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Keine Panik. Alles wird gut!

2012

18.45 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Das Schiff leuchtete in makellosem Weiss. Alle Kabinenfenster waren hell erleuchtet und Scheinwerfer und Lichtergirlanden liessen den Cruiser magisch strahlen. Fast alle Passagiere warteten auf das Ablege- und Auslaufmanoever. Dichtgedraengt standen sie an den Reelings, unterhielten sich, lachten, waren mehr oder weniger aufgeregt. Ein Potpourri internationaler Hits sorgte fuer unbeschwerte Stimmung. Unbeschwert. Ohne Schwere. Schwerelos. Bald wuerde es losgehen. Fuenfzehn Minuten noch.
Viele schauten hinueber auf die Lichter der Stadt und das angestrahlte Forte Michelangelo, auf das Faehrschiffterminal, die Hafenanlagen, die Containerschiffe und die Schiffe nach Sardinien, Sizilien, Tunesien, Korsika, Spanien. In der schwindenden Daemmerung konnte man gerade noch die Auslaeufer der Tolfaberge sehen. Und ganz dahinter, im Norden, lag Tarqinia. Sein Tarquinia.
Zum wiederholten Mal hatte er die mittelalterliche Stadt besucht. Diesmal zusammen mit seiner Frau. Wie Volterra, Arezzo, Cerveteri, Chiusi, Cortona, Populonia, Perugia, Orvieto, Veji, Vetulonia und Vulci gehoerte Tarquinia zu den Staedten, die einmal den etruskischen Zwoelfstaedtebund geschlossen hatten, ein Bund, der Angriffs- und Verteidigungsbuendnis gewesen war. Das Herrschaftsgebiet der Etrusker schloss Rom mit ein und reichte weit in den Sueden Italiens hinab; im Norden erstreckte es sich bis in die Poebene. Genuetzt hat es den Etruskern nichts: von Sueden kamen die Roemer, den Norden hatten die Kelten im Griff. Etruskische Anmut, etruskische Kunst und etruskische Kultur unterlagen schlussendlich der militaerischen Schlagkraft der Eroberer zu Land und von der See her. Nicht, dass die Etrusker keine entschlossenen Krieger gewesen waeren – aber eben nicht so entschlossen, ausdauernd und machthungrig wie die Roemer. Und wie das bei den Roemern so ueblich war: Nachdem sie gesiegt hatten, absorbierten sie die Besiegten einfach mit all dem, was ihnen wertvoll und aneignungswert erschien und machten sie zu ihresgleichen - zu roemischen Buergern naemlich.
Er liebte Tarquina. Diese kleine Stadt mit ihren knapp zwanzigtausend Einwohnern, in Sichtweite des Tyrrhenischen Meeres auf einem Huegel gelegen und fast ganz von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben. Er liebte die alten Geschlechtertuerme und Palaeste und die ehrwuerdigen Buergerhaeuser. Er liebte die geheimnisvollen, dunklen Toreinfahrten mit dem Geruch von abgestandener Luft und trockenem Staub und dem Rascheln duerrer Blaetter der vereinzelt wachsenden Olivenbaeume. Er liebte das wuselige Leben in den Strassen am Morgen, die sonnige Verschlafenheit waehrend der langen Mittagsstunden und das Flannieren der Menschen in den fruehen Abendstunden. Und er liebte das Palaver der alten Maenner auf den Plaetzen im Zentrum, das bis in die tiefe Nacht dauerte: Das ist die Tageszeit, in der italienische Maenner die Welt immer wieder neu erfinden. Buchstaeblich jeden Tag.
Ganz besonders aber liebte er das Museum, das Museo Nazionale Tarquiniense mit den abgeloesten Fresken aus den Grabanlagen der Umgebung, den Skulpturen, Sarkophagen und Grabbeigaben. Und noch mehr liebte er die beiden Gefluegelten Pferde aus Terrakotta. Schon seit Langem hatte er sich fuer Pegasus-Darstellungen aus unterschiedlichen Kulturen und Zeitaltern interessiert. Aber die beiden eleganten, schlanken Roesser mit den kurz angesetzten aufgestellten Fluegeln ergriffen ihn jedesmal so sehr, dass er haette weinen moegen. Warum, haette er nicht erklaeren koennen. Das war eben so. Schon als er das erste Mal in Tarquinia war, alleine, auf einer Fahrt durch die Toskana und das Latium, konnte er sich nicht sattsehen an den beiden Pferden. Er hatte gelesen, dass sie ein Fragment eines Vierergespanns darstellten, das einem Streitwagen vorgespannt und urspruenglich als Giebeldekoration in einen tarquinischen Tempel angebracht worden war.
Anderntags, an der Landstrasse zum Bolsener See und nach Orvieto, entdeckte er damals in einer Keramikwerkstatt zwei stark verkleinerte Nachbildungen der Gefluegelten Pferde. Die beiden Halbreliefs hingen unbeachtet an einer Wand. Er kaufte sie beide. Eines fuer sich und das zweite fuer einen Freund, der seit seiner Kindheit ein grosser Pferdeliebhaber war, um nicht zu sagen, ein Pferdenarr.
Zusammen mit seiner Frau, an genau den gleichen Stellen in der Stadt, im Museum oder den Ausgrabungen, war alles anders. Stumpfer. Weniger farbig. Weniger aufregend. Obwohl er sich Muehe gab, ihr einige Dinge zu erklaeren und sie ein wenig bekanntzumachen mit den Geheimnissen und Schaetzen der Etrusker: Sie blieb zurueckhaltend und, fuer ihn unverstaendlich, auffaellig desinteressiert. Die Etrusker jedenfalls, denen man nachsagt, dass sie die Fackel der Wissbegierde, der Erkenntnis, der Musik, der bildenden Kunst und einer verfeinerten Lebensart entzuendet haetten, noch vor oder zumindest zeitgleich mit den antiken Griechen, nein, diese Etrusker konnten keine Fackel und kein Feuer in ihr entflammen. Waeren die Versaces oder Guccis Etrusker gewesen, ja, dann vielleicht. Was sollte er machen? Er hatte es sich abgewoehnt, zu schmollen oder ihr Vorwuerfe zu machen. Sie war auf eine so hartnaeckige Weise rechthaberisch und zurueckweisend, dass es besser war, solche Dinge nicht weiter zu verfolgen. Also Schwamm darueber. So trennten sie sich nach dem Mittagessen, er ging zurueck ins Museum, sie legte sich fuer eine Weile hin. Am Abend holte er sie im Hotel ab, und sie gingen zum Abendessen in ein Restaurant in der Altstadt. Und beiden taten so, als waeren sie nicht enttaeuscht, als waere zwischen ihnen alles in bester Ordnung.


19.03, Freitag der 13. Januar 2012

Die Signalhoerner des Schiffes toenten laut und stolz ueber den Hafen und die Stadt. Der Kommandant des Cruisers, der Italiener Francesco Schettino, war keiner von der stillen Sorte. Er mochte es laut, ueberschaeumend und schnell; sonnengebraeunt, das Hemd oft einen Knopf zu weit offen und meist zuviel Gel im Haar. In Meta di Sorrento, seinem Heimatort südlich von Neapel, sagte man von dem gebuertigen Neapolitaner, er wuerde einen LKW fahren wie einen Porsche. Man hielt grosse Stuecke auf ihn, weil er freundlich war, immer gut gelaunt, grosszuegig und hilfsbereit. Dass er mit seinen 54 Jahren noch ein Draufgaenger war, rechnete man ihm zu seinem Vorteil an. Schliesslich war Italien lange genug das Land des Silvio Berlusconi gewesen.
Die beiden Propellermotoren waren schon seit einer Weile auf Touren gebracht worden. Ueber 57.000 PS hatten sie. Langsam bewegten sich 290 x 35,5 Meter Schiff mit einem Tiefgang von ueber 8 Metern und einer Verdraengung von 50.000 Tonnen von der Mole weg, durchs Hafenbecken und hinaus ins Tyrrhenische Meer. Etwa 4200 Passagiere und Crew-Mitglieder waren an Bord des Kreuzfahrtschiffs der Luxusklasse: 3000 Passagiere aus Italien, Deutschland, Frankreich, Nordamerika, Russland, der Schweiz und aus Oesterreich. Die etwa 1200 Besatzungsmitglieder kamen aus Italien, Deutschland, der Schweiz, aus Peru, Indonesien, Malaysia, den Philippinen. Die Offiziere und die hoeheren Mannschaftsgrade waren Mitteleuropaeer, die niedrigeren Mannschaften kamen aus asiatischen und lateinamerikanischen Niedriglohnlaendern. Die Costa Concordia fuhr unter italienischer Flagge.


19.23 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Er bestellte sich ein Glas Kir.
“Zuhause trinke ich ja normalerweise keinen Alkohol vor dem Essen ...”
„Doch ... so einen kleinen Aperitif goenne ich mir schon oefter einmal. Einen Calvados zum Beispiel. Da schmeckt man die Natur. Und appetitanregend ist er auch.“
„... aber jetzt hier auf dem Schiff ...“
„Na eben, hin und wieder darf man sich schon etwas Gutes tun. Besonders heute. Jetzt, wo die grosse Fahrt gleich losgeht. Ha, ha.“
„Das war ja ein ganz schoener Trubel vorher. Ist ja recht gut gebucht, die Concordia. All die Leute. Und alle so aufgekratzt...“
„...ist doch immer wieder ein Ereignis, an Bord eines solchen Cruisers zu gehen. Ich bin direkt aus Rom hergekommen: Raus aus dem Flieger, rein in den Shuttle und hinauf aufs Schiff. Sind Sie auch direkt aus Rom hierhergekommen?“
„Nein, nein. Wie waren schon am Mittwoch in Civitavecchia ... „
„...wieso so frueh schon? Hatten Sie Angst, das Schiff zu verpassen? Ha, ha, ha.“
„Nein. Nicht ganz. Meine Frau und ich haben uns in Rom am Flughafen ein Auto gemietet und fuhren dann nach Tarquinia. Dort haben wir uns ein Zimmer ...“
„... Tarquinia? Sagt mir wenig. Gibts da was Besonderes zu sehen oder zu tun?“
„Tja, wie man nimmt: Tarquinia ist eine alte etruskische Stadt, die ich einmal vor Jahren auf einer Italienfahrten entdeckt habe und die ich mich damals augenblicklich verliebte. Was es da zu sehen gibt? Fuer eine so kleine Stadt doch eine ganze Menge: Ein beruehmtes etruskisches Museum, eine Reihe mittelalterlicher Tuerme und Palaeste, eine Stadtmauer. Und ausserhalb der Stadt weitlaeufige Nekropole, Grabanlagen, die zum Teil mit wunderbaren Fresken ausgemalt sind. Uebrigens ist Tarquinia vor einigen Jahren als Weltkulturerbe anerkannt worden. Zurecht wie ...“
„Weltkulturerbe, Graeber, mittelalterlich Palaeste, Museum – und so was gefaellt Ihnen?“
„Ja, doch ...“
„... nein, damit koennten Sie mich nicht locken. Was ich an Italien liebe ist seine Eleganz, die schoenen Frauen, das tolle Moebeldesign, die Schuhe, die Kleidung, das Essen, die Weine! Das ist mein Bella Italia. Und so ein Luxusschiff natuerlich. Ach, uebrigens: Gnatz ist mein Name, Ruppert Gnatz aus Graz in der Steiermark. Der Gnatz aus Graz. Ha, ha, ha. Sie wissen schon, Graz, die Bischoefliche Residenz, die Musikhochschule, der Steirische Herbst, der Joerg Haider – ja, so Sachen halt. Ich hab dort eine kleine Werbeagentur gehabt, klein aber fein, hab ich immer gesagt. In der Altstadt, in der Murgasse. Eigentlich mehr eine PR-Agentur. Public Relations – das war und ist mein Metier: Ein bisschen hier, ein bisschen da, ein ‚Kuess die Hand, Gnaedigste’, ein ‚Habe die Ehre, Herr Doktor’ – ja, Sie kennen den Schmaeh wahrscheinlich. Bei uns in Oesterreich ist das ein bisserl so wie in Italien, oder in Italien so wie bei uns in Oesterreich: Man muss halt einen kennen, der einen kennt, der weiss, wo man... Na, ja, Sie wissen schon. Aber was Sie vielleicht nicht wissen: Die Luft da oben in den Teppichetagen der Firmen ist manchmal grauslig kalt und duenn. Was den Menschen dort fehlt ist die Waerme, die menschliche Waerme. Und da leistet der Ruppert Gnatz seine Dienste. Als ‚connecting link’, sozusagen. Ich bring sie wieder zusammen, die Menschen, die Interessen. Ich schaffe Waerme und Beziehungen. Sie sind nicht aus Oesterreich, nein. Sind Sie Deutscher, ja?“
„Ja...“
„Hab ich mir gleich gedacht. Das ist ein Deutscher, hab ich mir gedacht. Und woher, wenn man fragen darf?“
„Aus Berlin. Genauer gesagt, aus Potsdam. Und noch genauer: Aus Potsdam an der Havel und aus Caputh am Schwielowsee, der eigentlich aber nur die erweiterte Havel ist. In Potsdam habe ich mein Buero und in Caputh lebe ich, zusammen mit meiner Frau. Und mein Name ist Markus Sommerlatt. Von Beruf bin ich Vermessungsingenieur.“
„Ja, da schau her, interessant. Die Havel, die erweiterte Havel! Sachen gibts. Auf jeden Fall interessant. Vermessungsingenieur sind Sie? Interessant. Kann mir schon denken, dass es nach Ihrer Wiedervereinigung noch immer allerhand zu vermessen gibt. In der Ostzone. Oder der DDR, wie sie ja geheissen hat, diese sogenannte demokratische Republik. Mit oder ohne Gaensefuesschen. Ja, jetzt sind sie ja wieder wer, die Deutschen. Jetzt erst recht, nach der Vereinigung. Ich bin ja immer fuer Vereinigung. Aber Sie sehn ja selber, auch wir Oesterreicher koennen uns hin und wieder ein paar Tage auf einem Luxusschiff leisten. Ha, ha, ha. Apropos Luxusschiff ... Kennen Sie den? Dumme Frage: Das koennen Sie ja noch gar nicht wissen, oder! Ich erzaehl ihn Ihnen halt einmal. Also:
Ein Kreuzfahrtschiff der Luxusklasse laeuft auf Grund. Panik. Vor allem deshalb, weil schnell klar wird, dass die vorhandenen Rettungsboote zwar nagelneu sind aber leider nicht ausreichen. Von den Mitgliedern der Crew bekommt nun jeder Passagier ersatzweise eine Schwimmweste ausgehaendigt und man hilft den Passagieren, die Schwimmwesten anzulegen. Und nun soll jeder ins Wasser springen. Der Indische Ozean ist ruhig, Haie oder Piraten gibt es nicht und es ist warm. Aber keiner springt. Kein einziger. Die Crewmitglieder versuchen mit allen Mitteln, die Passagiere zum Springen zu bewegen. Sie locken, forcieren, stossen Drohungen aus. Nichts wirkt. Niemand springt. Die Crew ist verzweifelt. Schliesslich rennt einer zum Kapitän und fleht ihn an, gegenueber den stoerrischen Passagieren ein Machtwort zu sprechen. Der Kommandant eilt zu den Menschen, die veraengstigt und verzagt an der Reeling stehen und entsetzt auf die Meeresfluten tief unter unter ihnen starren. Eine ziemlich grosse Gruppe ist das. Der Kapitaen redet mit ihnen. Nicht sehr laut und nicht sehr lang. Dann tritt er zurueck und einer nach dem anderen steigt auf das schmale Potest, holt tief Luft und springt. Einer nach dem anderen. Das dauert eine Weile. Als alle Passagiere von Bord sind, fragt der Erste Offizier seinen Kapitän: „Was in aller Welt haben Sie den Leuten erzaehlt, dass sie schliesslich wie die Lemminge ins Meer gesprungen sind?“ – „Das war eigentlich recht einfach. Der Gruppe mit den Deutschen habe ich gesagt: Das ist ein Befehl! Die Franzosen erinnerte ich: Das ist Ihre patriotische Pflicht. Den Japanern habe ich versprochen: Dieser Sprung ist gut für Ihre Potenz. Und den Italienern habe ich gesagt: Springen ist verboten. "
“Aber Spass beiseite: Sie wissen bestimmt, dass unsere gute Concordia vor drei Jahren die Hafeneinfahrt von Palermo nicht ganz erwischte und sich dabei einige deftige Schrammen geholt hat.“
„Ja, davon habe ich gehoert. Muss recht stuermisch gewesen sein, damals. Aber jetzt haben wir gutes Wetter und die See ist spiegelglatt. Und uebrigens haben wir ja die Hafenausfahrt auch schon hinter uns gelassen ...“
„... und dass so ein herausgeputztes tschechisches Model es damals bei der Schiffstaufe nicht geschafft hat, die Schampusflasche am Schiffsbug zu zerscherbeln: Haben Sie das auch gehoert? Unter Seeleuten gilt so etwas ja als ein maximal schlechtes Vorzeichen. Das muss denen so richtig die Hoerner aufgestellt haben. Jetzt geh ich aber wirklich und zieh mich um ... Ah, das haett ich jetzt fast vergessen. Vor lauter Witzen und Katastrophenberichten: vor gut fuenf Jahren schrammte unser Kapitaen Schettino im Hafen von Warnemünde ein anderes Schiff, fing Streit mit dessen Kapitaen an und hat den Mann auch noch handfest beschimpft. Auf Neapolitanisch natuerlich. Von seiner eigenen Reederei muss er einen ziemlich humorlosen Brief bekommen haben: Zu schnell gefahren und die Hafenregeln missachtet. Aber das Kommando über das größte Schiff der Reederei erhielt dann doch. Also dann. Nix fuer Ungut. Wie sehn uns sicher spaeter noch einmal. So gross kann ein Schiff gar nicht sein, dass man sich innerhalb einer Woche nicht ueber den Weg laeuft. Oder?“
„Ja, dann. Mit Ihrem Witz und Ihren Informationen haben Sie mir fast den Appetit verdorben. Jetzt muesste ich mir bei der huebschen Kleinen glatt noch einen Aperitif bestellen.“
„Tut mir leid. Aber tun Sie sich keinen Zwang an. Wenn ich gewusst haette, dass Sie ... Also bis spaeter wieder einmal.“


19.33 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Die Gemeinde Isola del Giglio besteht aus zwei bewohnten Inseln, Giglio und Giannutri, dazu einigen kleinen unbewohnten Inseln. Weniger als 1.500 Menschen leben auf Giglio, nur 10 auf Ciannutri. Von Giglio bis zum Festland sind es knapp 20 Kilometer. Der Insel Giglio ist eine Felsengruppe vorgelagert, die als Tauchgebiet beruemt ist und Le Scole heisst. Aber auch als gefaehrliches, weil nur teilweise sichtbares Hindernis ist sie bekannt.
Die Costa Concordia verliess die vorgeschriebene Fahrrinne. Kapitaen Francesco Schettino steuerte den Schiffskoloss naeher an die Insel Giglio heran.


19.38 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

In einem kurzen Abstand hielt er den schlanken, halbvollen Kelch mit der Mischung aus Weiswein und Créme de Cassis vor das zusammengekniffene rechte Auge. Die hellrote Fluessigkeit schimmerte wie ein Edelstein. Ueber den Rand des Glases hinweg beobachtete er seine Frau. Zusammen mit einer kleinen Gruppe stand sie plaudernd an der gegenueberliegenden Seite des langgeschwungenen Tresens. Ihr kurzes, aermelloses Kleid war von einem ebenso magisch leuchtendem Hellrot wie der Inhalt seines Glases. Ihr langes schwarzes Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und offen. Es umschmiegte ihren Kopf in langen, sanften Wellen und floss hinab zu den nackten Schultern und bedeckte einen Teil ihres atemberaubend tief ausgeschnittenen Rueckendekolletés. Eine grossartige Erscheinung. 42 Jahre alt und der Star unter den Gaesten an der Cocktailbar. Sie fing seinen Blick auf, schaltete ganz automatisch auf ein offenes Laecheln, zeigte volle Lippen und makellose Zaehne. Dann hob sie ihr Glas und prostete ihm kurz zu. Er erwiderte die Geste. Nur einem sehr guten Beobachter waehre aufgefallen, dass die Augen der beiden stumpf blieben und ohne inneres Feuer. Ihre Blicke waren mehr abschaetzend als liebevoll, und beider Muender blieben maskenhaft starr. Es war sein Kir und ihre Mischung aus Pfefferminzlikoer und Wodka - der Barmann hatte zwei frische Pfefferminzblaetter daraufgelegt -, die in den Glaesern funkelten. Das Rot und das Gruen waren so entgegengesetzt wie die Gefuehle, die sie fuereinander hatten. Sie verstaendigten sich mit einem knapp angedeutetem Kopfnicken, tranken ihre Glaeser aus, hoben sie noch einmal an und verliessen nacheinander den weitlaeufigen Raum. Sie machten sich auf den Weg in ihre Kabine.


19.50 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Ein bodenlanges silbergraues Kleid, eine rote Schaerpe, rote Highheels, eine dichte Korallenkette und Ohrgehaenge aus den gleichen Korallen hatte sie sich schon am Nachmittag zurechtgelegt. Die Farbe der Schuhe und der Schaerpe waren sorgfaeltig auf die der Korallen abgestimmt. Ja, auf solche Dinge verstand sie sich. Dafuer wandte sie Zeit, Geduld, Fantasie und auch jede Menge Geld auf. Da schlaegt ihre Vergangenheit durch, sagte er zu sich selbst. Das war Dora: Das erfolgreiche Model und die ambitionierte, allerdings nicht sonderlich erfolgreiche Modeschoepferin. Jahrgang 1970. Geboren in Ostberlin, verlaessliche Familie, in jeder Beziehung: Vater bei der NVA, Mutter Lehrerin. Beide Eltern ausgesprochen linientreu. Auch heute noch. Sie gehoeren zu den alten SEDlern innerhalb der Linken. Trotzdem mochte er seine Schwiegereltern und hatte wenig Probleme mit ihren inzwischen angestaubten politischen Ansichten.
Die Tochter war mit anderen Wassern gewaschen. Schon als Teenager, also noch zu DDR-Zeiten, modelte sie neben der Schule. Sie war irgendwie wild. Und sehr neugierig, was die Jungs und auch ausgewachsene Maenner betraf. Angetrieben wurde sie zuerst von der aufgestauten und spaeter der ueberschwappenden Lebensfreude der inzwischen 19jaehrigen. „Geliebter Kapitalismus“, schrie sie am 9. November 1989, als die Mauer fiel. „Geliebte Freiheit, geliebter Westen: Ich bin heiss auf euch. Ich komme!“ Und jetzt, gut 22 Jahre spaeter, stand sie unter der Dusche im Bad einer Aussenkabine mit Balkon eines Luxuscruisers und massierte sich das feinherb parfumierte Duschgel auf die Haut.
Wie immer, und wie das bei vielen Paaren so ist, war er lange vor ihr fertig.
„Ich geh schon mal voraus,“ rief er durch die angelehnte Badezimmertuere, „du weisst ja, neun Uhr im Bella Italia, Deck 12. Ich nehme an, man wird uns zeigen, an welchem Tisch fuer uns gedeckt ist. Sei bitte einigermassen puenktlich.“
„Ja, klar, du kennst mich doch.“
„Ja eben. Deshalb sag ich ja: Sei bitte puenktlich!“


20.20 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Von einer der zierlichen Barkellnerinnen hatte er sich ein weiteres Glas Kir bringen lassen. Diesmal mit Champagner anstelle des Weissweins. Einen Kir Royal. Langsam kam er auf den Geschmack. Markus lehnte am Tresen und fing an, seinen Gedanken nachzuhaengen. Die ueberschaeumende Lebensfreude seiner Frau ging ihm noch einmal durch den Kopf. Beides war ihm selbst abhanden gekommen. Und zwar gruendlich. Zuerst das Ueberschaeumende. Und dann die Lebensfreude. Meine Guete, im Mai wuerde er 47. Erst 47. Kaum zu glauben. 1965 war er in Muenchen zur Welt gekommen. Seine junge Mutter studierte noch, Soziologie, und sein nicht viel aelterer Vater war ebenfalls noch Student, er studierte Mathematik. Aber die Eltern waren oefter in teach-ins, in sit-ins oder bei Vorbeitungstreffen fuer irgendwelche politische Aktionen, als in Vorlesungen und Klausuren. Die Aufbruchstimmung in dieser Zeit, der Zeit der 68er-Bewegung, muss gewaltig gewesen sein. Und obwohl die Jungen gegen das System der Alten rebellierten, waren seine Eltern damals doch froh, dass sie Markus haeufig zu seinen Grosseltern nach Pasing bringen konnte. Das waren die Eltern seines Vaters. Sie besassen ein Einfamilienhaus dort und einen schoenen Garten mit Obstbaeumen, Beerenstraeuchern, einem Hasenstall und einer Schaukel. Er mochte seine Grosseltern gerne. Und auch die Hasen.
Dann, 1969, er war gut dreineinhalb Jahre alt, kam er in einen sogenannten antiautoritaeren Kindergarten. Dort war es meistens lustig. Der Kindergarten war in einer schoenen alten Villa untergebracht. Zum Englischen Garten war es nicht weit und hinter dem Haus floss ein Bach. Es waren viele andere Kinder da, manche waren juenger als er, andere aelter. Alle Eltern mussten mitarbeiten: Sie spielten mit den Kindern, kochten, raeumten auf oder machten sauber oder hatten Fahrdienst. Einmal in der Woche trafen sich die Eltern und sprachen ueber die wichtigen Dinge: Ueber den Kindergarten und ueber die Politik. Und manche Eltern waren gar keine Eltern, sondern Bezugspersonen. Und manche Kinder hatten keinen Vater, sondern nur eine alleinerziehende Mutter mit wechselnden Freunden. Solche Kinder suchten oft Streit. Was sie auch durften, denn sie sollten ihre Aggressionen ausleben. Er durfte bei seinen neuen Freunden uebernachten, manchmal fast eine Woche lang. Oder seine Freunde kamen zu ihm nach Hause und blieben, solange sie Lust hatten. Zum Essen gabs oft Wienerwuerstchen mit Kartoffelbrei. Waschen und Zaehneputzen wurde nicht so wichtig genommen. Das war eine abenteuerliche Zeit. Immer war etwas los. Nur zwei Dinge wurde nie aufgeklaert - Dinge, die ihnen als Kinder Raetsel aufgaben: Warum rauchten die Erwachsenen immerfort Gras, wo doch Gras eigentlich ein Viehfutter war? Und wann kam endlich der schwarze Libanese, von dem immerfort die Rede war, so, als erwartete man einen der Heiligen Drei Koenige aus dem Morgenland?
1981 im April durfte er mit seinen Eltern nach Indien. Nach Poona. Zu Bhagwan Shree Rajneesh. Er mochte den Aufenthalt im Ashram und erinnerte sich gerne daran. Die vielen Menschen. Alle mit gelben, orangefarbenen, roten und violetten Sachen an. Sogar die Unterwaesche, meist auch die Badeklamotten. Die Musik, das ueppige Gruen, die exotischen Voegel, die wilden Affen. Und der alte Bhagwan im Rolls Royse. Der hatte es drauf. Gab den Guru und genoss das Leben. Mit dem haette er gerne getauscht. Aber das ganze spirituelle Getue ... Manches daran fand er lustig, aber insgesamt ging es ihm auf den Geist. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die waren sofort Feuer und Flamme: Bhagwan hin, Bhagwan her, einen ausgewachsenen Personenkult betrieben sie. Und der Ashram, die Kundalini- und die Dynamische Meditation, die sieben Chakren, der Samadi-Tank, all die Encounter-Groups, die Enlightenment Intensive-Groups, die Zen Meditation-Groups, das Here-and-Now-Business – die Tage konnte nicht lange genug sein fuer die beiden. Wie aufgezogen waren sie. Waehrend er mit einer 18jaehrigen Jugoslawin Spass hatte. Einen Spass, der mit Bhagwans gepriesener freien Liebe zu tun hatte und deren geheimnisvollen tantrischen Moeglichkeiten. Das war eine lehrreiche Zeit fuer ihn. Aber schliesslich mussten sie wieder zurueck nach Muenchen. Die Eltern waren Sannyasin geworden, Juenger Bhagwans, und trugen Orange und die Mala, eine Kette aus Holzperlen mit einem Foto des grossen Meisters in einem hoelzernen Medaillon. Aber nur in ihrer Freizeit. Denn schliesslich war der Vater inzwischen Mathematiker einer grossen Versicherungsgesellschaft und die Mutter Angestellte der Muenchner Stadtverwaltung. Schoene und gut dotierte buergerliche Berufe also.
Sooft es ging, trafen sich seine Eltern mit anderen Leuten aus der Muenchner Sannyasin-Szene. Manche davon mochte er, manche konnte er nicht ausstehen mit ihrem flippigen Gezicke und den oberflaechlich angeeigneten Woertern und Spruechen von selbsternannten Diplomerleuchteten. Surrender hiess es andauernd, oder become humble, drop your ego, enjoy the here and now. Oder sie fuhren an Wochenden zu Veranstaltungen ins Purvodaja-Zentrum nach Margarethenried. Oder nach Icking an der Isar, wo eine Gruppe von Sannyasin dabei war, eine Bhagwan-Kommune aufzubauen.
Er selbst ging gerne ins Zorba. Das Sannyasin-Restaurant, nicht weit vom Marienplatz entfernt, bot vegetarisches Essen und hatte wirklich Stil. Dort konnte man auch Leute treffen, die gut drauf waren. Besonders die aelteren Frauen darunter. Er verbrachte machen Nachmittag nach der Schule erst im Zorba und den Abend in der Wohnung einer neuen Bekannten ... Also hatten Bhagwan und die Bhagwan-Bewegung letztlich doch jede Menge Spass und Abwechslung in sein Leben gebracht.
Dann war auch das vorbei. Seine Eltern wurden Gruen/alternativ, blieben Vegetarier und interessierten sich auf einmal fuer ein Leben auf dem Land, fuer Lehmbau und Oekodoerfer. Gruen war in, orange und rot waren out. In and out.
Leichte Wehmut ergriff Markus, als er an seinem Glas nippte und an die Zeit zurueckdachte, die inzwischen mehr als dreissig und sogar vierzig Jahre zuruecklag. Die Gedanken an die entschwundene Lebensfreude und das verlorengegangene Ueberschaeumen waren es gewesen, die diese Erinnerungen heraufbeschworen hatten. Erinnerungen an laengst vergangene Zeiten. Und der suess-saure Schmerz, der immer mit dem Gefuehl von Wehmut verbunden ist, hatte sich vorsichtig angeschlichen. Wie ein Indianer. Unbemerkt von hinten. Und war tief in ihn eingedrungen. Mit einer eigenartigen Wollust badete er jetzt in dem Gefuehl. Und wie man manchmal versucht, den Anschluss an einen unterbrochenen Traum wieder zu erhaschen, um mit Genuss in weitere Traumschaum-Episoden eintauchen zu koennen, versuchte er jetzt, sich laenger in seiner bittersuessen Erinnerungswelt aufzuhalten. Er hatte kurz auf die Uhr geschaut: Es blieb ihm noch ein wenig Zeit. Fuer Bittersuesses.


20.25, Freitag der 13. Januar 2012

Manche Gaeste waren aufgestanden und hatten sich auf den Weg zu einem der fuenf Restaurants gemacht. Das ganze Schiff war designmaessig ganz auf Europa getrimmt worden. Deshalb gab es ein Spain Deck und ein Germany Deck, die Grand Bar Berlino, in der er sich gerade befand, die Diskothek Lisbona, das Casino Barcelona und eine Piano Bar Budapest. Joe Farcus, der amerikanische Star-Innenarchitekt fuer Luxusschiffe, hatte sich wirklich alles Moegliche einfallen lassen, die Costa Concordia auf europaeisch zu stylen. Wie die Grand Bar Berlino zum Beispiel, die dem deutschen Biedermeier seine Referenz erweist. Na ja – Mark haette eine am Dessauer Bauhaus orientierte Innenausstattung bevorzugt. Aber Geld liebt oft den Pluesch. Und der Alkohol auch. So ist das eben. Aber das ausgerechnet auf einem italienischen Schiff. Wo die Italiener ihre Bars doch lieber neonhell und spiegelverkleidet haben, mit funkelnden Glaesern und Getraenken in vielen bunten, zum Teil giftig wirkenden Farben.
Nur das Samsara Spa, das groesste Wellness-Center an Bord eines Schiffes ueberhaupt, trug keinen europaeischen Namen: Samsara erinnerte ihn mehr an die Bhagwan-Zeit, es bedeutet im Sanskrit schlicht und ergreifend Die Wanderung durch die Wiedergeburten. Ein etwas eigenartiger Name fuer den Komplex aus Saunen und Massageraemen, einem Gym und einen Teehaus. Fand er. Und das alles unter der Flagge einer italienischen Reederei, die dem britisch-US-amerikanischen Kreuzfahrtunternehmen Carnival gehoert.


20.30 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Der unterbrochene Traum, die Erinnerungen, die anheimelnde Wehmut: Nach dem Abitur wollte er ohne Umwege mit dem Studium beginnen. Vermessungstechnik. Ein seltsamer Berufswunsch, fanden seine Eltern. Als ob ein Versicherungsmathematiker ein etwas weniger seltsamer Beruf war, dieser staubtrockene Buerojob, total verkopft und letztlich immer nur ein Ziel verfolgend, naemlich die Rendite der Gesellschaft zu steigern und die Versicherten auf vielleicht gerade noch legale Weise zu beschubbsen. Da war die Muenchen-Tourismus-Abteilung im Rathaus, in der seine Mutter arbeitete, doch etwas lebendiger. Aber tatsaechlich war sie nur ein kleines Raedchen im grossen Getriebe der Verwaltung einer Grosstadt. Der Grossvater hingegen hatte ihn sofort verstanden. „Da bist du oft an der frischen Luft“, sagte er, „kommst herum im Land und triffst die unterschiedlichsten Leute. Koennt ich mir vorstellen. Das passt doch zu dir wie die Faust aufs Aug. Und eines darfst du nicht unterschaetzen: Das ist ein Beruf, in dem du dich moeglicherweise in ein bestehendes Buero einkaufen kannst, oder, wenn du das Zeug und den Schneid dazu hast, eines Tages vielleicht sogar selber einen Laden aufmachst. Ich war zwar nur ein kleiner Buchhandelsvertreter, aber ein selbstaendiger! Wenn es darauf ankam, hab ich aus meinem Privat-Lager im Keller schnell ein aktuelles Sortiment in einen Karton gepackt und einem Bahnhofsbuchhaendler ausgeliefert, dem der urploetzlich der Stoff ausgegangen ist. Sogar am Sonntagvormittag. Das ist halt der Unterschied zwischen angestellt und freiberuflich. Aber was red ich, das sind Gschichten von gestern. Ja, Bub, ich glaube, dass du da keinen Fehler machst: Ein Vermessungsingenieur, ein Vermesserer, – das ist doch was. Aber erst einmal musst du ja wohl zum Bund, oder nicht?“
Markus diente nicht in der Bundeswehr. Aus verschiedenen Gruenden hatte er sich entschieden, den Zivildienst zu leisten. Die einzig richtige Entscheidung, wie er waehrend der knapp zwei Dienstjahre und auch danach noch meinte. Obwohl die Dauer des Dienstes ausgerechnet 1984 von 15 auf 20 Monate verlaengert wurde. Anstelle oeden Drills und sinnlosen Herumhaengens beim Bund wurde er 1984 Hilfspfleger im Schwabinger Krankenhaus. Das Krankenhaus lag nicht weit von der elterlichen Wohnung entfernt. Das war eine Taetigkeit, die ihn forderte und ausfuellte und die ihm die Augen oeffnete fuer die tief einschneidenden Veraenderungen, die mit dem Krankwerden zusammenhaengen. Das Leiden mancher Patienten ging ihm nahe. Besonders bei den Aelteren, die oft alleine lebten und kaum jemanden hatten, der sich um sie kuemmerte. Und mit dem sie haetten sprechen koennen. So wurde Markus nicht nur Hilfspfleger und Fahrdienstler, sondern auch Beichtvater, Lebensberater, Freund und manchmal so etwas wie ein Ersatzehemann.
Mit dem Studium begann er dann im Herbst 1986. An der Fachhochschule in Wuerzburg. Die 20 Monate als Zivi in der elterlichen Wohnung waren praktisch und angenehm gewesen. Und von Schwabing nach Pasing zu den Grosseltern - das war auch keine Weltreise. Aber jetzt wollte er sich langsam auf eigene Beine stellen. Da waren die knapp 300 Kilometer zwischen Muenchen und Wuerzburg genau die richtige Distanz. Fand er. Wuerzburg und ueberhaupt das ganze Mainfranken gefielen ihm, die Fachschaft war gut organisiert, die Zahl der Studenten ueberschaubar. Es gab attraktive Kommilitoninnen und attraktive Frauen ausserhalb der Hochschule, mit denen er sich verabreden konnte. Zum Bier, zum Abtanzen, ins Kino, zum Stadtbummel, zu Ausfluegen ins Mainfraenkische. Alles weitere ergab sich dann meist von alleine ...
Und trotzdem konzentrierte er sich in erster Linie auf sein Studium, das er 1991 mit Auszeichnung abschloss. Vermessungstechniker war er jetzt, mit dem Zusatz (Dipl.-Ing. FH) in Klammern. Seine Chancen am Arbeitsmarkt waren gut: Landvermessung, Katastervermessung, Ingenieurvermessung im Hoch- und Tiefbau, Tachymetrische Vermessung – nach der Vereinigung der westdeutschen mit den neuen Bundeslaendern in Ostdeutschland 1990 war ein gigantisches Arbeitsvolumen entstanden. Qualifizierte Vermessungsingenieure waren gesucht.
Er war jetzt 26, als er fuer ein ganzes Jahr nach Kreta ging. Nicht aus beruflichen Gruenden. Nein, einfach so. Nein, stimmt nicht - nicht einfach so. Damals im Kindergarten hatte er die dunkellockige Sofia kennengelernt. Sie war die Tochter eines griechischen Gastarbeiters aus Kreta, Vorzeigeauslaenderin und Beispiel fuer gelungene Integration. Markus hatte sich Hals ueber Kopf in sie verliebt. Mit all der Ausschliesslichkeit, mit der sich nur ein Fuenfjahriger verlieben kann.
Spaeter hatten sie in der Schule den alten Homer durchgeackert. Es waren die Irrfahrten des Odysseus gewesen, die ihn fasziniert hatten. Die Abenteuer, die Herausforderungen, die Mutproben, die Inseln mit ihren wilden Bewohnern, das Meer, die felsigen Straende ...
Sofia und Odysseus – diese beiden hatten in ihm frueh eine heftige Sehnsucht nach Kreta und Griechenland eingepflanzt. Deshalb also zog es ihn dahin. Mit dem Auto nach Brindisi, mit der Faehre nach Igumenitsa. Dann Delphi – Olympia – Sparta – Korinth – Athen – Piraeus. Wieder mit der Faehre: Jetzt nach Kreta. Das war seine Reiseroute. Iraklion, Rethymnon, Chania, Chora Sfakion, Plakias, Kamilari. Dort hatte sein Auto den Geist aufgegeben. Es hatte einfach den Motorblock zerrissen. Peng. Eine Reparatur kam nicht mehr infrage. Er verkaufte die Ruine an eine Werkstatt in Mires. Sollten die doch das Beste daraus machen. Nahm sich einen Leihwagen und fuhr weiter. Ierapetra, Kato Zakros, Agios Nikolaos und Malia. Ueberall hatte er sich fuer eine Weile niedergelassen und von dort aus die Umgebung erkundet. Fast jede antike Ausgrabungsstaette besuchte er. Das minoische Kreta wurde ihm so vertraut wie das moderne der schlitzohrigen Schaefer und der pfiffigen Priester, beide geil auf Geld und auf Sex mit Touristinnen. Auf das Kreta mit seinen Rent Room- und Hotel-Besitzern, Autoverleihern, Wirten, Gemuese- und Olivenbauern. Und den alten Frauen, die in schwarzen Witwenkleidern mit ihren Ruecken zur Strasse sassen und Gemuese putzten oder Bohnen aussortierten, ohne dass ihnen jemals der Gespraechsstoff ausgegangen waere.
Er liebte Kreta und fing an, sich Gedanken darueber zu machen, ob die Kreter ... vielleicht ... Vermessungsingenieur ... aus Deutschland ... wer weiss?
Da erreichte ihn der Anruf seines Vaters.
„Der Opa liegt im Pasinger Krankenhaus. Im Sterben. Es kann ganz schnell gehen. Jetzt. Es waere gut, wenn du dich noch von ihm verabschieden wuerdest. Kannst du kommen? Willst du kommen?“
Natuerlich wollte er. Und koennen sowieso: Koffer und Rucksack gepackt. Zimmer bezahlt. Nach Iraklion gefahren. Rueckflug gebucht. Das Leihauto zurueckgegeben. Am Flughafen Muenchen in die S-Bahn. Am Marienplatz umgestiegen. Und direkt nach Pasing ins Krankenhaus.
Seine Eltern, seine Oma, ein Onkel und ein Vetter sassen um das Bett des Sterbenden.


20.30 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Dora hatte ihre schwarzen Haare hochgesteckt und den Schopf mit einer eleganten Haarklammer festgemacht. Sie betrachtete sich im Spiegel. Die Haarklammer hatte ihr Markus zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Sie war aus Silber und fein ziseliert. Wie ein antikes Stueck. Klammeraffe hatte er sie genannt. Die Haarklammer. Denn Dora war alles andere als ein Klammeraffe. Nie haette er sie als Klammeraffen bezeichnet. Auf den Strawanz gehen nannte sein verstorbener Grossvater das, was sie so gerne tat. Der Grossvater, von dem Markus frueher oft erzaehlte. Und den er anscheinend wirklich geliebt hat. Strawanzen bedeutet umherstreifen, sich herumtreiben. Kinder durften das. Denn Kinder sind von Natur aus neugierig. Bei Erwachsenen mag man das eher nicht. Als ob es eine lobenswerte Leistung ist, schon als junger Mensch sein Neugierverhalten und seine Lebensfreude ab- und aufzugeben. Das konnte doch warten, bis man alt und grau war. Oder etwa nicht? Das Strawanzen junger, gutaussehender Frauen war ganz besonders verpoent.
Auf den Strawanz gehen: Als Berlinerin kannte sie den Ausdruck nicht. Sie war erst schockiert und dann beleidigt – eingeschnappt, wie Markus das nannte – als er ihr die Bedeutung des Begriffes erklaerte. Das klang ja gerade so, als waere sie eine Herumtreiberin. Oder als wuerde sie auf den Strich gehen. Diese Westdeutschen! Besonders die aus Bayern! Die hatten ja ein merkwuerdiges Frauenbild. Da war man in der DDR schon viel weiter gewesen. Was Die Rolle der Frau in der Gesellschaft betraf. Das klang jetz aber schon wieder sehr ostdeutsch. Beziehungsweise DDR-maessig-sozialistisch.
Schnell zog sie das Kleid an. Da und dort noch etwas zurecktgeschoben und zurechtgezupft. Die Schaerpe. Die Korallen fuer die Ohren. Die Korallenkette. Zum Schluss die roten Schuhe. Einige winzige Tupfer Parfum hinter die Ohren und zwischen die Brueste. Ein paar halbe Drehungen vor dem Spiegel. Und dann der finale Kontrollblick. Ja, sie konnte zufrieden sein mit dem, was ihr da entgegenblickte. Eine schlanke Frau, gut gepflegt, ein feines Gesicht, hohe Stirn, schoene Brauen, eine gerade Nase, ein grosszuegiger Mund, und …. Ja, die Augen … Auch das beste Makeup konnte nicht verbergen, wie teilnahmslos ihre Augen blickten. Wie wenig Feuer sie hatten. Wie wenig Waerme. Sie hatte dunkelbraune Augen. Sie konnte sich noch erinnern, wie ihre Augen strahlten. Damals, als junge Frau. Bevor das …
Ihre ganze Lebendigkeit und Lebensfreude, ihre Neugierde und ihre Hoffnungen waren vor allem in ihren Augen sichtbar gewesen. Die Brunnen zur Seele oder ihr Spiegel? Aber was spiegelten sie heute? Jetzt? Hier auf diesem Schiff? In dieser luxurioesen Kabine? Mit Balkon? Suendteuer wuerde diese einwoechige Mittelmeer-Kreuzfahrt werden! Civitavecchia – Savona – Barcelona – Palma de Mallorca – Tunis – Palermo – Civitavecchia. Das volle Programm. Die klangvollen Namen. Aber fuer was eigentlich? Fuer wen eigentlich? Eine Ehe-Reparatur-Massnahme? Wuerde das den Glanz und das Feuer in ihre Augen zurueckbringen? In ihr Leben? Wohl eher nicht. Sie jedenfalls hatte jede Hoffnung aufgegeben. Schon lange. Und trotzdem hatte sie sich auf die Kreuzfahrt gefreut.
Sei es wie es sei. Jetzt waren sie beide auf dem Schiff, und sie musste sich beeilen, puenktlich ins Bella Italia zu kommen. Italienischer Sternekoch. Essen vom Feinsten. Italienische Weine. So hiess es in der Vorausinformation. Werbung sagte man frueher dazu. Mal schauen, wie sich die Werbung gegenueber der Wirklichkeit verhielt. Zigaretten und Feuerzeug hatte sie bereits in die Handtasche gepackt. Im Gegensatz zu Markus rauchte sie. Was immer wieder zu kleinen, aber oft giftigen Auseinandersetzungen fuehrte. Ihre schlanke Brieftasche mit Pass, Fuehrerschein, Visa Card, einem engbedruckten Papier mit wichtigen Post- und e-mail-Adressen und Telefonnummern und insgesamt knapp 1000 Euro in verschieden hohen Werten steckte sie dazu. Das Handy legte sie in den Kabinensafe. Das brauchte sie heute Abend nicht. Sie kontrollierte noch einmal den Tresor, verschloss ihn und verstellte die Zahlenkombination des Schlosses.


20.45 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

In dem Moment, als sie die Kabinentuere oeffnete, spuerte sie das Rumpeln. Es fuehlte sich eigenartig an, so, als waere das Schiff ueber eine Bodenunebenheit gefahren. Wie ein Bus auf einer Landstrasse mit Schlagloechern. „Das gibt es doch gar nicht“. Auch das sanft kratzende Geraeusch passte nicht in das Erwartbare. „Was war denn das? Sind wir irgendwo drangefahren?“ Dann ging das Licht aus.
Dora blieb in der offenen Tuere stehen. Halb in der Kabine, halb im Flur. Nach wenigen Augenblicken fasste sie einen Entschluss. Sie holte das Feuerzeug aus der Handtasche, knippste es an und tastete sich mit Hilfe dieses kleinen Notlichtes zurueck. Zurueck ins Schlafzimmer. Zu dem verspiegelten Einbauschrank. Dort waren im untersten Fach zwei Schwimmwesten verstaut. Daran erinnerte sie sich. Irgend etwas warnte sie, dass sie unter Umstaenden eine Schwimmweste brauchen wuerde. Zwischendurch musste sie das Feuerzeug zuschnappen lassen. Es war heiss geworden und verbrannte ihr fast die Finger. Nach einem zweiten Versuch fand sie die Schranktuere und suchte nach den Schwimmwesten. Sie zog eine heraus und tastete damit zurueck zur Tuere. In diesem Moment ging das Licht wieder an. Sie hoerte eine Lautsprecherdurchsage. Erst in Italienisch. Sie verstand kein Wort. Dann in einem stark italienisch gefaerbtem Englisch: ... technical problems ..., konnte sie verstehen. Und ... blackout ... und ... technicians... Mehr nicht. Das wars.
Die Situation war verwirrend. Was sollte sie tun? Fand das Abendessen wie geplant statt oder nicht? Wo war ihr Mann? Wo war Markus? Sie schluepfte in die Schwimmweste. Sie passte gut. Bella Figura. Sie laechelte. Im Spiegel sah sie ulkig aus. Aber verdammt. Sie nahm hier nicht an einem Schoenheitswettbewerb teil. Jetzt erst bemerkte sie es: Die Costa Concordia schwamm nicht mehr waagrecht. Nein, das konnte man beim besten Willen nicht sagen. Also raus hier. Auf dem schnellsten Weg. Und auf die Hilfe der Besatzung vertrauen. Die wuerden wissen, was zu tun ist. Dafuer ist sie ja ausgebildet. Oder etwa nicht? Die Maenner und Frauen in Weiss. Auf ihr mobiles Telefon hatte sie vergessen. Aber sie wollte jetzt nicht mehr zurueck. Das Handy lag im Safe und klingelte: Ta ta ta taam … ta ta ta taam …
Als sie den Gang hinunterschaute, nach rechts, nach links – nichts. Kein Mensch. Die Ebene fiel kraeftig zur Seite ab. Das Gehen war nicht einfach. An der naechsten Abzweigung nach rechts, nach links – nichts. Niemand. ‚Wohin sind all die vielen Menschen verschwunden? „Bin ich vielleicht die einzige auf dem Schiff?“ Dann kam eine Gruppe schlanker, kleingewachsener, dunkelhaeutiger Menschen. Viele in blauer Arbeitskleidung. Indonesier. Malaien. Thailaender. Bangladeshi. Room cleaner. Putzfrauen. Decksjungen. Maenner aus dem Maschinenraum. Sie waren freundlich. Aber Dora konnte sich kaum mit ihnen verstaendigen.
„What has happened? Where are all the people? Where are the members of the Crew? What do I have to do?”
„Sorry lady. No English. No English. Don’t know. Sorry. Problem. Cruiseship. Kecelakann. Not know.”
„Is it serious? What shall I do? Where do I have to go?”
“Sorry. No English. Go deck 4. Deck 4! Go now!”
Er zeigte vier Finger seiner linken Hand. Eine Vier also. Mit der rechten Hand und dem gestreckten Zeigefinger wies er die Richtung.
„Deck 4. Deck 4. Now!“
Schliesslich nahm eine junge Putzfrau Dora an der Hand und ging mit ihr den Gang entlang. Bis zur uebernaechsten Abzweigung. Sie machte Dora auf ein grosses Schild aufmerksam. Darauf waren die Treppenauf- und abgaenge zu den 13 Decks grafisch dargestellt. Den Lift durfte man in Notfaellen nicht benutzen. Das wusste sie. Sie musste die Treppen steigen. Das Bella Italia war auf Deck 9. Ihre Kabine auf Deck 6. Also zwei Decks hintunter. Deck 4. Sie umarmte die junge Frau und bedankte sich. Dann zog sie ihre hochhakigen Schuhe aus und ging in Strumpfhosen zur Treppe. Leichter gesagt als getan. Das Schiff hatte sich inzwischen noch mehr zur Seite geneigt. Das Gehen war anstrengend. Dora war erleichtert, als sie feststellte, dass die Treppen mit Teppichmaterial belegt und gut zu begehen waren. Die Handlaeufe waren griffig und boten einen sicheren Halt. Wenigstens das.
Relativ rasch erreichte sie Deck 4 an. Deck 4. Es verschlug ihr den Atem. Hier waren zwar Rettungsboote. Aber auch Hunderte von Passagieren, die alle einen Platz in einem der Boote ergattern wollten. Moeglichst schnell. Manche trugen Rettungswesten. Aber bei weitem nicht alle. Die Szene wirkte nicht unorganisiert, sondern chaotisch.
„Das wird doch hoffentlich nicht so kommen wie in dem Witz von dieser Plaudertasche, diesen Gnatz aus Graz.“ Um Himmels Willen.“
„Was haben Sie gesagt?“ „Aus Graz?“ „Welche Tasche?“
„Nein, nein. Entschuldigen Sie. Ich habe nur etwas laut vor mich hingedacht.“
„OK. Aber schauen Sie doch zu, dass Sie weitermachen. Ich moechte hier nicht ewig hinter Ihnen stehen muessen und Wurzeln schlagen.“
„Sachse“, zerkaute sie zwischen ihren Zaehnen. Immer diese neunmalklugen Sachsen.
Auch auf Deck 4 stellte sich schnell heraus, dass von der Bootsbesatzung, den Damen und Herren in Weiss, so gut wie niemand da war. Wohin hatten sich die verdrueckt? Personal aus einer der Restaurantkuechen wiesen die Passagiere in die Rettungsboote ein. Keiner wusste so richtig, was er zu tun hatte. Die Passagiere waren verunsichert und zum Teil verwirrt. Einige waren koerperlich behindert. Das Ganze zog sich. Fast ohne Ende. Die Menschen draengten sich. Aber im Grossen und Ganzen blieben sie diszipliniert. Nur einige Italiener zogen Nummern ab. Laut und mit Hingabe. Wie auf einer Schaubuehne. Man haette glauben koennen, sie probten fuer die Auffuehrung einer Dragikkomoedie. In Neapel zum Beispiel.


20.35 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Auf der Bruecke der Costa Concordia stand Francesco Schettino, braungebrannt wie immer, gut gelaunt, das kurzaermlige, bluetenweisse Hemd weit aufgeknoepft. Die Haare auf der Brust waren gut zu sehen. Sein gegeltes Haar und mehrere Goldkettchen an Hals und Handgelenken glaenzten im gedimmten Licht. Neben ihm stand Domnica Cemortan, eine 25jaehrige Moldawierin, Taenzerin, Blondine, Mitglied der Crew. Dass die Beziehung zwischen den beiden intimer war, als es nach aussen hin den Anschein haben durfte, war fuer viele Besatzungsmitglieder ein offenes Geheimnis. Aber warum war Domnica auf der Bruecke? Sie hatte dort nichts zu suchen. Und Antonello, ein Oberkellner, der auf der Insel Giglio zu Hause war? Der Kapitaen hatte ihn bereits am Nachmittag wissen lassen, dass fuer den Abend eine Verneigung vorgesehen war. Eine Verneigung ist ein nicht ganz ungefaehrliches, aber durchaus uebliches Manoever in der Kreuzschiffahrt. Um die Passagiere zu unterhalten und die Kuestenbewohner zu gruessen, fahren die riesigen Schiffe manchmal atemberaubend nahe an die Kueste heran und lassen die Sirenen heulen. Erst im August 2011 war die Costa Concordia der Kueste von Giglio vergleichbar nahegekommen. Sehr zur Freude des Buegermeisters, der sich bei Kapitaen Schettino per e-Mail ausdruecklich dafuer bedankt hatte. Auch im Namen der Inselbewohner und der Feriengaeste, die das aufregende Schauspiel beobachtet hatten.
„Antonello, schau mal, wir liegen direkt vor deiner Insel.“
„Achtung! Wir sind ja total nah an der Kueste!’


20.40 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

An die 3000 Passagiere zum Abendessen – das muss organisiert sein. So etwas bewunderte Markus: Die Leistung, die Erfahrung und die Faehigkeit, die hinter so einem Akt steckte. Soviele Gaeste in einem relativ knappen Zeitrahmen zu bewirten. Essen. Trinken. Sonderwuensche. Aber jetzt musste er sich wirklich auf den Weg machen. Er wollte nicht, dass seine Frau vor ihm am Tisch eintraf. Also winkte er der Kellnerin und zeichnete die Rechnung ab. Dann stand er auf.


21.45 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Es klang wie ein Schuss. Kurz und trocken. Die Lichter gingen aus. Die Menschen in der Bar wurden unruhig. Manche schrien. Andere riefen Namen. Suchten nach Ehepartnern. Nach Freunden. Nach Familienmitgliedern. Dann ein Stoss. Ein Rumpeln. Ein Schaben. Ein Reissen. Keine Lautsprecherdurchsage. Wahrscheinlich lag das daran, dass der Strom ausgefallen war. Markus war verwirrt. Innerhalb kuerzester Zeit neigte sich der Schiffskoerper zur Seite. Dinge kamen ins rutschen. Glaeser, Aschenbecher, Tischdekorationen. Schaelchen mit Nuessen und Kraecker fielen zu Boden und verteilten ihre Inhalte ueber den Teppichboden. Er hatte den Eindruck, dass das Schiff stark an Geschwindigkeit verloren hatte.
„Das fuehlt sich nicht gut an“, sagte er zu dem Maedchen, das neben ihm stehengeblieben war.
„Gar nicht gut.“ Sie konnte sein Deutsch nicht verstehen, aber offenbar verstand sie ihn auch so. Sie nickte. Das konnte er spueren.


21.49 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Der Erste Offizier meldete Kapitaen Schettino die Ueberflutung des Maschinenraums. Die Costa Concordia fuhr jetzt sehr viel langsamer: Die Geschwindigkeit betrug nur noch 5 km/h.


21.53 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Das Licht ging wieder an und er sah, dass die junge Kellnerin unter ihrer schokoladefarbenen Haut tatsaechlich bleich geworden war. Der Hautton hatte sich deutlich ins Gelbliche veraendert. Eine Frauenstimme toente ueber die Lautsprecheranlage:
„Meine Damen und Herren. Hier spricht Ihre Crew. Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit.“ Die Frau sprach Englisch mit einem stark italienischen Akzent. Markus fiel es schwer, sie zu verstehen. Auch wirkte sie aufgeregt, was im Widerspruch zur folgenden Durchsage stand.
„Wegen technischer Probleme hatten wir gerade einen Blackout. Es besteht ueberhaupt kein Grund zur Panik. Bitte bleiben Sie ruhig. Unsere Techniker arbeiten bereits daran, das Problem zu loesen.“
Die Passagiere reagierten unterschiedlich. Abwartend. Aengstlich. Wuetend. Manche wurden hysterisch. Eine juengere Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch. Sie sass zusammengekauert in einem Sessel und wurde von Weinkraempfen geschuettelt. Die Misstrauischen ueberlegten, ob sie ihre Kabine aufsuchen sollten. Wertsachen. Schmuck. Bargeld. Ausweispapiere. Sollten sie all das unbeaufsichtigt im Kabinensafe lassen? Aber dann unterwegs noch einmal ein Stromausfall? Was dann? So blieben die meisten wo sie waren und warteten auf Anweisungen. Doch kein Besatzungsmitglied war bislang erschienen. Kein einziges. Schliesslich kamen dann doch zwei Stewards und baten die Passagiere, nach draussen zu gehen. Niemand sagte ihnen, was passiert war, wie sie sich verhalten und was sie genau tun sollten.


22.05 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Auf einmal wurde Markus klar, dass er keine Ahnung hatte, wie er Dora finden koennte. Er versuchte, sie ueber sein Mobiltelefon zu erreichen. Er hatte auch ein Signal. Aber sie meldete sich nicht. Ihre Mailbox war nicht aktiv. Er wusste nicht, ob sie rechtzeitig ins Restaurant gekommen war. Und ob sie ihr Telefon bei sich trug oder nicht. Offenbar war es inzwischen unmoeglich, irgendwohin zu kommen. Was fuer eine verquere Situation. Was fuer ein beschissenes Gefuehl. Fasst nichts hasste er mehr als Ohnmacht. Und Situationen, die ausser Kontrolle gerieten.
Was ihm in diesem Minuten ebenfalls klar wurde, war, dass er und die anderen Passagiere tatsaechlich keine Ahnung hatten, wie sie sich in dieser aussergewoehnlichen Situation verhalten sollten. Waren sie in Seenot? Gab es einen funktionierenden Evakuierungsplan? Gab es genuegend Rettungsboote und Rettungswesten? Wo gab es die? Und wie kam man in die Boote? Und was musste man dann tun? Niemand hatte ihnen gesagt, wie man im Notfall in ein Rettungsboot stieg. Sie waren ja erst vor fuenf Stunden an Bord gegangen. Wann also haette so eine Uebung stattfinden sollen? Er musste an den bloeden Witz des Oesterreichers denken. Dieser Herr Gnatz aus Graz. Vielleicht mussten zum Schluss doch die Uebriggebliebenen ins Meer springen. Aber diesmal ins winterlich kalte Tyrrhenische. „Gerade eben habe ich die Organisation bewundert. Und jetzt alles nur noch Chaos!“


22.12 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Passagiere riefen Verwandte und Freunde an. Eine Mutter telefonierte mit ihrer Tochter:
„Wir hatten einen Unfall mit dem Schiff. Ich bin in Seenot und habe eine Rettungsweste angezogen.“ Die Tochter alarmierte die Polizei. Ein anderer Angehoeriger informierte die Polizei, dass den Passagieren beim Abendessen Gegenstaende auf den Kopf gefallen seien. Die Polizei alarmierte die Hafenkommandatur in Livorno. Der Anruf eines Hafen-Beamten wurde auf der Bruecke des havarierten Schiffes entgenommen:
„Was ist denn los bei euch? Was habt ihr fuer ein Problem?“
”Wie haben einen Stromausfall. Wir sind dabei, die Ursachen herauszufinden.“
„Habt ihr die Passagiere angewiesen, Schwimmwesten anzuziehen?“
„Wir ueberpruefen, was es mit dem Stromausfall auf sich hat.


22.15 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Fuenf oder sechs Kammern waren bereits ueberflutet. Unter anderem der Maschinenraum. Immer mehr Wasser drang ein. Die Schlagseite nahm rasch zu. Ploetzlich wendete das Schiff und hielt auf den Hafen von Giglio zu. Sollte dieses Manoever helfen, die Schiffbruechigen zu retten? Die Costa Concordia hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Neigung von 20 Grad. Alle Schiffe in der Naehe waren zum Unfallort gerufen worden. Und dennoch weigerte sich Schettino, das Schiff evakieren zu lassen. Es entbrannte ein heftiger Streit auf der Bruecke. Dann kam es zu einer Meuterei. Die Offiziere wollten den Kapitaen zwingen, endlich das Schiff evakuieren zu lassen.


22.30 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Robertio Bosio, ein Kapitaen der Costa Crociere S.p.A., Gast auf der Costa Concordia und jetzt ebenfalls auf der Bruecke, erteilte den ersten Raeumungsbefehl. Ueber die Befehlsgewalt von Schettino hinweg. Deck 4 durfte evakuiert werden.


22.44 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Die Finanzpolizei fuhr Patroullien. Eines der Boote entdeckte, dass die Costa Concordia mit ihrer Steuerbordseite auf Grund gelaufen war und festsass. Das Patrouillienboot schlug Alarm: Das Kreuzfahrtschiff war in unmittelbarer Naehe des Hafens von Giglio gekentert. 500 Meter waren es vom Schiff bis zum Hafen, 150 Meter bis zum Ufer.


22.56 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Endlich erteilte Kapitaen Francesco Schettino den Befehl zur Evakuierung seines Schiffes.


22.58 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Das Evakuierungssignal ertoente. Es war weithin zu hoeren. Ueberall im Schiff. Auf den Inseln. Auf dem Meer. Die aufgestaute Unsicherheit und die Wut der Passagiere entlud sich. Panik. Chaos. Es wurde gerannt. Gestossen. Geschlagen. Die meisten befuerchteten, keinen Platz in einem der Rettungsboote zu ergattern. Ueble Szenen spielten sich ab. Gebildete, lebenserfahrene und wohlhabende Buerger verloren ganz schnell ihre Gelassenheit und Wuerde. Es waren die gleichen Menschen, die noch wenige Stunden vorher heiter und gluecklich nach Civitavecchia hinuebergewinkt hatten. Die nackte Angst ums Ueberleben liess manche zu unbeherrschten, wilden Asozialen werden. Wie in jeder anderen Wettbewerbsgesellschaft auch, war das schlecht fuer die Alten und die Schwachen und ganz schlecht fuer die Behinderten.


23.30 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Wer konnte, drueckte und schob, stiess und kaempfte um einen Platz in einem der Rettungsboote. Es waren genuegend Boote vorhanden. Rettungswesten ohnehin. Aber die mangelhafte Organisation der Evakuierungsmassnahmen hielt die Panik unter den Passagieren am Kochen. Manche waren so verzweifelt, dass sie von Bord ins kalte Meer sprangen. Sie versuchten, das rettende Ufer schwimmend zu erreichen. Ein 70jaehriger Mann erlitt in dem eiskalten Wasser einen Herzinfakt. Dutzende anderer wurden verletzt. Andere sprangen in bereits ueberfuellte Rettungsboote. Verletzten sich dabei und andere.


23.30 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

”So gross kann ein Schiff gar nicht sein …“, murmelte Markus vor sich hin. Wieder versuchte er, seine Frau ueber ihr Handy zu erreichen. Wieder nichts. Das wuerde nicht einfach werden. Immerhin waren es ueber 4000 Menschen, die vom Schiff erst einmal auf die kleine Insel evakuiert werden mussten. Ueber 4000. Aber irgendwie wuerden sie sich schon finden. „Es hat Tote gegeben“, hoerte er jemanden sagen. „Und viele Verletzte.“ Kein Wunder, bei dem hysterischen Durcheinander. Die Mannschaft der Costa Concardia schien nicht auf der Hoehe zu sein. Von den Offizieren liess sich niemand blicken. Es waren die Mannschaften, von denen die Evakuierung geleitet wurde. Ein junger Asiate war es dann auch, der Markus am Arm nahm und ihm zeigte, wohin er gehen sollte. Schliesslich half man ihm, in eines der Beiboote zu steigen. Mit vielen anderen Schiffbruechigen sass er nun und wartete. Was sollte er sonst auch tun? Sitzen und warten. Irgendwie wuerden die das schon auf die Reihe bringen. Gleichzeitig beobachtete er, wie schwer man sich tat, die Rettungsboote abzulassen und einigermassen sicher aufs Wasser zu bringen. Die extreme Schraeglage der Costa Concardia haette auch eine besser trainierte Mannschaft beim Ausschiffen der Beiboote vor Probleme gestellt. Einige der Boote hingen aeusserst schraeg in der Luft, andere wurden viel schneller als vorgesehen heruntergelassen und knallten hart aufs Wasser. Schwer wie zwei afrikanische Elefanten, sei der Anker, hatte der Gnatz aus Graz gesagt. Und jetzt? Wo lag der Anker? Wo waren die Elefanten? Wo war Dora? Wie gings dem Ruppert Gnatz jetzt? Ob er immer noch, oder schon wieder, Kreuzschiffahrtswitze erzaehlte? Oder Kreuzfahrerwitze: „Was ist der Unterschied zwischen einem Kreuzschiffahrer und einem Kreuzfahrer? Es gibt keinen: Fuer beide kann die Reise toedlich enden.“


23.35 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Den Koerper verdreht, drueckte sich Dora an die glatte Kunststoffwand des Bootes. Sie lag nahe dem jungen Mann, der verzweifelt versuchte, den 40-PS-Motor zu starten. Ein Decksjunge? Ein Maschinist? Er wirkte so, als wuerde er das erste Mal in seinem Leben versuchen, so ein Rettungsboot flott zu kriegen. Schweissperlen glaenzten auf seiner Stirne und Oberlippe. Dora stoehnte. Die Schmerzen kamen in Wellen und steigerten sich bis an die Grenze des Ertraeglichen. Nahmen wieder ab. Verschafften ihr eine kurze Pause. Nahmen wieder zu. Wurden staerker. Steigerten sich bis zum Gehtnichtmehr. So ging das. Ein Sprung hatte ihr das rechte Bein und den rechten Arm gebrochen. Nicht ihr Sprung. Nein. Sie war relativ leicht in das Boot gekommen. Hilfreiche Arme und Haende hatten sich ihr entgegengestreckt und sie so mehr hineingezerrt als hineingehoben. Aber schliesslich war sie drin. Sie war in Sicherheit. So hatte sie gesessen und gewartet. Und beobachtet, wie sich das Boot immer mehr fuellte. Noch zwei Leute. Noch einer. Noch ein Paar. Immer wieder. Immer mehr. Als das ueberfuellte Boot schliesslich herabgelassen wurde, blieb es mit dem Bug an einem Vorsprung am Schiffskoerper haengen. Das Heck senkte sich ab. Die Menschen hielten sich verzweifelt fest, um nicht nach unten wegzurutschen. Diesen Moment nuetzte ein Paar, das an Deck zurueckgeblieben war. Es fasste sich an den Haenden, rief sich etwas zu und sprang. Die beiden schlugen mit der Wucht stark uebergewichtiger Koerper direkt auf Dora auf. Sie schrie. Ein rasender Schmerz durchfuhr sie.
„... tschuldigung ... keine Absicht ... tut mir leid ... tut uns leid ...“ hoerte sie noch. Dann fiel sie Ohnmacht.
Ein Schock wirkt oft wie eine sanfte Umarmung und schuetzt davor, Schmerzen in ihrer ganzen Heftigkeit unmittelbar ertragen zu muessen. Einige Passagiere bemuehten sich, Doras leblosen Koerper aus der Mitte des Beibootes zur Seite hin zu bewegen. Mehr zu dem jungen Mann hin, der offenbar den Motor bedienen und das Boot zum Hafen steuern sollte. In Sicherheit. Sicherheit!
„Porco dio,“ fluchte der und verdrehte die Augen. Scham war ihm anzusehen. Aber auch Wut und Verzweiflung. Auf eine solche Situation hatte ihn niemand vorbereitet. Nicht einmal darauf, dass sich so etwas in seinem Leben tatsaechlich ereignen koennte. Und jetzt hing er mit einem ueberfuellten Rettungsboot zwischen Deck 4 und dem dunklen Meer. Hing mit dem Bug irgendeinem bloeden Teil fest, das aus der haushohen Wand des Kreuzfahrtschiffes herausstand. Er griff sich ein Ruder und drueckte damit gegen die Schiffswand. Mehrmals. Druecken. Loslassen. Druecken. Loslassen. Er wollte das Boot zum Schaukeln bringen, damit es sich von der Schiffswand loesen konnte. Tatsaechlich brachte er das Boot in Bewegung. Es schaukelte. Immer heftiger. Dann loeste sich das Beiboot von dem herausragenden Metallbolzen und rauschte nach unten. Krachend schlug es auf dem Wasser auf.
Die Menschen schrien und klammerten sich aneinander fest und an die Taue und Leinen, die um das Boot gespannt waren. Dora erwachte aus ihrer Bewusstlosigkeit. Irgend etwas war geschehen. Sie musste sich konzentrieren, um eine Erinnerungsspur zu finden, die sie in die Gegenwart zurueckbrachte. Ach ja. Da war ein Aufprall. Die Costa Concordia hatte sich zur Seite gelegt. Heftig. Sie war zum Deck 4 geschickt worden. Von dort aus wurde ein Teil der Passagiere evakuiert. Sie auch. In Rettungsboote verfrachtet. Und irgendjemand war mit voller Wucht auf sie draufgesprungen. Etwas in ihr war gebrochen. Daher die Schmerzen. Sie waren jetzt wieder so stark, dass sie sich gleich uebergeben wuerde. Die Schmerzen. Jetzt kamen sie wieder. Sie versuchte sich zu entspannen. Vergeblich. Ihr ganzer Koerper war alarmiert. Jeder Muskel war angespannt. Jetzt schoss der Schmerz hinauf. Zum Hoehepunkt. Ein Wahnsinn. Nicht mehr zum Aushalten. Dora schrie auf. Ihre Blase entleerte sich. Sie erbrach sich. Mit einem bitteren Geschmack im Mund fiel sie erneut in Ohnmacht.
Der Decksjunge wurde fast wahnsinnig. Die Situation an sich war schon viel zuviel fuer ihn. Und jetzt noch diese Frau, die man neben seinem Platz am Aussenborder gezogen hatte. Entweder schrie sie oder sie fiel in Ohnmacht. Und lag dann da wie tot. Zum Glueck war jetzt der Motor angesprungen. Aber es war alles andere als einfach, das ueberfuellte Rettungsboot vom gekenterten Schiff wegzusteuern. Zweimal rammte er gegen die Wand aus Stahl. Einmal mit der Breitseite. Einmal mit dem Bug. Aber voll. Dann war er endlich freigekommen und fuhr das Rettungsboot in Richtung Giglio. In Richtung Hafen. In Richtung Rettung. Verfehlen konnte er ihn nicht. Die vielen Lichter und Scheinwerfer auf Giglio hatten die Nacht zum Tag gemacht.


23.30 – 24.00 Uhr, Freitag der 13. Januar 2012

Der Hafenkommandant versuchte, Schettino an Bord des Schiffes zu erreichen. Niemand antwortete ihm. Waehrend die Evakuierung in vollem Gang war, verliess Kapitaen Francesco Schettino das Schiff. Er verstiess damit gegen einen weltweit gueltigen Ehrenkodex der Schiffahrt: Der Kapitaen verlaesst sein sinkendes Schiff als Letzter! Titanic, den Film, hatte Schettino entweder nie gesehen oder sich nicht fuer diesen Teilaspekt interessiert. Sei’s drum. Diesen Ehrenkodex kannte jedes Kind. Dazu musste man nicht erst ins Kino gehen. Er habe bei der Evakuierung geholfen, log Schettino spaeter und sei dabei in eines der Rettungsboote hineingestolpert und musste so sein Schiff vorzeitig verlassen.
Buchstaeblich alle Bewohner der Insel Giglio kamen hinunter zum Hafen. Sie trugen Thermoskannen und Koerbe. Sie kamen mit heissen Getraenken, Essen und Decken. Eine alte Frau ging am Stock. Ihr dunkles Gesicht war von Runzeln durchzogen. Ihre Haende waren knotig. Der Ruecken gebeugt. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine schwarzen Schuerze. Beides war vom vielen Waschen und Trocknen in der Sonne grau geworden. Ueber den knochigen Schultern trug sie einen gehaekelten Schal. Sie stellte sich neben ein aelteres Ehepaar aus Brescia, Schiffbruechige, schaute die beiden an, dann ueber das Meer und hinueber zur Costa Concordia: „Das Meer ist unser Freund. Und das Meer ist unser Feind. Wir muessen zusammenhalten, wenn uns das Meer hin und wieder an den Kragen will. Aber eigentlich ist es ein gutes Meer. Nur die Menschen sind dumm. Und oft auch groessenwahnsinnig.“
Die Besatzung des Patrouillenbootes forderte Hubschrauber an, um die Passagiere zu retten, die sich ihrer Meinung nach noch an Bord der Costa Concordia befanden.


01.46 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Schliesslich erreichte man Kapitaen Schettino doch auf seinem Mobiltelefon. Das Gespraech war dramatisch laut und endete damit, dass Gregorio de Falco von der Hafenkommandatur in Livorno dem Kapitaen wuetend befahl: „Vada a bordo, cazzo!“ - „Kehren Sie an Bord zurueck, Sie Schwanz!“ Schettino blieb unbeeindruckt. Er kehrte nicht auf sein Schiff zurueck.


02.10 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

In der DDR aufwachsen hiess, auf die wichtigen Dinge, auf die wirklich wertvollen Gegenstaende aufzupassen. Sich mit allen Mitteln und Moglichkeiten vor ihrem Verlust zu schuetzen. Das war ihr in ihrer Kindheit und Jugend in Fleisch und Blut uebergegangen. So hatte sie auch im ganzen Chaos der Havarie, der verspaetet und unkoordiniert angelaufenen Evakuierung, des Ansturms auf die Rettungsboote, ihrer dramatischen Einschiffung in das kleine Boot, ihrer schweren Verletzungen und der beiden Ohnmachten, ihre Handtasche nicht aus den Fingern gelassen.
Auch jetzt nicht. “Aiuto. Aiuto. Una barella. Subito. Pronto,” schrie der Schiffsjunge. Und noch einmal: „Una barella. Pronto.“ Als ob es jetzt noch um Minuten gegangen waere. Eigenartigerweise kamen zwei Pompieri, Feuerwehrmaenner, angelaufen. Mit einer einfachen Bahre. Die Sanitaeter waren offenbar anderswo beschaeftigt. Sie trugen Gummistiefel und gingen die Betonstufen hinab, die tief ins Wasser reichten. Der Schiffjunge und einige Passagiere halfen mit, Dora auf die Tragbahre zu heben. Es war mehr ein Rollen und Schieben als ein Heben. Dora schrie. „Quieto, signora, quieto. Un dottore ...“ hoerte sie noch, dann wurde sie wieder ohnmaechtig. So vorsichtig sie konnten, nahmen die beiden Maenner die Bahre auf und trugen sie ueber die Stufen nach oben. Dort stand ein rotlackierter Pickup. Sie packten die Tragebahre mit Dora auf die Ladeflaeche, befestigten sie mit einigen Gurten. Und los gings.
Polizei, Feuerwehr und einige Maenner aus dem Dorf hatten schnell die verfuegbaren Zelte aufgebaut, die im Geraetehaus der Feuerwehr aufbewahrt wurden. Nicht unbedingt fuer Katastrophenfaelle diese Ausmasses. Aber doch auch. Jetzt war man froh, wenigsten einen Teil der Verletzten und Veraengstigten in den Zelten unterbringen zu koennen. Die kleine Dorfkirche war in kuerzerster Zeit voll gewesen. Auch in vielen Privathaeusern hatte man Schiffbruechige unterbringen koennen.
Eine junge Frau beugte sich ueber Dora.
„Signora. Wachen Sie auf. Hoeren Sie mich?“
„Ja, ja. Ich bin schon wach. Ich habe nur meine Augen etwas ausgeruht.“
„Ich bin Dottoressa Giberti. Ich bin mit einem Patroullienboot auf die Insel heruebergekommen um hier mitzuhelfen und aerztliche Hilfe zu leisten.“
„Gut. Gut. Danke. Vielen Dank. Ich bin Dora Sommerlatt. Ich komme aus Berlin. Gut dass Sie hier sind.“
„Lassen Sie uns anfangen. Man hat mit gesagt, sie haetten sich etwas gebrochen. Stimmt das?“
„Ja, das stimmt. Ein ziemlich schweres Ehepaar sprang noch vom Deck in das Boot, als wir schon ganz weit unten waren. Sie sprangen direkt auf mich drauf. Da hat es geknackt.“
„So etwas verruecktes. Aber in solchen Situationen machen wir Menschen manchmal ganz verrueckte Dinge. Lassen Sie mich sehen. Nein. Zuerst spritze ich Ihnen ein schmerzstillendes Mittel. Das wirkt ganz schnell. Sie sind in Ohnmacht gefallen, wurde mir gesagt. Koennen Sie sich erinnern, wie oft?“
„Drei Mal, soweit ich mich erinnere. Ja. Drei Mal.“
„Haben Sie normalerweise Probleme mit dem Herz? Oder mit dem Kreislauf? Hohen Blutdruck?“
„Nein. Keines von allem. Ich war vor unserer Abreise noch beim Arzt. Alle Werte waren in Ordnung.“
„Gut ... sind Sie allergisch gegen bestimmte Medikamente?“
„Nein. Bisher nicht. Bitte, Dottoressa, koennen Sie mir helfen? Ich habe mein mobiles Telefon in der Kabine gelassen, bevor das ganze Chaos losging. Und jetzt habe ich keine Moeglichkeit, meinen Mann anzurufen. Er war mit auf dem Schiff. Wo kann ich hier telefonieren?“
„Also: Erst einmal die Spritze. Dann kuemmere ich mich um Ihre Brueche. Und dann koennen wir versuchen, Ihren Mann anzurufen. Jetzt im Moment koennen Sie ohnehin nichts tun. Und er auch nicht. Sie verstehen doch. Ueber 4000 Menschen. Die meisten sind unverletzt. Aber viele sind sehr durcheinander. Erst muessen wir uns um Sie kuemmern. Und dann finden wir Ihren Mann. Einverstanden?
Dottoressa Giberti gab Dora die schmerzstillnde Spritze. Dann rief sie einer jungen Frau etwas zu. Die daraufhin verschwand. Nach kurzer Zeit kam sie zurueck, mit einem langen Karton auf einer Schulter. Sie oeffnete den Karton und wartete auf Anweisungen der Aerztin. Frau Giberti hatte erst das lange Kleid bis zu Doras Huefte geschoben und vorsichtig das Bein abgetastet.
„Gute Beine haben Sie. Bravo. Aber leider ist das rechte Bein gebrochen. Der Oberschenkel. Aber das wissen Sie ja bereits. Der Bruch fuehlt sich glatt an. Wie glatt, muessen die Roentgenbilder zeigen. Ich kann Ihnen jetzt nur zwei leichte, aber sehr feste Schalen anlegen und einen Tapeverband machen. Mit ihrem gebrochenen Arm machen wir es dann genauso. Das wird wehtun. Trotz der Spritze. Ich sage Ihnen das lieber gleich. Damit Sie sich keine falschen Vorstellungen machen. Und damit Sie nicht zu sehr auf die mangelnde Kunstfertigkeit italienischer Aerztinnen schimpfen.“
Sie wandte sich an die junge Frau, die aus dem Karton die beiden angekuendigten Schalen holte und sie ihrer Chefin reichte. Sie waren lang und reichten von knapp unterhalb des Schritts bis zur Wade. Eine von unten. Die andere von oben. Dann die Rollen mit dem elastischen Verbandstape. Die Dottoressa war ausgesprochen geschickt. Es dauerte nicht lange, bis die Stuetzschalen angelegt und verpflastert waren. Das Fussgelenk und die Zehen blieben frei. Beides konnte sie bewegen. Wenigstens das.
„Sie waren tapfer, meine Liebe. Hat es sehr wehgetan?“
„Ja, schon. Zwischendurch immer wieder einmal. Aber es war auszuhalten. Sie wissen das vielleicht nicht: Aber wir Preussen sind wie die Indianer – wir kennen keine Schmerzen.“ Beide Frauen lachten.


02.30 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Noch 200 bis 300 Menschen wuerden sich – unterschiedlichen Quellen zufolge – an Bord des Schiffes befinden. Vier Stunden nach dem Beginn der Evakuierung von Deck 4! Und dreieinhalb Stunden nach dem Evakuierungsbefehl fuer das ganze Schiff. Verschiedene Medien berichteten von zwei Toten.


03.05 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Ein Patrouillenboot der Guardia di Finanza meldete, dass sich drei Tote und fuenf Verletzte an Bord der Costa Concordia befinden wuerden.


04.30 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Die Rettungsaktion wurde vorlaeufig eingestellt. Ein Taxifahrer berichtete, er habe Kapitaen Schettino am Morgen zu einem Hotel gefahren. „Er sah aus wie ein gepruegelter Hund. Er fror und hatte Angst.“


06.00 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Es wurde von bis zu acht Toten geredet.


06.50 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Seit Sonnenaufgang bemuehten sich Rettungsmannschaften erneut, vermisste Passagiere aufzuspueren.


10.00 Uhr, Samstag 14. Januar 2012

Neue Zahlen lagen vor. Die Zahl der Todesopfer wurde von den Behoerden nach unten korrigiert:
Von drei Toten und 14 Verletzten war jetzt die Rede.
Es wuerden sich noch immer Menschen auf der Costa Concordia befinden, hiess es. Ueber die Zahl der Vermissten konnten keine genauen Angaben gemacht werden.

12.00 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Offiziell wurden bis zu diesem Zeitpunkt 4179 Personen als gerettet registriert. Bereits zu diesem Zeitpunkt war klar, dass sich noch Menschen im havarierten Schiff befanden. Durch die starke Schraeglage der Costa Concordia und die Tatsache, dass viele Raeume im Inneren des Schiffs voll Wasser standen, war die Arbeit der Rettungstaucher extrem schwierig und ging deshalb auch nur verhaeltnusmaessig langsam voran. Auch musste damit gerechnet werden, dass der Schiffskoerper von der Felsbank abrutschte und tiefer im Meer versank. Hoechste Vorsicht war geboten.


14.15 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Es war empfindlich kalt in dem Zelt. Fest in eine Decke gepackt, lag Dora auf dem schmalen Feldbett. Neben ihr sass eine aeltere Dame, eine Deutsche aus Bergisch-Gladbach, ebenfalls in eine Decke gewickelt. Von ihr durfte sie das Handy ausleihen. Mehrmals versuchte Dora, Markus zu erreichen. Ohne Erfolg. Aber schliesslich hatte sie ihre Mutter am Apparat. Dora berichtete in knappen Worten. Ja, sie lebte. Ja, sie war verletzt. Brueche. Schmerzhaft, aber weiter nicht gefaehrlich. Sie bat die Mutter, beim Aussenministerium Erkundigung ueber Markus einzuholen. Ihr Vater und ihre Mutter wollten sofort nach Italien kommen. Dora zoegerte. Dann stimmte sie zu. Dann zoegerte sie wieder. Sie war total verunsichert und tat sich schwer, sich zu entscheiden. Schliesslich lehnte sie ab. Sie bat die Mutter herauszufinden, ob sie ausgeflogen werden koennte. Und ob das von ihrer ADAC-Reiseversicherung bezahlt werden wuerde. Die Mutter versprach, sich sofort darum zu kuemmern.


14.57 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Dora wurde mit einem Boot in den Hafen von Civitavecchia gebracht und von dort mit einer Ambulanz ins Krankenhaus, das Casa Di Cura Siligato. Es ging zu wie in einem Taubenschlag. Viele Passagiere der Costa Concordia waren zur aerztlichen Behandlung hierher gebracht worden. Sie musste warten. Spaeter nahmen ihr ein Arzt und ein Helfer die Schalen ab. „Wer es auch immer war: gut gemacht“, merkte der Arzt an. Sie wurde zum Roentgen gefahren. Deutlich konnte man auf dem Bild den Bruch des Oberschenkelknochens sehen. Er war wirklich so glatt, wie Dottoressa Giberti prognostiziert hatte. Auf der zweiten Aufnahme waren der Bruch von Speiche und Elle zu sehen. Der Bruech lag ziemlich genau zwischen Doras Ellenbogen und ihrer Hand. „Gnaedige Frau. Ich kann Sie beruhigen: Mit dem gebrochenen Unterarm haben wir keine Probleme. Sehen Sie selbst: Glatt durchgebrochen. Nichts verschoben, die Achse nicht geknickt. Wie ein Stueck Holz. Verzeihen Sie den Vergleich. Aber Ihr Oberschenkelknochen. Der muss genagelt werden: Entweder hier bei uns. Oder in Deutschland. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie bei uns aerztlich bestens behandelt werden. Aber Sie muessen schon einige Tage bei uns bleiben. Und Sie wissen ja, welch eine wichtige Rolle die Angehoerigen eines Patienten in italienischen Krankenhaeusern spielen. Haben Sie jemanden in Civitavecchia, der sich um Sie kuemmern wuerde?“
„Vielen Dank fuer die Informationen, Dottore. Nein, ich kenne niemanden hier – weder in der Stadt noch sonstwo in Italien. Ich bin Berlinerin. Ich bin in Berlin-Mitte in der Charieté zur Welt gekommen. Und ich moechte auch, dass dort mein Bein operiert wird.“ Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie, heisst das heute. Aber es ist noch immer ihre Charité.
„Selbstverstaendlich, gnaedige Frau. Die Chariete ... Dann muessen wir jetzt ganz besonders gute Arbeit leisten, damit die Kollegen in Berlin nicht auf die Idee kommen, wie hier in Italien ...“
Der Bruch ihres Arms wurde sorgfaeltigst eingerichtet und durch einen Gipsverband ruhiggestellt. Vier bis sechs Wochen muesse sie ihn tragen. Hatte der italienische Arzt gesagt. Das gebrochene Bein wurde gewaschen und mit einer aetherisch riecheden Fluessigkeit eingerieben. Dann legte man ihr neue Schienen an. Im Prinzip die gleichen wie vorher. Aber etwas weiter und kuerzer. Und dadurch etwas bequemer. Es dauerte nicht lange, dann lag Dora auf einem Krankenbett in einem Saal. Zusammen mit sieben anderen Patientinnen. Ihr rechtes Bein hing mit Hilfe eines Drahtseils an einer Art Galgen aus verchromtem Rohr. Das Seil lief ueber Rollen, sodass die Lage des geschienten Beines in der Hoehe verstellt werden konnte.


18.10 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Doras Mutter rief zurueck: Der ADAC wuerde die Kosten uebernehmen. Im Moment gaebe es Probleme mit den Rueckfuehrungsflugzeugen. Es gab nach der Schiffskatastrophe einfach zuviele Anfragen auf einmal. Der Rueckflug war geplant fuer Sonntag, 11.00 Uhr. Vorerst nur bis Muenchen Franz-Josef-Strauss. Bis zur Ankunft in Muenchen waere die Sache mit dem Weiterflug nach Berlin geklaert. „Ist schon eine Supersache mit dem ADAC, was?“, sagte sie. „Ja, schon. Das war wirklich etwas Gutes, was da aus dem Westen auf uns zukam. Wenigstens was.“ „Mutter ...“
Weder das Aussenministerium in Berlin noch die deutsche Botschaft in Rom, noch das deutsche Konsulat in Florenz wussten etwas ueber den Verbleib vor Markus. Auf der Liste der geretteten Schiffsbruechigen stand er bislang nicht.

17.32 Uhr, Samstag der 14. Januar 2012

Die drei identifizierten Leichen waren zwei Passagiere aus Frankreich und ein Mann aus Persu, ein Mitglied der Schiffsbesatzung. Das deutsche Aussenministerium rechnete nicht mit Opfern aus Deutschland.
Schettino wurde festgenommen. Er wurde stundenlang verhoert. Die Staatsanwaltschaft hatte ihre Ermittlungen aufgenommen. Sie warf Schettino fahrlaessige Toetung, das Herbeifuehren einer Havarie und das Verlassen seines Schiffes vor Abschluss der Evakuierung vor.
Es wurde untersucht, ob er unter Alkohol- und/oder Drogeneinfluss stand. In seinen Haaren wurden kleinste Spuren von Kokain gefunden.
Ciro Ambrosio, der Erste Offizier, und weitere fuehrende Mitglieder der Schiffsbesatzung wurden beschuldigt, das Schiff verlassen zuhaben, obwohl sich noch Passagiere an Bord befanden.


2006


14.56 Uhr, Samstag der 14. Januar 2006

Dora hatte ihren Eltern versprochen, zusammen mit ihnen uebers Wochenende nach Wandlitz hinauszufahren. Wandlitz liegt im Norden Berlins, etwa 30 Kilometer entfernt, am Wandlitzer See. In DDR-Zeiten hatten dort die Parteibonzen ihre Refugien. Doras Eltern waren weit entfernt davon gewesen, Bonzen zu sein. Aber noch immer schwang etwas von der alten Liebe zum Regime und zur alten DDR mit, als sie in Seenaehe ein Wochenendhaeuschen mieteten. Eine Datsche eben. Dahin wollte die drei fahren, etwas wandern und – wenn das Wetter danach war – im See schwimmen. Von Zeit zu Zeit verbrachte sie gerne einen oder zwei Tage mit ihren Eltern.
Sie waren schon am Freitag Nachmittag gefahren, hatten einen gemuetlichen Abend vor dem Haeuschen verbracht, gegessen und getrunken und natuerlich wieder einmal ueber die alten Zeiten gesprochen. Am Samstag Vormittag schlug das Wetter um. Von Norden kamen dichte, schwarze Wolken und gegen elf Uhr peitschten heftige Regenschauer gegen das Panoramafenster des Haeuschens. „Viel Fenster, aber kein Panorama“, bemerkte ihr Vater. Sie lachten. Der See war hinter dem Regenvorhang verschwunden. Es wurde ungemuetlich. Die drei beschlossen aufzuraeumen und ihre Sachen zu packen. „Man muss es nehmen, wie es kommt“, sagte er der Vater. Er hatte zu jeder Gelegenheit einen passenden Spruch drauf. Aber er hatte ja Recht. Was sollten sie sich gross ueber das Wetter aufregen. Sie fuhren zurueck nach Ostberlin. Dora stieg vor der elterlichen Wohnung in ihren schwarzen Mini und fuhr gleich weiter nach Caputh. Kurz vor 15.00 Uhr stellte sie ihr Auto hinter den Audi, das Auto von Markus.
Sie sperrte die Haustuere auf und zoegerte. Irgendetwas war anders. Und roch anders. Und fuehlte sich anders an. „Markus“, rief sie. „Markus“. Erst konnte sie nichts hoeren. Dann ein unterdruecktes Fluestern. Leise Schritte. Da ging jemand auf Zehenspitzen. „Hallo. Ist da jemand? Markus? Bist Du da oben?“ Die Geraeusche waren verstummt. Nichts ruehrte sich. Niemand antwortete. Sie ging die Treppe hinauf in den ersten Stock und auf die Schlafzimmertuere zu.
Gerade als sie Klinke in die Hand nehmen wollte, wurde die Tuere von innen aufgerissen. Ein Mann starrte sie entsetzt an. Er trug einen Slip. Ein Buendel Kleidung unter einen Arm geklemmt. Ein paar Schuhe in der Hand. Die freie Hand auf der Klinke. Noch immer starrte er auf Dora. Dora starrte zurueck. Er mochte 32 oder 34 Jahre alt sein. „Hat einen guten Koerper“, dacht sie. Noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, stiess er sie beiseite. Machte ein paar Schritte. Lief zur Treppe und rannte die Stufen hinunter. Dann hoerte sie die Geraeusche, die jemand macht, wenn er sich ganz schnell anzieht. Wenige Minten nur, dann hoerte sie, wie die Tuere geoeffnet und gleich wieder zugeschlagen wurde.
„Das ist wie im Film“, durchzuckte sie ein Gedanke. „Das passiert nicht wirklich. Das ist nur Kino.“ Dann erwachte sie aus ihrer Starre. Sie stuerzte ins Schlafzimmer. Markus sass auf einer Bettkante. Nackt. Die Scham mit einem Kopfkissen bedeckt. Auf dem Tisch neben dem Bett standen Flaschen und Glaeser. Ein halbvoller Aschenbecher. Mehrere Raeucherstaebchen verbreiteten einen unangenehm suesslichen Duft. Kleidungsstuecke lagen auf dem Boden verstreut. Dora begann urploetzlich zu schreien. Und alle Kraftausdruecke, die sie waehrend ihrer Ost- und Westberliner Jahre aufgeschnappt hatte, ergossen sich aus ihrem Mund. Ergossen sich auf Markus. Der sass wie in Stein gemeiselt da. Er liess sie fuer keinen Moment aus den Augen.
„Oh, du Flachwichser. Du riesengrosses Arschloch, du. Warum tust du mir das bloss an? Du schwules Arschloch. Kein Mensch haette sich darum gekuemmert, wenn du dich nicht so verstellt haettest. Warum hast du so ein Geheimnis daraus gemacht? Wer hat dich gezwungen, zu heiraten? Mich zu heiraten? Ach du Arschficker. Du Mastdarmvergolder. Aaaaccchh, du Schwanzlutscher. Mir ekelt vor dir. Kein bisschen Mut gehabt, dich zu outen, was? So abgrundtief feige. Und so abgrundtief verlogen. Da zeigt sich, was fuer ein charakterloser Feigling du bist. Seit wann weisst du eigentlich, dass du schwul bist? Wann hast du mit dieser Maennerfickerei angefangen. Schon vor mir? Oder erst nach der Hochzeit? Wie hast du dich die ganze Zeit ueber nur so verstellen koennen? Oder kommst du grundsaetzlich jedesmal, wenn irgendetwas an deinem Schwanz reibt? Egal wer und was das ist? Und all das Liebesgefluester? Was war denn damit? Alles erlogen und erstunken? Oder bist du bisexuell? Sags doch. Gibs doch zu. Das macht es auch nicht mehr schlimmer. Ja, schlimm. Du magst beides. Maenner und Frauen. Schwaenze und Moesen. Hast du mich nur zum Schein geheiratet? Damit du dein Schwulsein verstecken kannst? Schmier dir doch die ganze Schwulenscheisse ins Haar. Und schlag ein Ei darueber. Ich werde dich dafuer buessen lassen. Bluten lassen. Auf jeden Fall. Das wirst du mir zurueckzahlen. Das garantiere ich dir. Das wirst du mir teuer bezahlen. Oder ich ziehe um die Haeuser und erzaehle jedem, der es wissen will und auch denen, die es nicht wissen wollen, dass du ein schwules Arschloch bist. Ein verheirateter Schwuler. Mit mir verheiratet. Deinem Geschaeftspartner erzaehle ich es zuerst. Der wird Augen machen. Dann deinen Kunden. Deinen Eltern. Meinen Eltern. Und dass du mich ueber all die Jahre angelogen hast. Ohne dabei auch nur rot zu werden. Bis heute. Das erzaehle ich ihnen. Unglaublich ist das. Was denkst du, wie all die Leute darauf reagieren werden? Auf diese Nachricht. Oder wissen das vielleicht schon alle? Schon lange? Nur ich nicht? Ich dumme Kuh? Ich bin mit einem Schwulen verheiratet und merke es nicht. Nun, raus mit der Sprache. Mach endlich den Mund auf und sage was dazu.“
„Was soll ich dazu sagen, wenn du einen Dreckskuebel nach dem anderen ueber mir ausleerst. Und mir ein Ding nach dem anderen um die Ohren haust.“
„Red nicht lange darum herum. Sag endlich, was los ist und antworte auf meine Fragen.“
„Du weisst ja ohnehin schon alles. Ja, ich habe dich belogen. Ja, ich habe dich betrogen. Nein. Als wir geheiratet haben, wusste ich nicht, dass ich homosexuell bin.“
„Homosexuell? Schwul bist du. Ganz einfach nur gemein und schwul.“
„Dora. Du musst das nicht so in den Dreck ziehen. Ich bin nicht asozial oder kriminell. Ich bin schlicht und ergreifend homosexuell veranlagt. Diese Veranlagung wurde mir erst klar, als ich Klaus kennenlernte. Ehrlich. Vorher hatte ich keine Ahnung davon.“
„Klaus. Klaus. Es interessiert mich einen Dreck, wie deine Liebhaber heissen. Aber es interessiert mich natuerlich, wann du mit der ganzen Sauerei und mit der Heimlichtuerei angefangen hast. Und wie du ueberhaupt auf die Idee kommen konntest, ihn in unser Haus zu lassen? In unser Schlafzimmer. In unser Ehebett?“
„Ich kann jetzt nicht darueber reden. Ich fuehle mich ganz schlecht. Ich habe Nierenschmerzen. Ich glaube, ich werde gleich eine Kolik bekommen.“
„Du mit deinen mitleiderregenden Allerweltskoliken. Schmerzen. Schreie. Die Augen verdrehen. Den Notarzt rufen. Eine Spritze in den Arsch. Und dann entspannen. Ueber allem ist dann wieder Ruh. So laeuft das doch bei dir, oder? Eine feine Tour, den Problemen aus dem Weg zu gehen. Deine Steine fangen seltsamerweise immer dann an zu wandern und wehzutun, wenn du in Schwulitaeten bist. Wahrscheinlich sind deine Harnleitersteine auch schwul. Sind sie das?“
„Ach hoer doch auf mit diesem Unsinn. Du weisst ganz genau, wann ich Koliken bekomme.“ Lass mich jetzt niederlegen und ein wenig ausruhen. Ich bin wie erschlagen. Lass uns spaeter weiterreden. Bitte.“
„ Du kommst mir nicht aus. Das verspreche ich dir. Nimm das Bett im Gaestezimmer. Hier, in diesem Zimmer, moechte ich dich nicht mehr sehen. Nie mehr.“
„OK. OK. Wie du willst. Ich mach dir einen Vorschlag: Es ist jetzt kurz nach drei. Lass uns um fuenf Uhr von hier weggehen. Hinunter ans Wasser. Den Weg nach Ferch. Dann koennen wir vielleicht in der Kate etwas essen. Und anschliessend mit dem Bus oder einem Taxi zurueckfahren. Was haeltst du davon?“
„ Meinetwegen. Aber glaube nicht, dass damit irgendetwas besser geworden ist. Ich gebe dir nur nach, damit du dich ein wenig erholen kannst. Damit du mir hinterher Rede und Antwort stehen kannst.“
„Gut. Danke. Bis fuenf.“


15.20 Uhr, Samstag, 14. Januar 2006

Selbstverstaendlich kam Markus nicht zur Ruhe. Sein Denken wurde ueberwaeltigt von Wogen wilder Strudel, von Stuermen und Ausbruechen wirrer Erinnerungen. Von wild aufblitzenden Gedanken und Bildern. Die sich ineinander verklumpten. Aneinander zerrten. Sich fingen. Sich ueberlagerten und wie rotgluehende Lavamassen sich ihre eigenen Wege bahnten und schmerzhafte Spuren in sein Gehirn brannten. Er war nahe daran, in unzaehlige Einzelteile zu explodieren. So kam es ihm vor.
Er lag auf dem Gaestebett. Auf der rechten Koerperseite. Die Beine nahe an den Koerper herangezogen. Den Kopf tief ins Kissen gedrueckt. Die linke Hand unter das Kissen geschoben. Die Embryohaltung. Ein Embryo waere er jetzt gerne gewesen. Ungeboren. Geschuetzt im Mutterleib. Statt dessen lag er im Gaestezimmer seines eigenen Hauses. Ertappt. Zutiefst beschaemt. Zutiefst verunsichert. Zutiefst veraengstigt. Sie hatte ja Recht. Er konnte Dora verstehen. Fuer sie muss vor wenigen Minuten die Welt zusammengebrochen sein. Ihre Welt. Ihr bisheriges Leben. Ihre Ehe. Ihre gutbuergerliche Existenz. Und er konnte ihren Ausbruch verstehen. Das Emotionalste, das er je erlebt hatte. Das ihn betraf. Und was er ausgeloest hatte. Und davor hatte er immer Angst gehabt. Eine Riesenangst. Eine Scheissangst.
So uebermaechtig, dass er nie auch nur daran zu denken gewagt hatte: Ihr seine homosexuellen Orientierung zu beichten. Homosexualitaet war nie ein Thema in ihrer Ehe gewesen.
Jetzt war es heraus. Auf die denkbar schlechteste, auf die denkbar mieseste, auf die denkbar laecherlichste Art, die er sich je haette ausmalen koennen. Dora hatte ihn zusammen mit Klaus im ehelichen Bett ueberrascht. In flagranti, sozusagen. Das war an Peinlichkeit durch nichts mehr ueberbieten. Fuer alle. Und was sie fuer eine Wut auf ihn hatte. Und wie sie ihn beschimpft hatte. Und was sie ihm angedroht hatte. Jetzt kam offenbar genau das auf ihn zu, wovor er von Anfang an die meiste Angst hatte: Dass das mit seiner homosexuellen Veranlagung herauskommen koennte. Ach, was heisst hier Veranlagung? Er war da gewissermassen hineingeschlittert. Vielleicht sogar hinein verfuehrt worden. Quatsch. Verfuehrt? Er war ein erwachsener Mann. Ohne Vorgeschichte in dieser Richtung. Es war eine seiner fundamentalsten Ueberzeugungen, dass jeder Mensch fuer jede seiner Handlungen verantwortlich ist. Immer und ueberall. Dass jede Handlung auf einer Entscheidung basierte. Auf einer Entscheidung, bei der sich jeder fuer oder gegen etwas entscheiden konnte. Er konnte vom ersten Moment an abschaetzen und dann entscheiden, was es fuer sein Leben bedeutete, als er dem Kitzel des Fremden nachgab, des exotischen. Triebhaftigkeit ist die eine Sache. Eine Abschaetzung der Folgen eine andere. Und die moeglicherweise notwendige Herrschaft ueber die Triebe, eine dritte. Nicht unbedingt einfach. Aber die Voraussetzung dafuer, sein Leben selbst zu gestalten. Und die Gestaltung nicht einer unkontrollierten Lustmaschine zu ueberlassen.
Was hatte Bhagwan seinerzeit gesagt? „Du kannst alles tun. Aber du musst fuer alles, was du tust, die Verantwortung uebernehmen.“ Dem war nichts hinzuzufuegen. Da gab es kein Herausschwindeln, keine Luegen, keine Ausreden. Auf dieser Grundlage musste er sich Dora stellen. Das wusste er. Er musste ihr klarmachen, dass er sie wirklich verstand. Dass er die volle Verantwortung fuer sein Handeln uebernehmen wuerde. Dass er versuchen wuerde, die ihr zugefuegten Kraenkungen und Verletzungen wieder gutzumachen. Nach Moeglichkeit. Dass er aber in der Sache selbst nichts Gemeines, nichts Kriminelles, nichts Unmoralisches finden konnte. Homosexualitaet war nichts Falsches. War keine Suende. Aber an Suenden glaubte sie ohnehin nicht. Ihre entscheidende Fragen wuerde sein, das wusste er schon jetzt: „Willst du dich weiterhin mit deinem Freund treffen?“ - „Willst du deine schwule Beziehung weiterhin pflegen?“ – „Willst du weiterhin schwul bleiben?“ Und er wusste bereits jetzt, dass er darauf keine ehrliche Antwort geben konnte.


2002


08.10 Uhr, Montag, 14. Januar 2002

“Oh. Entschuldigung ….Entschuldigen Sie bitte ... Das war ohne Absicht ...“
„Ist schon Ok. Aber es gibt bestimmt elegantere Methoden, sich an eine Frau heranzumachen.“
„Tut mir Leid. Ich wollte mich nicht an Sie heranmachen. Der Zug bremste so ploetzlich ab, dass ich das Gleichgewicht verloren habe. Da muss ein schwarzer Kater ueber die Geleise gelaufen sein.“
„Ein roter Russe“, hiess das bei uns. Ich hatte nicht vor, heute, am Morgen, einen Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Noch dazu einen so gutaussehenden.“
„Aus Berlin?“
„Nicht zu ueberhoeren, wa? Ja, ich komme aus Ostberlin. Lebe aber schon seit acht Monaten in Muenchen.“
„‚Acht Monate! Na, das ist ja schon eine halbe Ewigkeit. Aber was anderes: Wenn Sie jetzt ein wenig Zeit haetten, wuerde ich sie gerne auf einen Kaffee einladen. Dann koennte ich einen zweiten Versuch starten. Sie verstehen schon: Eine elegantere Form der Annaeherung. Wie schaut’s aus? Haben Sie eine wenig Zeit und ein bisserl Lust.“
„Wir fangen heute erst um zehn an. Ich wollte vorher noch bei Rabel in der Dienerstrasse vorbeischauen. Aber das ist nicht so wichtig. Ja, von mir aus gerne. Steht Ihre Einladung noch?“
„Klar. Toll. Haben Sie schon gefruehstueckt? Wenn nicht, koennen wir einen Kaffee gerne zu einem Fruehstueck auswachsen lassen. Moechten Sie?“
Sie mochte. Sie verliessen die U-Bahn am Odeonsplatz, fuhren mit der Rolltreppe hinauf und standen direkt an der Ludwigstrasse. Muenchen zeigte sich von seiner besten Seite. Ein wolkenloser Himmel strahlte in dem durchsichtigen Blau, das die Stadt und seine Menschen zum Leuchten brachte. Es war empfindlich kalt an diesem Januartag. Aber die Luft war trocken. Das dunklere Grau der Feldherrnhalle, das hellere Grau der Residenz, die blanken Nasen der Bronzeloewen, der leuchtende Ocker der Theatinerkirche, der Blick nach Norden, die Ludwigstrasse hinunter zur Ludwigskirche und zum Siegestor. Und ueber allem der seidigblaue Himmel: Das Herz schlug ihm hoeher.
Wenig Schnee saeumte die Strasse und den Platz. Nur im Hofgarten war noch alles weiss. Die Brunnen
waren eingeschalt. Alle Baenke leer. Sie oeffneten die breite Tuere zum Tambosi, dem Muenchner
Traditionscafe, schlugen den dicken, weinroten Vorhang zur Seite und betraten – ein Paradies. Der intensive
Duft von Kaffee und frisch gebackenen Semmeln und suessen Hoernchen schlug ihnen entgegen, Tabakrauch,
das Klappern von Besteck und die Wortfetzen gedaempfter Gespraeche. Sie hatten Glueck und fanden einen Tisch
im ersten Stock, direkt am Fenster. Von dort aus konnten sie auf den Platz hinunterschauen. Zum Schauen
aber blieb nicht viel Zeit. Kaum hatten sie ihre Bestellung aufgegeben, ging es los mit der Unterhaltung.
„Jetzt fangen wir noch einmal ganz von vorne an. Ohne Rempeln und Stossen. Und ohne Entschuldigungen: Also, ich bin in Muenchen geboren und hier auch aufgewachsen. Aber ich lebe inzwischen in der Mark Brandenburg, genauer gesagt: In Potsdam. Ich bin gestern Nachmittag aus Berlin gekommen, und fuhr vom Flughafen nach Freimann. Dort wohnt ein ehemaliger Studienfreund von mir. Den habe ich besucht und bei dem habe ich auch uebernachtet. Und wie’s der Teufel will, bin ich in die gleiche U-Bahn einstiegen wie Sie. Ich bin auf dem Weg zu einem Kundentermin.“
„Wieso der Teufel? Bei uns nennt man das einfach einen Zufall. Ohne Teufel. Oder denken Sie, ich habe etwas mit dem Teufel zu tun? Und ueberhaupt, wieso kommen Sie extra von Potsdam nach Muenchen, um mich kennenzulernen? Ich bin aus Ostberlin. Das haetten Sie auch einfacher haben koennen.“
„So ist das Leben, hat mein Grossvater immer gesagt. Und das mit dem Teufel, das ist mir nur so rausgerutscht. Das sagt man halt so in Muenchen. Aber jetzt muss ich schon ganz dumm fragen: Warum sind Sie dann nicht in Ostberlin, sondern lassen sich von einem Muenchner in Muenchen in der Muenchner U-Bahn anbaggern? Gibts in Ostberlin keine Maenner mehr? Oder keine U-Bahn?“
„Na, von wegen. U-Bahn, S-Bahn, Busse – alles da. Nur die alte Strassenbahn haben wir rechtzeitig nach Potsdam und nach Muenchen geschickt. In die Provinz sozusagen. Und an Maennern mangelt es auch nicht. Allerdings fallen die meisten nicht durch den Waggon, wenn der Fahrer einmal schaerfer als gewoehnlich bremst. Stehvermoegen gut. Sozusagen. Bei den Ostberliner Maennern.“ Sie blickte ihn schraeg von der Seite an und zog die dunklen Brauen hoch.
„Jetzt aber ...“ Markus gefiel es, wie die junge Frau mit ihm redete. Auf den Mund gefallen war sie jedenfalls nicht. Andererseits wollte er seinen Heimvorteil als Muenchner schon ein wenig ausspielen. Und seine Maennlichkeit dazu.
„Uebrigens, bevor ich darauf vergesse: Ich habe auch einen Namen. Ich heisse Markus, wie gesagt, Markus Sommerlatt.“
„Soll ich jetzt vielleicht sagen: Dora. Dora Ebel. Angenehm? Nein, freut mich sehr. Wirklich. Und wenn wir schon soweit sind und am Morgen danach miteinander fruehstuecken, sollten wir das alberne Sie fallen lassen und du zueinander sagen. Nicht?“
„Dann bestell ich jetzt noch zwei Glaeser Sekt, dann machen wir aus einem einfachen Fruehstueck ein Sektfruehstueck und begiessen das du. Einverstanden? Aber was sagen dann die Verkaeuferinnen bei Rabel, wenn du schon am Morgen mit einer Fahne in den Laden kommst und dir Knoepfe oder Reissverschluesse aussuchst?“
„Du kennst Adolph Rabel?“
„Den Adolph nicht. Den Laden schon. Meine Grossmutter hat mich manchmal dorthin geschickt. Sie bastelte kunstvolle Brautkronen und anderen Schmuck. Gebilde aus Vogeldraht, die sie mit wertvollen Stoffen und Bordueren ueberzog und darauf reiche und bunte Applikationen anbrachte. Sie hatte ein halbes Leben lang Stoffe und solche Sachen gesammelt. Davon hatte sie viele. Aber Pailletten, Perlen und Knoepfe, aus Glas oder Perlmutt, Hartwachs oder Plastik – davon konnte sie nie genug haben. Sie vertraute mir und deshalb durfte ich hin und wieder fuer sie dort einkaufen. Ich hab das gerne gemacht: Die altertuemliche Ladenausstattung, die altertuemlichen Verkaeuferinnen, die vielen, vielen Schublaeden voll mit allen moeglichen Schaetzen. Und die Schneiderinnen, die wegen drei oder vier Knoepfen extra aus Waldperlach oder Grosshesselohe in die Stadt’kamen, um bei Rabel einzukaufen. Und ich als junger Spund mittendrin.“
„Ja, da muss er auch hinein. Der junge Spund. Mittenhinein.“ Dora lachte laut auf. Markus nicht.
„Solche Geschaefte gibt es Muenchen nicht mehr viele“, fuhr er irritiert fort. „Aber zufaellig oder nicht: Genau in dem Karreé, schon: ein paar Haeuser weiter, war das alte Zerwirkgewoelbe, dann schraeg gegenueber ein Spezialgeschaefte fuer Filze, die Stoffabteilung von Ludwig Beck am Ecke des Alten Rathaus und – in der Theatinerstrasse – der Tabak Baader. Dahin hab ich als Bub mit dem Fahrradl nach der Schule oft Tabakwaren geliefert und – wenn der alte Baader gerade nicht vorne im Laden war – eine Schachtel Zigaretten gezwickt. Die ich dann meinen Spezln einzeln verkaufte. Im Gegensatz zu heute hatte ich damals immer Geld ...“
„Und ein Sektfruehstueck? Konntest du dir als Schueler schon damals solche Fruehstuecke leisten? Zusammen mit einer neuen Bekannten aus Ostberlin? Sei ehrlich!“
„Jetzt bringst du mich wieder darauf. Haben wir noch Zeit? Zehn nach neun ist es. Na also: A bisserl was geht immer! Was machst du eigentlich hier in Muenchen?“
„Ich weiss schon: A bisserl was geht immer! - Monaco Franze – Der ewige Stenz – Heinz Fischer – Helmut Dietl – Patrik Suesskind – die Kubitschek – der Obermayer als Manni – die Christine Kaufmann – die Erni Singerl. Aber jetzt im Ernst und als Antwort auf deine Frage: Meine Mutter hat eine aeltere Schwester, Elke, Tante Elke also. Tante Elke war die Schlauere und hat bereits Ende der 50er Jahre in den Westen ruebergemacht. Geheiratet hat sie in Hannover. Spaeter ist sie mit ihrem Mann nach Muenchen gezogen. Hin und wieder kam ein Paket aus Muenchen. Ein Liebespaket fuer die armen Verwandten in der Ostzone, die Bananen angeblich nur aus dem Westfernsehen kannten. Kaffee, Tee, Schokolade, Zigarren und Zigaretten schickte die Tante. Und hin und wieder ein Kleidungsstueck fuer mich. Modisch. Westlich. Einmal, ich war vielleicht vierzehn, und ich hatte schon ganz ansehnliche Brueste und meine Tage ohnehin, kam ein enganliegendes Topp aus einem superweichen Material. So weich und anschmiegsam war das, dass jede darunterliegende Hautunebenheit darunter zu sehen war. Ehrlich. Jedes Faeltchen. Jedes Waerzchen. Neid bei meinen Klassenkameradinnen und Aufregung bei den Jungs an der Schule! Damals habe ich mich entschlossen, spaeter einmal etwas mit mit Mode zu machen. Mit sechzehn schloss ich im Sommer die sogenannte zehnklassige polytechnische Oberschule ab.
„Wann war das.“
„Aha. Jetzt versuchst du herauszufinden, wie alt ich bin. Das kann ich dir auch so liefern. Ohne Taschenrechner und ohne hoehere Mathematik: ich bin 1970 auf die Welt gekommen. Im Maerz, wenn du es genau wissen willst. Am 21. Das heisst: ich werde im Maerz 22. OK? Und du bist 26 oder 27. Stimmt das?
„Ja, aber ... wie bist du denn darauf gekommen?“
„Einfach nur so ein Schuss ins Blaue. Ein Spiel, das ich zwischendurch gerne spiele. Einfach so. Zum Spass. Wann wirst du 27? Nein, lass raten. Hmmm, ich bin Fisch. Und du koenntest ein Stier sein. So, wie du daherkommst, wie du redest ... Bist du ein Stier?’
„Ja. Horoskopmaessig bin ich ein Stier. Sonst eigentlich nicht. Wie hast du das bloss erraten?“
„Lass man gut sein, fuer den Moment. Und lass dir weitererzaehlen. Ich hatte schon waehrend der Schulzeit hin und wieder gemodelt. Ja, schau nur – so etwas gab es bei uns in der DDR auch. Jugendliche Mode haben wir vorgefuehrt. Zusammen mit meinem ersten Freund. Ein ganz lieber Typ. Auch aus Ostberlin. Pfarrerssohn. Schalk nannten wir ihn. Nicht nach dem Schalck-Kolokowsi, dieser Wirtschaftspfeife, sondern weil Schalk, unserem Schalk, der Schalk buchstaeblich hinter beiden Ohren steckte. Wir hatten viel Fez miteinander. Du weisst schon: Spass. Schalk war auch mein erster Liebhaber. Au backe, ging das schief. Mit allen Haupt- und Nebenschauplaetzen. Du weisst schon.“
Markus wusste nichts. Ahnte es aber. Das Thema war ihm unangenehm. Deshalb schwieg er.
„Nicht dein Thema, was? Auch gut. Kann ich verstehen. Also nach der Schule begann ich eine Facharbeiterausbildung als Damenmasschneiderin. In der DDR gab es damals die Facharbeiterausbildungen Damenmassschneider und Herrenmassschneider. Zwei Jahre dauerte eine solche Ausbildung. Dabei lernte man nicht nur das Massnehmen und Naehen, sondern auch das Zuschneiden.
Durch Beziehungen meiner Mutter bekam ich eine Lehrstelle in einer privaten Schneiderei. Nicht in einem volkseigenen Betrieb. Fau Sibylle Weiss war die Inhaberin und meine Meisterin. Jahrgang 1920. Meisterpruefung 1944. Unter Bombenhagel abgelegt, wie sie immer wieder zum Besten gab. Eine wirklich bombige Frau. Trotz ihrer 66 Jahre. Voller Witz und Charme, voller Sachverstand und Gespuer fuer die gut tragbare, klassisch-elegante Damenmode. Kostueme, Kleider, Roecke, Blusen, Abendkleider, Maentel und Jacken fuer jede Jahreszeit. Auch Umstandsmode. Aber nicht fuer jeden Geldbeutel. Besonders Parteikader liessen bei ihr arbeiten. Oder deren Frauen und Geliebte. Oder Betriebsleiter von VEB’s. Du weisst, was ein VEB war? Oder bessergestellte Selbstaendige. Ja, auch das gab es bei uns. Frau Schwarz beschaeftigte drei Gesellinnen und vier Lehrmaedchen. Und einen schwulen Lehrjungen. Das war ein Neffe von ihr. Im Gegensatz zur Ausbildung in einem volkseigenen Betrieb musste ich bei Frau Schwarz drei Jahre lernen, keine zwei. Und dann fiel die Mauer. Nicht, weil ich jetzt eine vollausgebildete Facharbeiterin war. Nein. Die fiel aus anderen Gruenden. Du weisst schon.“
„Und dann? Was gings weiter mit dir?“
„Schon als Model, und dann immer wieder bestaerkt durch die Frau Weiss, wusste ich: Wenn Schneiderin, dann Fashion. Mode. Design. Als die Mauer fiel und wir arme Kirchenmaeuse aus Ostdeutschland auch endlich auf Aldi und KDW, BMW und Rossmann, Quelle, Adria und Mallorca machen konnten, rief ich Tante Elke in Muenchen an. Ich bat sie, sich bei der Meisterschule fuer Mode um deren Zulassungsbedingungen zu erkundigen. Ich wollte naemlich unbedingt nach Muenchen und dort auf die Modeschule gehen. Tante Elke ist seit Jahren Witwe und lebt allein. Und wirklich: nach kurzer Zeit erhielt ich einen Brief mit allen notwendigen Informationen. Und die Anmeldeunterlagen auch gleich dazu. Soweit so gut ... Aber Markus ... ich denke, ich muss gleich los.“


09.35 Uhr, Montag, 14. Januar 2002

„Es ist 9.35 Uhr. Ich muss los. Was machst du heute Abend? Treffen wir uns noch einmal hier, im Tambosi? Um 8.00 Uhr? Schon begessen?“
Noch ehe Markus den Mund aufmachen konnte, hatte sie ihm einen kleinen Kuss auf die Backe gedrueckt, ihren Mantel vom Haken genommen, war hineingeschluepft und zur Treppe gerannt. Laut rief sie ueber den Raum hinweg: „Ich steige gleich in die U-Bahn und fahre weiter bis zum Sendlinger Torplatz. Und – jetzt aufgepasst mein Lieber und festgehalten!: Dann dreimal umgefallen, und schon bin ich am Rossmarkt. Meisterschule fuer Mode.“
„Schon ‚begessen“. Welche Ausdrucksweise? Ossi eben. Aber sonst. Markus’ Herz huefte, als er die zurueckliegenden 85 Minuten noch einmal Revue passieren liess. Was fuer eine Frau. Was fuer ein Typ. Klasse. Einfach Klasse. Er zahlte und verliess das Tambosi kurz nach Dora. Er brauchte wirklich nur drei Mal umzufallen. Dann war er am Wittelsbacherplatz. Bei Siemens. Er hatte einen Termin bei dem Sachgebietsleiter Immobilien Deutschland-Ost. Siemens war ja mit seiner Hauptverwaltung erst nach dem Krieg von Berlin nach Muenchen uebersiedelt. Zur Freude Muenchens. In Berlin Schmerzen verursachend. „Die Ratten verlassen das ...“ Jetzt, nach der Vereinigung waren Vorstandsbeschluesse gefasst worden, verstaerkt in Ostdeutschland, in den neuen Bundeslaendern, zu investieren. Das hiess bauen. Das hiess aber zuerst, Grundstuecksfragen zu klaeren, Eigentumsfragen klaeren, Katastereintragungen klaeren. Und das nach 44 Jahren Sozialismus, Enteignung, Verstaatlichung. „Junkerland in Bauernhand“ hiess es erst. Es wurde neu vermessen, teilvermessen. Leider nicht immer sehr sorgfaeltig. Mit der Gruendung der LPG’s ab 1952 verringerten sich die Ansprueche an die Messergebnisse noch einmal. „Es ist jetzt ohnehin alles volkseigen“, dachte man. Die Folge: Die Grundbuecher – die Kataster – verschlamperten mehr und mehr. Nach der Wende wurde auch in den neuen Bundeslaendern die Vermessung unter die Hoheit des jeweiligen Bundeslandes gestellt. Fuer die Vermesser hiess das jetzt, die oft grosszuegigen Messergebnisse aus DDR-Zeiten mir den viel engeren Fehlertoleranzen der jetzt gueltigen Vorschriften zu harmonisieren. Um das vernuenftig angehen zu koennen, bekam jedes neue Bundesland ein Patenland aus den alten Bundeslaendern, dessen Katastersystem dann schlankweg uebertragen wurde.
Das war der Grund, warum man Markus bei seinem Arbeitgeber in Potsdam mit offenen Armen empfangen hatte. Das Vermessungsbuero suchend haenderingend nach gut ausgebildeten und engagierten Mitarbeitern. Ein solcher war Markus gewesen. Darauf baute er seine Karriere und seinen persoenlicher Erfolg innerhalb der Firma auf. Und als solcher spazierte er jetzt hinueber zu den hochnoblen und sehr gut aufgestellten Leuten von Siemens. Sein Buero hatte das Konzept eines Flaechennutzungsplans fuer ein Industriegebiet im Norden Berlins ausgearbeitet, zwischen Birkenwerder und Borgsdorf gelegen, mit guenstigen Zugaengen zum Berliner Autobahnring und zur S-Bahn. Das Projekt war mit den Gemeinden bereits diskutiert worden, die Unteren Genehmigungsbehoerden hatten ihre eventuelle Zustimmung schon signalisiert. Das also war das Projekt, das er heute den Siemens-Leuten erlaeutern – und verkaufen – wollte.


20.10 Uhr, Montag, 14. Januar 2002

„Sorry. Ich bin etwas spaet. Tut mir leid. Auweia! Das Tambosi sieht ja am Abend hier ganz anders aus. So viel eleganter. Und all das Rot und das Gold. Die Glasluester. Und das gedimmte Licht. Das ist fast wie in Witwe Poltes Puff’ hier. Kennst du den Puff? Aber die Witwe Polte kennst du schon? Oder? Hast du etwa etwas Besonders vor mit mir? Heute Abend schon? Uff!“
Sie lachte ein perlendes Lachen. Schaelte sich aus Schal und Mantel und stellte sich aufrecht vor ihn hin. Sie wusste, dass ihm die Luft wegbleiben wuerde. Dann setzte Sie sich Markus gegenueber. Er schluckte. So schoen sah sie aus. So schick. Und so sexy ...
„Markus. Markus. Aufwachen. Ich bin es nur. Die Dora. Na sag schon: Wie war dein Tag?“
„Die Frage langjaehriger Ehepartner in amerikanischen Filmen: ‚How was your day, darling?’“
„Darling habe ich nicht gesagt. Trotzdem, ist doch schoen: Wie war dein Tag, mein Lieber?“
„Hast du schon gegessen?“
„Warum fragst du? Wir haben doch ausgemacht, dass wir schon begessen herkommen. Ja, ich habe schon mit Tante Elke gegessen. Allerdings nur ein Schickenbrot und etwas Salat. Sag: Warum fragst du mich, ob ich schon gegessen habe?“
„Weil es etwas zu feiern gibt.“
„Also hattest du einen guten Tag! Hast du anstaendig verkauft? Oder was?“
„Ich hatte ja ein Praesentation bei Siemens.“
„Bei Siemens? Machst du in Haushaltsgeraeten? In Staubsaugern? Oder in Roentgenapparaten? Oder verkaufst du Atomkraftwerke? Sag schon, was hast du den Siemens-Leuten praesentiert?“
Sie bestellten zwei Kir Royal, einen gemischten Vorspeisenteller fuer Zwei, mit besonders vielen Oliven und Artischocken, Markus wollte ein Steak, Dora ueberbackene Rigatoni, und eine Schuessel Salat fuer beide. Zum Essen bestellten sie eine Flasche Soave Classico. Markus mochte keinen Rotwein. Dora war es egal. Sie trank, was auf den Tisch kam.
„Das Kleine 1x1 der hohen Schule der Verfuehrung verlangt leichte Speisen, gut verdaulich, kein Knoblauch, keine Zwiebel, keine Eier, keine Bohnen oder sonst etwas Blaehendes. Wenig Alkohol und wenn, keine starken Getraenke. Wir duerften mit unserer Bestellung nicht schlecht liegen“, sagte sie und prostete ihm zu. „Sag der Familie Siemens beim naechsten Mal einen schoenen Gruss von mir und dass wir mit ihr gerne oefter solche Geschaefte machen moechten. Auf uns und auf die Siemens’.“
Dann erzaehlte ihr Markus haarklein das ganze Projekt und was seine Firma und was er damit zu tun hatte und was ein erfolgreicher Abschluss fuer Folgen fuer das Vermessungsbuero in Potsdam haben wuerde. Und er erzaehlte ihr von dem langen Telefonat, das er nach der Besprechung mit seinem Chef gefuehrt hatte. Und von den Ankuendigungen, die der Chef – vorsichtig und umsichtig wie er war – zwischen den Saetzen auszudruecken und gleichzeitig zu unterdruecken versuchte.
„Nachtigall ich hoer dir trapsen“, strahlte in Dora an. „Gestern war der 13., heute ist der 14., ein Montag, wenn das kein Glueckstag ist. Fuer uns beide.“
„Wieso fuer uns beide?“
„Na klar doch. Fuer dich, weil du ein so grosses Projekt so erfolgreich praesentiert hast. Und fuer mich? Weil ich dich heute kennengelernt habe. Und mich schluppdiewupp in dich verguckt habe. Und von dir zum Sektfruehstueck und zum Dinner eingeladen wurde. Du hast mich doch zum Abendessen eingeladen? Oder etwa nicht?“
„Dora. Als du heute am Morgen so schnell weggelaufen bist, hast du nicht zuende erzaehlt. Erzaehl doch weiter. Es interessiert mich, wie das mit der Modenschule weitergefangen ist.“
„Also, du neugieriger Mann. Wenn du es unbedingt willst. Wo war ich stehengeblieben. Heute Morgen?“
„Deine Tante Elke hat dir einen Brief geschickt mit Informationen und den Formularen fuer die Anmeldung.“
„Ja, genau. Ich also alles gelesen und sofort die Anmeldung ausgefuellt. Die grosse Frage war, ob man mich zur Aufnahmepruefung zulassen wuerde. Es gibt pro Jahrgang nur 50 Plaetze, aber viel mehr Bewerber. Muenchen und die Schule haben eben einen so guten Ruf, dass sich die Leute aus ganz Deutschland bewerben. Auch aus dem Ausland uebrigens.“
„Und du konntest die Aufnahmenpruefung machen und hast sie bestanden. Sonst wuerden wir heute Abend nicht hier sitzen.“
„Klar doch. Du Schlauberger. Du bist ja fast schneller von Begriff als ein Sachse.“ Ihre dunklen Augen funkelten im weichen Licht des Restaurants. „Sogar sehr gut habe ich bestanden. Na, kein Wunder: Die Dora aus Ostberlin. Facharbeiterin fuer Damenmassschneiderei. Da lief ich schon fast ausserhalb der Konkurrenz.“
„Jetzt haust du aber ganz schoen auf den Putz.“
„Nein, tue ich nicht. Ich bin ja auch gleich mit Sack und Pack nach Muenchen gekommen. Naja – soviel war das nicht. Tante Elke ist Witwe, das habe ich dir schon erzaehlt. Ich merke schon: Du weisst ohnehin schon fast alles ueber mich. Also Tante Elke ist Witwe. Sie hat eine schoene Wohnung in der Naehe des Noerdlichen Friedhofs ...“
„... des Nordfriedhofs ...“
„Sage ich doch. Also da, gleich um die Ecke Holland- und Bruesseler Strasse wohnt meine Tante, gleich bei der Ungererstrasse, und nicht weit vom Ungererbad. Ganz in der Nahe der U-Bahn-Station Noerdlicher Friedhof.“
„Nordfriedhof. Und sag jetzt nicht gleich wieder ‚Sag ich doch’. Und da bist gleich eingezogen?
„Ganz genau. Die Tante hat eine 3-Zimmer-Wohnung, die ihr inzwischen zu gross ist. Und sie lebt alleine. Und ich bin die gute Nichte aus Ostberlin. Kenne niemanden in Muenchen und suche ein billiges Zimmer.“
„Ein billiges Zimmer in Muenchen? Da haettest du lange suchen koennen.“
„Eben. Deshalb war ich mehr als froh, als mir die Tante anbot, bei ihr wohnen zu koennen. Umsonst.
Das war wie ein Sechser im Lotto. Mit Zusatzzahl. Ich habe mich gefreut wie Schneewittchen, als ihr das vergiftete Apfelstueck aus dem Hals gesprungen war und sie den Deckel ihres Glassarges aufmachen konnte. Seither bin ich in Muenchen, lebe sittsam bei meiner Tante und gehe jeden Tag zur Schule.“
„Sehr gut. Und am Morgen faehrst Du mit der U-Bahn von Nordfriedhof zum Sendlinger-Tor-Platz, faellst dort dreimal um - und am Nachmittag faehrst du wieder zurueck?“
„Genau so. Ganz genau genommen: Nicht ganz so genau. Aber doch fast. Kein Modeln mehr. Kein Schalk. Hin und wieder mit Tante Elke ins Kino, wenn das Wetter gut ist an den Wochenenden, ins Ungererbad oder in den Biergarten am Chinesischen Turm. Das ist kein grosses Freizeitprogramm. Aber mir gefaellt es so, wie es ist. Die Schule ist ja eine wirkliche Schule. Schulbetrieb. Keine Akademie oder Universitaet. Da wird wirklich nach Stundenplan gearbeitet: Entwurf, Zeichnen, Materialkunde, Farblehre, Schnittechniken, Zuschneiden, Naehen – mit der Hand vor allem. Haute Couture ist vor allem Handarbeit. Hast du das gewusst?“
„Nein. Keine Ahnung. Warum mit der Hand. Warum hat Charles F. Weisenthal 1755 die Naehmaschine erfunden, wenn ihr heutzutage noch alles mit der Hand naeht?“
„Wer hat was erfunden? Woher weisst du denn das? Erst redest du ueber Applikationen. Jetzt ueber die Erfindung der Naehmaschine. Was weisst du denn ueber Naehmaschinen?“
„Ganz ehrlich ...“
„Ich hoffe, du bist immer ehrlich ... Ich bin naemlich eine Aufrichtigkeitsfanatikerin, musst du wissen. Nein, du musst gar nichts wissen. Entschuldige bitte. Aber ich nehme es mit der Wahrheit sehr genau. Bei mir hat jemand sofort ausgesch..., entschuldige, das war jetzt nicht gerade damenhaft. Aber ich kann Luegner einfach nicht ab. Und Betrueger noch weniger. Also ..."
„Jetzt weiss ich genau, wie ich mit dir dran bin. Also, noch einmal: Nachdem ich also wusste, dass du Schneiderei gelernt hast und auf die Modeschule gehst, dachte ich mir, dass wir bestimmt einmal uebers Naehen reden wuerden. Logisch. Oder? Also bin ich nach meinem Termin bei Siemens erst zum Essen gegangen, dann ins Museum und anschliessend in der Tuerkenstrasse in ein Internetcafé. Dort hab ich gegoogelt und ein bisschen was ueber Naehmaschinen nachgelesen. Du hast je gesehn, was so ein bisschen name dropping hermacht.“
„Gut. Als Belohnung fuer deinen Fleiss erklaere ich dir, warum Qualitaetskleidung mir der Hand genaeht wird – von der Innenverarbeitung einmal abgesehen: Wenn du eine Naht mit der Hand naehst, modellierst du die Naht gewissermassen. Du formst sie, passt sie an, baust sie aus. Das klingt einfach, ist in Wirklichkeit aber eine Kunst. Keine sehr grosse, aber eben doch eine. Man kann das lernen, klar, aber es gibt Naeherinnen, die haben ein echte Begabung fuer Naehte.“
„Hast du eine Begabung dafuer?“
„So und so. Meine Begabungen liegen mehr auf anderen Gebieten.“ Dora lachte auf.
„Deine Begabungen liegen. Wo? Auf welchen Gebieten bist du besonders begabt?“ Wieder lachte sie.
„Markus, mein Lieber. Lass uns einfach das Thema wechseln. Du wirst schon noch herausfinden, auf welchem Gebiet ich besonders begabt bin.“
„Wann? Du lebst in Muenchen. Und ich fliege Morgen nach Berlin zurueck.“
„Eben deshalb sollten wir schnellstens aufhoeren, uns ueber Naehte und das Naehen zu unterhalten.
Soll ich dir noch etwas ueber die Muenchner G’schichten erzaehlen? Oder ueber Kir Royal? Dann haetten wir ja drei Dietl-Kultserien durch. Und ich haette dir den Beweis geliefert, dass mir Muenchen und seine Denke schon etwas vertraut sind. Zumindest ein kleiner Ausschnitt davon. Aus dem Fernsehen.“
„Du ziehst alle Register, was? Ich glaube, dass du dich mit dem Schalk deshalb so gut verstanden hast, weil so ein Schalk auch in dir wohnt. Und nicht zu knapp. Komm, lass uns gehen. Wenn du willst, koennen wir die Maximilianstrasse entlangen laufen und in der Harry’s New York Bar noch etwas trinken.“
„Das muss wirklich ein maechtig grosses Geschaeft gewesen sein, das du da mit den Siemens-Leuten eingefaedelt hast. Oder verrechnest du das mit dem Solidaritaetszuschlag, als Teil des Finanztransfers zwischen West und Ost. Quatsch! Du bist ja selbst ein halber Ossi. Lebst und arbeitest in Brandenburg. Musst du eigentlich den Solidaritaetszuschlag zahlen?“
„Das ist mir jetzt aber wirklich zu intim. Lass uns gehen.“
Eng aneinandergeschmiegt gingen sie vor zur Oper und bogen in die Maximilianstrasse ein und gingen in Richtung Altstadtring. Auf der anderen Strassenseite blieben sie vor Moshammers Schaufenstern stehen und betrachteten eine Weile die ausgestellten Kleidungsstuecke.
„Ist schon nicht schlecht, was die hier verkaufen. Ziemlich teuer sieht das alles aus. Was?
„Ist es mit Sicherheit auch. Haute Volaute, sagte mein Grossvater. Ueber die Muenchener Gesellschaft, die sogenannten High Society, die Promis – die Schickeria halt, darueber konnte sich der Opa aufregen: „Moos hama keins, aber beim Moshammer gehn ma schopping“, moserte er manchmal.
Harry’s New York Bar hiess seit Jahren nicht mehr Harry’s New York Bar, sondern Pussos Bar. Pussy’s Bar. Viele aeltere Herren schmueckten sich mit gut zurechtgemachten jungen Frauen. Die Atmosphaere in den holzgetaefelte Raeumen war aufgeladen. Alkohol, Pianomusik, abschaetzende Blicke, Wichtigmacher, stille Geniesser, tiefe Dekolletés, auf Hochglanz polierte Masschuhe, Gespraechsfetzen, Gelaechter – die Bar hatte etwas Pulsierendes, Lebendiges, Hitziges. Dora trank zwei White Russians, Markus einen Kir Royal.
„Und jetzt? Was machen wir jetzt? Wie sieht es nun aus, mit deinem Stehvermoegen, mein Lieber?“ Sie war mit ihren Lippen ganz nahe an sein Ohr gekommen. Er roch ihren cocktailsuessen Atem und spuerte ihre feuchten Lippen. Und dann spuerte er ihre Zunge im Ohr. Ein Schauer ueberlief ihn, so, als wuerde er froesteln.
„Jetzt? Jetzt verschwinden wir von hier. Nehmen uns ein Taxi und fahren ins Marriott. Und dort werden wir weitersehen. OK?“
„Ins Mariott? Ist das nicht auf der anderen Seite der Ungererstrasse. Ganz in der Naehe der Wohnung meiner Tante. Was ist da?“
„Genau. An der Berliner Strasse. Allerdings nur vier Sterne. Fuer fuenf Sterne reicht das Geld nicht. Noch nicht. Koennte nicht besser passen, oder? Die Berliner Strasse, meine ich. Da hab ich uns ein Zimmer gemietet. Fuer heute Nacht. Willst du mitkommen.“
„Dazu muss ich nicht lange ueberlegen. Klar doch. Aber wie bist du darauf gekommen? Woher wusstest du, wo ich wohne? Woher wusstest du, wie der Abend laufen wuerde und ob ich Lust haette, mitzukommen? Machst du oft solche Plaene? Mit unschuldigen Frauen aus dem Osten?“
„Erstens: Ich hab ja gesehen, wo du heute Morgen in die U-Bahn eingestiegen bist. Zweitens: Natuerlich konnte ich nicht wissen, wie der Abend laufen wuerde. Gewunscht habe ich mir, dass es so kommen wuerde, wie es jetzt tatsaechlich gekommen ist. Und drittens wollte ich nicht noch eine Nacht bei meinem Freund schlafen. Er schnarcht einfach zu laut. Da schlafe ich schon lieber mit einer jungen Frau aus Ostberlin. In einem Zimmer. Und die Frage, ob ich oft solche Plaene mache und Jungfrauen aus dem Osten verfuehre, diese Frage ist mir zu intim. Ich werde sie jetzt nicht beantworten.“
Lachend stiegen sie in ein Taxi und fuhren ins Marriot. Unterwegs rief Dora bei ihrer Tante an und sagte ihr, dass sie nicht auf sie warten muesse. Sie wuerde ueber Nacht ausbleiben.
„Abgemeldet fuer die Nacht.“
„Das klang routiniert. Hast viel Uebung mit solchen Abrufen.“
„Sorry. Diese Frage ist zu intim“, sagte Dora, schlang ihre Arme um Markus und kuesste ihn leidenschaftlich auf den Mund.
Unausgeschlafen trennten sie sich am folgenden Morgen. Wohlig ermattet. Und beide gluecklich und zufrieden, ja seelig, weil sie das starke Gefuehl hatten, die Person fuers Leben getroffen zu haben. Beide.


2003


11.05 Uhr, Dienstag, der 14. Januar 2003

„Die Woch geht scho wieda gut an, sagte seinerzeit der beruechtigte Raeuber Kneissl, als man ihn an einem Montag aufhaengte. Deshalb haben wir uns gedacht, den Montag auszulassen – ein blauer Montag, sozusagen -, und erst an einem Dienstag zu heiraten. Nein, der tatsaechliche Grund, warum wir am heutigen Tag heiraten, ist der: Genau vor einem Jahr, am 14. Januar 2002, haben Dora und ich uns kennengelernt. Das heisst, ich bin von hinten auf sie draufgefallen. In der U-Bahn in Muenchen. Auf der Strecke zwischen Nordfriedhof und Odeonsplatz. Draufgefallen, aber nicht reingefallen. Wir haben uns vom ersten Augenblick an gefallen. Und heute abend fallen wir in unser Ehebett. Bis jetzt war es nur ein Lotterbett. So also, liebe Grossmutter, liebe Eltern und Schwiegereltern, alte und neue Anverwandte, verehrter Chef, verehrte Gattin meines Chefs, sehr verehrte Frau Weiss, das ist Doras fruehere Chefin, Freunde, Freundinnen und Kollegen - so also aendern sich die Zeiten. Oder, anders ausgedrueckt: Die Zeiten aendern sich, aber die Betten bleiben die gleichen. Deshalb heben Dora und ich jetzt unsere Glaeser und stossen mit Ihnen und Euch an, sagen Danke und trinken auf von Herzen auf Euer Wohl.“
Alle waren nach Potsdam gekommen: Seine Eltern und seine Oma, Doras Eltern, ihre Tante Elke, andere Tanten und Onkel, Nichten und Neffen, sein Chef mit Ehefrau, Frau Sibylle Weiss, einige Freunde, alte Schulfreunde, Studienkollegen, Arbeitskollegen, ihre Nachbarn aus Ostberlin, seine Nachbarn aus Potsdam. Sogar der Schalk war gekommen. Markus und er verstanden sich auf Anhieb. Keine riesige Festgemeinde. Aber eine hochgestimmte.
Nach der Eheschliessung auf dem Standesamt fuhren alle hinaus nach Caputh. Das Mittagessen, der Kaffee und das Abendessen gab es im Faehrhaus Caputh, einem romantisch gelegenen Gasthof direkt an der Faehre zwischen Caputh und der Wentorfinsel; die Faehre fuehrt ueber die Engstelle zwischen Templiner See und Gemuende. Der Nachmittag war kalt und sonnig, und viele der Gaste nutzten die Gelegenheit fuer einen kleinen Spaziergang in den Ort oder am Wasser entlang.


2006


17.04 Uhr, Samstag, 14. Januar 2006

Durch die Gartentuere zur Uferpromenade, die Schwielowseestrasse entlang bis zur Kreisstrasse nach Ferch. Mehr als sechs Kilometer. Auf der Hoehe des Campingplatzes, das Landhaus Ferch bereits in Sichtweite, hatte Dora einen neuen Wutanfall: „Da sind wir genau richtig. Was? Schwielowsee – der Schwulensee. Wolltest du deshalb hierherziehen? Zum schwulen Schwielowsee?


2012


11.24 Uhr, Sonntag, 15. Januar 2012

Das mit der Reisekrankenversicherung des ADAC war wirklich eine tolle. „Nie habe ich 50 Euro besser angelegt als in diese Versicherung. Premium-Tarif. Fuer zwei Personen. Fuer knapp 50 Euro. Der Preis fuer Mitglieder. Die Gelben Engel waren wirklich Engel.“
Puenktlich war der Jet in Civitavecchia angekommen. Pilot und Co-Pilot, ein Arzt, ein Rettungsassistent und ein Pfleger waren an Bord. Innen sah die Maschine aus wie ein komplett ausgestattetes Rettungsfahrzeug.
Dora und drei weitere Verletzte wurden in das Flugzeug gehoben. Sie flogen von Civitavecchia nach Muenchen. Sie ueberflogen Pisa, Parma, Mantua, Verona, die Alpen, Graz, Salzburg, Wasserburg am Inn, die Innschleife konnte sie sehen. Dann Muenchen. Der Ambulanz-Jet kam auf einem besonders abgetrennten Abschnitt zum Stehen. „Sie kommen von der Costa Concordia? Von dem Deppen, dem hausg’machten. Der dieses Riesenschiff an die Felsen gesetzt hat. Man glaubt es ja nicht. Ich hab’s im Fernsehen gesehen. Na, Ihre Kreuzfahrt habn Sie sich wahrscheinlich auch anders vorgstellt. Was? Jetzt schaun wir mal, wie wir Sie schnellstmoeglich nach Berlin bringen koennen.“

06.10 Uhr, Sonntag, 15. Januar 2012

Als er erst einmal wirklich begriffen hatte, welche Chance sich ihm mit der Havarie der Costa Concordia auftat, ging eigentlich alles wie von selbst. Ein wenig durcheinander zwar und ziemlich erschoepft, war er nach der Evakuierung von dem Schiff und der Ueberfahrt mit einem total ueberfuellen Boot der Kuestenwache im Hafen von Civitavecchia eingetroffen. Entgegen der Aufforderung hatte er sich im Hafenbuero nicht als Ueberlebender registrieren lassen. Er drueckte sich an der Warteschlange vorbei und suchte erst einmal nach einer Bar. Dort wusch er sich, dann sperrte er sich in eine der Toilettenkabinen ein. Es dauerte nicht lange, bis er festgestellt hatte, was ihm an persoenlichem Besitz geblieben war: Ausser der Kleidung und der Schuhe, die er trug, waren das eine goldene Arbanduhr – ein Gesckenk seines Kompagnons -, ein goldener Ehering und ein Goldkettchen, das ihm Dora zum ersten Hochzeitstag gescheckt hatte. In der Geldboerse waren noch knapp neunhundert von den 1000 Euro, die er in Tarqinia aus dem Geldautomaten gezogen hatte, dazu sein Fuehrerschein, eine Kennkarte und eine Visa-Karte. Einige Visitenkarten steckten noch darin und eine mehrfach gefaltete Liste mit wichtigen Namen und Adressen. Sein Mobiltelefon befand sich noch immer in der rechten Hosentasche. Ein Ladegeraet dazu hatte er nicht mehr.


07.00 Uhr, Sonntag, 15. Januar 2012

Nach einem schnellen Fruehstueck machte er sich auf den Weg. In dem Jackett, das er sich am Abend vorher fuer das Dinner angezogen hatte, wirkte er fremd und auffaellig in der morgendlichen Stadt. Das Jackett musste er schnellstmoeglich durch etwas anderes ersetzen. Fuer den Moment war es besser, das Teil auszuziehen und unter dem Arm zu tragen. Auch die Krawatte passte nicht zu der aufgeregten Stimmung, wie sie in Civitavecchia herrschte. Also weg damit. Er wollte in Richtung Busbahnhof und hatte sich rasch dahin durchfragen koennen. Er loeste einen Fahrschein nach Rom. Und hatte Glueck: Der erste Bus ging um 8.41 Uhr und sollte um 9.50 Uhr in Rom ankommen: Rom Hauptbahnhof.


10.14 Uhr, Sonntag, 15. Januar 2012

Markus hatte gegenueber dem Busbahnhof ein kleines Textilgeschaeft entdeckt, das um 10.00 Uhr gerade die Tuere aufgesperrt hatte. Viel Auswahl hatte er nicht, und das, was angeboten wurde, war eher auf den Geschmack viel aelterer Herren ausgerichtet. Aber ohne lange zu waehlen, schluepfte er in eine beigefarbene Popelinbluse, die mit einem rot-blau-gruen gewuerfeltem kraeftigen Baumwollstoff gefuettert war, dazu eine hellbraune Cordhose, ein Flanellhemd, einen Schal und ein Paar Flieshandschuhe. Es war Januar und er wusste nicht, wie warm oder kalt es werden wuerde. Zwei Unterhosen, zwei Paar Socken und fuenf Baumwolltaschentuecher kamen dazu. In einem Geschaeft nebenan kaufte er noch eine kleine schwarze Reisetasche.


10.45 Uhr, Samstag, 15. Januar 2012

„L’alto parlante gridano: Roma, Stazione Termini!“ – „Der Lautsprecher ruft laut: Rom. Hauptbahnhof!“ Das war einer der ersten Saetze, die er damals in seinem Italienischkurs lernte. Und: „Quanti anni ai, Peppino?“ ein zweiter. Jetzt stand Markus mitten in dem Gewusele des roemischen Hauptbahnhofs und suchte nach einem Tabacchi. Er musste eine Telefonkarte kaufen. Sein Mobiltelefon konnte er von nun an nicht mehr benuetzen.


11.11 Uhr, Sonntag, 15. Januar 2012

Nicht nur eine Telefonkarte hatte er besorgt, sondern auch die Karte fuer die Bahnfahrt von Roman nach Muenchen. Einfache Fahrt, mit Platzreservierung in einem Liegewagen, zweite Klasse. Der Zug wuerde um 13.15 in Rom abfahren und erst um 5.21 Uhr morgens in Muenchen ankommen. Eine endlos lange Fahrt also. Aber der Zug um 11.45 Uhr war restlos ausverkauft gewesen, auch fuer die Erste Klasse.
Jetzt spuerte er das erste Mal sein Herz, seit die Costa Concordia an dem Felsen entlanggeschrammt war. Ein leicht unregelmaessiger Rhythmus und ein kleines Ziehen in der linken Brust wirkten wie ein Warnsignal. Er steckte die Telefonkarte in den Schlitz des Apparates, wartete einen Moment, und waehlte dann die Nummer. Dazu brauchte er kein Notizbuch und keinen Nummernspeicher – die war tief in seinem Gedaechtnis eingegraben. Fuenfmal laeutete es, bis der Hoerer angenommen wurde.
„Hallo?“ Die Leitung knackte.
„Klaus? Klaus bist du’s?“
„Markus? Markus, wo bist du? Endlich, endlich hoere ich von dir? Ich bin ganz verzweifelt. Keine Nachricht. Von niemandem. Nichts. Wo bist du denn jetzt? Wie geht es dir?“
„Gut, deine Stimme zu hoeren. Reg dich ab. Mir gehts gut. Mir gehts gut. Mir ist weiter nichts passiert. Jetzt bin ich in Rom. Quasi untergetaucht. In zwei Stunden geht mein Zug. Um halb sechs in der Frueh bin ich in Muenchen. Holst du mich ab? Bitte.“
„Klar doch. Klar doch. Das ist doch klar. Meine Guete, bin ich aufgeregt. Endlich erfahre ich, dass du am Leben bist und dass es dir gut geht. Gehts dir auch wirklich gut? Du klingst so anders am Telefon. Ist alles in Ordnung?“
„Mein Lieber, glaub mir doch: Es geht mir wirklich gut, und ich freue mich so sehr, dich bald zu sehen. Die Fahrt ist zwar elend lang, aber dann haben wir die ganze Zeit fuer uns allein. Freust du dich? Freust du dich auf mich? Wirklich?“
„Wie kannst du nur so fragen. Natuerlich freu ich mich auf dich. Das ist doch ganz klar. Das ist doch selbstverstaendlich. Und wie ich mich freue.“
„ Also dann, lass uns jetzt aufhoeren. Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten fuer unterwegs besorgen, Zeitungen, Obst, was zum Trinken und so. Und bitte: Sei Morgen frueh am Bahnhof. Hauptbahnhof. Du weisst ja, wo die Zuege aus Italien einfahren. Ich freu mich sehr auf dich.“
„Ich bin da wie eine Breze. Ueberpuenktlich. Mit einem Strauss roter Rosen und Freudentraenen in den Augenwinkeln. Mein Lieber. Mein Geliebter. Pass auf auf dich. Bis morgen frueh dann.“
„Ja, bis morgen frueh. Bis bald. Ich zaehl die Stunden.“


05.49 Uhr, Montag, 16. Januar 2012

Markus und Klaus, zwei ueberglueckliche erwachsenen Maenner liegen sich in den Armen, kuessen, streicheln und taetscheln sich – voellig unbeeindruckt von den abschaetzigen Gesten und zornigen Blicken, die manche Reisende aus dem Zug aus Rom auf das offenbar ekstatisch verliebte Paar werfen. Andere schmunzeln oder laecheln freundlich, und einer sagt gar: „Recht so.“
Klaus hatte tasaechlich einen Strauss roter Rosen besorgt, den sie jetzt, Arm in Arm, vor sich hertrugen. Sie gingen ins InterCity Hotel im Bahnhof, wo man fuer fruehe Gaeste bereits ein reichliches Fruehstuecksbueffet aufgebaut hatte. Wenn er es sich so recht ueberlegte, dann war das seine erste richtige Mahlzeit seit Tarquinia – und das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Nachdem er seinen Heisshunger und Kaffeedurst gestillt hatte, machten sich beide daran, darueber zu reden, ob sie nach wie vor an den Plaenen festhielten, die sie sich ueber die Jahre ausgedacht und schrittchenweise vorbereitet hatten. Es war so, als wuerden sie inzwischen mit einem Gehirn denken, mit einem Herzen fuehlen und mit einem gemeinsamen Willen voranschreiten wollen. Ja, sie wollten ihre Plaene in die Tat umsetzen. Ja, sie wollten sie verwirklichen. Unbedingt. Und zwar jetzt sofort.
Ueber einen russischen Kontaktmann, den Markus einmal zufaellig auf einem Russenmarkt vor dem Pergamon-Museum in Berlin kennengelernt hatte, hatten sich beide mit dem vollstaendigen Apparat an gefaelschten Dokumenten ausstatten lassen, die fuer einen deutschen Staatsbuerger obligatorisch sind: Geburtsurkunde, Reisepass, Fuehrerschein, Meldungen bei Einwohnermeldeaemtern, Versicherungs- und Steuerunterlagen. Von einem Augenblick zum anderen konnten sie in eine neue Identitaet schluepfen.
Das alles hatte eine Stange Geld gekostet, aber dafuer hatte sie auch gute, fast echte, Dokumente bekommen. Die Legenden dazu hatten sie sich in vielen, oft recht amuesanten Stunden, zurechtgelegt und zusammengereimt.
Schon vor Jahren hatten Markus und Klaus unter den falschen Identitaeten Auslandskonten eingerichtet und in unregelmaessigen Abstaenden Geld dorthin geschafft. Beide zusammen verfuegten inzwischen ueber eine Summe, mit der sie in vielen Laendern der Welt zwar nicht in Saus und Braus, aber doch recht gut und ohne Geldsorgen leben konnten.


12.35 Uhr, Freitag, 20. Januar 2012

Puenktlich landete das Flugzeug der Air Asia auf der weit ins Meer hinausragenden Landebahn des Internationalen Flughafen Ngurah Rai in der Naehe der balinesischen Hauptstadt Denpasar. Die Maschine kam aus Kuala Lumpur. Walter und Simon, zwei Maenner aus Deutschland, legten den Beamten des Imigrasi ihre Paesse vor, in die von der Botschaft in Berlin per Stempel jeweils eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung fuer Indonesien eingetragen waren. Die Passkontrolle verlief reibungslos und auch der Zoll machte keine Schwierigkeiten. Da die beiden nur mit jeweils einem Kabinenkoffer angereist waren, traten sie als erste hinaus aus dem gekuehlten Bereich des Flughafens. Hinaus in den schwuelheissen Mittag. Auf Bali herrschte die Regenzeit. Alles dampfte.
Sie handelten mit einem Fahrer um den Preis und liessen sich nach Ubud fahren.
Dort wollten sie sich niederlassen und als Walter und Simon ein zweites, ein neues Leben beginnen.

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Tag der Veröffentlichung: 24.11.2012

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