fest um ihm erneut ein Bussi auf die Wange zu hauchen. Diesmal versteinerte Peter nicht, aber eine Gänsehaut bekam er dennoch vor Unbehagen. Die angeekelte Reaktion auf Olafs freundschaftlichen und tröstenden Berührungen waren Peter derart unangenehm, dass er spürte wie sein Gesicht zu brennen begann.

 

Eilig rannte er ins Schlafzimmer und versorgte seinen Laptop. Als er fertig war wollte er kochen. Doch das Bild in der Küche überfuhr ihn regelrecht. Olaf stand mit einer Pfanne, Eiern und Kartoffeln am Herd. Peter überlegt ober er Olaf helfen sollte, doch die Küche war einfach viel zu klein um zu zweit darin zu werkeln. Er drückte sich nur kurz in den kleinen Raum um Geschirr und Besteck für den Wohnzimmertisch zu holen.

 

Es duftete bereits nach wenigen Minuten herrlich aus der Küche zu ihm herüber und Peter wäre beinahe dem unbändigen Verlangen erlegen in die Küche zu stürmen und Olaf vom Herd wegzudrücken um direkt aus der Pfanne zu essen.

 

Als Olaf wenige Minuten später bereits mit der Pfanne ins Wohnzimmer kam hatte Peter die Teller und Gläser wie auch die Getränke bereits auf dem Tisch stehen und nahm Olaf die Pfanne ab um sie auf dem für diesen Zweck in der Tischmitte liegenden Brettchen abzustellen. Er tat beiden eine ordentliche Portion auf und begann dann voller Heißunger seine Portion zu verspeisen. Olaf setzte sich auf den Chefsessel ihm gegenüber und gab plötzlich ein genervtes Seufzen von sich. Peter sah auf. "Ich bin aber auch so vergesslich. Immer vergesse ich das Salz in der Küche." Olaf machte Anstalten sich zu erheben, aber Peter war bereits aufgesprungen und suchte in der Küche nach dem Salz. Es war seltsam, denn er fand es nicht im Gewürzschrank, wo er es hingeräumt hatte, sondern im Kühlschrank. Wieso hatte Olaf das Salz an so einen unüblichen Ort gestellt? Doch er war hungrig und rannte rasch wieder zurück ins Wohnzimmer.

Im Augenwinkel vermeinte er noch eine Bewegung von Olaf über Peters Teller zu sehen, aber das war sicher nur Einbildung. Was sollte Olaf schon an seinem Teller wollen? Sie hatten immerhin beide das gleiche Gericht.

Er ließ sich auf die Couch fallen und begann wieder viel zuschnell das Einfache aber dennoch unglaublich köstliche Mahl zu genießen. 

So ausgehungert und gierig wie er war hatte er Olafs süffisanten Blick nur aus den Augenwinkeln gesehen. Dieser schien sich diebisch zu freuen, dass Peter sein Essen schmeckte. Und Peter musste zugeben, Olaf konnte wirklich gut kochen. Es war zwar nur ein einfaches Gericht, aber es war perfekt gewürzt und die Kartoffeln wie auch die Eier waren perfekt gebraten. Peter bekam das selten so punktgenau hin und darum gönnte er Olaf seine Freude von Herzen.

 

Peter hatte seine erste Portion komplett verschlungen und der Höfflichkeit halber fragte er Olaf, ob er ihm noch etwas auftun dürfte, doch über die beinahe schon genervte Antwort, dass Olaf satt sei freute Peter sich innerlich, konnte er so doch die komplette Pfanne leer machen.

Nachdem Peter auch seine zweite Portion in Rekordgeschwindigkeit verschlungen hatte räumte er den Tisch ab, während Olaf sich mit seinem Laptop in der Ecke setzte und ihn auf dem Schreibtisch aufbaute. Als Peter mit einem Tuch wiederkam um den Tisch abzuwischen erkannte er über Olafs Schulter diverse Tabellen und Grafiken. Der Arme hatte nicht einmal nach Feierabend seine Ruhe. Leise schloss Peter nach dem Abwischen des Tisches, die Türe hinter sich und machte sich daran die Küche zu putzen.

 

So fein Olafs Essen auch geschmeckt hatte, Peter konnte nicht verstehen, wie ein einzelner Mann innerhalb so kurzer Zeit ein derartiges Chaos anrichten konnte. Die Eierschalen lagen sogar auf dem Griff des Backofens und Eigelb zierte die Türe der Waschmaschine.

 

Völlig erledigt bemühte Peter sich noch unter die Dusche, bevor ihn wieder der Schlaf überkam. Am nächsten Morgen fragte Peter sich zum ersten Mal, wieso er in letzter Zeit ständig so müde war. Heute kam nach dem Aufwachen noch ein dumpfes Klopfen in seinem Kopf dazu. Er fühlte sich mies. Er schaffte es auch nicht gleich aufzustehen, sondern musste erst einmal gut eineinhalb Stunden im Bett liegend verbringen. Die Geräusche in der Wohnung waren seltsam laut. Das Knarren der Möbel, das Surren der Stromleitungen, das Wasser in den Wasserleitungen und Olafs Schnarchen. Gott, der Mann sägte da nicht nur einen Wald sondern gleich mehrere!

 

Irgendwann fiel Peter auf, dass hier kein Einziges Foto von Olaf oder seiner Familie vorhanden war. Auch im Rest der Wohnung hatte Peter nichts gesehen.

 

Das fand er seltsam. Wenn Olaf schon keine Bilder von sich mochte, dann währen doch wenigstens Bilder seiner Schwester und seiner Nichten sicher nicht ungewöhnlich. Wenn Peter da an seine Wohnung dachte, in der fast kein Fleckchen auf den Schränken mehr frei war, weil überall seine Geschwister, Eltern, Großeltern, Neffen und Nichten herumstanden war es hier wirklich kahl.

Gut Bilder waren nun nicht jedermanns Sache aber in der Wohnung fehlte es irgendwie komplett an Andenken oder überhaupt an irgendetwas Persönlichem. Jeder hatte doch in seiner Wohnung irgendetwas Persönliches stehen und wenn es nur einige Pflanzen waren! Musste Olaf derart hart arbeiten, dass er es nicht schaffte sich hier wirklich häuslich einzurichten? So dreckig wie die Wohnung gewesen war müsste Olaf hier schon einige Jahre leben und dennoch hatte er noch keine Zeit gefunden sich außer mit einigen nicht zusammenpassenden Möbelstücken wirklich in der Wohnung einzurichten?

 

Irgendwann konnte Peter sich aus dem Bett hieven und in die Dusche quälen. Sein Morgenkaffee schien ihn nicht richtig wach zu bekommen und schmeckte auch irgendwie seltsam, also beschloss er eine Runde Spazieren zu gehen. Er suchte den Schlüsse, doch dieser lag nicht wie gestern in der Schublade, sondern auf der Heizung unter der Arbeitsplatte in der Küche. Wieso legte Olaf die Dinge an derart unübliche Orte? Peter beschloss das nicht weiter zu hinterfragen, sondern den Schlüssel später einfach wieder auf die Heizung zurück zu legen. Er war nicht in der Position sich über Olafs Macken zu beschweren, hatte er doch genug eigene.

Draußen war es frisch und er zog die verschlissene aber immer noch wunderbar warme Jacke enger. Beim Bäcker überlegte er fürs Frühstück Brötchen zu holen, verwarf den Gedanken aber wieder. Er hatte gestern immerhin Aufbackbrötchen gekauft und wusste nicht einmal ob Olaf überhaupt frühstückte.

 

Nachdem er den kleinen Park unweit der Wohnung gefunden hatte war er durch die herrliche Anlage gelaufen. Ein kleiner Fluss lief hindurch. An manchen Stellen waren kleine Brücken und an einer sogar eine Art Floß mit Kette, auf dem man sich über das Flüsschen hinüber ziehen konnte. Peter sah einige spielende Kinder, die ihre helle Freude an dem Spiel zu haben schienen sich gegenseitig über den Fluss zu ziehen. Die Bänke standen nicht direkt am Wegrand, sondern leicht versetzt und teilweise sogar etwas versteckt. Die Laternen waren nicht die üblichen stätischen Monstrosität, sondern niedliche altmodische Laternen, die wirkten als würde man immer noch eine Kerze in ihnen entzünden müssen um das angenehme Licht zu gewinnen, das man sich bei Dunkelheit so sehr wünschte.

 

Es war wunderschön hier. Doch Peter merkte, dass er Magenkrämpfe bekam. Hatte er etwa das Essen gestern nicht vertragen? Oder waren es die süßen Softdrinks gewesen? Eilig rannte er beinahe in den nahegelegenen Discounter und kaufte sich zwei Flaschen stilles Wasser und etwas Knäckebrot. Mit seinen Schätzen rannte er jetzt wirklich zurück zu Olafs Wohnung und warf alles fahrig ins Bett. In letzter Minute schaffte er es noch auf die Toilette und verbrachte hier die nächsten zwei Stunden.

 

Völlig fertig von dieser körperlichen Anstrengung schleppte Peter sich wieder ins Bett und warf Knäckebrot und Wasser achtlos auf die andere Seite, bevor er absolute erledigt mit Olafs lautem Schnarchen im Ohr einschlief.

 

Er wachte durch einen sachten Kuss auf seine Wange auf. Olaf stand über ihn gebeugt und musterte ihn besorgt. „Peter du bist ganz blass und verschwitzt. Ist alles in Ordnung?“ „Essen nicht vertragen.“ War alles was Peter äußern konnte. Er fühlte sich immer noch hundeelend und würde so bald nicht aus diesem Bett aufstehen.

 

Doch Olaf schien andere Pläne. Er überredete ihn zu duschen und dann verbrachten sie den kompletten Abend gemeinsam im Wohnzimmer und schauten sich irgendwelche DVD´s an. Olaf kümmerte sich beinahe schon liebevoll um Peter. Er brachte ihm Wärmflaschen, wickelte ihn in die Wolldecke auf der Couch, erkundigte sich alle paar Minuten, wie es Peter ging und ob er etwas für ihn tun könnte.

 

Peter fand Olafs Bemühungen Allerliebst und wünschte sich erneut, er könnte sich trotz des Altersunterschiedes in diesen Traum von einem Mann verlieben. Er war mitfühlend, liebenswert und immer für Peter da, wenn er ihn ließ. Wie oft hatte er Olaf mit seiner verschrobenen Art wohl schon vor den Kopf gestoßen, wenn dieser nur nett sein wollte? Auch jetzt erhielt Peter hin und wieder ein kurzes Bussi auf die Wange, bevor Olaf aufsprang um die Wärmflasche mit neuem heißem Wasser nachzufüllen oder Peter einen Tee zu bringen. Gut, den Tee musste Peter komplett wegschütten, weil er für ihn und seinen angeschlagenen Magen viel zu stark war, aber es war ja der Gedanke, der zählte.

 

Auch das etwas weniger deftige Abendbrot in Form von Nudeln und Tomatensoße ließ Peter heimlich in den Müll verschwinden. Erschöpft und müde schlich er sehr früh ins Schlafzimmer, aß einige Scheiben Knäckebrot und trank ordentlich Wasser. Er fühlte sich ausgetrocknet nach dem er den ganzen Abend ohne etwas zu trinken auf der Couch verbracht hatte. Doch Olaf zu bitten ihm sein Wasser zu holen wäre nicht in Frage gekommen. Olaf opferte sich bereits genug für Peter auf! 

6

 

Peter war schnell eingeschlafen und wunderte sich, wieso er jetzt wieder wach war. Doch genau in der Sekunde, als er die Augen wieder schließen wollte hörte er erneut einen Schrei. Er war gedämpft aber dennoch deutlich gewesen. Peter sprang aus dem Bett. Er fühlte sich viel besser als noch am Abend und war richtig ausgeruht. Doch statt sich über die plötzliche Genesung zu wundern schlich Peter auf leisen Sohlen zur Türe. Sie war abgeschlossen! Wieso war die Türe zum Schlafzimmer abgeschlossen? Peter hatte nicht einmal einen Schlüssel gesehen!

 

Völlig verwirrt starrte Peter die Türe einige Minuten nur an. Ein erneuter Schrei ließ ihn jedoch zusammenzucken und wirklich realisieren, dass er hier eingeschlossen war. Wer hatte ihn hier eingeschlossen und warum? Wer schrie da und würde Peter als nächstes schreien müssen? Wie kam derjenige, der ihn hier eingeschlossen hatte überhaupt an einen Schlüssel, wo doch Peter selbst keinen Schlüssel für den Raum hatte?

 

Genau das war die Frage die ihn wieder einigermaßen erdete. Peter befand sich in einem Altbau! Er ging zu seiner Hose und kramte darin nach seinem Haustürschlüssel. Er fand ihn. Möglichst leise tastete er im halbdunklen Schlafzimmer sein Schlüsselbund nach seinen Schlüssel ab. Er hatte die Schlüssel für Küche, Schlafzimmer, Badezimmer, Gästezimmer und Wohnzimmer aus seiner Wohnung an seinem Schlüsselbund. Oft hatten ihn seine Geschwister für verrückt erklärt, weil er die Schlüssel nicht in der Wohnung lassen konnte, doch irgendein Gefühl in Peter hatte ihn schon seit frühester Kindheit dazu veranlasst die Schlüssel immer an sich zu nehmen.

Jetzt schlich er mit den Schlüsseln zu der Türe. Altbauten waren ja dafür bekannt, dass die Schlösser gerne etwas ausgedient waren und dadurch auch mit anderen Schlüsseln als nur den Originalen geöffnet werden konnten.

 

Beim dritten Schlüssel hatte Peter Glück. Er öffnete das Schloss. Mit den Schlüsseln in der Pyjamahose öffnete Peter die Türe möglichst leise um in den Flur zu schleichen. Ein erneuter Schrei ließ ihm vor Schreck das Blut in den Adern gefrieren. Da schrie jemand nicht aus Spaß. Das waren echte Schmerzensschreie! So gern Peter sich bis eben eingeredet hatte, dass vielleicht nur ein Fernseher lief oder Kinder in der Nacht aufgewacht waren und in dem hellhörigen Altbau miteinander spielten, bis die Eltern sie wieder ins Bett steckten, das ging nicht, dazu war der Schrei viel zu deutlich gewesen. Den plötzlich aufkommenden Gedanken, dass er bisher noch kein einziges Mal Kinder in diesem Haus gehört oder gesehen hatte verdrängte Peter schnell wieder. Momentan sollte es Wichtigeres geben, als die Altersstruktur der Bewohner dieses Altbaus.

Doch egal wie sehr er sich auch versuchte abzulenken, es war nach dem letzten gehörten Schrei nicht mehr möglich, denn Peter kannte diese Art der Schreie noch aus seiner Kindheit. Schreie die echt waren und ausgestoßen wurden, weil jemand wirklich unglaubliche Schmerzen litt. Ein Klassenkamerad von ihm war einmal auf einem Baum geklettert und herabgefallen. Er hatte ebenso markerschütternd geschrien. Sein Handgelenk war gebrochen gewesen. Der Junge hatte noch Glück gehabt, wäre er auf dem Rücken gelandet hätte er gelähmt sein können.

 

Der nächste Schrei riss Peter hart aus seinen Gedanken. Er hatte ruckartig den Kopf nach links gerissen. Hier war sie, die verschlossene Türe. Was spielte sich dahinter ab? Was versteckte Olaf hier? Oder war Olaf das Opfer? War er womöglich Opfer von dunklen Mächten, die ihm alles Geld und die Freiheit abgenommen hatten? Sollte dieser liebenswürde Mensch in den Fängen solch grausamer Subjekte sein?

 

Todesmutig pirschte Peter sich näher heran. Langsam drückte er die Türklinke nach unten und die Türe öffnete sich sofort ein kleines Stück. Das leise Knarren der Türe wurde vom einsetzenden Klingeln eines Handys übertönt. Peter hielt die Türe fest, damit sie nicht noch weiter aufsprang. Dann beugte er sich hinab und schaute durch das Schlüsselloch. Er schalt sich innerlich für seine Dummheit, hätte er doch gleich durch das Schlüsselloch schauen können, ohne die Türe zu öffnen. Wie sollte er das Quietschende Ding jetzt wieder unbemerkt zubekommen?

Peter wurde heiß und kalt zugleich vor Entsetzten. Er sah in dem Raum eine Art Folterkammer. Es war ein Kreuz in der Raummitte, das alles zu dominieren schien. An diesem Kreuz war ein junger Mann, vielleicht Mitte Zwanzig mit Ketten festgeschnallt. Die Körperstellen, an denen ihn die Ketten ans Kreuz fesselten waren aufgescheuert und schienen teilweise auch geblutet zu haben. Der Mann war unbekleidet und er hatte Striemen auf dem gesamten Körper.

 

Die Wand, die Peter von seiner Position aus erkennen konnte war mit schwarzem Holz beschlagen und es waren eine Auswahl an verschiedensten Peitschen, Fesseln, Latexmasken, Knebeln und Analspielzeugen aller Art aufgehängt oder in kleinen anscheinend extra angebrachten Regalfächern zu sehen. Hinter dem gefesselten Mann kam Olaf hervor, er trug irgendein Fetisch Ding. Es bestand eigentlich nur aus Streifen von Stoff, die nichts verdeckten. Peter sah Olaf also hier eigentlich gänzlich unbekleidet und was er sah ließ ihn würgen. Olaf war bleich, er hatte unmöglich viele Muttermaler unterschiedlichster Größe und Windpockennarben überall auf seinem Körper. Insgesamt wirkte er auch einfach unförmig. Diese Analyse bezog sich sogar auf das was Peter da ausgefahren zwischen Olafs Beinen erkennen konnte. So einen hässlichen Pennis hatte er noch nie gesehen! Kurz, stark nach rechts gebogen und dazu noch knall rot. Angewidert riss Peter seinen Blick von dieser ekelhaften Erscheinung los.

 

Olaf schien mit seinen Latexhandschuhen Probleme zu haben das Gespräch anzunehmen. Doch dann erkannte Peter, dass das nicht das Problem war. Olaf versuchte einen Knebel zu greifen, ohne das bereits in seiner Hand befindliche Handy fallen zu lassen. Nach einigen Versuchen hatte er es geschafft und legte dem gefesselten Jungen Mann den Knebeln um. Dieser öffnete nicht einmal mehr die Augen. Was hatte Olaf ihm angetan?

 

„Was ist? Du weißt, du sollst mich auf Geschäftsreisen nicht stören, ich hab wichtige Transaktionen zu tätigen!“ Olafs Stimme klang seltsam irreal in diesem grausamen Raum. Er versuchte sich seine Verärgerung über die Störung nicht anmerken zu lassen. Das merkte Peter deutlich.

„Aber nein natürlich nicht mein Schatz. Bitte entschuldige. Es ist einfach so viel zu tun, dass ich kaum noch weiß wie ich das alles bewältigen soll. Ich bin gerade in einem Hotel nur knappe drei Stunden von dir entfernt und ich könnte eine Pause wirklich gut gebrauchen.“ Olaf hatte es tatsächlich geschafft seine Stimme zuckersüß klingen zu lassen. Peter wurde noch übler als ihm ohnehin schon war. Olaf wiederrum lauschte und sein breites Grinsen verriet, dass ihm gefiel was er hörte.

 

„Ich liebe dich auch mein Schatz und ich bin so schnell wie möglich bei dir. Ich will dich auch endlich wieder in meinen Armen halten.“ Ein widerwärtiges Kussgeräusch beendete das Telefonat und Olaf drehte sich zu seinem „Opfer“.

 

„Schade. Jetzt haben wir nur noch knapp zwei Stunden um zusammen Spaß zu haben, bevor ich los muss.“ Peter spürte beinahe körperlich das diabolische Grinsen, dass auf Olafs Gesicht liegen musste. Immerhin hatte er ihm den Rücken gekehrt und so konnte Peter es nicht sehen. Das „Opfer“ wurde vom Knebel befreit und begann mit gebrochener Stimme um Gnade zu betteln. „SCHWEIG!“ Ein extrem heftiger Schlag mit der Reitgerte, die Olaf zu Peters Entsetzten plötzlich in seiner Hand hatte brachte einen weiteren markerschütternden Schmerzensschrei aus dem jungen Mann hervor. „Du hast zu schweigen, solange ich dir nicht die Erlaubnis gebe zu sprechen. Vergiss nicht, alle Fotos von dir und deinem ach so süßen Freund werden deinen Eltern zugehen, wenn du nicht tust was ich sage.“ Olafs Stimme klang höhnisch und Peter fühlte sich als hätte man ihn geschlagen.

 

Wer um Himmels Willen war dieser Mann dort? Er hatte überhaupt nichts mit dem fürsorglichen und lieben Mann von heute Abend zu tun. Ein weiterer Schlag, genau in das empfindliche Fleisch des rechten Oberschenkels ließ den nächsten Schrei hören.

 

„Ja, schrei nur, schrei nur! Die Prinzessin nebenan hat heute wieder so viel Schlafmittel intus, die wird dich heute auch wieder nicht hören. Und am nächsten Wochenende wird sie deinen Platz einnehmen.“ Das grausigste Lachen, dass Peter jemals gehört hatte verließ Olafs Kehle, füllte den Raum und brachte Peter dazu die Türe leise zu schließen. Das Lachen übertönte das leise Quietschen und Peter wich entsetzt rückwärts von der Türe zurück.

 

Er war bereits im Begriff fluchtartig die Wohnung zu verlassen, als der nächste markerschütternde Schrei ihn innehalten ließ. Er konnte doch jetzt nicht einfach wegrennen! Doch was sollte er tun? Wenn könnte er um Hilfe bitten?

 

Er fand sich plötzlich im Wohnzimmer wieder. Er stand in dem dunklen Raum direkt vor dem Computer. Das hier war der einzige Ort der Wohnung, an den Olaf ihn nicht gelassen hatte. Natürlich abgesehen von der Folterkammer. Peter wusste nicht genau was er tat, doch er schaltete den PC ein und saß kurze Zeit später vor einem blinkenden Cursor, der ein Passwort verlangte. Geistesabwesend tippte Peter einfach nur „Olaf“ ein. Zu seiner Überraschung wurde das Passwort akzeptiert. Wie verrückt musste man sein um seinen eigenen Vornamen als Passwort zu verwenden? Oder wie überzeugt davon, dass niemals irgendjemand an den Computer ging und versuchte das Passwort herauszufinden? Wobei, wenn hier sonst immer nur Personen zugegen waren die in der Folterkammer festgehalten wurden war es nicht überraschend, dass Olaf ein so unsicheres Passwort gewählt hatte.

 

Peter lief es erneut eiskalt den Rücken runter. Doch er überwand sich sofort mit seiner Suche zu beginnen. Es dauerte nicht lange und er hatte diverseste Ordner gefunden. Alle samt schienen sie verfängliche Fotos und Videos zu enthalten. Ein kurzer Blick in zwei drei Ordner hatte gereicht um Peter knall rot werden zu lassen. Das mussten die Bilder sein, von denen Olaf gesprochen hatte. Hiermit erpresste er den jungen Mann. Und wenn Peter richtig vermutete hatte Olaf das schon mit vielen anderen getan, denn die Liste der Ordner war lang.

 

Eilig rannte er so leise wie möglich ins Schlafzimmer. Er holte seinen Laptop und das Verbindungskabel und schon war er wieder am PC. Er verband beide Rechner miteinander und übertrug die kompletten Dateien von Olafs PC auf seinen Laptop, bevor er begann Olafs PC zu Formatieren. Durch das Vorkriegsmodel von Rechner benötigte die Datenübertragung jedoch viel länger und Peter wurde immer nervöser. Seine Fingernägel waren bereits bis zum Nagelbett runter gekaut und Peter spürte seine neue und recht ungewollte Angewohnheit des nervösen Fingernägelkauens schmerzhaft. Das musste er sich schnell wieder abgewöhnen. Aber er hoffte auch nie wieder in so einer Situation zu landen! Um sich abzulenken suchte er überall nach transportablen Datenträgern. Er fand diverse USB Sticks und eine externe Festplatte wie auch zwei drei Speicherkarten. Er steckte alles in die Laptoptasche neben sich.

 

Er war gerade fertig mit der Formatierung und hatte den Rechner runter gefahren, als ihm klar wurde, dass die Schreie vor wenigen Minuten komplett verstummt waren. Eilig klappte er seinen Laptop zusammen um ihn ebenfalls in die Laptoptasche zu legen und schnappte das bereits wieder zusammengerollte Verbindungskabel um ins Schlafzimmer zu rennen.

 

Beinahe hätte er vergessen, dass die Türe vorhin abgeschlossen war, doch in letzter Sekunde fiel ihm dieses Detail wieder ein und er warf seine Last, bestehend aus gefüllter Laptoptasche und dem Verbindungskabel durch den halbdunklen Raum zielsicher aufs Bett um in seiner Pyjamahose nach den Schlüsseln zu suchen. Er umfasste gerade den zweiten Schlüssel, als er die Türe nebenan aufgehen hörte. Eilig drückte er den Schlüssel ins Schloss, doch er passte nicht. Zittrig wühlte er nach dem nächsten Schlüssel. Er durfte keine Geräusche von sich geben. Olaf durfte nichts hören. Das war im halbdunkeln Raum und völlig panischem Zustand fast unmöglich, doch Peter hatte mehr Glück als Verstand, denn er schaffte es den Schlüssel recht geräuschlos ins Schloss zu stecken und umzudrehen. Genau in diesem Moment hörte er Olaf vor seine Türe treten. Er riss den Schlüssel krampfhaft zurück, eilte ins Bett, schob den Laptop beiseite und deckte dann den Laptop und sich zu, während er den Schlüssel unters Kopfkissen warf.

 

Er hörte das Knarren der Dielen vor seiner Zimmertüre, das metallische Geräusch, als Olaf den Schlüssel ins Schloss steckte und dann drehte und danach hörte er wie sich die Türe öffnete. Peter lag völlig verkrampft im Bett und hoffte Olaf täuschen zu können.

 

Dieser trat in das Zimmer ein und kam zum Bett. Weder bewegte er sich besonders leise, noch schien er auch nur eine Sekunde daran zu denken, dass Peter aufwachen könnte. Als Peter die Erkenntnis durchzuckte, dass Olaf vorhin von Schlafmittel gesprochen hatte. Natürlich! Olaf musste nicht leise sein, Peter sollte ja unter dem Einfluss der Schlafmittel völlig weggetreten sein. Aber warum war er das nicht? Ein leichtes Ziehen im Magen beantwortete seine Frage. Weder hatte er etwas gegessen, das Olaf ihm gegeben hatte, noch etwas von ihm erhaltenes getrunken. Das war am Vortag anders gewesen. Peter hatte Olafs Kochkünste heiß gelobt und sogar noch einen Nachschlag genossen. Das würde erklären, wieso er am Morgen nicht fit werden wollte und seine Magenprobleme auf unbekannte Substanzen waren schon längst kein Geheimnis mehr für ihn. Wenigstens hatte er auf das Schlafmittel nicht so heftig reagiert, wie auf den Alkohol im Lobella.

 

Peter wurde aus seinen Gedankengängen gerissen, als er Olafs Lippen auf seiner Wange spürte. Sie hauchten ihm einen zärtlichen Kuss entgegen, der Peter beinahe geschüttelt hätte. Wie er es schaffte ruhig liegen zu bleiben war ihm ein Rätzel, doch er war dankbar für seine Beherrschung. Olafs Lippen wanderten indes weiter zu seinem Ohr. „Schlaf dich aus, meine kleine Prinzessin. Jetzt wo du endlich nicht mehr entkommen kannst haben wir Zeit. Schon bald wirst du mit Haut und Haaren mir gehören. Und wenn du endlich unter mir vor Lust stöhnst, dann haben die letzten sieben Jahre sich erst wirklich gelohnt. Wer hätte gedacht, dass dieser Loser Justin es sein würde, der dich in meine Arme treibt? Ich wette der kleine Versager könnte sich deswegen in den Hinter beißen.“

 

Ein böses Lachen entkam Olaf nach diesen gehauchten, beinahe liebevoll klingenden Worten. Peter fühlte sich, als würde dieses Lachen in seinem Kopf hämmern. Es kostete ihn sämtliche Kraftreserven sich jetzt nicht zu bewegen und zu versuchen ruhig zu atmen. Der schmatzende Kuss, den Olaf als nächstes auf sein Ohrläppchen hauchte machte seine Situation nicht besser. Seine Gelenke schmerzten bereits, so sehr verkrampfte er sich, um nur ja keine verräterische Bewegung zu erzeugen. Peter wusste, viel länger würde er diese krampfhafte Scharade nicht aufrecht erhalten können.

 

Zu seiner grenzenlosen Erleichterung verließ Olaf das Zimmer und zog die Türe geräuschvoll ins Schloss. Peter hörte wieder den Schlüssel. Olaf schien auf Nummer sicher gehen zu wollen. Dann hörte Peter noch ein seltsames Geräusch. Streckte Olaf sich gerade vor der Türe? Ein diabolisch klingendes Lachen riss ihn aus sämtlichen Überlegungen und ließ ihn ängstlich die Augen aufreißen. Er lag zusammengekauert im Bett und hatte sich wie ein kleines Kind unter der Bettdecke verkrochen. Als würde sie ihm in irgendeiner Art und Weise Schutz bieten können. Doch so absurd das auch für einen Erwachsenen war, so sehr half ihm dieser kindliche Glaube dabei sich wieder einigermaßen zu beruhigen.

 

Peter wartete eine kleine Ewigkeit, bis er sich leise erhob. Mit dem Ohr an der Türe lauschte er, ob Olaf wirklich nicht mehr in der Wohnung war. Da Peter vor beinahe dreißig Minuten die Haustür hatte ins Schloss fallen hören sollte Olaf zwar weg sein, aber man konnte ja nie wissen. Ohne Licht zu machen zog Peter seinen Pyjama aus und schlüpfte in normale Kleidung. Dann packte er sämtliche Dinge von sich wieder in seinen Trolly und den Rucksack. Er machte sogar das Bett, weder dsa Deckbett, noch Kissen oder Bettbezug wollte er je wieder sehen, weshalb er alles hierlassen würde.

Erst als alles erledigt war und er keine weiteren Ausreden mehr finden konnte in der trügerischen Sicherheit des abgeschlossenen Raumes zu bleiben drehte er sich zur Türe. Leise und bedächtig löste er den Schlüssel für sein Zimmer vom Schlüsselbund und ließ die restlichen Schlüssel in seine Hosentasche verschwinden.

 

Beinahe geräuschlos öffnete er die Zimmertüre und lauschte angespannt in den Flur. Erst nachdem er auf Zehenspitzen jedes Zimmer untersucht hatte atmete er leicht auf. Eilig schritt er auf die Türe am Ende des Ganges zu. Abgeschlossen!

 

Völlig überfahren versuchte Peter noch einige Male die Türe zu öffnen, doch das Ergebnis blieb sich gleich. Olaf war wirklich extrem vorsichtig. Doch nachdem Peters Gehirn sich langsam wieder einschaltete kramte er nach seinem Zimmerschlüssel. Und zu seiner Freude passte er auch in dieses Schloss. Dafür, dass Olaf so ein Sicherheitsfanatiker war überraschte Peter die Tatsache der ausgedienten Schlösser doch sehr.

 

Vorsichtige öffnete Peter die Türe in den Raum und tastete nach einem Lichtschalter. Als das Licht hell aufflammte musste er die Augen zusammenkneifen. Doch als er sie wieder öffnete merkte er, dass Olafs Opfer länger benötigte um sich an das Licht zu gewöhnen und dann völlig verängstigt zu Peter sah. Die Angst wich der Überraschung und dann trat ein seltsamer Ausdruck in das Gesicht des jungen Mannes, den Peter nicht deuten konnte. Er würde auf Vorsicht tippen. Eilig schloss Peter hinter sich die Türe und ging auf den Mann zu.

 

Ohne die Begrenzung des Schlüsselloches konnte Peter jetzt auch sehen, dass an der Wand in der die Türe war eine Art Pritsche stand. Sie erinnerte ihn an die Lagerstätten aus amerikanischen Filmen, auf denen die Soldaten in Kampfgebieten nächtigen mussten. Es war nur eine dünne Decke darüber geworfen. An der Wand, rechts hinter der Türe waren ein Waschbecken und eine Art größere Wanne angebracht. Peter entdeckte sogar ein Camping-WC und dem Geruch im Raum nach zu urteilen war es benutzt aber nicht geleert worden.

 

Ekel packte ihn und ließ ihn eine feine Gänsehaut bekommen. Rasch wand er den Blick auf die Geisel und schritt schneller voran. Vor dem Kreuz sah er sich hilflos die Ketten an. Sie waren stabil und mit einem Schloss an jedem festgebundenen Gelenk versehen. Peter rüttelte etwas daran, die Ketten bewegten sich aber kaum einen Millimeter.

 

Schnell drehte er sich um und durchsuchte den Raum nach dem Schlüssel. Doch er fand nichts. Verzweifelt drehte er sich zu dem gefesselten Mann um und sah ihn hilflos an. „Wo würde der Verrückte einen Schlüssel verstecken?“ Peter sah den gefesselten an, der verwirrt zurück blickte. Aus einem für Peter unerfindlichen Grund fiel ihm plötzlich der PC wieder ein. Wenn die Daten dort gesichert worden waren, wieso sollte Olaf nicht auch in dieser Ecke einen Schlüssel verstecken?

 

Eilig verließ er den Raum und rannte ins Wohnzimmer. Dieses Mal schaltete er das Licht ein um besser sehen zu können und suchte den kompletten Schreibtisch ab. Doch er fand nichts. Resigniert ließ er sich auf den Stuhl fallen. Wo würde er denn einen Schlüssel verstecken?

 

Siedend heiß wurde Peter klar, dass er den Schlüssel mitnehmen würde. Aber was wenn man ihn verlor? Einen Schlüsseldienst könnte man nicht anrufen. Man benötigte einen Ersatzschlüssel! Doch wo würde man diesen am besten verstecken, wenn eine fremde Person freien Zugang zur gesamten Wohnung hatte?

 

Nein, nicht zur gesamten Wohnung, der Schreibtisch war Tabu gewesen. Aber den hatte er schon durchsucht. Um sich abzulenken drehte er sich auf dem Chefsessel im Kreis. Das tat er daheim auch immer, wenn er verzweifelt versuchte auf eine Lösung zu kommen. Dummer weise war der Chefsessel nicht so standfest wie seiner und Peter konnte in letzter Sekunde abspringen, bevor der Chefsessel lautstark auf den Boden krachte.

 

Erschrocken blickte Peter das monströse Möbelstück an und benötigte ein paar Sekunden um wirklich zu begreifen, dass der Stuhl an den Teppichrand gestoßen war und darum die Standfestigkeit verloren hatte. Eilig griff er nach dem Stuhl und wollte ihn wieder aufstellen, als er etwas Seltsames an der Unterseite der Sitzfläche fühlte. Er ließ den Stuhl liegen und ging vor ihm in die Knie.

 

Und da war er! Unter der Sitzfläche, recht nah an der Stange, die Sitzfläche und Rollfüsse miteinander verband, war ein Schlüssel mit Tesafilm befestigt. Peter erkannte auch, dass ein USB Stick neben dem Schlüssel festgeklebt worden war. Zum Glück aller Opfer hatte Peter diesen jetzt noch gefunden. Er konnte sich sehr gut vorstellen, welche Art von Daten der 64 GB USB Stick enthalten würde. Peter riss den Schlüssel und den USB Stick ab und rannte siegessicher wieder in die Folterkammer, nachdem er den Chefsessel wieder ordentlich aufgestellt und an den Schreibtisch geschoben hatte. Der USB Stick verschwand erst während er durch den Flur rannte in seiner Hosentasche.

 

Zurück in der Folterkammer wurde er wieder beäugt. Doch dieses Mal schien es keine Vorsicht, eher die Frage, ob er eine Hilfe oder eine Last sein würde, die den gefesselten Mann beschäftigte. Erst in diesem Moment wurde Peter klar, dass er den jungen Mann eben wenigstens von seinem Knebel hätte befreien können.

 

Beschämt über dieses Versäumnis lief er knall rot an. Um seine Schamesröte zu verbergen sah er nach unten, damit sein Gesicht nicht im Blickfeld des gefesselten lag. Eilig rannte er an die Seite und begann die Schlösser aufzuschließen. Der Schlüssel passte in jedes Schloss, was Peter bei Olafs sonstiger Vorsicht zwar ebenso überraschte wie die beinahe ausgedienten Schlüssellöcher in der Wohnung die mit fast allem was einem Schlüssel auch nur ansatzweise nahe kam geöffnet werden konnte, aber er wollte jetzt nicht näher darüber nachdenken.

 

Nachdem er die Beine befreit hatte und an die Arme ging stand der junge Mann sehr wacklig und Peter packte ihn nach dem Öffnen des letzten Schlosses eilig unter den rechten Arm um ihn zu stützen. Der Mann sah ihn verängstigt an. Das war wohl auch klar, Peter hatte sehr impulsiv gehandelt und sicher etwas zu grob zugepackt. Doch für Samthandschuhe fehlte die Zeit. Eilig schleppte er den Mann in die Küche und warf ihn praktisch auf den Stuhl vor der Arbeitsplatte unter dem Fenster. Gerade als er etwas aus dem Kühlschrank nehmen wollte fiel ihm ein, dass Olaf alles mit Schlafmitteln versetzt haben könnte. Also rannte er in sein Zimmer. Dort packte er rasch seine Taschen um dann sein Wasser und das Knäckebrot zu schnappen. Voll beladen stürmte er kurze Zeit später wieder in Richtung Küche zurück.

 

Als er in der Küche war sah er wie der junge Mann versuchte den Knebel abzunehmen. Doch er schien zu kraftlos und schaffte es nicht. Peter hatte es schon wieder vergessen! Wie dumm konnte man eigentlich sein?

 

Rasch stellte er seinen Rucksack neben die Türe auf den Boden, den kleinen Reisetrolli daneben und legte die Laptoptasche auf die Arbeitsplatte rechts neben Olafs Opfer. Direkt vor den Jungen Mann stellte Peter das Wasser und Knäckebrot, damit dieser sich stärken konnte. Dann ging er um den immer noch geknebelten Mann herum und befreite ihn von dem Knebel. Ein tiefer Atemzug folgte. Dann wurde der Kopf des Mannes nach hinten gedreht und Peter mit verschlossenem Blick gemustert.

 

„Bitte beeil dich, ich weiß nicht wann der Verrückte wieder hier ist und du musst etwas essen und trinken, bevor wir von hier abhauen können.“ Der junge Mann blickte Peter noch einige Sekunden an, bevor er den Kopf abwand und das Wasser und Knäckebrot beäugte. Peter musste es nicht sehen, er wusste, dass der junge Mann die Lebensmittel misstrauisch beäugte. Also trat er wieder vor um Wasser und Knäckebrot auf der Arbeitsplatte erreichen zu können und nahm einen großen Schluck Wasser bevor er herzhaft in ein Knäckebrot biss, das er trocken hinab schlang. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er zuerst das Knäckebrot und dann das Wasser hätte konsumieren sollen. Doch er wollte sich nicht die Blöße geben und jetzt noch einmal nach dem Wasser greifen.

 

Nach einigen Sekunden kannte Olafs Opfer kein Halten mehr und schlang geradezu das Knäckebrot hinab, während er nebenbei immer wieder Wasser in Sturzbachartigen Wellen seine Kehle hinunter schüttete. Bei diesem Essverhalten landete natürlich einiges auf der freien Brust des Mannes.

 

Erst jetzt wurde Peter wirklich klar, dass der Mann hier völlig unbekleidet saß. Er sprang aus der Küche und rannte in die Folterkammer zurück. Der Mann war ja sicher nicht nackt hier her gekommen! Nach kurzem Suchen fand er unter der Pritsche eine Plastiktüte, in der frisch gewaschene Kleidung lag. Das hatte Peter nun nicht erwartet. Olaf hatte die Kleider gewaschen? Wozu?

 

Doch es war egal, es war jetzt nur wichtig hier raus zu kommen, bevor Olaf wiederkam. Also rannte er mit seinem Fund zurück in die Küche, in der der Mann immer noch nackt vor der Arbeitsplatte saß. Die leere Wasserfalsche und die leer gegessene Packung Knäckebrot verrieten, dass er sehr hungrig und durstig gewesen war. Peter legte die Plastiktüte vor dem Mann auf den Tisch. Dieser sah ihn verständnislos an.

 

„Deine Kleider, glaube ich zumindest. Du kannst ja schlecht nackt da raus gehen.“ Peter zeigte Richtung Türe. Der Mann benötigte einige Sekunden ehe er den Sinn von Peters Worten verstand. Eilig sprang er auf und riss die Tüte an sich.

 

Er hatte anscheinend nicht die Geduld die Sachen einzeln aus der Tüte zu nehmen, sondern zerrte dermaßen an dem Plastik, dass die Tüte riss und die Kleider auf dem Boden lagen. Doch Peter hatte nicht einmal die Möglichkeit sie wieder aufzuheben, denn der junge Mann riss sofort die Boxerhort an sich und schlüpfte hinein, bevor er die Socken und die Hose anzog. Dann noch das langärmliche T-Shirt drüber und fertig. Der junge Mann sah auf. „Vielen Dank.“

 

Das waren die ersten Worte von Olafs Opfer und Peter wusste, wären sie jetzt nicht hier in einer derart unmöglichen Situation, dann hätte er die Stimme sofort mit Justins verglichen. Doch jetzt galt es keine Sekunde zu verlieren. „Bitte. Jetzt aber schnell. Wo sind deine Schuhe? Und eine Jacke hattest du sicher auch.“

 

Der Angesprochene sah hilflos auf seine Füße. Von ihm war wohl keine Hilfe zu erwarten. Doch irgendwie hatte Peter plötzlich einen Verdacht. Er schnappte sein Gepäck und zog den Mann in den Flur. Dort standen sie vor den ganzen Schuhen und Jacken, die Peter schon an seinem ersten Tag hier nicht mit Olaf in Verbindung bringen konnte. Der Mann sah sich etwas unschlüssig um, bevor er nach der Lederjacke griff, und dann ein Paar der ausgetretenen Schuhe zu sich zog.

 

Während der Mann die Schuhe und Jacke anzog fiel Peter das erste Mal auf, das die Schuhe und wohl sicher auch die Jacken unterschiedliche Größen hatten. Die gehörten sicher nicht Olaf. Waren das etwa Souvenirs? Behielten die Serientäter in den Filmen nicht immer Souvenirs ihrer Opfer?

 

Peter musste sich bemühen damit er sich jetzt nicht übergab. Um sich abzulenken griff er zur Haustüre und drückte die Klinke hinunter. Im nächsten Moment wurde ihm eiskalt. Die Türe war abgeschlossen! Peter hoffte zwar, doch er fürchtete so dumm war nicht mal Olaf. Dennoch rannte er in die Küche und an die Schublade in der der Ersatzschlüssel für ihn gelegen hatte. Doch hier war kein Schlüssel. Auch auf der Heizung suchte er vergebens. Und erst jetzt wurde ihm klar, dass Olaf den Schlüssel absichtlich auf die Heizung gelegt hatte, nur für den Fall, dass Peter doch aufwachen sollte hätte er nicht die Möglichkeit gehabt die Wohnung zu verlassen. Er spürte wie er bei dieser Erkenntnis bleich wurde, war ihm doch gerade erst wirklich klar geworden wie nah er daran war das Schicksal des armen Mannes im Flur zu teilen. Eilig verjagte er jeden Gedanken daran. Er musste den Schlüssel finden und das schnell!

 

Eilig durchsuchte die gesamte Küche. Anschließend rannte er ins Wohnzimmer und dann sogar in die Folterkammer. Doch nichts. Wütend schlug er mit der Faust gegen die Wand im Flur, direkt neben dem Schlafzimmer und dabei hörte er ein seltsames Geräusch. Er hatte genau neben dem Türrahmen geschlagen. Durch das seltsame Geräusch irritiert sah er auf. Und wäre vor Erleichterung fast laut jauchzend in die Luft gesprungen. Dort blitzte etwas. Oben auf dem Türrahmen blitzte etwas Metallisches. Eilig griff er danach und hielt in der nächsten Sekunde triumphierend den Schlüssel zur Wohnungstüre in Händen. Erleichtert atmete er aus.

 

„Du hast wohl mehr Glück als Verstand oder?“ Peter drehte sich zu dem jungen Mann um, der sich die Hand auf den Mund schlug. Ihm schien erst jetzt gerade klar geworden zu sein, dass er Peter mit dieser Aussage beleidigt hatte. Doch Peter war nicht nach streiten oder eingeschnappt spielen zu mute. Er wollte nur noch hier raus!

 

„Vielleicht. Aber solange wir hier raus kommen ist das egal…. Sag mal wie heißt du eigentlich?“ Der junge Mann ging aus dem Weg, als Peter sich zur Wohnungstüre bewegte um diese aufzuschließen.

 

„Johannis.“ Peter blickte nicht auf, während er den Schlüssel ins Schloss steckte und die Türe in die Freiheit öffnete. „Freut mich, ich bin Peter.“ Mit diesen Worten zog er den Schlüssel ab, drehte sich um, löschte überall das Licht, entsorgte den Müll auf der Arbeitsplatte um dann zu Johannis zu treten und mit ihm gemeinsam die Wohnung zu verlassen.

 

Dann zog er die Türe zu und schloss ab. Johannis blickte ihn dabei fragend an. „Sollte er jetzt gleich wiederkommen gewinnen wir etwas Zeit dadurch, dass er glaubt alles wäre gut. Jede Sekunde kann wichtig sein!“ Dann schnappte er seinen Trolly, hängte die Laptoptasche um und packte Johannis Hand. Den Rucksack hatte er bereits in der Küche geschultert.

 

Er wollte kein Risiko eingehen. Also nahm er mit Johannis die Treppe. Irgendwie war Peter klar, dass Olaf zu faul für den Aufstieg über die Treppe war und er musste verhindern, dass sie Olaf im Aufzug begegneten. In der Tiefgarage suchte er sein Auto und fand es auch gleich wieder. Er packte Gepäck wie auch den zitternden Johannis hinein und sprang dann auf die Fahrerseite. Johannis zitterte so stark, dass er die Schnalle nicht erwischte. Also beugte sich Peter über ihn hinweg um nach der Schnalle zu greifen und den zitternden Mann im Wagen zu sichern. Er merkte, wie Johannes sich versteifte, als Peter sich über ihn beugte, doch er hatte keine Zeit darauf Rücksicht zu nehmen und die sowieso nur sehr dürftige Sicherheit des Wagens noch einmal zu verlassen. Er beeilte sich lieber und schnallte Johannis an, bevor er nach seinem eigenen Sicherheitsgurt griff. Wenige Augenblicke später startete er den Motor und raste auf die Ausfahrt zu.

 

Sie fuhren gerade aus der Garage, als er Olafs Wagen sah. Dieser wollte anscheinend in die Garage und blickte Peter ungläubig an. Peter sah sicher ebenso ungläubig zurück, bevor er beschleunigte.

 

Er sah im Rückspiegel, wie Olaf ihm nach der ersten Überraschung nachjagte. Und jetzt? Olaf verfolgte sie, also konnten sie nicht einfach zu Peter nach Hause fahren. Zitternd beschleunigte Peter weiter und fuhr bereits Innerorts 70 km/h. Zum ersten Mal in seinem Leben, zumindest zum ersten Mal seit er Besitzer einer gültigen Fahrerlaubnis war, war ihm völlig egal, ob er geblitzt wurde oder nicht. Es gab ein weitaus schlimmeres Problem für ihn, dass seine komplette Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Er wusste nicht wohin!

 

Sie waren sicher bereits zwanzig Minuten auf der Flucht vor Olaf, der ihnen immer noch an der Stoßstange klebte, als Peter klar wurde wohin er unbewusst gefahren war. Das hier war Justins Wohngegend! Ob er wohl zuhause war? Würde Peter den Weg wirklich wiederfinden, nur weil er jetzt in die richtige Gegend zurück gefunden hatte?

 

In Peters Geist formte sich plötzlich das Bild eines Handys. Eilig durchsuchte er seine Taschen danach. Zu seinem Glück hatte er es in die Jackentasche gesteckt und musste nicht lange suchen. Das Gerät während der Autofahrt einzuschalten und den Pin einzugeben gestaltete sich da schon schwieriger, insbesondere da er sich auf der Flucht befand und viel zu schnell fuhr.

 

Endlich ging das Gerät an. Und das erste was Peter passierte war, dass er Whatsapp öffnete. Hier hatte Justin anscheinend einige Nachrichten geschickt, die sofort aufsprangen. Peter verfluchte innerlich sein Ungeschick und wollte gerade ins Telefonbuch wechseln, als das Gerät in seiner Hand klingelte. Nach einem kurzen Seitenblick erkannte er Justins Nummer. Sofort nahm er das Gespräch an, doch Justin ließ er nicht zu Wort kommen.

 

„HILFE, HILFE, er verflogt uns. Was soll ich tun, was soll ich tun, wenn er uns kriegt bringt der uns um!!! JUSTIN SCHEISSE HILF UNS!“

 

Am anderen Ende war es toten Still geworden. Peter hatte selbst die Hysterie in seiner Stimme bemerkt und versuchte sich zu sammeln. So konnte Justin ihnen sicher nicht helfen!

 

„Wer verfolgt euch, wo seit ihr und wer ist noch bei dir?“ Justin wirkte gefasst. Doch Peter glaubte einen Hauch von Nervosität in seiner Stimme wahrzunehmen.

 

„Hier ist ein großes blau/weißes Haus.“ Das war alles? Das war die tolle Auskunft, die Justin jetzt besser erklären sollte worum es ging? Peter hätte am liebsten seinen Kopf fest gegen das Lenkrad geschlagen, doch das wäre in der momentanen Situation sicher noch weniger hilfreich als seine seltsamen Informationen an Justin.

 

„Meinst du das Haus in meiner Wohngegend?“ „JA, HILF UNS, ER HAT UNS GLEICH!“

 

Na super, sobald Peter den Mund aufmachte kam nur Müll raus. „Hier ist ein grüner Gartenzaun.“ Super, es wurde immer besser mit seinen klaren Informationen. Peter seufzte frustriert. Wieso konnte er mit Justin nicht einmal normal sprechen?

 

„Himmel, wie schnell fahrt ihr denn? Nach dem Haus mit dem Steinzaun rechts und gleich links und dann bist du schon fast bei mir. Ich warte vor der Türe auf euch!“

 

Justin klang als würde er bereits rennen und Peter erkannte in letzter Sekunde was Justin mit Steinzaun gemeint hatte. Das war so ein neumodischer Zaun. Metallkästen, die mit Steinen gefüllt waren. Das schien momentan modern, doch Peter konnte dieser Optik nichts abgewinnen.

 

Eilig trat er auf die Bremse, dass die Reifen laut protestierend quietschend und riss das Lenkrad herum. Um dann sofort wieder gegenzulenken und in die kleine Seitenstraße nach links zu rasen. Peter durchzuckte kurzzeitig die Frage ob er morgen die Abriebe der Reifen auf der Straße sehen würde. Das wäre natürlich nur möglich, wenn er morgen noch lebte. Wenige Sekunden nachdem er nach links abgebogen war blieb aber keine Zeit mehr diesen dunklen Gedanken weiter zu folgen, denn er erkannte Justins Haus und das geöffnete Tor durch das er auf das Grundstück fahren konnte.

 

Er bremste wieder ab, dennoch war er eigentlich zu schnell, als er auf das Grundstück raste und nur wenige Zentimeter vor dem Garagentor zum stehen kam. Hinter sich hörte er Reifen quietschen. Eilig sprang er aus dem Wagen. Beim umdrehen sah er, dass Olaf vor dem Gartentor angehalten hatte und er erkannte, dass Justin direkt neben dem Tor stand. Er hatte ihn beim reinfahren überhaupt nicht wahrgenommen. Gott sei Dank hatte er ihn nicht überfahren!

 

Peter rannte zu Justin und warf sich dem völlig überfahrenen Mann an den Hals. Er schluchzte und zitterte und spürte nur am Rande, wie Justins Arme sich um ihn schlossen. Er fühlte sich geborgen und sicher und ließ alles raus.

 

Als er sich wieder beruhigt hatte wurde ihm klar was er hier gerade tat. Zu deutlich drang das Wissen, dass es Justins Hemd war, dass er hier mit Rotz und Tränen ruinierte in sein Bewusstsein und ließen ihn ihre erste direkte Begegnung in der Personalküche mit dem heißen Kaffee ebenfalls deutlich vor sich sehen. Das war bereits das zweite Designer Hemd, das er Justin ruinierte. Ob er die Kosten für diese Kleidungsstücke überhaupt tragen konnte? Oder übernahm die Haftpflichtversicherung solche Fälle? Plötzlich wurde Peter klar, dass er mit irren Gedanken immer noch an Justins Brust hing und sich nicht einen Millimeter von ihm gelöst hatte.

 

Eilig drückte er sich weg und sah verlegen auf den Boden, bevor ihm Olaf wieder einfiel. Entsetzt riss er seinen Kopf herum und schaute zur Straße. Doch da stand kein Wagen. Justin schnappte Peters Kinn und zwang ihn aufzusehen. Direkt in Justins unglaubliche Tiefen. Peter hätte beinahe alles vergessen, doch dann fiel ihm Johannis wieder ein.

 

„Himmel Johannis! Ich fürchte der braucht einen Arzt!“ Justins Gesichtszüge entgleisten. „Wer ist Johannis und wieso Arzt? Scheiße Peter, was ist hier los?“ Peter packte Justins Hand, der sich hinter ihm herziehen ließ. In seinem Wagen auf der Beifahrerseite lag Johannis. Peter wurde klar, dass er eigentlich die gesamte Fahrt nichts von Johannis gehört hatte. War er etwa direkt nach dem Einsteigen zusammengebrochen?

 

Er riss die Türe auf und rüttelte leicht an Johannis Schulter. Doch er erhielt keine Reaktion. Panisch rüttelte er weiter. Das Zeitgefühl ging ihm verloren, doch irgendwann wurde er von Justin weggezogen. Dann beugte dieser sich in den Wagen und als er sich wieder gerade hinstellte trug er Johannis auf seinen Armen. Dann trat er auf die offene Haustüre zu.

 

Peter saß auf dem Boden. Justin hatte ihn etwas zu fest zurückgezogen und er war über seine eigenen Füße gestolpert. Doch der Aufschlag hatte ihn wieder einigermaßen aus seiner Panik zurückgeholt. Er stand auf, griff über den Beifahrersitzt seinen Schlüssel aus dem Zündschloss, schloss den Wagen und dann das Tor, durch welches man aufs Grundstück fahren konnte, bevor er Justin ins Haus folgte. Erst nachdem er auch hier die Türe geschlossen hatte fühlte er sich wieder einigermaßen sicher.

 

Justin fand er im Wohnzimmer vor. Er telefonierte. Johannis lag auf der Couch und war mit einer Wolldecke zugedeckt. Woher hatte Justin jetzt bitte die Wolldecke? Als Peter hier gewesen war hatte er doch das ganze Haus nach einer Decke durchsucht!

 

Nachdem Justin aufgelegt hatte sah er Peter seltsam an. „Peter,…“ Doch Peter hob die Hand.

Er setzte sich und bedeutete Justin sich ebenfalls zu setzten. Als er saß begann Peter zu erzählen.

 

„Du hast mir ziemlich Angst gemacht, als du vor meiner Türe so einen Terror veranstaltet hast. Ich habe Olaf um Hilfe gebeten und er hat mich zu sich in die Wohnung eingeladen. Ich hab angenommen und die letzten Tage bei ihm gewohnt. Es kam mir verschiedenes seltsam vor. Er hat zum Beispiel viele abgetragene Schuhe im Flur stehen, viele Jacken unterschiedlichster Art und Farbe und nicht ein Bild hängt bei ihm in der Wohnung. Es ist alles eng und dreckig gewesen. Doch ich fühlte mich einigermaßen sicher. Bis ich heute Nacht durch Schreie aufgewacht bin. Es gab ein Zimmer, das war immer abgeschlossen und jetzt war es offen. Ich schaute durchs Schlüsselloch und sah wie Olaf Johannis auspeitschte. Er hatte ihn mit Ketten an ein Kreuz gebunden. Ein Anruf lenkte Olaf ab und er verabredete sich mit irgendwem. Als er auflegte sagte er zu Johannis, dass sie nur noch zwei Stunden zusammen hätten. Er meinte noch irgendetwas von Beweisfotos und das Johannis ruhig sein solle. Ich hab es nicht ertragen, diese grausamen Schmerzensschreie von Johannis waren zu viel…“

 

Peter stiegen bei der Erinnerung die Tränen in die Augen. Doch als er merkte, dass Justin aufstehen wollte bedeutete er ihm sitzen zu bleiben. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte er sich soweit unter Kontrolle, dass er weiter sprechen konnte.

 

„Ich habe einige Sekunden darüber nachgedacht einfach abzuhauen. Justin, ich hätte ihn da alleine gelassen, was bin ich nur für ein Mensch?“ Peter zitterte und spürte, dass ihn dieses Geständnis mehr Beherrschung gekostet hatte, als er dachte.

 

Er erschrak, als sich plötzlich zwei starke Arme um ihn schlossen und er an eine breite Brust gedrückt wurde. Erst Sekunden später erkannte er, dass er in Justins Armen lag. Wieso fühlte sich das nur so gut an? Und wieso war er überhaupt zu allererst hier her gekommen? Unterbewusst hatte er den Weg zu Justin gewählt, obwohl dieser ihm so übel mitgespielt hatte. Peter würde seine Stelle verlieren, weil Justin irgendwelche Gerüchte über ihn in die Welt gesetzt hatte! Wieso hasste er ihn nicht? Wieso fühlte er sich trotz allem in Justins Armen so wohl? Und wie kam es, dass er ausgerechnet in dieser beschissenen Situation entschied, dass er Justin seine Jungfräulichkeit schenken würde? Trotz allem was passiert war und was passieren würde, Justin sein erstes Mal gehören sollte?

 

„Aber du bist geblieben und hast ihn gerettet. Darum bist du ein guter Mensch. Ein viel besserer Mensch als alle die ich sonst kenne.“ Peter drückte sich näher an Justins Brust und schlang seine Arme um ihn. Er wünschte sich dieser Moment würde nie vergehen.

 

Doch Peter war ein richtiger Bürokrat, wenn es um begonnene Dinge ging, dann mussten diese auch beendet werden. Das galt natürlich auch für seine Erzählung der Geschehnisse. Also erhob er mit zitternder Stimme das Wort. „Ich hab auf Olafs Computer viele Dateien gefunden mit Männernamen und Foto- und Videodateien. Er hat das anscheinend schon oft gemacht und alles gefilmt! Ich habe die Daten auf meinen Laptop gezogen und Olafs Computer formatiert, damit die Daten weg sind. Ich glaube nicht, dass er sie noch wo anders abgespeichert hat, aber zur Sicherheit habe ich sämtliche USB Sticks und die Festplatte, wie auch alle Speicherkarten die ich gefunden habe eingesteckt. Und dann konnte ich gerade noch ins Schlafzimmer zurück, bevor er aus der Folterkamer kam. Ich hätte fast vergessen das Zimmer wieder abzuschließen, aber ich hab es geschafft. Und als ich gerade ins Bett gesprungen war und meinen Laptop versteckte kam Olaf rein. Er hat mich geküsst und ins Ohr geflüstert, dass ich am Wochenende Johannis Platz einnehmen würde und dass es schon komisch währe, dass ausgerechnet du mich in seine Arme getrieben hast. Mir war so schlecht aber ich hab durchgehalten und mich nicht bewegt. Immerhin hatte Olaf Johannis erzählt er hätte mir Schlafmittel gegeben also musste ich mich nur schlafend stellen. Und als er weg war hat er mich wieder eingeschlossen und die Folterkamer war auch abgesperrt und dann waren vier Schlösser an den Fesseln von Johannis und als dann auch noch die Wohnungstüre abgeschlossen war und ich den Schlüssel nicht gleich gefunden habe dacht ich es ist aus. Ich dachte Olaf bringt uns beide um wenn er zurück kommt. Und als wir dann aus der Tiefgarage raus gefahren sind und Olaf gerade rein wollte und dann und dann…“ Peter schluchzte tief und Justin zog ihn noch näher an sich.

 

So gerne Peter hier auch für immer geblieben wäre, ein Klingeln riss ihn regelrecht aus dieser Stimmung. Er setzte sich wieder aufrecht, wodurch er Justins Arme unbewusst abschüttelte und versuchte sich zu beruhigen.

 

Justin ging zur Türe und kam mit einigen Sanitätern und Polizisten wieder.

 

Peter erinnerte sich zu seinem Leidwesen sehr genau an alles. Die Sanitäter kümmerten sich um Johannis und er musste mit aufs Revier. Nach einem hilfesuchenden Blick zu Justin begleitete dieser ihn um die ganze Geschichte in allen Einzelheiten wieder und wieder von Peter erzählt zu bekommen, während der drei verschiedenen Polizisten immer wieder das Gleiche erzählen musste. Peter wurde informiert, dass Johannis wohl nur dehydriert und schwach war, aber schon bald wieder völlig auf den Beinen sein würde. Die Daten von seinem Laptop musste er der Polizei zur Verfügung stellen wie auch sämtliche gefundenen Datenträger. Olafs Wohnung wurde noch in dieser Nacht gestürmt und wie Peter am Rande mitbekam hatte man anscheinend noch einige Beweisfotos in ausgedruckter Form gefunden. Wenn Peter den Polizisten recht belauscht hatte, dann waren in jeder Jacke Fotos versteckt gewesen von unterschiedlichen Männern, die in der Folterkammer am Kreuz hingen.

 

Justin merkte an, dass Olaf ziemlich sicher gar nicht in der Wohnung sein würde, weil er verheiratet wäre und mit der Frau in einem Haus in Justins Nähe wohnte. Peter fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Olaf hatte ihn sogar in dem Punkt, den er eigentlich hätte besser wissen müssen, erfolgreich belogen!

 

Müde war er nach mehreren Stunden aus der Polizeistation getaumelt, Justin musste ihn beinahe tragen. Im Auto war er bereits fest eingeschlafen und erst am nächsten Morgen in Justins breitem Bett und seinen wohlig warmen und sicheren Armen wieder aufgewacht. Dieses Mal lagen seine Kleider fein säuberlich zusammengelegt auf einem Stuhl unweit des Bettes und er hatte seine normalen Boxershorts an und nicht diesen Hauch von Nichts, der sich Männerunterhose nannte!

 

Die Decke war verrutscht, so dass eines seines Beine und einer seiner Arme nicht zugedeckt waren. Er hatte bereits Gänsehaut und begann zu frieren. Unüberlegt drehte er sich in Justins Armen um, so dass er jetzt auf diese unglaubliche Brust schauen konnte und drückte seine kalten Gelenke an Justin. Dieser gab einen verärgerten Grunzer von sich. Peter erschrak, weil ihm erst in dieser Sekunde klar wurde, was er da gerade getan hatte und wollte schnell von Justin wegrutschen. Doch dieser verstärkte seinen Griff, so dass Peter noch näher an ihn gedrückt wurde.

 

„Morgen.“ Hörte er Justin nuscheln und Peter blieb beinahe das Herz stehen, als er die raue verschlafene Stimme von Justin so nah an seinem Ohr hörte. Sie summte durch seinen gesamte Körper und sammelte sich in seiner Körpermitte, wo sich ein beachtliches Zelt in der Boxer aufrichtete. Peinlich berührt versuchte er den Unterkörper etwas von Justin weg zu bekommen, doch dieser schien das genaue Gegenteil zu wollen, so dass plötzlich Justins Bein zwischen Peters lag und druck auf seinen Vorwitzigen Freund im Zelt ausübte. Ein leises Stöhnen entkam ihm bevor er die Lippen fest zusammenbeißen konte und Justin begann sachte das Bein zu bewegen.

 

„Na da ist wohl noch jemand wach.“ Peter konnte das Grinsen in Justins Gesicht geradezu hören, doch diese unglaubliche vom Schlaf noch rauchige Stimme und die Bewegungen von Justins Bein ließen ihn das hier und jetzt vergessen und abheben.

 

Keuchend kam er kurze Zeit später wieder zu sich und mit dem zu sich kommen kam die Pein. Er war gerade nur durch leichte Berührungen von Justins Bein nach wenigen Sekunden zum Höhepunkt gekommen. Sein Gesicht könnte nicht mehr roter werden! Peter wünschte sich vor Pein zu sterben!

 

„Hey, du wirst jetzt nicht peinlich berührt sein, verstanden!“ Justins Stimme klang nicht mehr so rauchig, doch sie ließ Peters Magen immer noch vibrieren, wie es eben nur Justins Stimme vermochte.

 

Peter nahm seinen gesamten Mut zusammen um Justin seinen gestern gefassten Entschluss mitzuteilen. Er nahm den Kopf ins Genick, um zu Justin aufsehen zu können und sprudelte dann einfach los. „Auch wenn ich wegen dir und deinen blöden Gerüchten den Job verliere, du bekommst mein erstes Mal. Dann kannst du dich wieder anderen Objekten widmen und ich kann das Thema Traummann endlich beenden.“

 

OK, ganz so viel hatte er dann doch nicht sagen wollen. Wo war denn jetzt bitte das Wort Traummann hergekommen?

 

Peter war verwirrt, doch ein kurzer Blick zu Justin zeigte ihm, dass dieser genauso verwirrt schien. Peter glaubte es sich nur einzubilden, aber irgendwie wirkte Justin so, als wisse er nicht, ob er sich über Peters Aussage freuen oder ärgern sollte.

 

„Peter, ich weiß, dass du ein echt gerissenes Kerlchen und ziemlich schlau bist aber jetzt gerade bist du strunz doof.“ Peter sah Justin beleidigt an. Er wusste, dass er eine Schnute zog, konnte es aber nicht abstellen. Justin wiederum benötigte einige Sekunden, ehe er in schallendes Gelächter ausbrauch.

 

Peter war klar, wie lustig er als erwachsener Mensch mit dieser eingeschnappten Schnute aussah. Seine Geschwister und Eltern hatten ihn sogar schon fotografiert, damit er endlich verstand, wieso sie immer so herzhaft loslachten, wenn er die Schnute zog. Aber momentan war kein Verständnis für Justins Reaktion in Peter vorhanden. Er fühlte sich blamiert und bloßgestellt und das wiederrum erweckte die für ihn nur allzu bekannte Wut. Die Wut, die ihn bisher bei Justin immer in Situationen gebracht hatte, in denen er sich völlig lächerlich gemacht hatte.

 

Doch wie fast jedes Mal zuvor konnte er sie nicht zurückdrängen. Sie übermannte ihn förmlich und ließ ihn wieder einmal den Mund öffnen ohne über die folgenden Worte nachzudenken. „Hör gefälligst auf hier rumzukreischen du dämlicher Neandertaler! Nur weil ich so doof war dir vor über drei Jahren in diese wundervollen blauen Augen zu schauen und seit dem nur schwer aufhören kann zu sabbern wenn ich dich sehe heißt das noch lange nicht, dass du dich hier so aufführen darfst! Tja, hübsche Optik aber scheiß Charakter passt bei dir eben wie die Faust aufs Auge! Ich hoffe wenn wir endlich im Bett waren hören diese grausamen Schwärmereien endlich auf in denen du der erste und einzige für mich bist!“

 

OK, das war mehr als ein Schuss in den Offen gewesen. Peter lief knall rot an und Justin schien sich an seinem Lachen verschluckt zu haben. Er sah aus wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerfer. Das war eigentlich richtig niedlich und erinnerte Peter daran, wieso er sich in diesen Riesen verliebt hatte.

 

„Hör auf zu schauen wie ein verschrecktes Reh. Ist ja nicht dein Problem, dass ich mich nur in die Optik verliebe ohne den Charakter zu kennen. Aber es war einfach süß, wie du Sandra damals durchs Büro getragen hast, weil sie gestürzt ist und der Knöchel angebrochen war. Du hast sie sogar ins Krankenhaus gefahren. Oder wie du damals dem Kunden geholfen hast obwohl er den Fehler mit der Menge gemacht hat. Du hast so viele Überstunden gemacht nur um die Menge auf einem anderen Markt zu besseren Preisen verkaufen zu können. Und niemand hat es bemerkt. Es ist einfach nur entzückend wie du rot wirst wenn Mischa dich mit irgendwelchen alten Geschichten aufzieht und wie du immer versuchst das zu verstecken indem du konzentriert in deinen Monitor starrst. Es war lieb, dass du damals an Elkes Geburtstag den Kuchen kurzfristig organisiert hast, weil kein anderer daran gedacht hat und es ist echt toll von dir, dass du immer als erster in die Küche gehst um für alle Kaffee zu kochen, obwohl das wohl außer mir niemand weiß.“

 

Peter wurde plötzlich aufs Bett gezogen und fand sich wenige Sekunden später unter Justin liegend wieder. Sein Blick hatte etwas Seltsames. Schimmerten seine Augen etwa feucht?

 

„Du beobachtest mich also schon seit über drei Jahren? Wieso habe ich dich erst in der Küche bemerkt, als dein Kaffee mich fast verbrüht hat? Du bist der absolut süßeste Kerl den ich kenne.“ Peter merkte wie er rot anlief. „Und auf eines kannst du wetten, seit ich dich kenne will ich dir an die Wäsche. Aber seit wir zusammen im Lobello waren will ich auch der einzige sein der das jemals darf!“

 

Peter benötigte einige Augenblicke um zu verstehen was Justin da erzählte. Doch als er die Bedeutung erfasst hatte begann er nervös zu stammeln „ Aber … ich … du … Arbeitskollegen nicht … Wieso?... Was?...“

 

Justin grinste leicht. „Ja, nachdem Olaf mich damals so dermaßen verarscht hatte habe ich mir geschworen nie wieder etwas mit Arbeitskollegen anzufangen. Aber damals war ich strunz doof, ich meine, was können wir schon gegen unsere Gefühle tun?

Weißt du als ich in der Firma anfing hatte ich schon am zweiten Arbeitstag einen Streit mit Mischa. Wir sprachen nicht mehr miteinander. Olaf nutzte das aus und begann sich an mich ranzumachen. Er ist echt geschickt in sowas. Er hat mir das Gefühl gegeben mit Mischa kommt alles wieder in Ordnung, obwohl Mischa ja am Streit schuld wäre. Olaf brachte mich dazu auf Mischas Entschuldigung zu warten, lenkte mich aber immer wieder ab, wenn Mischa mit mir sprechen wollte. Wir freundeten uns auch privat an und irgendwann landeten wir dann in seinem Bett. Ja, ich habe die Wohnung ebenfalls klein und dreckig in Erinnerung. Es gab auch einen Raum am Ende des Gangs der immer verschlossen war. Ich habe Olaf mehrere Male besucht. Aber er hatte ja immer nur so selten Zeit. Das machte mich auf Dauer fertig und der einzige mit dem ich über solche Dinge sprechen konnte war Mischa.

Ich war immer noch wütend, denn ich hatte in dem Monat einen riesen Kunden an Land gezogen und war wirklich stolz darauf. Aber Mischa hatte kein Wort des Lobes für mich übrig gehabt. An einem Abend, an dem Olaf mal wieder auf „Geschäftsreise“ war habe ich mich volllaufen lassen und endete vor Mischas Türe. Ich habe ihm vorgeworfen was für ein Arsch er wäre, weil er kein einziges Wort des Lobes für mich übrig gehabt hätte und Mischa wirkte echt wie vor den Kopf gestoßen. Er nahm mich mit rein und legte mich ins Gästezimmer. Als ich am nächsten Morgen wieder einigermaßen nüchtern war sprachen wir uns aus. Olaf hatte Mischa anscheinend mehrmals angesprochen, weil er sich angeblich Sorgen um mich mache. Er hatte Mischa eingeredet, ich bräuchte momentan Abstand. Noch dazu hatte Olaf in der Firma dafür gesorgt, dass alle glaubten er hätte den Kunden von mir an Land gezogen und dann nur zur weiteren Betreuung an mich übergeben. Mischa war völlig entsetzt, das es sich hier um meinen Kunden handelte.

 

Wir haben aber am nächsten Montag in der Firma schnell herausgefunden wie Olaf das geschafft hat. Er hatte meinen Welcome Ordner manipuliert. In unserer Firma ist es so, wir schreiben unter alle Unterlangen immer unser Kürzel und speichern sie in PDF-Form auf einem allgemeinen Laufwerk in einem dafür individuell angelegten Ordner. Natürlich nicht alle Unterlagen, aber alle relevanten Unterlagen, die unserer Arbeit dokumentieren. Olaf hatte meinen Welcome Ordner aber so manipuliert, dass drin stand, ich müsse ihm, als dem älteren und weisungsbefugten Kollegen, alle Unterlagen schicken. Und er hat sie dann mit seinem Kürzel hochgeladen. Mein Ordner war leer und so sah es so aus, als hätte ich in dem Monat noch überhaupt nichts geschafft.

 

Natürlich sind wir los und haben uns beschwert und ich habe den Ordner sogar mitgenommen. Doch Olaf schaffte es alles so zu drehen, dass ich in ihn verliebt währe und es nicht akzeptieren wollte, dass er glücklich mit einer Frau verheiratet war, die nebenbei die Tochter unseres geschäftsführenden Gesellschafters ist.

 

Tja, lange Rede kurzer Sinn. Er schaffte es als der Gute da zu stehen, der sich dann sogar für mich einsetzte, weil die Jugend und ihre Gefühle doch berücksichtigt werden müssten. Ich war völlig fertig. Nicht nur, dass er mit meinen Gefühlen gespielt hatte, dass kannte ich schon aus früheren Beziehungen, nein er hat es sogar geschafft auf Grund meiner Arbeit in seine jetzige Position zu kommen. Das war ziemlich hart.

 

Und um es endlich mal auf den Punkt zu bringen, ich habe keine Gerüchte über dich in die Welt gesetzt! Mensch Peter, du bist doch sonst so schlau also wieso stellst du dich bei dem Punkt so dumm an? Selbst wenn ich nach unserem Zusammenstoß damit angefangen hätte über dich herzuziehen, so schnell greifen Gerüchte doch nicht die gefestigte Stelle in einem Unternehmen an! Peter, Olaf erzählt schon seit du in der Firma bist was für ein Klotz am Bein du doch wärst aber das er so Mitleid wegen deiner kranken Eltern hätte.

 

Und nur mal am Rand, ich habe deinen Ordner auf dem allgemeinen Laufwerk geprüft, es steht nicht eine einzige hochgeladene Datei darin. Ich wette jetzt mal Olaf hat deinen Welcome Ordner ähnlich manipuliert wie meinen, nicht? Als du neulich mit dem Kunden gesprochen hast ist es mir erst richtig klar geworden, vorher hatte ich echt den Gerüchten geglaubt, obwohl ich wusste, dass sie von Olaf kommen. Aber du hast so souverän mit dem Herrn gesprochen und man merkte sofort, dass ihr bereits länger geschäftlichen Kontakt pflegt. Tja und dann hast du den Namen gesagt. Herr Profits. Hast du eigentlich eine Ahnung wie oft ich versucht habe bei ihm als Verkäufer zu punkten? Er hat mich am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Als dann plötzlich Olaf den Kunden herbrachte und wirklich Margen mit ihm machte dachte ich echt ich müsste vor Scham und Wut sterben. Und dann sitzt da plötzlich Olafs angeblich völlig unfähige Tippse und erklärt dem absolut schwierigsten Kunden den ich kenne, dass seine Anfrage unnötig ist, weil die angefragten Medien in die falsche Zielgruppe gesendet würden. Und der Kunde schreit nicht rum und besteht auf seiner Meinung sonder lenkt ein und fängst sogar ein leicht privat anmutendes Gespräch mit einigen Lachern an. Ich war völlig vor den Kopf gestoßen und musste das erst einmal verdauen. Doch dann ist es mir endlich klar geworden und seitdem versuche ich die andere davon zu überzeugen, dass du eigentlich die ganze Arbeit machst. Aber die Gerüchte sind so tief verwurzelt, dass keiner außer Mischa und Sandra mir wirklich zuhört. Und jetzt geht es plötzlich nicht mehr darum ob man mir oder Olaf glaubt, jetzt verlangt der Geschäftsführer das Olaf Kosten spart und der hat dich eiskalt ans Messer geliefert.

Peter, du wirst gefeuert weil Olaf es vorgeschlagen hat!“

 

Betäubt, ja das traf es am besten. Peter lag betäubt unter Justin. Er spürte wie ihm Tränen der Wut über die Wangen liefen und er spürte wie er zitterte. Justin nahm ihn in den Arm und versuchte ihn zu trösten. Doch es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Peter sich wieder unter Kontrolle hatte. Heiße Wut löste die vorherige Verzweiflung ab.

 

Er würde Olaf zu Fall bringen! Und das jetzt gleich! Er schubste Justin leicht von sich und sprang ins Bad. Nach dem Duschen stellte er fest, dass Zahnbürste und Ersatzkleider noch in seinem Koffer im Auto waren. Mit einem riesen Handtuch umwickelt wagte er sich also todesmutig zurück ins Schlafzimmer.

 

Justin saß derweil bereits angezogen auf seinem Bett und blickte zu Peter auf. Ein Blitzen trat augenblicklich in seine Augen und Peter fühlte sich tatsächlich begehrt. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er trat zu seiner Hose und entnahm ihr die Autoschlüssel. Dann räusperte er sich vernehmlich um sicher zu sein, dass seine Stimme ihm auch gehorchen würde. „Kannst du mir bitte meinen Rucksack und meinen Trolly aus dem Auto holen? Ich will mich fürs Büro fertigmachen.“

 

Justin sah ihn etwas irritiert an. Dann stand er auf, nahm den Schlüssel an sich und Peter dachte, dass er jetzt gehen würde. Doch Justin packte Peter im Nacken und zog ihn zu einem Kuss heran. Peter war erst zu überrascht, um irgendwie zu reagieren. Doch nach einiger Zeit imitierte er Justins Lippenbewegungen einfach. Als dann Justins Zunge über seine Lippen glitt entkam Peter ein lautloses Stöhnen. Justin nutzte die geöffneten Lippen sofort um mit seiner Zunge in Peters Mund einzudringen.

 

Das war Peter erster Zungenkuss und er konnte nicht anders als sich in diesen einfach hineinfallen zu lassen. Immerhin war es Justin, sein Justin, der ihn hier so leidenschaftlich küsste. Nach einer süßen Ewigkeit trennte Justin sich von Peter und sah ihm tief in die Augen.

 

Doch der Augenblick verging viel zu schnell und Justin verließ beinahe fluchtartig das Zimmer und ließ Peter mit wieder harter Körpermitte zurück. Er seufzte lautlos und verlor sich für wenige Sekunden im Genuss den er eben erlebt hatte, doch schon kam Justin mit Peters Gepäck wieder zurück und Peter versuchte sich zu sammeln. Entgegen seiner Gewohnheit leerte er alles auf Justins Bett und griff dann nach seiner Zahnbürste. Die Mundreinigung ging vor! Als der Gedanke, dass er eben mit ungeputzten Zähnen Justin geküsst hatte ihn beinahe mit der Wucht einer Abrissbirne traf rannte er beinahe gegen die Türe. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wie viele Fehler konnte ein Mensch alleine im Umgang mit seinem Traummann eigentlich machen? Peter müsste sie doch langsam alle samt aufgebraucht haben, oder stellte er gerade neue Rekorde auf?

 

Nach einer halben Stunde erreichte er angezogen das Wohnzimmer in dem Justin saß und mit einer Tasse Kaffee vor sich die Freitagszeitung las. Er räusperte sich leise und Justin schlug die Zeitung zu. Dann erhob er sich, schritt an Peter vorbei in die Küche und kam mit einer frischen Tasse Kaffee zurück. Peter nahm die Tasse an und sah dann in Justins Gesicht. „Danke.“ Hauchte er leise, bevor er begann den köstlichsten Kaffee, den er jemals getrunken hatte zu genießen.

 

Es war bereits fast vierzehn Uhr und Peter sollte langsam los, doch er hatte plötzlich eine panische Angst davor Olaf in der Firma anzutreffen. Justin schlüpfte neben ihm in seine Schuhe und seine Jacke und reichte Peter dann seinen Mantel. Dieser sah Justin irritiert an.

 

„Du glaubst nicht ehrlich, dass ich dich alleine dahin fahren lassen oder? Zum einen zitterst du wie Espenlaub und stehst sicher noch teilweise unter Schock, ein Fahrzeug zu führen halte ich in deinem momentanen Zustand für zu gefährlich. Und zum anderen, sollte Olaf noch nicht verhaftet sein, oder, was auch möglich ist, sollte die Familie des geschäftsführenden Gesellschafters Druck gemacht haben und Olaf auf Kaution raus geholt, dann will ich auf keinen Fall, dass du ihm alleine begegnest!“

 

Damit schien für Justin alles geklärt. Er nahm Peters Hand und zog ihn hinter sich her. Als er in Justins Auto saß viel ihm plötzlich ein, dass sein Wagen vor der Garage stand. So könnte Justin gar nicht raus fahren! Doch noch ehe er etwas sagen konnte öffnete Justin das Garagentor und fuhr los. Peter schloss entsetzt die Augen und erwartete den Aufprall. Doch nichts passierte. Als er die Augen wieder öffnete verließen sie gerade das Grundstück und Peter konnte seinen Wagen sehe. Justin musste ihn umgeparkt haben, denn er stand jetzt seitlich neben der Garage. Wann hatte er das gemacht?

 

Justin schien seine Gedanken lesen zu können, denn er antwortete auf die unausgesprochene Frage. „Wir sind gestern mit deinem Wagen zur Polizei gefahren. Ich habe ihn zwar gesteuert aber ich hätte nicht gedacht, dass du so sehr unter Schock stehst, dass du das nicht mehr weist.“

 

Peter atmete einige Male tief durch. Er konnte sich aber einfach nicht daran erinnern. Eigentlich erinnerte er sich kaum an die Fahrt zur Polizei oder von der Polizei weg. Aber er hätte gewettet, dass sie in Justins Wagen gefahren waren! Wie sehr hatte der Schock seine Wahrnehmung eigentlich verändert oder eingeschränkt?

 

Viel zu schnell erreichten sie die Firma und zu Peters grenzenlosem Entsetzen stand Olafs Wagen auf seinem Parkplatz. Er war also da. Von Justin ließ sich ein dunkles Grollen vernehmen. Doch er fuhr den Wagen geradewegs hinter Olafs Auto. So konnte Olaf nicht mehr weg fahren. Peter sah Justin irritiert an. Doch dieser grinste nur diabolisch und stieg dann aus ohne Peter anzusehen. Als er Peter die Beifahrertüre öffnete war von dem vorherigen Grinsen nichts mehr auf Justins Gesicht auszumachen. Er streckte Peter die Hand hin, die er auch gerne ergriff um sich aus dem Auto helfen zu lassen.

 

Mit weichen Beinen betrat Peter Minuten später das Büro des obersten Gesellschafters. Dieser blickte überrascht auf, weil Peter sich nicht angemeldet hatte. Doch sein Gesicht verschloss sich sofort wieder. „Herr Schreibert. Reichen die von ihnen gegen meinen Schwiegersohn bisher geäußerten Verunglimpfungen noch nicht? Möchten Sie jetzt hier noch mehr Unfrieden stiften?“

 

Peter hatte damit gerechnet nicht freundlich begrüßt zu werden. Dennoch traf es ihn solchen haltlosen und ungerechten Unterstellungen ausgesetzt zu sein. Er schluckte hart ehe er überraschend selbstsicher äußerte „Ich wollte nur beweisen, dass ich für sämtliche Kundenaquiesen und Projekte der letzten sieben Jahre verantwortlich bin, die laut Olaf er getätigt hat. Aber wenn sie nicht den Mut haben sich den Tatsachen zu stellen, dann glauben Sie ruhig weiterhin an die Unschuld dieser widerwärtigen Person. Was Sie Ihrer Tochter und Ihren Enkelkindern damit auf lange Sicht antun möchte ich nicht als Last auf meinen Schultern tragen müssen.“

 

Er erntete einen verstörten Blick seines Gegenübers, bevor dieser sich nach wenigen Sekunden wieder unter Kontrolle hatte. „Wie eine völlig unfähige Tippse wirken Sie tatsächlich nicht, aber wie wollen Sie hier irgendetwas beweisen? Ihr Ordner ist leer und wurde in den letzten Jahren auch nie von ihnen angeklickt.“

 

„Nun, es gibt nicht nur die digitale Ablage. Wenn Sie den Beweis sehen möchten, dann folgen Sie mir bitte.“ Peter drehte sich ohne einen weiteren Blick auf den völlig überfahrenen Mann vor sich um und sah in Justins ebenfalls völlig überfahrenen Blick. Er nahm Justins Hand und zog ihn hinter sich her aus dem Raum. Augenblicke später hörte er den Bürostuhl, er wurde zurückgeschoben und dann waren rasche Schritte zu vernehmen, die ihnen in Richtung Aufzug folgten.

 

Peter war dankbar dafür, dass der Fahrstuhl noch im Stockwerk war und sie nur eine Etage nach oben fahren mussten, um aus dem Büro des Geschäftsführers auf die Ebene für Verkauf und Finazbuchhaltung zu kommen. Die Stille in der Aufzugkabine war drückender als alles was er jemals zuvor erlebt hatte.

Er verließ hoch erhobenen Hauptes den Aufzug als sich die Türen endlich öffneten und schritt durch das Büro. Er erkannte Olaf in seinem Büro sitzend und sah wie er erst überrascht und dann schadenfroh zu Peter aufsah. Doch Peter schritt einfach weiter, was Olaf dazu veranlasste aufzuspringen und Peter zu folgen. Doch noch ehe er auch nur ein Wort an ihn richten konnte stand Justin bereits neben Peter und blickte Olaf mit vor Wut funkelnden Augen an.

 

Sie erreichten das kleine Archiv und Peter drehte sich vor der Türe zu Justin um. „Könntest du bitte dafür sorgen, dass Olaf hier nicht rein kommt?“ Justin nickte lediglich und öffnete dann die Türe, bevor er sich Olaf in den Weg stellte. Der Gesellschafter folgte Peter in den Raum, bevor sie die Türe hinter sich schlossen.

 

Es dauerte gut eine Stunde. Der Gesellschafter sah ungläubig sämtliche Ordner durch, alle Dokumente und auch die händischen Vermerke. Als sie den Raum verließen schloss der Gesellschafter mit einem Generalschlüssel hinter sich ab. Drei Ordner hatte er gleich komplett mitgenommen. Olaf und Justin standen zu Peters Verwunderung immer noch vor der Türe. Sie schienen zu streiten.

 

Peter legte Justin die Hand auf den Arm. Erst jetzt schien dieser zu bemerken, dass Peter wieder neben ihm stand. Dann schritt er an den beiden vorbei zu seinem PC. Er startete das Gerät, während der Gesellschafter schweigend neben ihm stand, nachdem er die Ordner vor sich auf Peters Schreibtisch abgelegt hatte.

Während der Rechner hoch fuhr holte Peter seinen Welcome Ordner und reichte ihn ebenfalls an den Gesellschafter der ihn stumm und mit steinerner Miene durchblätterte und dann ungläubig auf der Seite hängen blieb, auf der stand, dass alle Dokumente die Kennzeichnung des Abteilungsleiters tragen mussten. Peter erinnerte sich daran, dass das hier für den Gesellschafter wie ein Déjà-vu sein musste.

 

Als der Rechner gestartete war öffnete Peter den Pfad zu seinem privaten Ordner in denen auch die E-Mails, die er zum Abschluss als Zusammenfassung für jedes Projekt an Olaf geschickt hatte abgelegt waren und ließ dann den Gesellschafter Platz nehmen. Dieser klickte sich gut eine halbe Stunde durch sämtliche Datensätze, die E-Mails mit den Produktpräsentationen und allen anderen wichtigen Eckdaten schienen hier für ihn von besonderem Interensse. Seine Mimik verriet wie seine Lauen sekündlich noch weiter sank. Peter hätte wieder an den Fingernägeln gekaut, wenn Justin nicht immer wieder seine Hände herab gedrückt hätte so nervös war er. Er sendete ein stummes Dankgebet aus als der Gesellschafter sich endlich von Peters Bürostuhl erhob. Der Gesellschafter schnappte die Ordner die er zuvor auf den Schreibtisch gelegt hatte und rannte beinahe aus dem Büro. Als er die Türe erreicht hatte schrie er so laut, dass alle Mitarbeiter zusammenzuckten „OLAF!!!“ Der angesprochene zuckte wohl am heftigsten zusammen. Doch er folgte sofort wortlos.

 

Peter überlegte was er jetzt tun sollte. Justin nahm ihm die Entscheidung ab, indem er Peters PC sperrte und ihn hinter sich her in die Küche zog. Sie tranken einen Kaffee, der bei weitem nicht an Justins Kaffee heran kam. Doch es half Peter wieder etwas Erdung zu finden. Das Gespräch und die Diskussionen wie man laut dem Geschäftsführer so dämlich sein könnte auf derartige Spielchen von Olaf hereinzufallen hatte Peter direkt zurück gegeben, das hatte ihm sicher keine Pluspunkte eingebracht und das wo seine Stelle doch sowieso schon so gut wie wegrationalisiert war! Oder war genau das der Grund, dass Peter überhaupt so mutig hatte auftreten können, nur weil er sowieso nichts mehr zu verlieren hatte?

 

Peter wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich ein ziemliches Gewicht um den Hals spürte. Irritiert sah er zu Justin, der wiederum grinsend versuchte mit der Hand auf dem Mund ein lautes Lachen zu unterdrücken. Dass es ihm nicht gelang war klar, doch Peter hatte gerade andere Sorgen. Er musste erfahren was für ein Geswicht ihn versuchte zu Fall zu bringen und sah darum an sich herunter. Er blickte dadurch direkt in Sandras Gesicht, die ihn verheult anschaute.

 

„Oh Peter, zum Glück bist du wieder da ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Sorgen um ihn? Und wieso weinte Sandra denn? „Warum?“

 

Jetzt blickte Sandra ihn völlig überfahren an, bevor sie anfing zu meckern. „WARUM? Na weil der Herr einfach seit Anfang dieser Woche unentschuldigt fehlt und sein Handy ständig aus ist! Ich dachte es wäre wer weiß was passiert!“

 

Das tatsächlich etwas passiert war wollte er der verheulten Sandra jetzt nicht so direkt an den Kopf werfen, doch langsam wurde ihm das doch etwas unwohl. Besonders seit er Elke in der Türe entdeckt hatte, die ihn mit einem Blick durchbohrte, der sicher jedes Ungeheuer direkt zurück in die Unterwelt getrieben hätte.

 

Peter schluckte laut und sah dann Justin hilfesuchend an. Doch der war noch damit beschäftigt sich wieder zu beruhigen und Peter stand hier mit der heulenden und meckernden Sandra am Hals. Bedächtig schob er sie ein Stück von sich. Sie löste sich wiederwillig. Er griff in seine Tasche und fand zu seinem Glück eine Packung Papiertaschentücher, die er ihr reichte. Sie nahm die Packung Taschentücher scheu lächelnd an, bevor sie sich eines heraus nahm und Peter die Packung anschließend zurückgeben wollte. Doch Peter ging in dieser Zeit zu Justin und boxte ihm gegen den Arm. Das brachte ihn aber leider nicht dazu aufzuhören zu lachen.

 

Peter spürte die altbekannte Wut in sich aufsteigen. Doch noch ehe er auch nur versuchen konnte sie niederzudrücken hatte er bereits Justins Nacken geschnappt und riss den überrumpelten Hünen zu einem leidenschaftlichen Kuss zu sich hinab. Ja, das Küssen hatte er anscheinend sehr schnell gelernt, denn Justin seufzte leise in den Kus hinein. Als er sich wieder löste war Justin das Lachen anscheinend gründlich vergangen. Er sah ihn einfach nur total überfahren an.

 

„Und was lachen wir hier bitte so herzhaft? Ich finde es nicht lustig Elke derart eifersüchtig zu machen!“ Jetzt entglitten Justin die Gesichtszüge. „Wieso denn Elke eifersüchtig machen? Die kann dich echt nicht leiden, glaub mir ich weiß das ziemlich genau.“ „Natürlich, ich könnte auch niemanden leiden in den du verliebt wärst!“ „Peter ich fürchte ich kann dir nicht folgen!“

 

Dieser völlig verwirrte Ausdruck war einfach zu süß. Peter grinste Justin breite an. „Na weil Elke in Sandra verliebt ist. Und bisher wusste hier niemand das ich an Frauen nicht interessiert bin und Sandra darum zwar als gute Freundin sehe aber eben nicht als mehr.“ Ein überrascht klingendes Schnaufen brachte Peter wieder in die Realität zurück.

 

Entsetzt biss er sich auf die Lippen. Zu seinem Glück stand er so, dass nur Justin ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. Die anderen beiden Damen konnten nur Peters Rückfront bewundern. Justin wiederrum sah ihn derart ungläubig an, dass Peter trotz der peinlichen Situation fast laut losgelacht hätte. Doch das übernahm Justin wenige Augenblicke später für Peter. Anscheinend hatte ihn Peters Mimik wieder in einen Lachanfall gejagt.

 

Er zog Peter näher zu sich und drückte ihm immer noch lachend einen Kuss auf den Kopf. „Zu meinem Glück hast du an Frauen kein Interesse. So konnte ich dich immerhin erobern. Ich hoffe dir ist klar, dass du mich jetzt nie mehr los wirst.“

 

Mit den letzten Worten hatte Justin Peter etwas von sich gedrückt, sein Kinn gegriffen und ihn für einen zarten Kuss auf die Lippen an ihn herangezogen.

 

Der Rest des Tages verging trotz mehrerer Unannehmlichkeiten recht schnell. Sandra und Elke lagen beide beinahe vor Lachen am Boden, nachdem Peter gestanden hatte, woher er über Elkes und Sandras Gefühle bescheid wusste. Wobei sich Peter nicht ganz sicher war ob die Erzählung an sich oder Justins völlig unnötige Frage ob er daher wisse wie benutzte Damentampons aussahen und rochen, zum Lachkrampf der beiden Kolleginnen geführt hatte.

Ob diese Geschichte jetzt das komplette Büro erfahren würde?

 

Doch Peter war es eigentlich egal, immerhin war er felsenfest davon überzeugt nicht mehr lange für diese Firma tätig sein zu dürfen.

Nachdem Elke sich wieder etwas beruhigt hatte erklärte sie, dass es vor wenige Minuten eine E-Mail an die komplette Firmenbelegschaft gab. Olaf war gefeuert worden und der Zugang zum Gebäude wurde ihm verboten. Jeder der Olaf je wieder im Gebäude sehen würde musste das sofort melden und ihn, wenn möglich festhalten und wieder rausschmeißen.

 

Peter wurde kurze Zeit später von Mischa gesucht und aufgeklärt, dass der Geschäftsführer ihn sprechen wollte. Das Gespräch war für Peter eine Tortur. Doch er konnte nicht mehr voller Respekt mit dem Geschäftsführer sprechen sondern tat seine Meinung zu seinem Leidwesen teilweise zu direkt kund. Er teilte ihm mit, dass er nicht einfach abwesend gewesen war, sondern bei Olaf mündlich um Urlaub gebeten hatte, auch für den Donnerstag und den Freitag. Wie es schien hatte Olaf es so gedreht, als hätte Peter unentschuldigt gefehlt und das nicht das erste Mal. Als sie auf Peters Urlaubsanspruch zu sprechen kamen wurde er herb überrascht, als der Geschäftsführer von vier und nicht von sieben Wochen sprach. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Doch zu seinem Glück war Peter ein solcher Pedant, dass er seinen Arbeitsvertrag eingescannt und auf seinem privaten Laufwerk abgelegt hatte. Zur maßlosen Überraschung aller lag in der Personalabteilung ein völlig anderer Arbeitsvertrag vor. Die Berufsbezeichnung war Hilfskraft und nicht Leitung Assistenz, der Urlaubsanspruch stimmte nicht und die Kündigungsfristen waren tatsächlich auch verändert worden. Alle Anwesenden schienen geschockt über die gesetzeswidrigen Machenschaften von Olaf. Niemand hatte geglaubt, dass Olaf derart dreißt war und vor allem, schien er überhaupt keine Angst davor gehabt zu haben, dass seine gesetzeswiedrigen Machenschaften auffliegen könnten.

 

Nach dem Gespräch hatte er plötzlich Olafs stelle, seinen Parkplatz und wenn er das richtig verstanden hatte auch Olafs Gehalt. Und sein Urlaubsanspruch aus dem Vertrag, den er unterschrieben hatte wurde ebenfalls in der Personalabteilung übernommen wie die Kündigungsfrist. Lediglich die Stellenbezeichnung wurde mit Abteilungsleiter Verkauf nicht gleichlautend ausgewiesen. Kurzum, er musste am Montag nur noch kommen und den neuen Arbeitsvertrag unterschreiben. Die Personalabteilung kümmerte sich noch darum, dass seine Akte von sämtlichen Verweisen, die er nie persönlich erhalten hatte, von allen Beschwerden und auch allen sonstigen Makeln befreit wurde die ihm ohne sein Wissen und durch die unlauteren Machenschafften von Olaf eingetragen worden waren. Die gefälschten Unterschriften auf den Dokumenten, die den Erhalt diverser Abmahnungen, Beschwerden, etc. bestätigen sollten wurden kopiert und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitete. Ebenso die unterschiedlichen Arbeitsverträge.

 

Völlig überfahren hatte er das Gebäude verlassen und war auf dem Parkplatz direkt in den wütenden Olaf hinein gelaufen. Der schien seine Wut über den Rausschmiss, die Anzeige und vor allem wohl über seinen zugepackten Wagen wegen dem er sicher die fast drei Stunden auf dem Parkplatz hatte warten müssen an Peter auslassen zu wollen. Was keiner von beiden erwartet hatte war, dass Peter ausholte und Olaf mit blutender Nase auf dem Boden landete. Im nächsten Moment war Justin bei Peter und zog ihn von dem fluchenden Olaf weg. Doch Peter konnte sich aus Justins Griff befreien und zu Olaf umdrehen.

 

„Du hast es vielleicht noch nicht bemerkt, aber sämtliche Daten auf deinem PC sind weg. Ich habe deinen Rechner formatiert.“ Olaf sah Peter ungläubig an. „DU HAST WAS?“ „Du hast mich schon richtig verstanden. Ich habe sämtliche Daten gelöscht. Und wenn du nach USB Sticks oder ähnlichen Speichermedien suchen solltest, vergiss es. Ich habe sogar den USB Stick unterm Stuhlbein gefunden. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss fit sein, wenn ich am Montag den neuen Arbeitsvertrag für deine Stelle unterschreibe und sicher werden die unterschiedlichen Gerichtsverhandlung zu Entführung, Körperverletzung, Erpressung, Urkundenfälschung und Betrug im Arbeitsaltag in denen ich sicher als Zeug gegen dich geladen werde ebenfalls kräftezerrend sein.“

 

Mit hoch erhobenem Haupt drehte Peter sich zum grinsenden Justin um, damit sie gemeinsam in sein Auto einsteigen konnten. Sie fuhren zu Justin und Peter beruhigte sich langsam wieder. Das war ja mal ein Freitag gewesen! Er schielte heimlich zu Justin, der das aber anscheinend bemerkt hatte, denn er legte plötzlich seine Hand auf Peters Bein. „Das mit dem Unschuld rauben nehme ich nebenbei ernst und ich freu mich schon darauf.“ Mit einem perversen Grinsen im Gesicht drehte Justin sich kurz zu Peter um und dieser lief knall rot im Gesicht an. Gott dass hatte er ja schon völlig verdrängt gehabt!

 

Als sie Justins Wohnung erreichten befürchtete Pete bereits das Schlimmste, doch Justin geleitete ihn nur hinein und raubte ihm dann einen beinahe keuschen kurzen Kuss, bevor er Peter ins Wohnzimmer dirigierte. Er sagte irgendetwas von einem DVD Abend. Als er Peters völlig verwirrten Gesichtsausdruck wahrnahm musste er wieder kurz auflachen, bevor er seine Stirn an Peters lehnte und ihm tief in die Augen schaute. „Peter, wir haben viel Zeit und dein erstes Mal wird etwas ganz Besonderes werden. Aber sicher nicht nach einem derart stressigen Tag wie heute. Ich habe auch Mischa abgesagt, wir waren fürs Lobella verabredet aber ohne dich habe ich keine Lust auf Party. Vielleicht können wir morgen ja zusammen gehen.“ Wieder hauchte er Peter einen kurzen Kuss auf die Lippen.

 

Peter spürte sein breites Grinse und dieses Mal ließ ihn zur Abwechslung nicht die Wut, sondern die Freude schneller reden als denken. „Träume können also echt wahr werden! Ich werde auf eine Party eingeladen obwohl ich nichts trinke und damit sicher eine Spaßbremse bin, ich habe eine Beziehung mit einem absoluten Traummann und ich habe einen neuen Job, in dem ich die nächste Zeit kaum etwas zu tun habe, weil Olaf meine letzten sieben Projekte noch gar nicht an den Verkauf weitergegeben hat um was in der Hinterhand zu haben sobald ich weg bin. Wer hätte gedacht das meine Tagträume tatsächlich in Erfüllung gehen können?“ Eine winzige Freudenträne rann aus Peters Augenwinkel, bevor er bemerkte was er da gerade preisgegeben hatte.

 

Knall rot wollte er sich von Justin wegdrehen, der aber wiederrum Peters Kinn griff und ihn damit zwang ihn weiter anzusehen. „Peter, ich habe das Gefühl du träumst ziemlich viel wenn der Tag lang ist. Aber ein kleiner Rat von einem der früher genau das gleiche Problem hatte: Lebe deine Träume und träume nicht dein Leben!“

 

Ob dieses absolut abgedroschenen Spruches wollte Peter wütend aufbegehren, doch sein Mund wurde wieder von einer fremden Zunge mit Beschlag belegt und dieser mitreißende Zungenkuss schien kein Ende mehr zu finden. Justin hatte anscheinend gemerkt, wie er Peter schnell und effektiv zum Schweigen bringen konnte und holla, das gefiel Peter ausgesprochen gut!

 

Das war doch mal der richtige Anfang für Peters neues Leben

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.02.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /