Manfred Basedow
In einer Wohnung saßen jeden Tag zwei Figuren auf einem Brett des Wohnzimmerschrankes. Sie sahen niedlich aus, glichen Schneemännern, trugen je eine rote Zipfelmütze und einen grünen Schal mit weißen Streifen. Ihre Beine baumelten keck über dem Bretterrand und steckten in kleinen schwarzen Stiefelchen.
Dibbi die linke Figur, unterschied sich durch goldene Streifen auf der Zipfelmütze und rote Handschuhe, von Bibbi der rechten Gestalt mit goldenen Pünktchen und grünen Handschuhen. Nie käme jemand auf die Idee, dass von den beiden eine Gefahr ausgehen könnte.
Der kleine Heiner wohnte mit seiner größeren Schwester Sybille und seinen Eltern in genau dieser Wohnung. Diese befand sich in einem Plattenbau in einem Neubaugebiet einer Stadt am Meer.
Genau dieser Junge hatte die Angewohnheit, dass er jedes Mal, wenn er die Wohnstube betrat, nie an Dibbi und Bibbi vorbei kam, ohne ihnen an den Beinchen zu ziehen.
Das gefiel ihnen aber überhaupt nicht. Eines Nachts um Mitternacht, wo gewohnheitsgemäß die Zeit der Geister und Gespenster begann, erwachten die beiden Figuren und wurden kurzzeitig lebendig.
„Bibbi, ist es nicht unerhört, wie Heiner uns immer behandelt, wenn er in unsere Stube kommt?“, fragte Dibbi. „Ja, mir gefällt das auch nicht. Er weiß gar nicht, wie es uns kitzelt, wenn er uns an unseren Beinen anfasst. Aber, was können wir schon tun?“
Dibbi war der mutigere Zwilling. Er schlug vor, dass sie sich fortan nachts, wenn die Menschen schliefen, dank der Geisterstundenmagie zu menschengroßen Spukgestalten verwandeln wollten. Sie wussten, dass Heiner nie ganz durchschlafen konnte. Dann zwang ihn ein dringliches Bedürfnis auf die Toilette zu gehen.
Er brauchte von seinem Kinderzimmer keinen Umweg über das Wohnzimmer zu nehmen, denn er konnte direkt über den Wohnungsflur an sein Ziel gelangen. Er wollte einfach diesen Kick, die sich fast zu einer Sucht entwickelt hatte, um den Figuren ihre Beine hin und her zu zappeln.
In dieser Vollmondnacht überkam den Jungen wieder der Drang, das Bett zu verlassen und nahm prompt auf dem Rückweg wieder den bereits erwähnten Umweg.
Genau in diesem Augenblick, als er die Figuren berührte, erreichte der Vollmond seinen höchsten Stand und die beiden Gestalten Dibbi und Bibbi wurden lebendig, ließen sich vom Brett auf den Boden gleiten und wuchsen, bis sie den Jungen überragten.
Heiner dachte, er wäre in einem bösen Alptraum gefangen, kniff sich in die Wange. Nein, es war alles real, was er gleich erleben würde.
Plötzlich behandelten sie den Jungen, wie sie sonst von ihm benutzt wurden. Sie griffen ihn, zappelten an seinen Beinen, und ließen ihn auf die Größe schrumpfen, in der sie sonst in der Schrankwand saßen und platzierten ihn genau an diesen Ort. Dabei musste der Knabe lachen, weil er an seinen eigenen Beinen schon immer sehr kitzlig war. Das hatte seine große Schwester Sybille sehr oft ausprobiert.
Da sprachen Dibbi und Bibbi im Chor: „Merkst du jetzt, wie sehr du uns Nacht für Nacht quälst, aber auch tagsüber, wenn du jedes Mal an unseren Beinen ziehst, wenn wir …“
Weiter kamen sie nicht, denn genau in diesem Moment war die Geisterstunde vorbei und sie saßen wieder in der Schrankwand auf ihrem Brett.
Der Junge kam erst jetzt dazu, sich richtig zu erschrecken, weil die beiden Figuren ihm keine Zeit ließen. Trotzdem eilte er erstmal zurück in sein Bett, denn bis zum Morgen blieben noch ein paar Stunden.
Das gerade erst Erlebte ließ ihn aber nicht mehr richtig einschlafen, so sehr nagte sein schlechtes Gewissen in ihm.
Aber, wie konnte er sich abgewöhnen, wonach er süchtig war?
Am folgenden Abend ging es nach dem Sandmännchen wieder ins Bett, und er schlief wieder wie gewohnt, bis er auch dieses Mal ins Bad musste.
Noch im Halbschlaf war sein Erlebnis von letzter Nacht schon längst wieder vergessen. Es kam, wie es kommen sollte, wieder nahm er den Weg über das Wohnzimmer. Wieder konnte er von den Beinen der Gestalten mit Zipfelmützen nicht lassen.
Da passierte genau das Selbe, wie in der Vornacht. Dibbi und Bibbi erwachten und übernahmen wieder die Rolle der Erschrecker für Heiner.
„ … uns nicht wehren können?“, führten sie ihren letzte Nacht unterbrochenen Satz zu Ende.
Zu Heiners Überraschung erwachten auch die anderen Spielsachen aus seinem Kinderzimmer in der Geisterstunde. Auch ihnen gefiel nicht, wie der Junge mit ihnen umging.
Sie kamen ihm bedrohlich immer näher und wollte in seiner Angst laut: „Mama!“ rufen. Doch hinderte ihn der Geisterspuk auch nur einen Mucks von sich zu geben.
Er hatte das Gefühl, als wenn er erneut die Toilette nötig hatte, doch der Weg wurde ihm von den aufständischen Spielsachen versperrt.
„Lasst mich durch, sonst mache ich mir in die Hosen. Ihr ängstigt mich wirklich sehr. Es kommt mir vor, wie ein Alptraum. Warum macht ihr das?“
Gerade in dem Moment war die Geisterstunde wieder um und alle Puppen, Figuren und Spielgeräte lagen dort, wo er sie tags zuvor liegen ließ.
Im letzten Augenblick schaffte er es doch noch aufs stille Örtchen, sonst hätte es eine kleine Katastrophe gegeben.
„Mami, kannst du die beiden Zwerge mit ihren Zipfelmützen woanders hinsetzen? Sie erschrecken mich, wenn ich nachts ins Bad muss“, fragte Heiner seine Mutter. „Warum denn, mir gefallen sie dort am besten, wo sie jeden Tag sitzen. Sie bleiben dort, das ist mein letztes Wort.“
Die nächsten Stunden bis zur anbrechenden Nacht verbrachte der Junge unter großen Qualen.
Doch die Anstrengungen und Ängste ließen ihn schnell wieder einschlafen. Wieder erwachte er, stand auf und schlurfte barfuß über den Flur zum Klo. Hinterher machte er sich wieder auf den Rückweg.
Da war es wieder das dringliche Verlangen, das ihn wie in Trance ins Wohnzimmer zog, wo er wieder mit den Beinchen von Dibbi und Bibbi spielte.
Wieder wurden die Spielsachen lebendig und begannen Heiner hin und her zu schupsen. Denn wieder wuchsen diese in Menschengröße, während er in Spielgerätegröße schrumpfte.
„Was habt ihr mit mir vor? Tut mir nicht weh!“ „Warum sollten wir nicht, denn du schmeißt uns doch auch tagsüber in deinem Spielzimmer von einer Ecke in die Andere.“ „Mir hast du gestern beim Spielen einen Arm abgerissen“, rief der Plüschteddy ihm zu.
Er sah wirklich schrecklich aus, denn nicht nur sein Ärmchen, auch seine Hülle war eingerissen, sodass die Füllung hervor guckte.
Während Heiner rückwärts vor dem jetzt riesigen Bären zurück wich, stellte ihm Dibbi ein Bein, sorgte so dafür, dass der arme Junge hinstürzte und sich tatsächlich sein Linkes brach.
„Jetzt fühlst du selbst, wie du laufend mit uns umgehst.“ Nach und nach rückte jedes Spielzeug heran, von dem fast jedes Blessuren trug, die der Bursche ihnen bei seinem ungestümen Spiel zugefügt hatte.
Gerade in diesem Moment, als Heiner laut: „Mama, au, aua au!“ schrie, war die Geisterstunde wieder um und alle Geräte befanden sich wieder an dem Ort, wo sie vor seinem Zubettgehen gelegen hatten.
Bei diesem lauten Ruf wurde die ganze Familie wach, sie kamen neugierig, um zu schauen, was ihrem jüngsten Mitglied passiert war.
Der Papa kannte sich gut mit medizinischer Hilfe aus, denn er war praktizierender Kinderarzt. Sehr schnell stellte er fest, dass sein Sohn eine Fraktur des linken Wadenbeins hatte.
„Wie ist dir denn das passiert? Du hättest eigentlich im Bett liegen sollen und schlafen?“, fragte die Mama des Jungen besorgt.
Jetzt war er in einer schlimmen Situation, ihnen den Grund seiner Verletzung zu nennen. Würden sie ihm abnehmen, dass seine Spielgeräte ihn in der Geisterstunde zu Fall brachten, um sich für seine Art zu rächen, wie er mit ihnen beim Spielen umging?
Sie wunderten sich auch über den Auffindeort, denn er lag im Wohnzimmer vor dem Schrank, wo die Figuren Dibbi und Bibbi saßen.
„Ich habe geträumt, dass die Zwerge Dibbi und Bibbi lebendig wurden und mich in der Geisterstunde zu Fall brachten. Deshalb habe ich mir mein Bein gebrochen.“
„Du hast aber eine blühende Fantasie, Keramikfiguren, die lebendig werden und Kinder erschrecken“, wunderte sich der Papa. „Er muss sowieso ins Krankenhaus, weil sein Bruch operativ gerichtet, gegipst und geschient werden muss. Ich veranlasse auch, dass er durch die MRT-Röhre geschoben wird, ob sein Gehirn Schaden genommen hat, durch den Sturz.“
„Die Zwerge Dibbi und Bibbi, tanzen um dich rum, bringen im Nu, kleine Jungen um“, spottete Sybille seine größere Schwester.
In dieser Nacht ging es wirklich sehr hektisch zu, denn jetzt ertönte das Martinshorn des Rettungswagens und des Notarztwagens. Genau vor dem Elternhaus von Heiner hielten sie an, was auch gleich die neugierigen Gaffer von nebenan anlockte.
Die Rettungskräfte hatten alle Hände voll zu tun, um den Jungen auf der Trage zum Fahrzeug zu bringen. Schon brausten beide Autos mit Notsignal und Blaulicht ins Krankenhaus der Stadt. Auffällig war für die Familie, dass Heiner keines seiner Spielzeuge mitnehmen wollte, nicht einmal seinen Plüschelefant Jimbo, nein er sperrte sich geradezu.
Na ja, ihr geneigte Leser und Zuhörer könnt euch bestimmt denken, was der Grund war, für seine Familie blieb es eine Fantasiegeschichte ihres jüngsten Kindes.
® Manfred Basedow, 21.02.2017, Rostock
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2017
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