Märchen von Manfred Basedow
Es war einmal an einem unbekannten Meer. Niemand konnte genau sagen, wo es liegen sollte. Der Legende nach, sollte es dort ein magisches Schiff geben, das jeden ins Land der Märchen brächte, der an Bord ginge.
Der junge Bursche Hartmut hatte diese Geschichte als Kind gehört, wenn ihm seine Oma aus einem alten Märchenbuch vorlas.
Viele Jahre später entdeckte der Junge genau dieses Buch in einer versteckten Nische im Haus seiner Großeltern.
„Ich werde solange wandern, bis ich dieses Meer gefunden habe und das Schiff besteige“, dachte Hartmut. Schnell stand sein Entschluss fest. Er las in dem Buch, ob er vielleicht versteckte Hinweise finden konnte. Dass er keine normale Landkarte entdecken würde, war ihm klar.
Hartmut hatte jedoch Glück, denn in dem Buch gab es unsichtbare Schriftzeichen, die mit einem Trick zum Vorschein kamen. Doch es war eine ihm unbekannte Sprache. Ihm kam die Idee, einen alten weisen Mann aufzusuchen, der an einem einsamen Waldsee in einer bescheidenen Holzhütte leben sollte.
Frohen Muts steckte der Junge das Buch in seine Umhängetasche und schlug den Weg in den Wald ein. Es war ein langer beschwerlicher Gang durch dichtes Gestrüpp und unwegsamen Fluchten zwischen uralten Kiefern.
Mehrere Stunden war Hartmut schon unterwegs, bis er zwischen den alten Bäumen Wasser durchschimmern sah. Es war der Waldsee, wo die Holzhütte stehen sollte. Der Junge hatte fast den See umrundet, als er endlich fand, was er suchte.
Der Bursche sammelte sich, nahm seinen ganzen Mut zusammen und pochte an die Pforte der alten Hütte. „Herein, komm nur herein Hartmut. Ich habe schon auf dich gewartet. Das große Orakel offenbarte mir, dass dereinst ein junger Bursche mit dem Namen Hartmut an deine Pforte klopfen wird“, antwortete eine schwache Stimme eines sehr alten Mannes.
Hartmut trat ein, verbeugte sich ehrfürchtig vor dem Mann und sprach: „Guten Tag Herr. Mir kam zu Ohren, dass Ihr ein weiser Mann seid und mir helfen könnt.“ „Wobei benötigst du denn meine Hilfe?“, fragte der Mann nach.
„Ich fand im Haus meiner Großeltern in einer versteckten Nische das alte Märchenbuch wieder, aus dem mir meine Oma die schönen Märchen vorlas, als ich noch ein kleiner Junge war.
Besonders ein Märchen, das von einem geheimnisvollen Meer erzählte, an dessen Ufer es ein Wunderschiff geben sollte, hatte es mir angetan. In dem Buch entdeckte ich eine Geheimschrift in einer Sprache, die ich nicht entziffern konnte. Vielleicht seid Ihr in der Lage, diese zu lesen und mir zu übersetzen.“
Hartmut holte das Märchenbuch aus seiner Umhängetasche und überreichte es dem alten Mann. Auch der blickte sehr gespannt auf das, was ihn nun erwartete. Tatsächlich konnte er den Text übersetzen und schrieb diese auf einem Blatt mit seinem Federkiel und Tinte nieder.
Dort stand geschrieben:
„Suche nach dem „Meer der Wunder“. Es liegt am Ende der Welt und verbindet die gewöhnliche Menschenwelt mit dem wundervollen Land der Märchen. Am Gestade dieses Meeres, wartet das Wunderschiff, das den, der das Gewässer findet, in das Land der Märchen trägt. Dieses Schiff braucht keinen Wind, denn es wird von der Kraft der Fantasie der Menschen getragen, die sich die Märchen erzählen. Sobald du im Land der Märchen angekommen bist, wird dich sein oberster Herrscher Kaiser Blaumuran persönlich empfangen.“
Der Bursche Hartmut fragte den Mann: „Wie komme ich an das Ende der Welt? Wie weit muss ich wandern?“ „Junger Mann, du wirst sehr lange unterwegs sein und während des Weges altern. Doch am Ende wird dir großes Glück widerfahren. Sieben lange Jahre dauert deine Reise zu Fuß bis du an dein Ziel gelangst. Teil dir die Zeit gut ein, damit dir die Kraft nicht vorzeitig ausgeht.“
Der alte Mann übergab dem Jungen einen besonderen Stab und sagte: „Dieser Stab wird dir sowohl als Stütze, als Wegweiser und als Waffe von Nutzen sein. Setze die Mittel klug ein.“ Dieser Stock trug als Griffknauf einen großen Rubin, der rot leuchtete, wenn der Bursche den richtigen Weg einschlug. Blinkte der Rubin, hieß es, dass der Besitzer in die falsche Richtung lief. Drohte ihm von einer anderen Person eine Gefahr, sorgte der Stock, dass sein Peiniger so lange in eine Starre fiel, bis Hartmut weit genug entfernt war.
Hartmut verabschiedete und bedankte sich beim alten Weisen und begab sich nach Hause, um sich auf den beschwerlichen Weg ans Ende der Welt zu vorzubereiten. Am frühen Morgen des nächsten Tages, noch vor dem Sonnenaufgang, brach er auf, um das „Meer der Wunder“ zu suchen.
Inzwischen war der Junge zu einem ausgewachsenen jungen Mann gereift und kam in immer entferntere, unwirtlichere Gegenden. Vor fünf Jahren begann sein großer Fußmarsch. Sein Gehstock leistete ihm dabei wertvolle Dienste. Immer wieder traf er dabei auch auf andere Leute, mit denen er ins Gespräch kam. Der rote Rubin leuchtete und zeigte ihm den richtigen Weg zum „Meer der Wunder“.
In einer Gastwirtschaft wurde Hartmut einmal von einem angetrunkenen Zecher angerempelt. Sofort wollte der aggressive Mann ihm an die Wäsche, doch da blinkte plötzlich der Rubin des Stockes, wie die SOS-Notzeichen bei modernen Schiffen im 21. Jahrhundert.
Als der Mann ausholte blieb er wie angewurzelt stehen, mit der erhobenen Faust und konnte sich nicht mehr bewegen. Selbst sein Fluchen und Schreien hörte niemand.
Die Starre wurde erst gelöst, als Hartmut längst die Zeche gezahlt und die Gastwirtschaft schon etliche Meilen hinter sich gelassen hatte. So lernte der junge Bursche nach und nach die Vorzüge des Gehstockes kennen. Hatte er Hunger, zog der Stab ihn genau an den Ort, wo er sich satt essen und trinken konnte.
Während seiner langen Wanderschaft freundete er sich mit einem Mädchen an, das sich von seiner Sehnsucht das „Meer der Wunder“ zu finden, anstecken ließ und ihm folgte. „Wer bist du und wie heißt du?“, hatte Hartmut sie gefragt. „Tira werde ich gerufen“, war die kurze Antwort des Mädchens. „Warum suchst du das „Meer der Wunder“?“
„Das ist eine lange Geschichte. Meine Oma las mir als Kind aus einem besonderen Märchenbuch vor, in dem unter anderem von diesem sagenhaften Meer erzählt wurde. Später fiel mir dieses Buch im Haus meiner Großeltern wieder in die Hände. Da gab es eine Geheimschrift, die ich nicht entziffern konnte. Deshalb suchte ich einen weisen Mann auf, der sie mir übersetzte. Ich wandere ans Ende der Welt, wo das Meer liegen soll. Kommst du mit mir?“ Darauf erklärte sich Tira einverstanden. Doch Hartmut fragte sie noch einmal: „Du hast noch immer nicht die Frage beantwortet, wo du herkommst.“
Tira sagte: „Ich war ein kleines Mädchen und lebte im Land der Himmelsschlüsselblumen, als dieses Land von einem bösen Ungeheuer überfallen wurde, dem fast alle Bewohner zum Opfer fielen. Wer übrig blieb, sollte fortan der Bestie das Futter herbei schaffen, um nicht selbst gefressen zu werden. Meine Eltern wollten mir dieses Los ersparen und brachten mich bei meiner Tante unter, die in deinem Land der Granitberge lebte. Doch auf Dauer gefiel es mir bei meiner Tante nicht. Sie war so streng zu mir und erlaubte mir rein gar nichts. Deshalb nutzte ich einen unbeobachteten Augenblick zur Flucht. Dabei lief ich dir direkt in die Arme. Lass mich bei dir bleiben. In Gesellschaft reist es sich besser als allein.“
Hartmut stimmte dem zu und wanderte nun in weiblicher Gesellschaft ans Ende der Welt. Sie legten jeden Tag fast fünfzig Meilen zurück und nächtigten meistens im Schutz der Bäume, die in den vielen riesigen Wäldern wuchsen.
„Sieh mal Hartmut, da liegt ein verletztes Tier im Gras“, machte Tira ihren Freund auf etwas aufmerksam, das im Schutz des Farns getarnt lag. „Ja das ist ein kleiner Fuchs. Es scheint, dass er sich an einem Beinchen verletzt hat. Wir werden ihm helfen, sonst wird er eine Beute der Eule in der Nacht.“ „Tira, wir geben ihm einen Namen. Wie gefällt dir Foxi?“, fragte Hartmut. Das Mädchen war einverstanden.
So bekamen die zwei noch einen tierischen Begleiter, denn das Füchslein wich ihnen von nun an nicht mehr von der Seite. Es hatte eine so feine Nase, dass es Gefahren viel schneller erkannte, als seine menschlichen Partner. Stellte er sein buschiges Schwänzchen nach oben, wurden Hartmut und Tira auch gleich aufmerksam und lauschten, von wo die Gefahr lauern könnte.
Als sie schon sieben Jahre auf ihrem Weg zurückgelegt hatten, wurde Tira auf etwas aufmerksam, das silbrig blau zwischen Bergen durchschimmerte. „Sieh Hartmut, das muss das „Meer der Wunder“ sein, nach dem wir so lange suchen.“ Beide fielen sich freudig in die Arme und herzten sich. Alle Spannung fiel von ihnen ab. Sie wirkten wie befreit von einer großen Last.
Die Vorfreude beflügelte die zwei Wanderer, sodass sie die restliche Strecke in zwei Tagen bewältigten. Am vorletzten Tag machten sich Hartmut und Tira ein schönes Lagerfeuer und wärmten sich auf, denn je näher sie dem Ende der Welt kamen, desto kälter und unwirtlicher wurde es.
Da, zwischen zwei Dreitausender gab die Natur den Blick auf dieses „Meer der Wunder“ preis. Wie angewurzelt standen sie da und konnten sich nicht satt sehen, denn so ein majestätisch anmutendes Meer, das auf der Seite, wo sie am Gestade standen, von mehreren Bergketten umsäumt war, hatten sie vorher noch nie erblickt. Der Strand war aus dem feinsten Sand, den es an einem Meeresufer geben konnte. Möwen kreisten über dem Meer und stürzten sich in die Fluten, um kurz danach mit einem erbeuteten Fisch im Schnabel an Land zu fliegen.
Foxi das kleine Füchslein verscheuchte eine Möwe, die vor Schreck ihren Fisch liegen ließ. Darauf hatte das kleine Raubtier nur gewartet, denn es mochte gern frischen Fisch.
Als sie so am Ufer standen, fing die Luft vor ihnen über dem Meer an zu flirren, wie bei einer Fatamorgana in der Wüste. Dann tauchte ein riesiges Segelschiff auf, das fünf Masten mit dichter Segelfläche trug. Die Schiffswände waren aus schwarzem Ebenholz gebaut, und wurden von einem edlen Kajütenaufbau am Heck des Schiffes vollendet.
Von Bord wurde ein Landgang bis an den Meeresstrand herunter gelassen und ein märchenhafter Kapitän kam zu Hartmut und Tira herab: „Herzlich Willkommen an Bord des Wunderschiffes. Es wird euch in das Land der Märchen bringen, wo ihr euer Glück finden werdet.“
Gespannt, was passieren würde, folgten Tira und Hartmut dem Kapitän an Bord des Schiffes. Der Kapitän behandelte Hartmut und seine Freundin wie hohe Staatsgäste und führte sie in jede Räumlichkeit des Wunderschiffes herum.
Das Schiff schwamm nicht einfach auf dem Meer, sondern es tauchte gerade soweit aus dem Wasser heraus, dass es wie eine Möwe direkt über den Wellen dahin schwebte.
Kaum waren sie angekommen, wurden die Leinen gelöst, der Landgang eingeholt und das Schiff entschwand aller Augen, wie eine Fatamorgana. In drei Stunden erreichte es das andere Ufer im Land der Märchen. Dort wurden Hartmut und Tira vom höchsten Herrscher der Märchenwelt Kaiser Blaumuran empfangen.
„Seid herzlich willkommen im Land der Märchen. Ihr seid die ersten Menschen, die es schafften, mit dem Wunderschiff zu uns zu kommen. Ab jetzt gehört ihr auch zu unserer Welt und werdet genauso unsterblich, wie alle Märchenfiguren.“
So wurden Hartmut und Tira in das Land der Märchen aufgenommen. Kaiser Blaumuran ließ ein riesiges Willkommensfest ausrichten, wo beide die Liebe zueinander entdeckten und den Kaiser baten, ihnen seinen Segen zu schenken.
Hartmut und Tira bekamen ein schönes Haus am Ufer des Wundermeeres und wurden eine Fischerfamilie, die bald viele Kinder um sich scharten. Im Land der Märchen ging ihnen der Fisch niemals aus. Kaum war er gefangen, lag er nach Märchenart fertig zubereitet auf dem Tisch und verbreitete seinen aromatischen Duft im ganzen Haus.
Eines Tages ging Hartmut zum Kaiser und sagte, dass er sich freute, wie sich alles zum Guten fügte. „Doch ich sehne mich nach meinen Eltern, die ich in meinem alten Land jenseits des „Meeres der Wunder“ zurück gelassen habe.“ Darauf antwortete der Kaiser: „Das zeichnet dich aus, dass du über dein persönliches Glück nicht vergessen hast, wo du herkommst. Genau in diesem Augenblick müsste das Wunderschiff mit deinen Eltern an Bord erscheinen.“
Hartmut blickte in die Richtung des Meeres. Da kam das Wunderschiff zum Vorschein und ließ Vater und Mutter von Hartmut aussteigen. Wie freuten sie sich, dass sie wieder vereint waren und fielen sich glücklich um den Hals.
Freudig zeigte er ihnen stolz seine Frau Tira und ganze sieben Kinder, die ihre Großeltern ebenso herzlich aufnahmen. So kam das gute alte Märchenbuch von Hans‘ Großmutter doch noch wieder in seinen gewohnheitsmäßigen Gebrauch.
Das war das Märchen „Das Schiff ins Land der Märchen“.
® Manfred Basedow, 11.09.2015, Rostock
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2015
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