1. Reisetag
Im Februar 1981 begann meine eindrucksvollste und schönste Reise in meinem Leben. Zu diesem Zeitpunkt war ich im Musikdienst beim Musikkorps der Volksmarine Dranske und zwanzig Jahre alt.
Deshalb bekam ich die einmalige Gelegenheit über das Jugendreisebüro der DDR eine Urlaubsreise in die UDSSR zu unternehmen, da wir ja befreundete Völker waren. Es sollte eine neuntägige Bahnreise nach Kiew stattfinden, mit einem Inlandsflug von Kiew nach Wolgograd, die während des 2. Weltkrieges noch Stalingrad hieß und eine der heiß umkämpftesten Städte war. Dort wurde durch den Sieg der Roten Armee der Rückzug der Deutschen Wehrmacht und damit die Beendigung des Krieges eingeleitet.
Am Abreisetag sollten wir uns in einer Kaserne der Nationalen Volksarmee in Berlin einfinden, um die genauen Reiseinstruktionen zu erhalten, da wir ja noch Angehörige der Armee waren. Dort erklärte uns ein Offizier, dass die Bahnreise kurzfristig in eine Flugreise umgewandelt wurde. Der Hintergrund war, dass die polnische Gewerkschaft Solidarnosz die sozialistische Regierung gestürzt und Reformen eingeleitet hatte. Deshalb befürchteten die Organisatoren der Reise Übergriffe auf Reisende aus der DDR, besonders wenn sie Soldaten waren.
Also wurden wir von der Kaserne zum Flughafen Berlin-Schönefeld gebracht, wo wir mit einer TU 154 nach Kiew flogen. So kamen wir ganze zwei Tage früher als geplant dort an. Die ukrainischen Organisatoren waren erst informiert worden, als wir schon im Flugzeug saßen. Als wir auf dem Flughafen in Kiew landeten, wurden wir in einen separaten Raum geführt. Dann warteten wir mindestens zwei Stunden bis wir zum Reisebus gebracht wurden. In der UDSSR war es sowieso durch die Zeitverschiebung zwei Stunden später als in der DDR. So kamen wir zirka gegen 19:00 Uhr russischer Zeit in unserem Junost Hotel in Kiew an. Junost war das Reisebüro der Komsomolzen in der UDSSR.
In Kiew lag Schnee, denn im Februar war ja Winter. Am nächsten Morgen kamen wir ins Hotelrestaurant zum Frühstück. Dort lagen Salatblätter ohne Dressing nur einmal durch Wasser gezogen auf einer Dessertschale neben dem Teller. Es gab Brötchen und Zunge. Später mussten wir erfahren, dass es fast zu jeder Mahlzeit Zunge gab.
Nach dem Frühstück wurden wir unserer ukrainischen Reiseleiterin und Dolmetscherin vorgestellt. Sie erklärte uns noch einmal das genaue Programm für diesen Tag. Wir fuhren mit dem Bus zur Sophienkathedrale, der eindrucksvollsten russisch-orthodoxen Kirche, wo traditionsgemäß die Glockentürme separat neben der eigentlichen Kathedrale standen. Das war ein sehr beeindruckendes Kirchenbauwerk. Die Ausstattung war sehr reich und prunkvoll mit viel Gold und Ikonenmalereien versehen. Kiew galt als die Wiege Russlands, denn die Kiewer Rus war der erste echte Staat auf russischem Boden und Kiew war sehr lange die erste russische Hauptstadt weit vor Moskau und St. Petersburg.
Auf dem zweiten Programmpunkt des Tages stand die Besichtigung des Kiewer Höhlenklosters, das sehr weitläufig am Flussufer des Dnjepr lag. Besonders blieben mir das Hauptportal mit den goldenen Ikonenmalereien und die Kasematten in Erinnerung, wo die Mönche mumifiziert erhalten blieben und nicht verwesten, weil in dieser Höhle immer Temperaturen um 8 °C herrschten. Die Hauptkathedrale fiel leider den Bomben des 2. Weltkrieges zum Opfer. Nur die Ruinen erinnerten noch daran.
Abends nach unserem Abendessen war noch in einem Jugendclub in Kiew ein Freundschaftstreffen mit Komsomolzen geplant. Dort lernte ich meine langjährige Freundin Katja kennen, mit der ich noch lange Zeit im Briefwechsel blieb. Sie überreichte mir ihre Adresse, was ich am letzten Tag vor der Rückreise clever zu nutzen wusste. Ich hatte ihr eine sehr schöne DIA-Serie mitgebracht, wo das Doberaner Münster abgebildet war.
Am dritten Tag besichtigten wir noch ein großes Denkmal. Es war eine Statue des ukrainischen Nationalheiligen, der den christlichen Glauben nach Kiew gebracht haben soll. Er stand auf einem hohen Sockel mit dem Kreuz in der Hand und blickte auf den Fluss Dnjepr.
Einen Tag später reisten wir weiter nach Wolgograd, denn die Urlaubsreise war ja als Städtereise Kiew – Wolgograd – Kiew geplant. Wir fuhren wieder zum Flughafen und flogen wieder mit einer TU 154 der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot nach Wolgograd. So bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben den größten und breitesten Fluss Europas zu sehen. Die Stadt Wolgograd lag am Westufer der Wolga, war mehrere Kilometer lang, aber nur zirka einen Kilometer breit. Denn kurz hinter der Stadt erhob sich der Mamaevhügel mit der großen Krypta zu Ehren der gefallenen sowjetischen Soldaten der Roten Armee.
Auf der Krypta schwang die Mutter Russland ihr langes Schwert in die Luft. Anschließend besichtigten wir noch das Museum, wo die größte Schlacht des 2. Weltkrieges noch einmal nachvollzogen werden konnte.
Am Abend besuchten wir dann noch eine Diskothek in unserem Jugendhotel am Flussufer der Wolga. Dort wurde niemand aufgefordert. Wer Lust hatte zum Tanzen stellte sich auf die Tanzfläche und fing einfach an, sich rhythmisch zu bewegen. Dann kamen andere Tanzwillige hinzu. Hinterher ging wieder jeder seiner Wege. Am meisten legte der Diskjockey Musik von Boney M und Dschingis Khan auf, weil diese Bands mit ihren Songs die russische Seele berührten.
Einen Tag später flogen wir wieder nach Kiew zurück, wo wir uns dieses Mal ohne Aufsicht die Stadt Kiew allein ansehen durften. Diesen Umstand nutzte ich aus und fuhr mit dem O-Bus zur Adresse meiner gerade vor drei Tagen kennen gelernten Freundin Katja. Sie war sehr überrascht und ihre Familie sehr gastfreundlich. Wir verständigten uns mit Händen, Füßen und mit meinem Wörterbuch, dass ich extra mitgenommen hatte. Am Ende schenkte sie mir ein aus Holz geschnitztes Eichhörnchen. Mir wurde von der Dolmetscherin der Reisegruppe später erläutert, dass diese Tiere in Russland und der Ukraine ganz besondere Geschöpfe sind. Sie gelten wohl als Wohlstandsmehrer, weil sie ja Vorräte anlegen.
Am Abend dieses Tages mussten wir die Koffer packen und wurden mit dem Reisebus zum Bahnhof von Kiew gebracht. Der Grund dafür war, dass an diesem Tag kein Flugzeug in Richtung Berlin flog. Deshalb sollten wir mit der sowjetischen Bahngesellschaft nach Moskau fahren. Der Zug fuhr am Abend um 20:00 Uhr vom Hauptbahnhof Kiew ab. Er fuhr immer in nördlicher Richtung und musste fast jeden regulären Zug durchlassen, weil unser ja ein Sonderzug war.
Morgens um 08:00 Uhr sollten wir den Kiewer Bahnhof in Moskau erreichen. Zwei Stunden bevor wir die sowjetische Hauptstadt erreichten, kam die Nachtwagenbegleiterin durch den Zug und ermahnte uns, dass wir jetzt noch schnell auf die Toilette sollten. Denn danach wurden diese zugesperrt, denn auf den Gleisen der Hauptstadt sollten keine „Tretminen“ liegen. Wir gingen sowieso nicht gern dort hin. Wer schon mal eine Toilette in einem russischen Zug gesehen hat, weiß warum.
Irgendwie schaffte es der Zug tatsächlich fast pünktlich um 08:00 Uhr den Kiewer Bahnhof in Moskau anzulaufen. Wir wurden in einen Reisebus geleitet und zum Moskauer Flughafen Scheremetjevo gebracht. Der war damals der modernste Flugplatz im sozialistischen Lager, denn der wurde ja extra für die Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau erbaut, wo die NATO Staaten demonstrativ fern geblieben waren. Dort bestiegen wir nach dem Einchecken eine IL 62. Das war damals die größte Maschine, die Fluggesellschaft Interflug der DDR nutzte. Im Vergleich zur TU 154 war sie innen viel geräumiger und hatte jeweils drei Sitze auf jeder Fensterseite.
So kam ich glücklich nach neun schönen Urlaubstagen in der Ukraine und Russland wieder in Rostock an. Diese schöne Reise wird mir immer in guter Erinnerung bleiben. Leider brach nach einigen Jahren der Kontakt zu meiner langjährigen Brieffreundin Katja ab. Ich würde gern wissen, wie es ihr bis heute ergangen ist, und was sie für einen Beruf erlernte.
Diese Reise im Februar 1981 war für mich die schönste Urlaubsreise, die ich damals über das Jugendreisebüro Jugendtourist der DDR buchen konnte. Jugendreisen waren viel günstiger als Reisen über ein normales Reisebüro. Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist eine sehenswerte Großstadt mit großer Geschichte. Sie gilt als die Wiege Russlands, denn die Kiewer Rus war der erste richtige strukturierte Staat im russischen Riesenterritorium.
Ich möchte neben den Ausführungen auch Bilder zeigen, die ich auf der Reise anfertigte. Damals hatte ich eine für diese Zeit moderne Kamera, die sich K 70 nannte. Sie war ganz klein und flach und ähnelte der Pocketkamera sehr. Die Qualität der Bilder ist bis heute gut geblieben.
Vielleicht bekommen Sie ja Lust diese schöne Stadt zu bereisen.
Viel Vergnügen beim Lesen wünscht
Manfred Basedow
Texte: Manfred Basedow
Bildmaterialien: Manfred Basedow
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2012
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