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Das Hexenhaus auf dem Hühnerbein

Manfred Basedow

 

 

 

Es war einmal ein Hexenhaus, das stand auf einem einzelnen Hühnerbein mitten im Hexenwald und wurde schon seit fast fünfhundert Jahren von Waldhexen bewohnt. Die längste Zeit über bot es das Zuhause der Hexe Kümmelwurz, die aber nicht sehr gut mit dem Häuschen umging. Dauernd verlangte sie, dass es hinter der schrulligen Alten hinterher rannte, was so mitten im Wald gar nicht so einfach war. Überall waren Bäume im Weg, Pfade gab es nicht. Das Hüttchen musste sich jedes Mal eine gute und neue Methode überlegen, damit es sich nicht verlief.

 

Würde das passieren, hätte es ausgedient, dann ließe sich die Hexe Kümmelwurz ein neues aus dem Hexenkatalog kommen. Es würde als Brennholz unter dem Hexenkessel enden, wo sie ihre Zauberelixiere und Giftmischungen braute.

 

Das alte Weiblein hatte es da wesentlich einfacher, denn sie brauchte sich nur auf ihren Hexenbesen Flox zu schwingen und dreimal mit der Zunge schnalzen, dann erhob sie sich in die Luft und konnte so schnell überall hin gelangen.

 

Eines Tages wollte Hexe Kümmelwurz in den Hexenwald am Meer und befahl dem Haus:

„Hühnerbeinchen eins, zwei, drei dreh dich um und hör mir zu. Lauf zum Hexenwald am Meer, sonst überschütte ich dich mit Teer.“

 

 

Also machte es sich auf den Weg in den Hexenwald am Meer, wobei es sich sehr beeilte, denn die Hexe brauchte auf ihrem Hexenbesen Flox nie länger als einen Wimpernschlag, sie war ja nicht umsonst eine Meisterin der dunklen Magie. Unterwegs kam Hühnerbeinchen am Hexenschloss Spinnennest vorbei, das sehr schaurig aussah. Das Mauerwerk bestand aus schwarzem Basaltgestein, hatte neun Türme, auf denen je ein Spinnenbanner der Spinnenhexe Madraga wehte.

 

Noch zwanzig Meilen weiter erreichte das Hexenhaus den Hexenwald am Meer.

Das Haus war gerade pünktlich genug, denn Kümmelwurz landete just in diesem Moment vor ihrem Heim auf dem Hühnerbein. Die Steinalte stellte sich davor und sagte den Spruch auf:

 

„Hühnerbeinchen eins, zwei, drei, dreh dich zu mir, lass mich ein.“

 

Nach diesem Spruch drehte es sich auf seinem Hühnerbein mit der Tür zur Hexe, senkte sich die Treppe von der Pforte bis zum Waldboden. Doch beim Hinhocken bekam das alte Hexenhaus einen sehr schlimmen Krampf, denn so ein altes Gebäude, das sich auf seinem Hühnerbein fortbewegen konnte, bekam auch mal ein Zipperlein.

 

Die Hexe Kümmelwurz war nicht umsonst in den Hexenwald am Meer geflogen, denn dort lebte ihre ältere Schwester Hühnergott. Sie hatte die Ankunft ihrer jüngeren Schwester schon längst bemerkt und wusste, dass diese nicht ohne Grund kam.

Die Hexe trat gleich in die Hühnergotthütte ihrer älteren Schwester ein, ohne anzuklopfen, denn Höflichkeit und gutes Benehmen waren für Hexen abscheuliche Erfindungen der Menschen. Kümmelwurz sprach auch gleich ihre Schwester an: „Mein altes Hexenhaus auf dem Hühnerbein ist langsam in die Jahre gekommen, denn es hat jetzt seine fünfhundert Jahre als Hexenhütte gedient. Ich benötige unbedingt eine neue Bleibe, denn gerade heute bemerkte ich, dass das Häuschen einen schlimmen Krampf bekam, als es sich zu mir drehte und hin hockte.“


 

Der Hexenbesen Flox mochte das alte Hexenhaus auf Hühnerbein sehr, denn er stand fast jeden Tag in der Ecke am Herd, neben dem Kessel. Er wollte nicht, dass diese Hütte, die so viele Hexen überdauert hatte, einfach Brennholz werden sollte.

 

Aus diesem Grund mogelte sich der Hexenbesen Flox heimlich ins Freie und flog zum alten Häuschen auf Hühnerbein, wo er es ansprach: „Liebes Häuschen, du warst schon so lange das Zuhause von vielen Hexen, doch jetzt sprach die Hexe Kümmelwurz mit ihrer älteren Schwester, dass du ihrer Meinung nach ausgedient hast und du nur noch als Brennholz unter ihrem Kessel zu gebrauchen wärest.

 

Auch ich habe genug von der Art, wie sie mich als ihren Flugbesen benutzt. Lass uns hier verschwinden, denn ich kenne zufällig einen Ort, wo uns die Hexe und ihre Schwester nicht finden können. Wir begeben uns an den Strand des Goldmeeres, wo der Strandsand aus purem Goldsand besteht. Beide Hexen sind durch ihr hohes Alter fast erblindet und würden dort restlos geblendet, wenn sie uns dort suchen würden.“

 

Das Hexenhaus antwortete dem Flox: „Das hätte ich von der alten Hexe auch nicht gedacht, dass sie so wenig an mir hängt, dass sie mich bei meinem ersten Zipperlein nach fünfhundert Jahren einfach verheizen will. Deshalb gehe ich gern mit dir zum Strand des Goldmeeres. Komm steig ein in mein Zimmer, damit wir starten können.“

 

Sehr rasch hatten das Hexenhaus auf dem Hühnerbein und der Hexenbesen Flox den Strand des Goldmeeres erreicht und freuten sich beide auf ihren klugen Einfall.

 

Als Hexe Kümmelwurz das Hühnergotthaus verließ, waren sowohl Hühnerbeinchen und der Hexenbesen Flox verschwunden. Egal, wo die Hexe auch suchte, konnte sie die Beiden nicht finden, selbst nicht mit dem Blick in ihre Wunderschale, mit der ihr sonst nichts entging, doch der starke Schein des Goldes am Strand des Goldmeeres tarnte ihre einstigen Weggefährten.

 

Erst jetzt bemerkte die Hexe, wie sehr sie ihr altes Haus und ihren Hexenbesen Flox vermisste. So lange die Hexe lebte, war das Hexenhaus auf dem Hühnerbein ihr Zuhause und der Hexenbesen Flox ihr Fluggerät. Zum ersten Mal in ihrem langen Leben konnte die Hexe Kümmelwurz ihre Tränen nicht unterdrücken, weil sie tief traurig war über diesen Verlust.

 

Habt ihr schon einmal eine Hexe weinen gesehen? Sie verlor so große Tränen, die wie ein Fluss, der Hochwasser führte, aus ihren alten zerfurchten Augen, dass sich rasch ein neuer Bach bildete, der sich ins Meer ergoss.

 

 

Deshalb stellte sie einen großen Hexenkessel auf ein riesiges Feuer vor dem Hexenhaus Hühnergott ihrer älteren Hexenschwester, warf alle möglichen Zutaten hinein, die ich nicht im Einzelnen aufzählen wollte, denn ich gedachte nicht die geneigte Leserschar zu gruseln.

 

Dann begann Hexe Kümmelwurz beim Rühren um den Hexenkessel zu tanzen und sang folgendes Lied:

„Hühnerbeinchen eins, zwei, drei, komm herbei, du sollst für immer mein Zuhause sein.

So lange reiste ich mit dir,

legte ich mich zum Schlafen hin.

Heute bin ich unendlich traurig,

Dein Verlust schmerzt sehr schaurig.

Komm herbei, ich brauche dich,
Bring meinen Freund den Flox auch mit.

Nie werd ich euch Böses tun,
werden schlechte Gedanken um euch ruh’n.“

 

Dieses Lied hörten Hühnerbeinchen und Flox am goldenen Strand des Goldmeeres und waren sehr gerührt. Sie kehrten zu ihrer Hexe zurück und hatten von nun an ein Leben wie im Hühnerhaus Paradies.

 

Alle drei Wochen durfte sich das Hexenhaus auf dem Hühnerbein vergnügen, wobei es sich viel mit Flox, dem Hexenbesen die Zeit vertrieb.

 

Die Hexe Kümmelwurz kam nie wieder auf den Gedanken, ihr Hexenhaus auf dem Hühnerbein wegen eines Zipperleins zu verheizen.

 

Darüber freute sich auch ihre ältere Hexenschwester Hühnergott und besuchte von nun an häufiger ihre jüngere Schwester Kümmelwurz im Hexenhaus auf dem Hühnerbein, die sich überall im Märchenland herum trieb.

 

Beim nächsten Halloween nahmen beide Hexenschwestern am Hexenball auf Schloss Spinnennest teil, wo sie sich sehr schaurige Grimassenmasken aufsetzten und mit der Spinnenhexe Madraga und ihren Gästen viel Spaß hatten.

Während dessen vertrieben sich alle anderen Hexenhäuser und Flugbesen die Zeit auf ihre Weise.

 

® Manfred Basedow, Rostock, 17.11.2017

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.11.2017

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