Sollte es wirklich stimmen, dass im Augenblick bevor der Tod eintritt das gesamte Leben noch einmal wie ein Film vor dem geistigen Auge abläuft, dann bin ich wohl eine Ausnahme.
Denn ich konnte nur dich sehen. Nur deine scheuen braunen Augen, deine lockigen braunen Haare, deine gerade Nase, deinen geschwungenen Mund, deine errötenden Wangen, deine schmale Hüfte, deine zierliche Gestalt, einfach dich!
Ich sah wie du in der Schule von allen belächelt wurdest. Sah, wie sie dich ab der siebten Klasse schikanierten, sah wie jedes Wort von ihnen dir tief in die Seele stach.
Ich sah, was sie sehen wollten, aber nicht konnten, weil du es gut versteckt hattest. Ich sah es, weil ich dich schon seit dem ersten Tag in der Grundschule immer genau angeschaut hatte. Hatte gesehen, wie du vom Jungen zum Mann mit jetzt stolzen 16 Jahren gereift bist, hatte gesehen, wie deine zierliche Statur erhalten blieb, während deine Körpergröße sich beinahe täglich zu erhöhen schien. Sah dir beim Duschen nach dem Sportunterricht immer genau zu. Ich kenne jeden Zentimeter deines Körpers. Weiß um jedes Muttermal und jede Narbe. Ich kenne dich!
Ich sehe wie ich es nicht mehr ausgehalten habe, zu dir ging und Patrik, der dich eben beleidigt hatte eine gebrochene Nase verpasste. Ab diesem Moment wurde es anders. Ich war beliebt. Ich hatte Freunde, ich war stark, ich war wohlhabend, ich war wichtig. Du warst mein neuer Schützling, mein neuer Freund. Warst du doch schon seit Jahren mein Lebensinnhalt, den es zu schützen gilt.
Wieso hatte ich überhaupt so lange gewartet? Hatte ich Angst, du würdest dich weigern Hilfe von mir anzunehmen? Hatte ich Angst, du würdest mich mit diesem verletzten Blick ansehen, den du deinen Peinigern immer geschenkt hast? Was auch immer es war, dass mich dieses Trauerspiel etwas über ein Jahr mit ansehen ließ, es war weg. War verschwunden, nachdem dein verletzter Blick mich direkt getroffen hatte war es wie ausgelöscht. Ich fühlte mich schuldig. Fühlte mich in deinen Augen als einer von ihnen.
Und das war ich auch geworden, denn ich hatte zugesehen. Doch an diesem Tag war ich eingeschritten, hatte dich beschützt, dich zu einem meiner Freunde gemacht, zu einem Unantastbaren, hatte dich in Sicherheit gebracht!
Die schönsten Wochen meines Lebens sollten folgen. Wir beide gemeinsam. Alles hast du mit mir zusammen gemacht. Egal ob wir jemanden einen Streich spielten, heimlich rauchten oder Alkohol tranken, ob wir im kleinen Kiosk neben der Schule Kondome klauten.
Wir teilten ab dem Tag an dem ich dich beschützt hatte eine tiefe Freundschaft. Kein anderer meiner Freunde war mir je so nahe gewesen. Und dennoch fühlte ich mich dir so fern. Konnte nicht benennen warum ich mich so fühlte, konnte nicht verstehen, was mich an dich band und mich in gleichem Maße von dir abstieß.
Jetzt verstehe ich endlich. Jetzt wo es zu spät ist, wo mein Leben endet, jetzt verstehe ich es. Verstehe, dass ich schon immer diese wundervollen roten Lippen küssen wollte, diese braunen Haare zerzausen, diese zarte Haut nicht nur vom sehen her kennen, sondern sie auch ertasten wollte. Ich erkenne endlich, dass ich so viel mehr von dir wollte als Freundschaft.
Doch ich habe es zu spät begriffen. Habe nicht verstanden als es richtig gewesen wäre. Jetzt begreife ich, ich begreife endlich was mir viel zu lang ein Rätzel geblieben war. Jetzt im freien Fall sehe ich nur dich.
Sehe wie du vor mir stehst, sehe wie du rot wirst, sehe wie du stammelst und versuchst mühsam die richtigen Worte zu finden. Sehe wie du plötzlich den Kopf hebst und mir mit roten Wangen direkt in die Augen siehst, sehe wie deine Lippen sich bewegen. Ich höre die Worte, als würdest du sie jetzt gerade aussprechen „Ich liebe dich!“.
Doch was ich auch höre ist mein ohrenbetäubendes Lachen. Das Lachen, dass dem deiner ehemaligen Peinigern so ähnlich klingt. Ich spüre wie meine Wangen und mein Bauch bereits schmerzen und meine Augen von Tränen nass sind, was meinen Blick verschwimmen lässt, doch ich kann nicht aufhören zu lachen. Spüre wie falsch meine Reaktion ist, spüre das ich anders reagieren will, weiß aber nicht wie.
Ich sehe wie ich mich beruhige, die Tränen aus den Augen wische und deinen Blick suche, den Schalk, der darin liegen muss sehen will.
Doch was ich sehe ist Schmerz, Wut und Hass. Du hasst mich. Ich sehe es im geistigen Auge noch einmal vor mir, diesen Blick. Zucke zurück, fühle mich als würde ich verprügelt, nur von diesem Blick. Ich wollte nie der Grund sein, dass du so schaust, wollte dir nie wehtun, wollte dich immer nur beschützen. Jetzt habe ich dir wehgetan. Habe dich tiefer verletzt als jeder vor mir und weiß nicht warum ich mich fühle, als hätte man mich mit Säure übergossen.
Ich sehe deine Bewegung, verstehe sie aber nicht. Erst als ich rückwärts taumle wird mir bewusst, dass wir auf dem Dach stehen. Auf dem Dach der Schule. Werde mir darüber bewusst, dass unter uns der harte Zementboden auf uns wartet, sehe wie ich stolpere und nach dir greife. Spüre dich in meinen Armen als wir fallen.
Ich suche automatisch deine Lippen um sie mit meinen zu versiegeln ehe wir aufschlagen.
Denn jetzt verstehe ich endlich und hoffe du verstehst mich auch. Ich liebe dich!
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2014
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