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Die verlassene Stadt

 

Es war einmal ein Land, dessen gesamter Waldbestand durch einen verheerenden Krieg vernichtet worden war.

Der Köhler Hans musste sich deshalb eine neue Heimat suchen, in der er sein Glück zu finden hoffte.

Einige Wochen war er schon unterwegs, doch wohin er auch schaute, statt grüner, blühender Wiesen und satten Wäldern, erblickte er nur kahle, heideähnliche Weiten, die unheimlich wirkten.

Eines Tages erreichte Hans die Grenze des Landes.

Dahinter öffnete sich eine üppige Natur, die so viel Schönheit ausstrahlte, dass dem jungen Mann das Herz aufging. 

 

 

An einem kleinen Weiher legte er eine Rast ein, entkleidete sich und nahm ein kühles Bad. Er schnaufte ordentlich durch, weil er sich wieder frisch und wohlig fühlte.

Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er schon lange

nichts mehr gegessen hatte . Deshalb suchte er die nähere Umgebung ab, ob er etwas Essbares entdeckten konnte.

Endlich wurde er fündig, denn in Ufernähe des Weihers auf einer Wiese,  stand ein Apfelbaum, der voll beladen mit reifen Äpfeln war. Hans wunderte sich, weil sonst keine weiteren Obstbäume an diesem Ort wuchsen. Erfreut drehte er eine Frucht vom Baum und biss hinein.

Plötzlich erschien aus dem Nichts eine alte Frau, die Hans einen fürchterlichen Schreck einjagte.

 

„Wer wagte es von meinen reifen Früchten zu naschen?“ Der junge Mann antwortete: „Entschuldigt, Mütterchen, ich bin schon so lange unterwegs, habe ewig nicht mehr richtig gegessen. Deshalb war ich glücklich, als ich diesen voll beladenen Obstbaum entdeckte.“

Die Frau musterte den jungen Mann genau und meinte: „Du scheinst ein rechtschaffener junger Mann zu sein. Ich verzeihe dir, den Frevel. Doch musst du mir ein wenig zu Diensten sein. Als altes Weib kann ich nicht mehr so, weil ich nicht mehr so beweglich bin, wie früher.“

 

 „Ja, na klar helfe ich Euch. Was kann ich denn für Euch tun?“ „Ernte zunächst diesen Baum komplett für mich ab, weil ich dort nicht mehr richtig herankomme. Fülle sie in die bereit stehenden Körbe.“

 Wie von Geisterhand standen dort leere geflochtene Behälter umher. Er hatte sie vorher gar nicht wahrgenommen. Schnell erledigte er diese Arbeit.

„Wandere auf dem Weg gen Sonnenaufgang immer weiter, bis du eine Stadt erreichst. Wundere dich nicht, denn dort wirst du keine einzige Menschenseele antreffen. Sie wurde durch einen bösen Zauberer mit einem Bann belegt. Sein Name war Teufelsblut. Deine Aufgabe wird es sein, hinter das Geheimnis zu gelangen und diese einst schöne Hauptstadt des Landes der tausend Adlerberge zu erlösen.“

Hans hatte aufmerksam zugehört und fragte: „Was gibt es zu beachten? Es wird sicher nicht einfach werden, gegen so einen mächtigen Zauberer zu bestehen und ihn zu besiegen.“

Die alte Frau sagte: „Du erhältst von mir drei Gegenstände, die du weise einsetzen musst. Nur, wenn du alles genauso verwendest, kannst du die Macht des bösen Magiers brechen und der Stadt ihre einstigen Bewohner nebst der königlichen Familie zurückgeben.

 Nimm diesen Apfel, diesen Apfelblütenzweig und diesen Kern mit. Äußerlich scheint sie eine ganz normale Frucht zu sein. Doch sobald du in die Nähe der Festung kommst, in der Zauberer Teufelsblut lebt, nimm den erst genannten Gegenstand und drehe daran. Dann wird er dich unsichtbar machen, ohne deine Beweglichkeit einzuschränken. Sollte dein Magen knurren, rieche einmal in eine der Apfelblüten und denke an das, worauf du gerade Appetit hast, so wird genau dieses Essen augenblicklich vor dir stehen. Den Apfelkern benötigst du, um den Magier zu überlisten.“

„Wie muss ich denn nun vorgehen, um ihn zu besiegen?“ Die Alte erklärte geduldig weiter: „Bis zur Stadt wirst du ca. vier Tagesreisen unterwegs sein. Gehe in diesen Ort hinein und präge dir besonders ein, was du im Schloss entdecken wirst. Mehr kann ich nicht verraten, das musst du selbst gesehen haben und dir ein Bild machen.“

Gerade wollte sich Hans für die Hinweise der weisen Alten bedanken, da war sie verschwunden, wie sie vorher aufgetaucht war. 

 

Nachdem er sich gestärkt hatte, machte er sich unverzüglich auf den Weg, um diese Mission zu erfüllen. Drei Tage und Nächte war der junge Held schon unterwegs, als sich der Wald lichtete, den er gerade durchschritten hatte.

Vor ihm wurden die riesigen Berge der tausend Adler sichtbar. Sie waren die Namensgeber dieses Landes. Einen Tag später erreichte er eine Stadt, die sich über ein riesiges Felsplateau erstreckte. 

 

 

Hans  fürchtete sich, weil nicht ein Vogel sein fröhliches Liedchen trällerte, kein Frosch im Teich quakte und kein Käfer über die Wiese krabbelte. Mitten in dieser scheinbar leeren Stadt erhob sich die Festung des finsteren Zauberers Teufelsblut, an der Stelle, wo einst das stolze Königsschloss gestanden hatte.

Instinktiv spürte der Köhler, dass es an der Zeit sei, den Apfel zu benutzen.

Er drehte an der Frucht und ehe er es sich versah, war er für jedermann unsichtbar. Selbst sein menschlicher Geruch wurde gegen Witterung geschützt.

Als Hans die Stadt betrat, fielen ihm die windschiefen Häuser auf, deren Fensterläden schief in den Angeln hingen, die Türen waren morsch, sodass der Wind durch die Räume fegen konnte. In den Herden lagen noch die letzten Holzscheite, weil sie noch nicht ganz durchgebrannt waren, als sei dort noch vor einigen Stunden gekocht worden.

 

 

Wie ihm die alte weise Frau eingeredet hatte, suchte der junge Mann nach dem Schloss.

Dank seiner Unsichtbarkeit, konnte er sich frei bewegen, ohne jemanden auf sich aufmerksam zu machen.

Es war sehr mühselig einen Weg zur Festung des Zauberers zu finden, denn ein Magier benötigt keine befestigten Straßen, um sich fortbewegen zu können. Hans musste geschickt wie ein Bergsteiger emporklettern, bis er endlich vor der Zugbrücke stand, die die grausige Behausung mit dem Rest des Reiches verband.

Dazwischen befand sich ein sehr breiter und tiefer Burggraben, der so dunkel aussah, dass jedem normal Sterblichen übel werden musste. So gewann er den Eindruck, als würden ihn tausend Augenpaare anblicken. Hans bekam einen 

fürchterlichen Schreck, obwohl er unsichtbar war, beschlich ihn ein Gefühl, als wenn jemand seine Anwesenheit spüren würde.

Rasch überwand er die alte morsch wirkende Zugbrücke und beeilte sich, in das Burginnere zu gelangen.

Das war geschafft. Jetzt war es an der Zeit sich zu überlegen, was er im Zauberschloss beachten sollte.

„Präg dir alles ein, was du im Zauberschloss zu sehen bekommst“, hatte die weise alte Frau sehr eindringlich gesagt.

Beim Durchschreiten des Schlosses, waren ihm einige Steinhaufen rechts und links des Einlasses aufgefallen, die eher an versteinerte Menschen erinnerten. Er glaubte gar Gesichter erkennen zu können. Nur ließ sich nicht feststellen, ob sie weiblich oder männlich waren.

Je tiefer er in das Schloss eindrang, desto düsterer und grauenvoller wurde der Anblick, der sich Hans bot.

Dann erreichte er einen langen Gang, an dessen Wänden links und rechts übermannshohe Glasmalereien zu sehen waren, auf den ersten Blick schienen sie die Ahnenreihe des Magiergeschlechts der Teufelsblüter zu zeigen. Bei genauerer Betrachtung jedoch, wurde dargestellt, wie der Zauberer die Herrschaft über das Land der tausend Adlerberge erlangen konnte.

Der böse Mann hatte einen Apfelbaum mitten in den Thronsaal gepflanzt, von dem ein schlimmer Zauber ausging. Sobald jemand nur in die Nähe des Baumes kam, wurden ihm die Lebenskräfte entzogen. Nur hüllenlose Steinhaufen blieben genau an der Stelle zurück, wo sie die Wirkung des Apfelbaumes traf.

„Aha, jetzt weiß ich, wie ich den Steinhaufen, ihre alte Gestalt zurückgeben kann.“

Zunächst musste der Zauberbaum vernichtet werden. Dazu nahm Hans den Apfelzweig heraus und reckte ihn dem Himmel empor.

Plötzlich erhellte sich die gesamte Umgebung des Schlosses, denn die Sonne durchdrang die bisherige Dunkelheit in der finsteren Festung. Der Zweig suchte sich einen Platz im Boden und begann sofort Wurzeln zu schlagen. Der Baum des teuflischen Magiers verdorrte, weil er der Macht des goldenen Zauberbaumes nichts entgegensetzen konnte.

Das ließ den fürchterlichen Zauberer Teufelsblut aufschrecken, der merkte, dass da etwas geschah, was nicht in seinem Sinne war.

„Was passiert hier? Wache habt ihr einen Eindringling übersehen?“ –

 „Nein, Eure teuflische Durchlaucht, es ist niemand eingedrungen“, antwortete der Hauptmann der Wachmannschaft.

In dem Moment hatte der Apfelbaum von Hans seinen Zweck erfüllt. Denn sobald er Wurzeln geschlagen hatte, wuchsen in Windeseile lauter goldene Äpfel, die ein besonderes Aroma verbreiteten, wodurch in die Steinhaufen das entzogene Leben zurückkehrte. Mühselig erhoben sie sich von dem Ort, an dem 

sie jahrzehntelang ausharren mussten. Sie bewegten ihre Arme und Beine, weil sie sich freuten, endlich wieder hingehen zu können, wohin sie wollten.

Der Köhler drehte erneut an seinem Apfel und siehe, die Unsichtbarkeit weitete sich auch auf die erlösten Menschen aus.
In der Nähe des Throns entdeckte er zwei Haufen, die sich deutlich von den anderen abhoben. Nachdem sie das Aroma des goldenen Apfels eingesogen hatten, erkannte unser Held den König und die Königin aus dem Land der tausend Adlerberge wieder.

Langsam erwachten sie zu neuem Leben, als wären sie gerade neu geboren.
Hans drehte wieder an seinem Apfel, von der weisen Alten, der alles unsichtbar machte, an den er dachte.

Schnell wurden auch sie gegen falsche Blicke durch Unsichtbarkeit getarnt.

Denn erstmal war es an der Zeit vom Burschen, sich zu überlegen, wie er Magier Teufelsblut überlisten konnte. 

 

 

Endlich kam ihm eine Idee. Wie fast jeder grausame Herrscher konnte auch der Zauberer keinem Schatz widerstehen. Sobald er von einem Haufen Gold Kenntnis erlangte, musste er diesen besitzen.

„Potz sapperlot, ich habe noch nie gewusst, dass mein Apfelbaum goldene Früchte wachsen lässt“, stellte er überrascht fest. Hans hatte nämlich schnell alle goldenen Äpfel seines Wunderbaumes auf einen Haufen gestapelt.

Genau in dem Augenblick, als Teufelsblut nach dem ersten Goldenen griff, lauerte unser Held mit dem Apfelkern, den er als drittes Mitbringsel von der weisen Alten mitgebracht hatte. Diesen warf er nun genau auf den Magier. Plötzlich zuckten Blitze, es knallte, zischte. Als sich der Rauch verzogen hatte, war der böse Mann winzig klein, im Inneren des Apfelkerns gefangen.

Mit einem Mal grollte es immer mehr, Funken sprühten, es sah wie bei einem Vulkanausbruch aus.

Aus diesem Grollen heraus, erstrahlte endlich wieder das Schloss des Landes der tausend Adlerberge, das sich über mehrere Berghänge hinweg erstreckte.

 

Oh Wunder, alle Steinhaufen erlangten ihre ursprüngliche Gestalt wieder. Im Burggraben floss wieder kristallklares Wasser.

 

Jetzt stand plötzlich eine ihm fremde junge Frau vor Hans. Sie gab sich als die weise alte Dame zu erkennen, die ebenfalls vom Zauberer Teufelsblut 

verwandelt worden war.
Sie murmelte einen Zauberspruch, der die Unsichtbarkeit aller vom ehemaligen Fluch Betroffenen aufhob.

 

Der König fand seine Sprache zuerst wieder und fragte sofort nach dem Mann, der sein Königreich von diesem bösen Bann befreit hatte.

Der hatte sich schon längst wieder auf die Suche nach einem geeigneten Forst gemacht, wo er sein Köhlerhandwerk ausüben konnte.

Die geheimnisvolle Frau sagte: „Eure Majestät, der junge Mann, der euer ganzes Reich und Eure königliche Familie aus den Fängen des Zauberers Teufelsblut befreite, ist so bescheiden, dass er schon wieder auf der Suche nach einem Wald ist, wo er aus Holz Kohle brennen konnte.
Ich empfehle Ihnen jedoch, ihn in Euer Schloss zurück zu holen und ihn mit Eurer Tochter der Prinzessin Euridike zu vermählen.“

Die königliche Familie war übermannt, dass dieser kühne Recke ihr Reich befreit hatte.

Sie sandten zwei Männer zu Pferde aus, die ihm die Botschaft überbrachten, wieder in das Schloss zurückzukehren.

Der ganze Hofstaat hatte sich zum Spalier aufgestellt, die den jungen Helden bis zum Thron geleiteten.

„Wir möchten uns bei dem jungen Mann zu bedanken, der uns und unser ganzes Volk von dem bösen Zauberer Teufelsblut befreite. Daher ließen wir dich an unser Schloss zurückbringen.“

 „Das wäre aber nicht nötig,“ wehrte Hans, der Köhlerbursche bescheiden ab.

„Doch, wer sich so heldenhaft verhält, wie du, verdient zur Belohnung die Hand meiner Tochter, der Prinzessin Euridike“, antwortete König Baltimus der Große.

 

Genau in diesem Augenblick tauchte die eben genannte Königstochter neben dem Thron ihres Vaters auf. Sie sah bezaubernd aus, mit wallenden Haaren, die golden wirkten, wie die Früchte aus dem Apfelzauberbaum. Tief blaue Augen fingen sofort den erstaunten Blick von Hans ein, der keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Dieser ließ in ihm nur noch eine Idee zu, die ihm sagte, du wirst ein erfolgreicher König über ein neues Königreich werden.

„Mich hatte der Zauberer zu meinem Leidwesen genau in den Apfelbaum verwandelt, der meinen Eltern und dem Rest den Lebenssaft entziehen musste. Deshalb kam ich mir tausend und dreimal vom Magier Teufelsblut bestraft vor, weil ich seiner Brautwerbung eine klare Abfuhr erteilt hatte.“

Der König ließ keine Ausrede des Köhlers gelten, legte die Hand seiner Tochter in die von Hans und erteilte seinen königlichen Segen. Du erhältst die Krone des Reiches Goldener Apfel.

Das Besondere an diesem neuen Reich war, dass egal ob Menschen, Pflanzen und Tiere, im Einzugsbereich des Goldenen Apfelbaumes sehr fruchtbar waren, die 

vor Krankheiten jeglicher Art gefeit waren und so ein langes Leben genießen konnten.

Die Hochzeitsfeier ging als eine der romantischsten Zeremonien der Märchenwelt in die Geschichte ein. Als Krone erhielt er einen stilisierten goldenen Apfelbaum, der mit rubinroten Früchten verziert war. 

 

 

® Manfred Basedow, 19.09.2017, Rostock

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Tag der Veröffentlichung: 19.09.2017

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