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Seit 1973 meine Heimatstadt Rostock

 

 

Im Jahre 1959 wurde ich im schönen Ostseebad Kühlungsborn auf die Welt gebracht und wuchs bis zum 4. Lebensjahr in Heiligendamm auf. Wohnraum war nach dem Krieg knapp. Deshalb wohnten meine Eltern bei meinen Großeltern in der Dienstwohnung, die zum ehemaligen Pflegeheim Heiligendamm gehörte. Meine Oma war dort Heimleiterin bis 1963.

 

Nachdem meine Oma in Rente gegangen war, zogen wir nach Bad Doberan. Heiligendamm ist ja ein Ortsteil dieser Kur- und Bäderstadt. Drei Jahre nach unserem Umzug kam ich in die Schule. Auf dem Buchenberg war die ganz moderne Dr.-Theodor-Neubauer-Oberschule neu gebaut worden und wurde zum 01.09.1966 in Betrieb genommen.

 

Meine ABC-Schützenklasse war die allererste Klasse, die danach bis auf wenige Ausnahmen nach zehn Jahren, die Schule der Polytechnischen Oberschule erfolgreich beendete.

 

Zu dem Zeitpunkt lebte ich aber schon wieder ein paar Jahre in Rostock. Denn meine Mutter war auf der Warnowwerft in Warnemünde als Kranführerin beschäftigt.

 

Großbetriebe, wie die Werften und der Überseehafen zogen immer neue Arbeitskräfte an. Deshalb wurde neuer Wohnraum benötigt.

 

Im Jahre 1962 wurde im damals neuen Rostocker Stadtteil Lütten Klein der erste Spatenstich für dieses neue Wohngebiet in Plattenbauweise gelegt. Da wir inzwischen mit fünf Kindern eine Großfamilie waren und in einer alten engen Wohnung in Bad Doberan in Bahnhofsnähe lebten, bekam meine Mutter eines Tages den Zuschlag, dass wir im Rostocker Stadtteil Lütten Klein eine Vier-Raum-Wohnung erhielten, die sich im ersten Windmühlenhochhaus in der Rigaer Straße 11 befand.

 

Am 08. Dezember 1973 war es soweit. Wir bezogen unsere neue Wohnung in Lütten Klein. Gute gepflegte Gehwege gab es gar nicht. Provisorische Betonplatten führten noch jahrelang bis zu einem breiten unbefestigten Gehweg, der den älteren nördlichen Teil Lütten Kleins mit dem Südlichen verband.

 

Gerade an diesem Tag kam der Wintereinbruch mit dem ersten Schnee. Als wir dann aber die neue Wohnung zum ersten Mal betraten, warfen wir schneller unsere Klamotten vom Körper, als man sich denken konnte. Der Umzugstag war ein Samstag.

 

 

 

 

In dieser Wohnung war es nämlich dank der doppelten Flachheizkörper mit Fernwärme so warm, wie wir es früher in der Alten in Doberan nie gekannt hatten.

 

Dort lag unsere Drei-Raum-Wohnung genau über der Waschküche, die nie geheizt wurde und wo die Luft, durch das dauernde Wäschewaschen immer feucht war. So hatten wir im Winter laufend kalte Füße trotz gefütterter Hausschuhe.

 

In Lütten Klein drehten wir als eine der ersten lebensnotwendigen Schritte die Heizung vollkommen auf Null. Da unsere Wohnung damals in der dritten Etage lag, reichten die Steigrohre, die in die höheren Etagen führten aus, um unsere Wohnung ausreichend zu beheizen.

 

In der ersten Nacht in der neuen Wohnung war auch an Schlaf überhaupt nicht zu denken. Durch die Straßenlaternen, die in Lütten Klein viel heller die Straßen erleuchteten, als die alten Gaslaternen in Bad Doberan, kam es uns vor, als wäre es draußen helllichter Tag. Wir hatten in der ersten Nacht ja auch noch keine Gardinen an den Fenstern, die wir zuziehen könnten.

 

Der Montag, der 10.12.1973 war für uns Kinder der erste Schultag in der neuen Schule in Lütten Klein. Diesen Tag werde ich nie vergessen, denn an diesem Morgen war die erste Unterrichtsstunde mein „Lieblingsfach“ Mathe. Die Lehrerin ließ mich gleich an diesem Morgen eine Klassenarbeit mitschreiben, obwohl sie noch gar nichts über mich wusste und sich keinen Überblick verschafft hatte, wie weit wir in Bad Doberan schon im Lehrplan vorangekommen waren. Natürlich kassierte ich meine erste „Ungenügend = 5“.

 

Später stellte ich fest, dass wir in der alten Schule bestimmt mehrere Wochen Vorsprung im Lehrplan hatten. Als Schüler denkt man ja auch noch anders, als eine erwachsene gereifte Person. Damals dachte ich, prima. Da brauche ich ja ein halbes Jahr nichts mitschreiben, weil ich schon alles im Heft zu stehen hatte.

 

 

 

Als Kind einer kindereichen Familie war ich von den Kosten für die Teilnahme an der Schulspeisung befreit, weil diese subventioniert wurden.

 

Lütten Klein im Jahre 1973 war nicht mit dem vergleichbar, wie dieser Stadtteil heute aussieht. Wenn ich aus unserem Wohnzimmerfenster hinaus sah, wo wir Kinder wegen der großen Fensterhöhe einen Stuhl anstellen mussten, war draußen nur eine wüste Kraterlandschaft mit Bauschutt zu sehen.

 

Das Kreuzungsbauwerk, das über die Stadtautobahn führt, gab es noch gar nicht. Die Dr.-Salvador-Allende-Poliklinik wurde in dem Jahr auch gerade fertig gestellt und einige Tage nach unserem Umzug eingeweiht. In dem Jahr hatte ja General Pinochet den Präsidenten Allende in Chile gestürzt und ermordet. Deshalb bekam die Klinik diesen Namen, zu dessen Eröffnung die Tochter Isabelle Allende anwesend war.

 

Wollten die Lütten Kleiner zum S-Bahnhof, mussten sie mit Linienbussen des Nahverkehrs Rostock entweder zum neuen Bahnhof Lütten Klein, der damals ein Sackbahnhof war. Der nächste etwas weiter entfernte S-Bahnhof war in Schmarl. Das war damals ein kleines Dorf, das auch schon zu Rostock gehörte. Neubauten gab es dort damals noch gar nicht. Von Schmarl konnte man entweder bis zum Hauptbahnhof oder entgegengesetzt bis nach Warnemünde fahren.

 

Damals führte die Rigaer Straße nach der Kreuzung, wo heute die ehemalige Klinik und der Warnowpark mit dem Marktkauf liegen, geradeaus weiter bis zu einer Ampelkreuzung. Alle Nahverkehrsbusse mussten diese Kreuzung überqueren, um geradeaus weiter zu den zwei S-Bahnhöfen zu kommen. Auch Fahrzeuge, die nach Rostock oder nach Warnemünde wollten, mussten diese Kreuzung passieren, um auf die Stadtautobahn zu gelangen.

 

Die Busse des Nahverkehrs waren jedes Mal hoffnungslos überfüllt und verspäteten sich dauernd. So konnte es vorkommen, dass die S-Bahn in Lütten Klein gerade abfuhr. Man sah aber noch die roten Rücklichter der Diesellok.

 

Dann hasteten die Leute zu Fuß so schnell wie möglich weiter nach Schmarl. Nicht selten verpassten sie die S-Bahn dort trotzdem noch. Wollte man nämlich nach Warnemünde fahren, musste man erst über eine alte Brücke auf den anderen Bahnsteig. Im Winter waren die Stufen oft sehr glatt und schlecht abgestumpft. Da blieb es nicht aus, dass sich so mancher einen Arm oder ein Bein brach.

 

Später wurde begonnen, den Tunnel zu graben, der als Unterführung unter der Stadtautobahn hindurch auf die andere Straßenseite führen sollte. Auch die Brücke des Kreuzungsbauwerks wurde in Angriff genommen. Die Bauarbeiten zogen sich aber so in die Länge, dass die Lütten Kleiner sie schon als „Bauwerk des Jahrhunderts“ bezeichneten.

 

Einige Jahre später entstand dann der Stadtteil Lichtenhagen, der nach dem benachbarten Dorf aus dem damaligen Kreis Rostock-Land benannt wurde. Die Einwohner verlangten auch nach einer Anbindung an das S-Bahnnetz der Deutschen Reichsbahn. So wurden dann die Gleise von Lütten Klein über Lichtenhagen parallel der Stadtautobahn bis nach Warnemünde erweitert. Nach der Streckeneröffnung verlor der ehemalige Bahnhof Schmarl seine Aufgabe und wurde aufgegeben.

 

Viele Jahre stand das Gebäude ungenutzt herum und beherbergt heute den Arbeitslosenverein „Dau wat“.

 

Die alten Lütten Kleiner können sich sicher auch noch gut daran erinnern, dass ihr Stadtteil wie in einem Windkanal anmutete. Da dort sämtliche Straßen wortwörtlich nach dem Lineal auf dem Reißbrett entstanden, war es dort immer windig.

 

Bäume und Sträucher gab es auch noch keine. Sie waren damals noch so klein und frisch angepflanzt, dass sie noch keinen Schutz vor Wind bieten konnten.

 

Auch heute quälen sich die Passanten im Bereich der drei Windmühlenhochhäuser in der Rigaer Straße vorbei, in einem ganz schrägen Winkel in den Wind gestellt, dass sie glatt umfallen würden, bei plötzlicher Flaute. Die Lütten Kleiner mussten sich in den ganzen Jahren, seit sie hier leben, oft einen neuen Regenschirm kaufen, weil der Alte Opfer des Windes wurde.

 

Im Jahre 1976 begann ich meine Lehre auf der Warnowwerft in Warnemünde. Das Praktische war, dass ich vom Betrieb einen Stempel des Betriebes auf die Rückseite des Werftausweises bekam. Der berechtigte mich, kostenlos nach Warnemünde zu fahren. Die Fahrkosten übernahm die Werft. Diese wurden aus dem Kultur- und Sozialfonds bezahlt, der jedem Betrieb in der ehemaligen DDR zustand. Dieser richtete sich nach der Betriebsgröße und Beschäftigtenzahl. Die meisten Lütten Kleiner lieben heute ihren Stadtteil und würden heute nicht mehr wegziehen.

 

Seit dem Jahre 2003 sind die Stadtteile Lütten Klein und Lichtenhagen an das Straßenbahnnetz der Rostocker Straßenbahn AG angebunden, sodass die Bewohner dieser Stadtteile ca. in 30 Minuten am Doberaner Platz aussteigen können.

 

Rostock, den 23.05.2014

Autor: ® Manfred Basedow

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Tag der Veröffentlichung: 23.05.2014

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