Die Familie von Tommy hielt sich nun schon sechs Tage in Warnemünde auf und genoss den Urlaub sehr. Für diesen Tag hatte sich Papa Dirk etwas Besonderes ausgedacht. Nach dem Frühstück rief er seine Truppe zusammen und sagte: „Heute gehen wir mal nicht gleich an den Strand. Wir fahren in die Stadt Bad Doberan, die knapp 16 km von Warnemünde westwärts liegt. Wo wir genau hinfahren, verrate ich euch noch nicht.“
So stiegen alle vier in ihr Auto und fuhren die schöne Bäderstraße von Warnemünde durch Dörfer wie Diedrichshagen, Elmenhorst, Ostseebad Nienhagen, Rethwisch bis nach Bad Doberan. Kurz vor dem Bahnhof parkte Papa Dirk das Auto auf einem Parkplatz gegenüber des Prinzen Palais, das ein luxuriöses Hotel mit Restaurant ist.
Als sie den Weg zum Bahnhof einschlugen, fiel den Kindern auf, dass ein sehr, sehr schmaler Schienenstrang ihre Route kreuzte. Die Familie ging auf dem Bordstein den Weg weiter, neben den parallel diese schmalen Schienen verliefen.
Tommy fragte neugierig: „Was für ein Fahrzeug kann auf so schmalen Schienen fahren?“ Papa Dirk antwortete: „Ich verrate nichts. Es wird eine tolle Überraschung, das kann ich euch versprechen.“ Den Weg zum Bahnhof schafften sie in fünf Minuten, der um ein Minihügelchen herum verlief. Von den Doberanern wurde er liebevoll „Drümpel“ genannt. Noch eine Kurve weiter, dann wurde das alte weiße Bahnhofsgebäude sichtbar.
Leider wurde es heute von der Deutschen Bahn AG nicht mehr unterhalten und stand leer umher, wie es heute vielen Bahnhöfen in Deutschland ging. Aber man konnte noch erahnen, dass es mal ein sehr schöner Bau war.
Die Familie sah sich erst mal auf dem Bahnhof um. Ganz links befanden sich lauter schmale Gleise, während auf der rechten Seite Gleise in normaler Spurweite lagen. Am Fahrplan konnten sie lesen, dass die Züge einmal nach Tessin über Rostock und nach Wismar über Kröpelin und Neubukow fuhren. Gerade hatten sie alles erkundet, da hörten sie ein lautes Bimmeln.
Hinter dem Drümpel sah man eine Rauchwolke aufsteigen. Tommy und Mandy rannten schnell nach vorn, um zu sehen, woher diese Geräusche und Erscheinungen herkamen. Da bog gerade die Schmalspurbahn „Molli“ um den Hügel herum und rollte schnaufend und bimmelnd dem Bahnhof entgegen. Kurz vor dem Bahnhof gab es noch einen unbeschrankten Bahnübergang. Deshalb schickte der Lokführer noch zwei warnende Pfeiftöne in den Himmel. Dann hatte der kleine Zug den Bahnsteig erreicht und bremste.
Aufgeregt lief Tommy nach vorn, um den ankommenden kleinen Zug, mit der schnaufenden und bimmelnden Lokomotive näher anzusehen und rief: „Mandy komm schnell!“
Diese lustige Bahn bestand aus einer kleinen schwarz-roten Dampflokomotive, daran schloss sich ein brauner Güterwagon an, acht Wagons, die ein schwarzes Dach, gelb-rote Seiten und an jedem Ende eine Plattform mit Absperrgitter hatten. An einem Wagon stand das Wort Salonwagen dran, dort konnten Passagiere während der Fahrt einen Imbiss genießen.
Die Familie beobachtete, wie die Lokomotive abgekoppelt wurde und hinter den Lokschuppen fuhr. Dort wurde der Tender, wie der Kohlebunker auf einer Dampflokomotive bezeichnet wurde, mit Steinkohle beladen. Der große Wassertank wurde gleichzeitig mit Wasser aufgefüllt.
Dann fuhr die Lok mit der Seite, die bei der Ankunft hinten war, vorwärts wieder nach vorn bis zur Weiche. Dann fuhr sie rückwärts und koppelte am anderen Ende des Zuges an, sodass dieses Mal der Güterwagon hinten war.
Jetzt sagte Papa Dirk, nachdem er viele Fotos mit Molli und Familie geschossen hatte: „Einsteigen! Das ist meine heutige Überraschung für euch. Wir fahren mit diesem fahrenden Museum über Heiligendamm bis nach Kühlungsborn-West, wo die Gleise zwischen Heiligendamm und Kühlungsborn-Ost nur wenige hundert Meter entlang der Steilküste des Ostseestrandes vorbei führen.“
Das ließen sich Tommy und Mandy nicht zweimal sagen. Sie stiegen sehr schnell in den Salonwagen ein, denn dort hatte ihr Papa heimlich telefonisch Plätze reserviert.
Als sie im Wagon waren, beobachteten sie noch, wie ein Zug aus Rostock und wenig später ein Zug aus Wismar den Bahnhof anliefen. Von dort stiegen auch noch Reisende zum Teil mit schwerem Gepäck den Molli. Kühlungsborn war auch ein attraktives Ostseebad, wo Urlauber gern von überall anreisten, mittlerweile auch aus dem Ausland.
Da war auch eine Gruppe asiatisch aussehender Touristen zu sehen. Sie filmten und fotografierten sich gegenseitig mit dem Molli.
Einige Minuten später, als alle Passagiere im Zug saßen, setzte sich die Schmalspurbahn in Bewegung. Das klang ungefähr so: „Schwuff, Schwuff. Schwuff, Schwuff, Schwuff.“ Gleichzeitig begann die lustige Bimmel zu ertönen.
Sehr gemütlich zuckelte die kleine Bahn um den Drümpel herum und erreichte den Parkplatz, wo Tommy das Auto stehen sah. Dann bemerkten sie vor lauter Überraschung staunend, dass der Molli die Straße befuhr, wie die Straßenbahn, die Tommy und Mandy sonst aus Stuttgart kannten.
Am Anfang der Mollistraße hielt der Zug das erste Mal. Da waren mehr fotografierende Touristen zu sehen, als Fahrgäste.
Der Schaffner pfiff in seine Trillerpfeife und gab dem Lokführer das Abfahrtsignal. Darauf setzte sich der Zug wieder bimmelnd auf den Weg mitten durch diese enge Doberaner Altstadt.
Noch einmal hielt der Molli und verließ dann Bad Doberan in Richtung Heiligendamm. Dort verliefen die Gleise parallel entlang der schönsten Lindenallee Europas. Ungefähr zur Hälfte der Strecke erreichten sie die nächste Haltestelle die „Galopprennbahn“. Sie ist die älteste Grasgalopprennbahn auf europäischem Festland nach englischem Vorbild.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten Fahrzeit lief der Zug in den Bahnhof von Heiligendamm ein.
Papa Dirk erklärte den Kindern, dass dies das älteste Seebad Deutschlands war, dass im Jahr 1793 vom Großherzog Friedrich Franz I. gegründet wurde, weil sein Hausarzt ihm geraten hatte, dass Meereswasser gut für die Haut war, wenn man darin badete.
Er erklärte den Kindern auch, dass dort die mächtigsten Menschen der Welt dort im Jahr 2007 zum G8 Gipfel zusammen kamen. Auch der amerikanische Präsident George W. Bush nahm daran teil.
Inzwischen war der Gegenzug von Kühlungsborn auch auf dem Bahnhof Heiligendamm angekommen. Die Strecken waren eingleisig. Deshalb bot der Bahnhof die einzige Gelegenheit, wo sich beide Züge aus den entgegengesetzten Richtungen begegnen konnten.
Der Schaffner hatte der Familie eine Broschüre zur Geschichte des Mollis überreicht. Dort las Tommy, dass die Mecklenburgische Bäderbahn Molli Lehrgänge durchführte, bei denen sie den Titel „Ehrenlokführer“ erwerben konnten. Tommy überredete seinen Vater, sich dafür anzumelden.
Doch erst Mal setzten sie die Tour nach Kühlungsborn fort. Das Wetter spielte auch mit und zeigte sein schönstes Blau, Temperaturen um 28 °C und kaum ein Wind. Der Molli hielt an der Haltestelle „Steilküste“, die nur während der Hochsaison bedient wurde, bevor sie zunächst Kühlungsborn-Ost erreichten.
Dann ging es weiter über Kühlungsborn-Mitte bis Kühlungsborn-West. Dort spazierten sie die Hauptstraße hinunter bis sie den Konzertgarten-West erreichten. Dort begann auch die längste deutsche Ostseepromenade, die mehrere Kilometer lang war und entlang eines sehr feinsandigen Strandes verlief. Dort rasteten sie an einem kleinen Strandimbiss, von denen die gesamte Promenade in Abständen durchzogen war.
Mama Bianca fragte als Familienernährungsministerin: „Kinder seht die tollen Eissorten. Sucht euch jeder zwei Kugeln aus.“
Dort begann Tommy in dem Büchlein über den Molli zu lesen und fand sich in der Welt der Träume wieder.
In dem Traum hatte Papa Dirks Anmeldung zum Ehrenlokführerlehrgang geklappt. Seinen Sohn Tommy durfte er ausnahmsweise mitbringen, weil der ihm diesen Vorschlag unterbreitete. Das sagte Papa Dirk zu Tommy, als es soweit war.
Am frühen Morgen betraten sie noch schlaftrunken den Lokschuppen auf dem Bahnhof von Bad Doberan. Nach der Begrüßung bekamen beide ihren Arbeitsanzug und einen Umkleideschrank.
So trafen sie in ihrem frischen Blaumann auf den Lokführer, dessen Kluft schon einige Tage Arbeitsschmutz auf der Dampflok gesehen hatte. Er begrüßte Tommy und seinen Papa: „Herzlich Willkommen an Bord der Lokomotive der Baureihe 99 2324-4. Diese Lokomotive wurde erst 2009 neu in Dienst gestellt, weil die Schmalspurbahn Molli noch lange zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn unterwegs sein soll. Ich heiße Udo.“
Dann sagte er zu Papa Dirk: „In den ersten zwei Tagen lernst du die Arbeit des Heizers kennen. Denn auf eine Dampflok gehören immer der Lokführer und der Heizer. Eine solche Lok muss fast pausenlos während der Fahrt mit neuer Kohle gefüttert werden, damit die Glut der Kohle das Wasser im Kessel erhitzen kann. Daraus entsteht Wasserdampf, der die Kolben und Schwungscheiben der Lok in Bewegung setzt. Dafür ist eine Dampfmaschine, wie die Mollilok fast wartungsfrei und fährt noch nach hundert Jahren.
Hier hinter dir befindet sich der Tender mit der Steinkohle. Mit dieser großen Schaufel füllst du die Kohle in diesen Kessel, bis der Maximalstand erreicht ist. An diesem Manometer liest du ab, ob der Druck ausreichend ist, sonst musst du wieder Kohle nachlegen.“
Papa Dirk hatte eine kräftige Statur, daher kam er gut mit dieser Arbeit zurecht, obwohl er in kürzester Zeit eher wie ein Schornsteinfeger aussah. Die Aufgabe als Heizer auf einer Dampflok war eben eine rußige Angelegenheit. Sie fuhren also zwei Tage lang mehrere Male zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn-West und zurück.
An den folgenden zwei Tagen führte Lokführer Udo Papa Dirk in die Kunst des Führens einer Dampflokomotive ein. Tommy genoss es mit seinem Papa an Bord, dieser, für ihn, riesigen Dampfmaschine zu sein.
Am Tag der Lehrgangsprüfung durften auch Tommys Mama Bianca und seine Schwester Mandy wieder mit. Nach der letzten Tour bekam Papa Dirk die Urkunde überreicht, dass er jetzt „Ehrenlokführer“ der Mecklenburgischen Bäderbahn „Molli“ war und Dampflokomotiven bedienen durfte.
Tommy bekam auch eine Urkunde mit dem Titel „Jüngster Ehrenlokführer“ überreicht.
Gerade wollte er sie in die Hand nehmen, da stupste ihn seine Schwester Mandy an und meinte: „Tommy du Träumer, warst du wieder in den Tropen? Dein Eis ist bunte Suppe geworden.“ Er blickte sich erschrocken um, und merkte, dass sie immer noch im Strandimbiss saßen.
Das war die Geschichte von Tommy als Ehrenlokführer auf der Lok des Mollis.
Viel Vergnügen wünscht euch
Euer Baltikpoet
® Manfred Basedow
Rostock, 20.09.2012
Texte: Manfred Basedow
Bildmaterialien: Manfred Basedow eigene Fotos
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2012
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