Henriette
Auf einer meiner zahlreichen Fahrten ueber das Land hatte ich Probleme mit dem Auto. Was eigentlich bei einem durchgaengig werkstattgepflegten und sich in technisch hervorragendem Zustand befindlichen Kraftfahrzeug nicht passieren duerfte, passierte: Ich hatte eine Panne. Der Motor begann erst etwas unrund zu laufen, verschluckte sich dann oefter, setzte aus, stotterte und hoerte schliesslich ganz auf, eine motorengemaesse Leistung zu erbringen. Nein, am Treibstoff lag es nicht: Ich hatte kurz vor der Abfahrt vollgetankt, und der Tank war jetzt noch knapp dreiviertel voll. Aber vielleicht an der Benzinpumpe? Ich habe von Autos nicht viel Ahnung, aber doch einige Erfahrungen damit und die wiesen in Richtung Benzinpumpe.
Gluecklicherweise bekam ich das Auto noch einmal in Gang, und so fuhr ich sehr lang- und behutsam, und jede noch so kleine Gefaellstrecke zu meinem - sprich, des Autos - Vorteil nuetzend, bis ich relativ bald an den Rand einer kleinen Ortschaft kam. Und wie das oft so ist, befand sich am Ortseingang eine Tankstelle mit einer dazugehoerigen KFZ-Reparaturwerkstatt und in diesem Fall zusaetzlich mit einer etwas altertuemlich wirkenden Autowaschanlage. Ueberhaupt war der Platz nicht zu vergleichen mit den Vertragswerkstaetten meines Autoherstellers – das hier war eine doerfliche Werkstatt, in der vom Traktor und Rasenmaeher ueber Moped, Roller und Auto so ziemlich alles instand gesetzt wurde, was einen Verbrennungsmotor hatte. Sogar Bicigletti fuer Damen, Herren und Kinder und Mountainbikes (alle ohne Motor) wurden hier verkauft, gewartet und repariert. Aber ich war dankbar, mit meinem Pannenbenz buchstaeblich direkt vor eine Werstatt gerollt zu sein. Klar.
Ich stellte also mein Fahrzeug ab, schaute mich in der Werkstatt um und entdeckte auf der anderen Seite des oelig-dunklen Raums eine Tuere, die ins Freie fuehrte. Von dort hoerte ich Stimmen. Ein aelterer Mann im nicht ganz sauberen Overall war offensichtlich Meister und Inhaber in einer Person. Mit den selbstsicheren und ueberzeugenden Gesten eines Principale fuehrte er einem zweiten, etwa gleichaltrigen Mann die Funktionsweise einer Motorsense vor. Dieser Mann war mit Sicherheit kein Italiener; ich nahm an, dass er in Holland oder in England zu Hause war. Aber er sprach – ganz im Gegensatz zu mir – ein vorzuegliches Italienisch und diskutierte aufmerksam die Vor- und Nachteile des einen und des zweiten Modells, die ihm der Principale vorfuehrte.
Da ich in Deutschland selbst zwei Motorsensen besass und unter anderem ein schwierig zu maehendes Hanggrundstueck zu pflegen hatte, stellte ich mich einfach dazu, nickt kurz – die beiden anderen nickten ebenfalls, liessen sich aber von mir nicht weiter stoeren -, und versuchte, dem Disput zu folgen. Ich haette mich eingemischt, wenn der englische Hollaender eine aus meiner Sicht falsche Wahl getroffen haette. Ich hatte ueber die Jahre mit einem bekannten deutschen Fabrikat die weitaus besseren Erfahrungen gemacht als mit einem weniger bekannten, dafuer billigerem, kanadischen. Und deshalb haette ich – ohne dem Gefuehl eines falschen Patriotismus’ – das deutsche Geraet empfohlen. Nachdem sich der hollaendische Englaender aber ohnehin fuer meinen Favoriten entschied, musste ich mich nicht weiter hervortun und wichtigmachen.
Der stolze Besitzer der neuen Motorsense deutscher Herkunft betrachtete und betastete seinen Kauf noch etwas scheu und unsicher, und der Principale wandte sich an mich und fragte mich etwas. Ungelenk, stotternd und mich staendig verhaspelnd begann ich, die Dysfunktion an meinem Motor zu beschreiben. „Do you speak English?“, fragte mich der stolze Motorsensenbesitzer, und als ich bejahte, fragte er: „May I translate?“
Jetzt ging alles ganz schnell. Der Principale hatte verstanden, sah aber ein groesseres Problem auf sich und damit auf mich zukommen: Die naechsten Ersatzteildepots waeren guenstigenfalls in Mailand oder in Bologna – beide Staedte lagen entweder 170 beziehungsweise 200 Kilometer von seiner Werkstatt entfernt. Genua laege zwar naeher, aber es waere so gut wie ausgeschlossen, dass man dort das benoetigte Teil auf Lager hatte. Das koenne er bereits jetzt, aus der hohlen Hand quasi, sagen. Aber ich sollte mir erst einmal keine Sorgen machen: Er wuerde das Auto inspizieren und versuchen, die tatsaechliche Ursache fuer die Panne herauszufinden. Dafuer sei er nun schliesslich da. Das sei sein Beruf. Davon verstuende er etwas. In ein, zwei Stunden wisse man dann mehr. Danach koenne man weitersehen.
Obwohl ich kein ueberwaeltigendes Vertrauen in die Fachkenntnisse des Meisters hatte – ausgenommen seine Arbeit an Traktoren, Rasenmaehern oder einfachen KFZ-Motoren und deren zusaetzliche Aggregate -, aber nicht in das, was sich unter der Motorhaube meines Benz befand, hatte ich keine andere Wahl: Ich musste ihm mein bisher so zuverlaesssiges – und geliebtes - Automobil zur Inspektion ueberlassen und abwarten, welche Ergebnisse seine Untersuchungen liefern wuerden.
Der hollaendische Englaender hatte inzwischen die Motorsense im hinteren Teil seines Kombi verstaut. Nun kam er auf mich zu, streckte mir seine Rechte entgegen uund stellte sich vor: „Ich bin Bill. Bill Newmark. Ich bin Englaender. Und ich wuerde mich freuen, wenn Sie mit zu uns nach Hause kaemen. Meine Frau hat frueher einmal Deutsch unterrichtet, und sie ist immer froh, wenn sie sich wieder einmal in der Sprache Goethes und Schillers, wie sie das gerne ausdrueckt, unterhalten kann. Also, wie waere es? Auf eine Tasse Kaffee? Ich wuerde Sie dann wieder rechtzeitig hierher zurueckbringen.“
Auch ich stellte mich endlich vor, schraenkte allerdings gleich ein: „Vielen Dank fuer Ihre liebenswuerdige Einladung. Eine Tasse Kaffee trinke ich gerne mit Ihnen. Aber mich mit Ihrer Frau in der Sprache Goethes und Schillers zu unterhalten – das scheint mir ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Ich bin ein einfacher Tourist und kein Nationaldichter.“ – „Pardon. Ich habe uebertrieben. Eigentlich wollte ich sagen, dass meine Frau zwischendurch gerne einmal Deutsch spricht. Waere das dann ok fuer Sie?“ – „Na klar“, sagte ich, kramte meine wichtigsten Papiere und Unterlagen in eine Tasche, machte mich dem Besitzer der Werkstatt verstaendlich, dass ich in spaetesten zwei Stunden zuruecksein wollte und stieg zu Bill ins Auto.
Bill fuehr offenbar gerne schnell. Er nahm die Kurven eng und jagte foermlich ueber die schmale Strasse, die in uebersichtlichen Windungen den Huegel hinauf- und wieder hinunterfuehrte. Ploetzlich bog er ohne erkennbare Vorzeichen scharf nach links ab - auf eine Schotterstrasse. Links und rechts davon waren die Felder und Wiesen durch Hecken voneinander abgetrennt. Ein Olivengarten folgte, anschliessend kam ein kleines Grundstueck mit ordentlich geschnittenen Weinstoecken. Dann waren wir da. Vor mir stand ein altes, einfuehlsam und geschmackvoll renoviertes Bauernhaus – ein Rustico, mit vielen Spalierpflanzen an den Waenden und ganz vielen bluehenden und immergruenen Pflanzen in Kuebeln, Faessern und Eimern. „Das ist unsere gruene Hoelle vom Amazonas. Ohne Amazonas natuerlich“, wies Bill auf das Haus und lud mich ein, mit hereinzukommen.
Bills Frau hatte uns kommen hoeren und war in die Tuere getreten. „Wen hast Du den da mitgebracht? Das ist aber nett. Willst Du uns nicht bekanntmachen?“ Bill erzaehlte ihr in wenigen Saetzen, wie wir uns kennengelernt hatten, dass ich Deutscher sei und bestimmt nichts dagegen haette, den einen oder anderen deutschen Satz mit ihr zu wechseln. Sie hiess Martha. Martha strahlte und sagte auf deutsch zu mir: „Wie sagt man doch bei Ihnen in Deutschland: Man weiss nie, fuer was etwas gut ist? Sehen Sie, Ihre Panne hat Sie zu uns gefuehrt, und Sie geben mir die Moeglichkeit, mein eingerostetes Deutsch zu praktizieren. Welch ein gluecklicher Zufall! Kaffee – Tee – Kakao – Bier – Limo – Heisse Wiener ...?
Sie sah mein verdutztes Gesicht und musste schallend lachen: „Ich habe eine Zeitlang in Muenchen studiert, und mein damaliger Freund nahm mich hin und wieder mit zu einem Fussballspiel im Olympiastadion. Und da liefen diese Verkaeufer mit ihren – wie heissen diese ..., diese Kaesten mit einem Deckel obendrauf?“ „Bauchlaeden? Meinen Sie Bauchlaeden?“ – „Ja, genau. Also diese Verkaeufer mit ihren Bauchlaeden gingen herum und riefen lauf: Kaffee – Tee – Kakao – Bier – Limo – Heisse Wiener!“ Und ich musste immer lachen, weil ich mir vorstellte, die haetten das alles zusammen in einem Topf in dieser Kiste.“ Wir lachten. Bill hatte inzwischen die Kaffeemaschine – keine Espressomaschine, sondern eine Maschine fuer Filterkaffee – in Gang gesetzt und Geschirr auf einem Tisch angerichtet, der zusammen mit einigen bequem wirkenden Sesseln vor ein grosses Panoramafenster gestellt worden war. „Nehmen Sie Milch und Zucker? Oder Sahne?“ – „Nein, keines von beidem. Ich trinke meinen Kaffee lieber schwarz.“ – „Wie praktisch. Moechten Sie dann vielleicht einen Grappa zu Ihrem Kaffee? Oder einen Cognac? Es ist beides da.“ – „O ja, ein kleiner Grappa waere schoen. Vielen Dank.“
Wir setzten uns und ich konnte zum ersten Mal einen laengeren Blick durch das Fenster hinaus auf das grosse Grundsteueck werfen, von dem das Haus umgriffen war. Martha und Bill waren ganz offensichtlich Pflanzen- und Blumenliebhaber, wie so viele Menschen von den Britischen Inseln. Die gruene Hoelle vom Amazoneas’war eine nicht zutreffende Beschreibung fuer das, was die beiden hier zustande gebracht hatten. Das Konzept war offensichtlich eine absichtsvolle Absichtslosigkeit, das heisst, das, was sie von den Vorbesitzern mit dem Kauf des Hauses an Bepflanzung uebernommen hatten liessen sie im Wesentlichen unangetastet. Und legten darum herum den wunderbarsten, interessantesten und aussergewoehnlichsten Hausgarten an, den ich je gesehen habe. Immer wieder drueckte ich meine Bewunderung aus, und die beiden sassen fast ein wenig verlegen neben mir und hoerten sich meine Lobeshymnen an.
Auf einer gruenen Insel gepflegten Rasens, der jeden Vergleich mit den gepflegten Rasenflaechen um die Villen im englischen Themsetal ausgehalten haette, und nicht weit von unserer Sitzgruppe entfernt, stand eine Couch, mit der Lehne zum Haus ausgerichtet, also zu uns hin, den Betrachtern. Die Couch – oder vielleicht war es doch eher eine Chaiselongue –, war mit einem Stoff in einem lauten Pink bezogen. Als Ex-Mann eine Directrice und Schneidermeisterin tippte ich sofort auf Chintz. Das Sitzmoebel wirkte reichlich deplatziert in diesem prachtvollen Naturgarten und – ordinaer. Als haetten sie meine Gedanken gelesen, sagten Martha und Bill wie aus einem Munde: „ Das ist Henriettes Platz.“ Mich aber machte diese Auskunft nicht klueger. Weder wurde dadurch klar, wer Henriette war und auch nicht, weshalb sie einen eigenen Platz beanspruchte.
Waehrend des Kaffees – Martha hatte auch ein paar Stuecke von einem selbstgebackenen Apfelkuchen aufgetischt –, erzaehlten wir uns voneinander: Was jeder so hinter sich gelassen hatte, was er vorhatte zu tun, woran er arbeitete, wo er etwas besonders Schoenes und etwas besonders Originelles entdeckt hatte, was ihn an Italien faszinierte, was ihn anoedete. Wie man eben so miteinander redet, wenn man gerade dabei ist, sich kennenzulernen.
Martha war voller Fragen ueber verschiedene Staedte in Deutschland, Menschen des oeffentlichen Lebens, Produkte und Marken, gesellschaftliche Entwicklungen – politische Entwicklungen auch –, und ich war bemueht, alle nach bestem Wissen zu beantworten.
Bill interessierte sich mehr fuer deutsche Automobile. Er war bis zu seinem vorgezogenen Ruhestand Designer in einem grossen britischen Automobilwerk gewesen. „Spezialist fuer das Zuendschloss-Design“, wie er lachend anmerkte. Ich musste ihm zugeben, dass es kaum etwas gibt, das mich weniger interessiert als Autos, sodass dieser Teil des Gespraechs schnell zu einem Ende kam.
„Darf ich Henriette kennenlernen? Ist sie da?“, fragte ich, und die beiden nickten zustimmend und gaben laechelnd ihr Einverstaendnis. Und ich ging hinaus zu dem pinkfarbenen Fleck.
Sie bot einen fabelhaften Anblick: Hingestreckt lag Henriette auf der Chaiselongue. Vollends nackt. Sie war blond. Von einem Blond, das man sein Leben lang nicht mehr vergisst: Fahl, weisslich, mit einem pfirsichfarbenen Schimmer. Ja, ihr Haar hatte tatsaechlich einen pfirsichfarbenen Schimmer. Die Augen waren mandelfoermig, leicht schraeggestellt und von einem feuchten Braun. Ihr Blick war gleichzeitig schmachtend, verzehrend und sehnsuchtsvoll. Ihr Blick war wie ein Bann, und die langen, sehr hellen Wimpern verstaerkten den Eindruck noch. Die langen Beine hatte sie unter ihren glatten Bauch gezogen. Der Oberkoerper ruhte auf ihren Armen. So lag sie da auf der chintz-bezogenen Liege, umrahmt von dem lauten Pink, das allerdings – aus der Naehe betrachtet –, gar nicht schlecht mit dem aussergewoehnlichen Blond harmonierte: Vorausgesetzt, man mag leicht gewoehnliche Farbzusammenstellungen. Sie blickte mich ganz ruhig an und gabe keinen Ton von sich.
Allmaehlich loeste sich meine Erstarrung und ich trat naeher an Henriette heran. Ich streichelte ihr den Ruecken und kraulte sie unter dem Kinn. Beides schien ihr zu gefallen. Ihr kleines Schwaenzchen, das wie ein Pinsel an ihrem Gesaess klebte, vollfuehrte rasch kreisende Bewegungen. Fast wie ein kleiner Handventilator. Sie hob den Kopf, schaute mich an und – meckerte.
Lachend klaerten mich meine Gastgeber auf: Henriette war ihnen von Nachbarn als Zicklei ueberlassen worden, von Leuten, die es wieder zurueck in die Heimat zog. Diese Leute wussten, dass Martha und Bill besonders tierlieb waren und uebergaben ihnen Henriette zur guten Pflege. Vom ersten Tag an hatte sich Henriette einen Platz auf dem Sofa im Wohnraum ausbedungen, und so fuegte es sich grossartig, dass, als Henriette zu einer richtigen Ziege heranwuchs, man dieses pinkfarbene Sofa gschenkt bekam. Im Freien aufgestellt, akzeptierte es Henriette sofort als ihren Aussenliegplatz und war – ausser um ihre Basisbeduerfnisse als Ziege zu befriedigen -, durch nichts und niemanden zu bewegen, den bequemen und priviligierten Platz auf der Chaiselongue zu verlassen.
Ihr Gefaehrte und Liebhaber ‚Jaco’, der in einer Huette am Rand des grossen Stundstuecks hauste, hat nach Darstellung von Martha und Bill noch nicht einmal einen Versuch gemacht, seiner Henriette diesen Platz streitig zu machen.
Uebrigens, und das fuer die Interessenten an Autopannen und fuer die Freunde kompletter Geschichten: Als mich Bill nach gut zwei Stunden wieder zu der Werkstatt zurueckbrachte, stand mein Fahrzeug reisefertig auf dem Parkplatz. Das Ventil an der Treibstoffpumpe war verlegt gewesen. Nach vergleichsweise kurzer Arbeit – laut Rechnung – hat der italienische Kfz-Meister das herausgefunden und dann das Ventil ausgebaut, gruendlich gereinigt und wieder eingebaut. Das war’s.
Ich bedankte mich noch einmal bei Bill, richtete Gruesse an Martha aus und auch an Henriette, zahlte meine Reparatur-Rechnung, bedankte mich herzlich bei dem Meister und trat meine Weiterfahrt an.
Seither erkundige ich mich in unregelmaessigen Abstaenden schriftlich oder telefonisch nach Martha, Bill und Henriette: Allen dreien geht ihr gut.
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2012
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