Biografische Erzählung für meine Großmutter
Manfred Basedow
Mitten in Preußen in der schönen Stadt Fürstenwalde wurde am 08. Juni 1899 meine spätere Großmutter Gertrud Helene Lücke geboren. Sie war eines der jüngsten Kinder vom Schneidermeister Lücke, der noch wie beim Tapferen Schneiderlein auf dem Arbeitstisch im Schneidersitz, Uniformen für die Offiziere, des Ulanen Regimentes, nähte und reparierte, das in der Stadt stationiert war.
Sein guter Ruf reichte weit über Fürstenwalde hinaus. Selbst aus der Hauptstadt Berlin kamen gut betuchte Herrschaften und ließen sich bei ihm ihre edlen Roben anfertigen.
Zwischen 1905 und 1906 wurde das Mädchen eingeschult. Damals begann das neue Schuljahr nach dem Osterfest.
Zu diesem Anlass hatte ihr Vater für sie ein, ganz neues, Schuluniformkleid genäht. Die Erstschülerin trug zwei lange sorgfältig geflochtene Zöpfe mit passenden Schleifen.
Eine Klassenkameradin, die hinter ihr auf der Schulbank saß, war neidisch, dass das Mädchen vor ihr so gut gekleidet war. Auf den Schulbänken befanden sich früher in der Mitte Tintenfässchen, in die sie ihre Federkiele eintauchten, um schreiben zu können.
Die Neiderin öffnete das Behältnis und tauchte beide Zöpfe mit den Schleifen in die Tinte. So verschmierte Gertrud diese über ihren ganzen Rücken, ohne es sofort zu bemerken.
Als ihre Tischnachbarin sie darauf hingewiesen hatte, drehte sich das Opfer um, und gab dem Mädchen hinter ihr eine schallende Ohrfeige.
Das rief den Lehrer auf den Plan, der nur die Ungezogenheit gesehen hatte, aber gar nicht den Grund wissen wollte, griff zum Rohrstock. Er forderte die Tochter von Schneidermeister Lücke auf, ihre Fingerspitzen an den Tischrand zu legen und schlug einmal mit ganzer Kraft zu.
Dadurch schwollen die Fingerkuppen dick an. Gertrud verließ den Raum und eilte so schnell sie konnte nach Hause. Dort erzählte sie ihrem Vater, was sie getan hatte und warum. Der nahm seine Tochter an die Hand und eilte mit ihr zur Schule. Dort stellte er den Lehrer zur Rede und verließ die Schule erst, als der Rektor diesen bestraft hatte.
Als kleines Mädchen kletterte Gertrud lieber mit den Jungs in die Bäume, als mit Puppen zu spielen.
Eines Tages bekam das Ulanen Regiment hohen Besuch. Der Kronprinz des chinesischen Kaisers kam nach Fürstenwalde und fuhr in einer vornehmen Kutsche durch die Stadt. Das kleine Mädchen saß oben auf einem Baum, um eine bessere Sicht auf das ganze Geschehen zu haben. Da fiel ihr auf, dass der Staatsgast ganz lange Fingernägel trug, die extra verhüllt waren, zum Schutz vor unbeabsichtigtem Abbrechen.
Da rief das Kind vom Baum, „Der Prinz hat vergessen sich die Fingernägel zu schneiden!“
Die Leute, die am Straßenrand für den Ehrengast Spalier bildeten, fingen an zu lachen. Es mutete an, wie bei „Kaisers Neue Kleider“, wo der Knabe rief, „Er hat ja nichts an!“
Nach dem Ende der Schulzeit begann Gertrud eine Ausbildung zur Bibliothekarin und erlernte nebenbei das Schneiderhandwerk ihres Papas von der Pike an, beherrschte als sie fertig war, alles vom Maßnehmen, Anfertigung der Schnittmustervorlagen bis zur Vollendung der Bekleidung.
Auf dieser Grundlage schaffte sie eine Anstellung in einem Kaufhaus in Fürstenwalde, wo sie es bis zur Abteilungsleiterin brachte.
In deutschen Geschäften bestanden schon feste Preise. Die Polen versuchten aber jedes Mal ihrer Mentalität entsprechend, zu feilschen. Deshalb dachte sich meine spätere Oma einen Trick aus, der von ihren Mitarbeitern erfolgreich angewendet wurde. Fing ein Pole mit ihnen an zu feilschen, setzten sie den Preis absichtlich höher an und handelten ihn genau bis zu der Stufe runter, bis der Preis stimmte. So hatten die Polen ein gutes Gefühl, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, obwohl sie nur den normalen Preis bezahlt hatten.
Im Jahr 1917, im vorletzten Kriegsjahr des 1. Weltkrieges kam der Soldat Wilhelm Momsen nach Fürstenwalde direkt vom Lazarett. Er befand sich davor genau in dem Schützengraben, den das freigesetzte Gas heimgesucht hatte, weil da zum ersten Mal Giftgasgranaten zum Einsatz kamen. Keiner hatte dran gedacht, vorher drauf zu achten, aus welcher Richtung der Wind wehte. So setzte diese furchtbare Waffe die eigenen Soldaten außer Gefecht.
Soldat Momsen lernte in Fürstenwalde die Tochter des Schneidermeisters beim Kaffeetrinken kennen. Sie folgte ihm in seine Heimat nach Flensburg in Schleswig-Holstein, wo er nach der Ausbildung an der Fliegerschule nochmal an die Front musste.
Er war einer der ersten Aufklärungsflieger im 1. Weltkrieg, die von oben die feindlichen Stellungen ausfindig machten. Damals saß der Aufklärungsfotograf vorn, der Pilot dahinter im Flugzeug. Mein zukünftiger Großvater war nur an der Westfront vorwiegend in Frankreich im Einsatz.
Nachdem der 1. Weltkrieg zu Ende gegangen war, feierten Wilhelm und Gertrud in Flensburg ihre Hochzeit, seit der sie den Familiennamen Momsen trug.
Gertrud Momsen baute sich ein Geschäft als Maßschneiderin in Flensburg auf, wo sie für reiche Leute teure Garderoben auf den Leib schneiderte. Sie besorgte selbst die besten Stoffe und Accessoires aus Paris.
Nach dem Krieg gehörte Wilhelm Momsen zu den frühen Pionieren, die ihre Liebe zunächst mit dem Kunstfliegen und später für das Segelfliegen entdeckten. Er nahm an den gleichen Kunstflugveranstaltungen teil, wie der berühmteste Kunstflieger der damaligen Zeit Ernst Udet.
Der nahm nach Erlaubnis ihres Mannes Wilhelm Momsen, Gertrud mit ins Flugzeug zu einer Kunstflugvorführung. Um sie zu beeindrucken, flog er mehrere Loopings und zur Krönung die Nummer mit dem Trudeln. Doch die junge Frau ließ sich nicht beeindrucken und hatte seitdem bei den Kunstfliegern ein Stein im Brett. Als Kunstflieger verdiente Momsen auch viel Geld.
Im Jahr 1923 fand in Glücksburg in Schleswig-Holstein ein großes Seefliegertreffen statt, wo er für seine Teilnahme eine bronzene Miniatur zur Erinnerung erhielt.
Das junge Ehepaar hatte sich bis zum Ende der Zwanziger Jahre ein stattliches Vermögen erarbeitet, weil sie sich ein Haus kaufen oder bauen wollten. Dann kam der verhängnisvolle 25. Oktober 1929, wo weltweit alle Börsenkurse in den Keller rauschten. Das ganze Geld auf dem Bankkonto war plötzlich nichts mehr wert.
Sie fingen trotzdem wieder von vorne an, weil sie noch zu den Menschen zählten, die nicht so schnell aufgaben.
Bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges lebten sie in Flensburg kurz vor der dänischen Grenze. Dann wurde er nach der Machtübernahme von Hitler, zur Halbinsel Wustrow bei Rerik abkommandiert, wo er an der Fliegerschule zunächst als Flieger auf dem Flugplatz eingesetzt war.
Sie wohnten in einem der Siedlungshäuser an der Nordküste der Halbinsel, die noch heute halb verfallen stehen, ohne Fenster und Türen. Für die Zeit hatten sie eine moderne Wohnung mit Fernwärme vom Heizwerk und sogar einen Kühlschrank. Auf Wustrow existierten ein Hospital und ein Kulturhaus, sowie ein eigenes Postamt.
Die Halbinsel war moderner eingerichtet als die Stadt Rerik.
Gertrud Momsen bekam dort im November 1936 ihr erstes Kind, meine Mutter Sigrid und im April 1941 ihr zweites Kind, meine Tante Helga.
Die Seestadt Rostock wurde 1942 in nur einer Nacht von britischen Bombern ins Visier genommen, die vor allem die Flugzeugwerften von ARADO und Heinkel treffen wollten. Diese hatten sich künstlich eingenebelt, weswegen die Bomber sie nicht ausmachen konnten.
Da bemerkten sie am Himmel ein deutsches Flugzeug, in dem ein Flugschüler einen Übungsflug absolvierte.
Sie verfolgten diesen Flieger, der jedoch durch seine Unerfahrenheit nicht wusste, wie er sich richtig verhalten sollte.
Deshalb ging er mit seinem Flugzeug genau auf dem Flugplatz in Wustrow nieder. So entdeckten die Feinde diese militärische Einheit und zerstörten den Tower und die Start- und Landebahn.
Flugleiter Wilhelm Momsen hatte Glück, weil ein Blindgänger genau im Nebenraum runtergekommen war.
Er kam mit dem Schrecken davon.
Als der Krieg zu Ende war, wurde aus der Halbinsel Wustrow eine sowjetische Garnison. Aus dem ehemaligen Flugleiter vom Flugplatz, wurde ein Heizer im Heizwerk und seine Frau reparierte die beschädigten Uniformen der sowjetischen Offiziere und fertigte aus den ehemaligen Reichskriegsflaggen und Fallschirmseide Gardinen für die Offiziersquartiere. Weiße Stoffbahnen wurden für Wohnzimmerfenster und Farbige für andere Räume verarbeitet.
Später erzählte meine zukünftige Oma, dass die sowjetischen Offiziere und deren Frauen keine Toiletten mit Spülkasten und Kette kannten. Weil sie nicht wussten, wofür diese Erfindung gedacht war, versuchten die Kartoffeln darin zu waschen. Sie zogen an der Schnur und wunderten sich, dass die Erdäpfel runtergespült wurden. Als sie Wilhelm Momsen hinzugeholt hatten, klagten sie ihr Leid und tauften die Toilette „Zappzarappmaschinka“. Die Notdurft lagerten sie in Zeitungspapier eingewickelt, in der Speisekammer.
Er zeigte den Russen schließlich, wofür die Toiletten da waren.
Nach dem Krieg baute Gertud Momsen in Rerik die Ortsgruppe des Demokratischen Frauenbund Deutschland DFD auf und wurde ihre erste Ortsgruppenvorsitzende. Dafür wurde sie mit der Clara-Zetkin-Medaille geehrt, was die höchste Ehrung dieser Organisation war.
In Rerik und Umgebung half sie mit, die Bodenreform durchzusetzen, wodurch die Großgrundbesitzer und Großbauern enteignet wurden.
Als sie nicht mehr auf die Halbinsel konnten, begann die emsige Frau als Näherin im Kinderheim in Rerik zu arbeiten. Nach dem Krieg gab es viele Waisenkinder, die ihre Eltern und Großeltern verloren hatten. Sie sorgte dafür, dass jedes Kind mitentscheiden durfte, welches Kleid oder Hose sie tragen wollten. Dann fertigte sie diese, wie sie es gelernt hatte, und gab ihnen so ihre Würde zurück.
Über die Jahre brachte Gertrud Momsen immer mal wieder Kinder privat nach Hause, besonders um die Weihnachtszeit, weil sie ihnen ein Gefühl von Geborgenheit bieten wollte.
Mein späterer Opa arbeitete nach Gründung der Mathias-Thesen-Werft in Wismar, wurde jeden Tag mit dem Schichtbus zur Arbeit und nach Feierabend wieder zurückgebracht. Weil es bis heute in Rerik keinen Bahnanschluss gibt, ließ seine Frau Momsen einen überdachten Busbahnhof bauen, der auch in der Gegenwart noch genutzt wird.
Bald wurde meine spätere Großmutter gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, eine leitende Funktion zu übernehmen. Weil sie bei solchen Entscheidungen noch nie ängstlich war, sagte ja.
So kam sie nach Heiligendamm, wo sie die Heimleitung des Pflegeheimes übernahm. Sie erhielt in der Backstein Villa, vom Baumeister Gotthilf Ludwig Möckel, eine Dienstwohnung, wo auch meine Mutter und ihr Mann mit einzogen, weil Wohnungen nach dem Krieg überall knapp waren.
Am 16. Mai 1959 wurde ich im Krankenhaus Kühlungsborn geboren und war als das erste Enkelkind der Liebling meiner Großeltern. Schnell entwickelte ich mich auch zum Mittelpunkt der alten Heimbewohner, weil ja sonst nur betagte, im Bett liegende Senioren in den Zimmern lebten.
In diesem Pflegeheim lebte auch die Oma meines Vaters, die ihn und seine Geschwister vom zerbombten Berlin nach Reddelich geholt hatte.
Am 12. Dezember 1959 verstarb mein Opa, mit einem Foto von mir in der Hand, im Krankenhaus von Kühlungsborn. Durch das Giftgas im 1. Weltkrieg, hatte sich ein ausgewachsener Lungenkrebs mit Metastasen gebildet. Meine Tante erzählte mir, dass ich ihn als Großvater sehr stolz gemacht hatte.
Als Leiterin unterhielt Gertrud Momsen gute Beziehungen, die für die Pflegeeinrichtung nützlich waren.
Es gab einen großen Raum für Veranstaltungen. Dort gab die Kurkapelle Heiligendamm regelmäßig Konzerte für die Bewohner. Der Kapellmeister Fricke war ein sehr guter Violinist, der für die meisten Titel keine Noten brauchte.
Weil ich als Kleinkind richtig mit der Musik mitging, schloss mich der Dirigent in sein Herz.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass meine Tante und mein Onkel väterlicher Seite mit ihren Kindern kamen, um unsere Uroma zu besuchen und natürlich auch uns.
Das war für meine Oma sehr wichtig, auch zur anderen Verwandtschaft die Beziehungen zu pflegen.
In den Jahren 1961 und 1962 kamen meine beiden Brüder Hartmut und Dietmar auf die Welt.
Gertrud Momsen leitete das Pflegeheim einfühlsam und geschickt. Für Trauernde, die gerade einen Familienangehörigen verloren hatten, spendete sie Trost, führte Gespräche, um neue Heimbewohner aufzunehmen.
Kurz bevor sie sich entschloss, in den Ruhestand zu gehen, war bei ihr zuhause ein Unfall passiert. In alten Villen waren die Fenster sehr hoch. Sie war auf eine hohe Leiter gestiegen, um frisch gewaschene Gardinen wieder aufzuhängen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte von über drei Meter Höhe zu Boden. Sie verlor kurzzeitig das Bewusstsein und war nach diesem Unfall nicht mehr so belastbar.
Meine Oma entschloss sich im Jahr 1963 in Rente zu gehen. Sie bekam eine Dreiraumwohnung in der Kreisstadt Bad Doberan. Aus der ehemaligen Heimleiterin wurde die wahrhaftige Erzieherin von uns Kindern, während meine Eltern zur Arbeit gingen. Morgens wurden alle von ihr geweckt, damit wir pünktlich in den Kindergarten bzw. zur Schule kamen.
Ich war das einzige Kind der Familie, das nach der Schule in den Hort ging, wo ich unter Aufsicht die Hausaufgaben machte und gemeinsam mit den anderen Kindern der Klasse spielte. Für meine Geschwister kochte meine Oma jeden Tag zu Mittag. Oft blieb noch Essen übrig. Wenn ich nach dem Nachmittag in der Schule nach Hause kam, fragte sie, ob ich noch was haben wollte.
Trotz ihres langen Lebens, für die sie mit der Clara-Zetkin-Medaille für ihre Verdienste gehrt wurde, bekam sie eine beschämend kleine Rente, die sie fast vollständig in den täglichen Lebensunterhalt mit einfließen ließ.
Sie ist für mich meine Märchenoma, die uns stets mit ihrer ganzen Güte umsorgte und uns oft in eine gemütliche Runde rief, um uns aus ihrem alten Märchenbuch, das bunt mit Zigarettenbildern illustriert und in Sütterlin geschrieben war, vorzulesen. Bei ihr wurden die Märchenfiguren fast zum Leben erweckt, weil sie es verstand, die Stimmen zu verstellen.
Wir hatten noch lange Zeit keinen Fernseher, hörten im Radio den „Abendgruß“ 18:55 Uhr. Danach ging es unnachgiebig ins Bett. Sonntags schickte uns Oma ins Kino in Bad Doberan, wo um 10:00 Uhr die Kindervorstellung begann. Der Eintritt kostete gerade mal 25 Pfennig pro Kind, was bei fünf Geschwistern 1,25 Mark machte.
Meine Oma besaß ein umfangreiches Wissen. Wollte jemand etwas erfahren, brauchte er sie nur zu fragen und sie konnte alles beantworten.
Nur bei Mathefragen konnte sie uns nicht mehr helfen. Sie bekam die Aufgaben meistens mit ihrer gelernten Methode gelöst. Wir sollten bei der Addition schon in der 1. Klasse mit Variablen rechnen, also mit einem x oder y.
Ich denke, dass sie mich so für dieses Metier mit den Märchen begeistert und inspiriert hat. Würde sie noch leben, wäre sie sicher sehr stolz auf mich, dass ich die Märchen liebe und sogar selbst geschrieben habe.
Drei Jahre später wurde meine Großmutter zum vierten Mal Oma mit ihrer ersten Enkelin. Das war im Jahr 1965. Meine Schwester Birgit erblickte das Licht der Welt.
Zwischendrin wurden meine Eltern 1966 geschieden, was in dieser Zeit noch ungewöhnlich war. Im gleichen Jahr wurde ich eingeschult, sodass ich damals das einzige Scheidungskind in meiner Schulklasse war. Meine Klassenkameraden verstanden es damals noch nicht, dass ich deshalb meine Arbeiten und Diktate nur von meiner Mutter unterschreiben lassen konnte.
Ein Jahr später im Mai 1967 kam meine jüngste Schwester Heike auf die Welt. Seitdem saßen fünf Kinder um den großen Küchentisch in der alten Küche in der Wohnung in Bad Doberan.
Meiner Oma Gertrud Momsen haben wir es zu verdanken, dass alle Geschwister die Schule beendeten und in die Lehre gingen, um einen Beruf zu lernen.
Im Jahr 1973 bekam meine Mutter als alleinerziehende Arbeiterin mit fünf Kindern eine Vierraumwohnung im Stadtteil Lütten Klein in Rostock. Sie war zu dem Zeitpunkt Kranfahrerin in der Schiffbauhalle der Warnowwerft Warnemünde. Sie pendelte jeden Tag mit dem Schichtbus zwischen Bad Doberan und der Bushaltestelle Warnemünde Werft. Deshalb bekam meine Mutter den Zuschlag für die Wohnung in Rostock. In der ehemaligen DDR wurden kinderreiche Familien gefördert.
Der Staat übernahm die Miete, ließ die Schulbücher kostenlos ausleihen. Diese wurden am Ende des Schuljahres zurückgegeben. Für die Schulspeisung und die tägliche Milch in der Schule, brauchten sie nichts bezahlen.
Meine Oma kam mit und umsorgte weiterhin, wie gewohnt, alle Heranwachsenden, einschließlich meine Mutter.
Sie ging nur nicht gerne in dem Stadtteil spazieren, weil ja alles eine einzige große Baustelle mit vielen Baugruben für die nächsten Fundamente war. Provisorische Steinplatten verhinderten, dass wir bei Matsch im Regen unsere Schuhe versauten, wenn wir in die Schule gingen.
Vier Jahre erlebte sie, wie die Stadt sich entwickelte. Am 23. April 1977 starb schließlich meine Oma nach einem ereignisreichen Leben, die den 1. Und 2. Weltkrieg überlebt hatte, wegen eines Gehirnschlags. Die Art und Weise wie sie starb, war auch makaber. Wir hatten den Rettungsdienst alarmiert. Die Notärztin meinte lapidar, meine Oma wäre nicht transportfähig und ließen sie in ihrem Bett einfach liegen. Erst nach unserem eindringlichen Appell entschied sie sich doch, sie in die Südstadt Klinik zu bringen.
Dort konnten sie wegen der langen Zeit, die die Ärztin gezögert hatte, nur noch den Tod feststellen.
®Manfred Basedow, 10.05.2022, Rostock
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2022
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