In Krisenzeiten hilft es manchmal, sich zurueckzubesinnen auf Vergangenes und auf Zeiten, in der Welt noch in Ordnung schien. Es wird also allmaehlich Zeit, sich auf Griechenlands, noch genauer, auf Kretas globale, oder sagen wir es etwas bescheidener, auf seine europaeische, Bedeutung zu sprechen zu kommen – auch wenn manche Zeitgenossen heutzutage weder mit Kreta noch mit Griechenland etwas zu tun haben moechten.
Tatsaechlich aber war ja Europa lange Zeit die Welt – und wenn wir ganz ehrlich sind, glauben viele von uns das heute noch. Ich, zum Beispiel. Und der Ursprung Europas lag in Griechenland, lag auf Kreta. Will man aber ueber den Ursprung eben dieses Europas sprechen, trifft man zu allererst auf die kretische Mythologie, den sogenanten minoischen Sagenkreis und auf die minoische Kultur.
Minos - minoisch – Minoa, das sind Begriffe, um die sich auch heute noch vieles auf Kreta dreht: die minoische Kultur als die Wiege der europaeischen Kultur; die minoische Kultur als die erste europaeische Hochkultur in der Geschichte ueberhaupt: in Hoehlen gesessen und an Knochen und Steinen herumgeschnitzt und herumgeschabt haben andere auch; aber nirgendwo bei unseren europaeischen Vorfahren gab es so komplexe Systeme in Verwaltung, internationalem Handel, Politik, Staedtebau, Architektur, religioesen Kulten, Ackerbau, Viehzucht, Seefahrt, Landesverteidigung, Kunst und Kunsthandwerk. Und das wahrscheinlich Wesentlichste - die Entwicklung einer Schrift, naemlich Linear A und Linear B., frei nach dem Motto: wer A sagt muss auch B sagen.
Fuer mich waren die vagen und sehr oberflaechlichen Kenntnisse der minoischen Kultur seit langer Zeit abgesunken auf die Ebene von Sehnsucht, die ich allerdings immer am Leben hielt durch ein Versprechen, das ich mir einmal gab: die Insel Kreta eines Tages aufzusuchen - wenn nicht gleich heimzusuchen, und das Minoische vor Ort und ausgiebig zu studieren; genau wie die Reise nach Aegypten und die nach Nepal und Tibet. Und dann war es eines Tages soweit: nach einem kurzen Informationsbesuch zog ich um nach Kreta und blieb dort fuer vier Jahre.
An der Suedkueste der Insel, zwischen Festos und Matala, mietete ich zwei ineinandergeschachtelte Haeuschen, eines zum Wohnen und das zweite genutzt als Werkstatt im Erdgeschoss und einem Arbeitszimmer daruebergelegen. Ein kleiner Garten, den ich mit eher oberflaechlicher Liebe, aber nicht ohne Erfolg pflegte und ein grosser Dachgarten gehoerten zu meinem Refugium. Von meinem Haus blickte ich auf den Palastberg von Feistos und auf den Berg, hinter dem die Ueberreste der Sommerresidenz von Festos, Agios Triada, liegen; ich schaute auf das sogenannte Doppelhorn, einen zweigipfligen Bergstock, der zum Psiloritis und zum Ida-Gebirge gehoert und unter dessen rechtem Gipfel die beruehmte Kamares-Hoehle gut zu sehen ist. Ein Paradies. Ich lebte umzingelt von Minoischem der allerersten Wahl, erste Sahne also, atmete Minoisches ein mit jedem Atemzug und es haette mich keinen Augenblick lang gewundert, haette ich nackte Minoerinnen und Minoer - so wie sie auf verschiedenen Freskenmalereien dargestellt wurde - ueber die Kammlinien der umgebenden Berge huepfen sehen: verspielt und heiter, freundlich und unverdorben-naiv.
Womit wir einen einfachen Abstecher zu den Kretern von heute machen koennen, ja, fast machen muessen - zu den Menschen, die jetzt teilweise davon leben, dass ihre Vorfahren vor viereinhalb tausend Jahren begannen, sich unwiderruflich als die Ersten eine europaeische Hochkulturschaffenden zu etablieren. Nein: verspielt und heiter, freundlich und unverdorben-naiv sind die heutigen Kreter nicht mehr. Dazu wurden wohl ihre Insel und ihre Bewohner zu haeufig erobert, besiegt, besetzt, unterjocht, verschleppt, massakriert. Kretas Geschichte kann man ohne Muehe als die einer langen Folge von Eroberungen und Besetzungen lesen. Und als eine Geschichte des Widerstandes und der Anpassung. Das Leben ging weiter und das Leben geht weiter.
Wollen wir uns schnell einmal eine Aufstellun g der hauptsaechlichen Eroberungen und Besetzungen Kretas anschauen? Nur ganz kurz? Nur so im Ueberblick? Ja? Also:
1400 – 1100 v.u.Z. = Mykenische Epoche (= 300 Jahre)
1100 – 69 v.u.Z. = Dorisches Kreta (= 1030 Jahre)
69 v.u.Z. – 330 = Kreta unter den Roemern (= 400 Jahre)
330 – 824 = Byzantinisches Kreta I (= 500 Jahre)
824 – 961 = Araberherrschaft (= 140 Jahre)
961 – 1204 = Byzantinisches Kreta II (= 240 Jahre)
1204 – 1669 = Venezianerherrschaft (= 465 Jahre)
1669 – 1821 = Tuerkenherrschaft I (= 150 Jahre)
1821 – 1830 = Kretische Revolution
1821 – 1898 = Tuerkenherrschaft II (= 77)
1941 – 1945 = Deutsche Besetzung (= 4 Jahre)
1955 und folgende = Touristen unterschiedlich grosser Zahl fallen Jahr fuer Jahr ein.
Was die Kreter sicherlich demonstrativ vor sich hertragen ist ihr Stolz; allerdings ist der oft verbunden mit Rechthaberei, Ignoranz und Besserwisserei:
Kreta ist der Mittelpunkt der Welt: Nirgendwo ist es schoener - kein Wunder, dass jedes Jahr Hunderttausende ihren Urlaub auf der Sonneninsel verbringen und immer wieder kommen, manche schon seit ueber dreissig Jahren, Jahr fuer Jahr; kein Wunder, dass andere sich Grundstuecke auf Kreta kaufen und Haeuser bauen - das wuerden sie nicht tun, wenn es bei ihnen zuhause auch nur annaehernd so schoen waere wie auf Kreta.
Nirgendwo scheint die Sonne schoener: Kreta leidet inzwischen sehr unter der globalen Klimaveraenderung - die Regenzeit im Winterhalbjahr wird kuerzer, die Niederschlagsmengen werden geringer; die Zahl der Sonnentage steigt weiter an, ebenso die Hoechsttemperaturen in den Monaten Juni, Juli und August.
Kretas Wasser schmeckt am besten. Durch die zahllosen Projekte kuenstlicher Bewaesserung neigen sich die unterirdischen Trinkwasser-Reserven ganz schnell ihrem Ende zu.
Die gesunde Kreta-Kueche: Kretas Olivenoel, ca. vierzig Millionen Oelbaeume, Kretas Obst und sein Gemuese - Orangen, Zitronen, Tomaten, Gurken, Artischocken, Zucchini, Kartoffeln, Bohnen, Zwiebeln, Melonen, Kuerbisse, schmecken unuebertroffen gut und sind nachweisbar gesund und garantieren ein langes Leben: das war bestimmt einmal so, aber heute wird in der Landwirtschaft so intensiv produziert und es werden solche Mengen an Kunstduenger und Pestiziden ausgebracht, dass von gesunden Lebensmitteln keine Rede mehr sein kann; von den auf Dauer belasteten Boeden, den Einschlaegen im Trinkwasser und den von den Gewaechshaeusern hinterlassenen riesigen Mengen an Kunststoffabfaellen ganz zu schweigen.
Ausgepraegte Charaktereigenschaften eines Volkes aendern sich nicht schnell und schon gar nicht, wenn sie durch romantisierende Folklore immer wieder aufs Neue reproduziert werden. Wenn sich dieser Volkscharakter aendert, dann nur unter grossem Druck und / oder durch den beruehmten Wandel durch Annaeherung. Ein Element eines solchen Drucks koennte die Mitgliedschaft in der EU sein - natuerlich als Teil Griechenlands, aber mit dem besonderen und zusaetzlichen Kreta-Bonus, auf die man stolz ist und von der man sich einiges an weiteren finanziellen Zuwendungen erwartet. Fuer Viele liegt Bruessel bereits naeher als Athen.
Wandel durch Annaeherung passiert seit Jahren durch die alltaegliche Marktwirtschaft - zum Beispiel bei den Markenartikeln im Konsumbereich und bei den Autos, durch den alltaeglichen Kapitalismus - zum Beispiel Banken, Mineraloelfirmen und die alltaegliche Fernsehwerbung - zum Beispiel global ausgestrahlte TV-Spots, Werbung fuer griechische Produkte mit USA-westlich anmutenden Spots – der globale Lebensstil.
Zusammengefasst passiert in der Gegenwart mit einer affenartigen Geschwindigkeit die Transformation eines sogenannten Schwellenlandes in ein Land westlicher Praegung, mit westli-chen Wertevorstellungen, westlichem Konsumverhalten und westlichen Zivilisationsschaeden. Da werden Sprache, Musik, Glaeubigkeit, Brauchtum, Familie, bestehendes Wertesystem, Heimatliebe, die Rolle der Kommunistischen- oder der Sozialistischen Partei auf Dauer keine ausreichend integrierende Wirkung mehr haben. Dann wird Kreta nicht mehr mehr sein als die suedlichste Insel der EU im Mittelmeer: mit einer interessanten Vergangenheit, einer sehens- und hoerenswerten Folklore und mit - ja, mit viel Sonne.
Aber wie habe ich die Kreter bislang nun tatsaechlich erlebt? Also, ich bleibe dabei: als stolz, rechthaberisch, schnell beleidigt, ignorantisch, besserwisserisch, jeder ist sich selbst der Naechste, ruepelhaft, unhoeflich, ruecksichtslos.
Andererseits: als neugierig, gelassen, grosszuegig, hilfsbereit, lustig, zu Spaessen aufgelegt, tolerant, Fremden gegenueber interessiert und aufgeschlossen, freundlich, ehrlich, antiautoritaer, eher vermittelnd als aggressiv-konfrontierend. Also suchen Sie sich den Kreter aus, mit dem Sie es am besten zu koennen glauben!
Von einem einfachen Abstecher zu den heutigen Kretern war die die Rede. Und ein lang-atmiger Spaziergang um’s Dorf ist daraus geworden. Aber jetzt ganz schnell eingetaucht in die Materie von Minos und Co.
Und da ist schon der erste Stopper: Koenig Minos! In der Mythologie ist das noch ziemlich klar - Minos ist einer drei Soehne - der aelteste? - von Europa und Zeus, der weise und gerecht von seinem Palast von Knossos aus - neun Kilometer suedlich von Iraklion gelegen - die Insel Kreta regierte. Tja, schon, aber was sagen die Archaeologen, was sagen die Historiker zu diesen Angaben? Fest steht, dass es fuer die Existenz eines Herrschers namens Minos historisch keinen Beweis gibt. Man geht heute davon aus, dass es ein Geschlecht gab, in dem die Macht ueber mehrere Generationen hinweg auf Mitglieder der gleichen Familie uebertragen wurde. Und wie es dann spaeter die Ludwigs, die Heinrichs, die Wilhelms und so weiter waren, nannten sich diese
Herrscher eben Minos. Minos ist also wahrscheinlich nicht der Name eines einzelnen Herrschers, sondern die Bezeichnung fuer eine Folge von mehreren Herrschern, die aus einem Klan hervorgingen .
Der zweite Stopper: Die Koenigin Pasiphae - die allen Leuchtende – war die Tochter des Sonnengottes Helios und der Mondgoettin Perseis. War sie, die Koenigin an der Seite des Minos, von so bedeutenden Eltern stammte, war sie wirklich so besessen von dem Drang, war sie wirklich ihren Trieb so willenlos ausgeliefert, war sie wirklich so geil darauf, von einem - zugegebenermassen wunderschoenen - weissen Stier gebumst zu werden? Aus freien Stuecken? So ganz ohne aeussere Not? Alten Interpretationen sagen, nein, Persiphae hatte keine Moeglichkeit, ihrer Triebhaftigkeit zu entkommen. Auch der Stier nicht. Beide waren ohne ihr eigenes Zutun zu Spielbaellen der Goetter gemacht geworden. Neuere Interpretationen aber besagen, dass die Vereinigung mit dem goettlichen Stier zum Lustvollsten und Heiligsten gehoerte, das eine Frau, eine Priesterin?, in minoischer Zeit erleben konnte. Oh, heilige Lust.
Ein weiterer Stopper: Daedalus ist uns bekannt als der erfindungsreiche und warnende Vater, der versuchte - gemeinsam mit seinem Sohn Ikarus - mit Hilfe selbst gefertigter Flugapparate dem Palast von Knossos zu entfliehen. Der Sohn missachtete die Warnungen des Vaters, geriet zu nahe an die Glut der Sonne, das Klebwachs, das die Federschwingen zusammenhielt, schmolz. Ikarus stuerzte ins Meer. Der Vater floh alleine weiter und schaffte es schlussendlich bis nach Sizilien.
Die mythologische Figur des Daedalus findet keine Entsprechung in der Geschichte. Der Mythos setzt ihn gleich mit Hephaistos, den Gott des Feuers und des Schmiedens; Hephaistos entspricht in etwa in etwa dem Gott Loki in den nordischen Sagen. Daedalus lebte in Athen und war der beruehmteste, angesehenste und einfallsreichste aller Erfinder: ein Einstein der griechischen Oekumene. So in etwa. Und dieser Daedalus hatte einen Neffen, einen Knaben, im Alter eines Heranwachsenden. Dieser Knabe war unendlich intelligent und unendlich schlau. Daedalus stellte dem Neffen hin und wieder Fragen, um an dessen Antworten den Grad und das Tempo seiner intellektuellen Entwicklung messen zu koennen. Bei einer solchen Befragung kam die Antwort des Neffen so schnell und so gescheit, dass den Onkel das Grauen packte, er um seine Position und seinen Ruhm bangte und sozusagen als vorbeugende Massnahme den Neffen ueber eine Klippe stuerzte, an deren Fuss dieser tot liegen blieb. In Athen wurde Daedalus vor Gericht gestellt und eingedenk seiner Leistungen fuer die Stadt und das attische Land nicht zum Tode verurteilt, sondern nur verbannt. Daedalus ging, zusammen mit seinem Sohn Ikarus, zu Koenig Minos nach Knossos auf Kreta. Von einer Frau Daedalus habe ich bisher nichts gehoert.
Der naechste Stopper: Ja, das Labyrinth - das ist so eine Sache. Die meisten Menschen wuerden sagen - und diese Meinung wird landauf, landab immer wieder verbreitet - dass Daedalus den Auftrag bekommen hatte, ein Gefaengnis zu bauen, in dem man den furchtbaren Minotaurus gefangen halten koennte, ohne ihm die Chance zu einer Flucht zu geben. Ich glaube das nicht: der Raum, den man heute den Besuchern als den Aufenthaltsort des Minotaurus zeigt und sozusagen als das Zentrum des Labyrinthes, ist fuer einen Koenig oder einen Prinzen angemessen gross, gut belichtet, gut belueftet und angemessen reich mit Fresken dekoriert – aber nicht fuer ein menschenfressendes Ungeheuer. Das heisst, ich glaube nicht, dass der Minotaurus jemals in diesem Raum untergebracht war.
Minotaurus, der Sohn des weissen Stiers und Pasiphae; der Enkel von Europa und Zeus, von Perseis und Helios - was fuer eine Familie. Sonne, Mond und Sterne. Also: man wird diese scheussliche Missgeburt nicht direkt vorne in die Auslage gestellt haben. Nein, aber Minotaurus wird einen angemessenen Platz im Palast gehabt haben, und zwar so, dass er nicht einfach rauskommen und Unfug treiben konnte und andere nicht einfach zu ihm gelangen konnten, um ihn zu Aergern oder aufzustacheln.
Das Labyrinth beziehungsweise das Phaenomen des Labyrinths von Knossos leitet sich meiner Meinung nach von den vielen vielen Raeumen, Kammern, Kellern und Gaengen der Palaststadt ab - es sollen ueber zwoelfhundert gewesen sein -, so ineinander verschachtelt gebaut und miteinander verbunden, dass der Ausdruck Labyrinth, von Labrys = Doppelaxt; allgemein = Irrgarten, im Sinne eines unentwirrbaren architektonischen Geflechtes angemessen erscheint. Bei den bisherigen Ausgrabungen ist man jedenfalls nicht auf eine Architekturform aus Mauern, Kanaelen, Raeumen und so weiter gestossen, die auf ein existierendes Labyrinth aus minoischer oder spaeterer Zeit hinweisen wuerde.
Die erste bekannte Darstellung eines Labyrinthes befindet sich uebrigens auf einer Muenze aus dem vierten Jahrhundert v.u.Z. Sie ist im Muenzmuseum von Athen ausgestellt.
Jetzt ist aber gleich Schluss mit den Stoppern - nur der eine noch: Der Stier aus dem Meer, der weisse Stier, der goettliche Stier, ein Gott als Stier: dem Meer entstiegen, um dem Gott Poseidon geopfert zu werden. Manche sagen, Zeus habe wieder einmal den Europa-Trick angewandt, um – entsprechend verkleidet - seine Schwiegertochter Pasiphae besteigen zu koennen. Aber Sie wissen ja: es wird viel geredet. Auf jeden Fall scheinen Spannungen zwischen den Gebruedern Zeus und Poseidon vorgelegen zu haben, und auch Spannungen zwischen dem Onkel Poseidon und dem Neffen Minos. Wie sonst soll man sich erklaeren, dass es ueberhaupt zu dem Opfer kam und wie dazu, dass Poseidon zu einer solch drastischen Massnahme griff; Poseidon war es schliesslich, der Pasiphae geil auf den Stier und den Stier wild auf Pasiphae machte. Ein schlimmes Ende war unschwer vorauszusehen.
Also, jetzt noch einmal schnell mit den minoischen Hufen gescharrt: jetzt geht’s los:
Koenig Minos kennen wir schon. Er ist einer der mehr oder weniger friedlichen Regenten seiner Zeit. Nimmt man an. Und das will etwas heissen, wo doch die allermeisten Regenten zu allen Zeiten immerfort damit beschaeftigt waren, sich mit harten und spitzen Gegenstaenden auf die Festungen und die Leiber zu ruecken und sich gegenseitig die Gesundheit zu ruinieren. Die Minoer unter Minos scheinen einen Trick erfunden und ueber lange lange Zeit erfolgreich angewandt zu haben: in einem gewissen Abstand zur Kueste Kretas kreuzten bewaffnete Schiffe, schnelle tuechtige Schiffe, die alles aufbrachten, was sich in nicht eindeutig friedlicher Absicht der Insel naeherte. Ausser dem Umstand, dass man sich auf diese Weise feindliche Eroberer fern hielt, ergaben sich daraus zwei zusaetzliche Nutzen: kretische Schiffen und deren Besatzungen waren immerzu am ueben und uebertrugen die daraus gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen auf die kretische Handelsflotte. Die Kreter galten wohl auch deshalb als die tuechtigsten Seeleute ihrer Zeit. Und auf der Insel selbst sparte man sich teure Befestigungswerke um die von Homer genannten einhundert Staedte Kretas; obwohl auch damals schon jede Menge Steine in der Landschaft herumgelegen haben duerften – als kostenloses als Baumaterial gut zu gebrauchen. Eine Kleinigkeit noch, die vielleicht interessieren duerfte: die Form der von der See her abgesicherte Staatsform nennt man Thalassokratie = Seeherrschaft.
Zurueck zu Minos. Sein Vater war Zeus, der kretische Adler, seine Mutter Europa, die Jugendlich-Naive aus Phoenikien. Als Zeus Europa, seine Geliebte und die Mutter dreier seiner Soehne - Minos, Rhadamanthys, Sarpedon -, wieder verliess, machte er ihr drei Geschenke; vielleicht fuer jeden Sohn eines. Einen Speer, der immer traf; den schnellsten Hund, der sehr bissig war und einen Mann aus Bronze, der drei bis sechs Mal am Tag um den Palast von Knossos rennen und alles unter Kontrolle halten konnte. Diese wirksamen Mittel zur Machterhaltung und -ausuebung, zusammen mit ihrem ohnehin ausgepraegten Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermoegen, war sie bestimmt kein einfaches Familienmitglied am Hofe ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter; war sie doch die Ex-Geliebte des Zeus, die Mutter dreier seiner Soehne und sie hatte erfolgreich Heras Nachstellungen widerstanden.
Teil 1
Bei dem, was jetzt folgt, ist unklar, was wirklich sache ist: die einen sagen, Zeus’s Bruder Poseidon, der Gott der Meere, haette sich bei Zeus darueber beklagt, dass ihm sein Neffe Minos keine Opfer darbraechte. Zeus, ganz auf Familien-Harmonie bedachter Vater, nimmt sich Sohn Minos zur Brust und veranlasst ihn, Poseidon zu opfern. Die anderen sagen, der kretische Adel und das kretische Volk murrten und verlangten von ihrem Koenig einen Beweis dafuer, dass er tatsaechlich von den Goettern abstamme. Dabei gewesen war von uns keiner.
Minos jedenfall wandte sich an seinen Onkel und bat ihn, ein Zeichen zu setzen; dann wuerde er ihm auch gerne opfern. Ein schlauer Mann, der Minos. Und siehe da, den Wogen des Meeres entstieg ein wunderbarer, ein wunderschoener weisser Stier: der viel besprochene Stier aus dem Meer, das Zeichen der Goetter – „Hoch lebe der Koenig! Hoch!“ – schrie der Adel und auch das Volk schrie. Sie waren zufrieden mit dem goettlichen Zeichen.
Minos aber tat der Stier leid. Er wollte ihn nicht opfern. Dafuer erschien er ihm zu schoen und auch zu wertvoll. Gedacht, getan. Er liess das wunderbare Tier zu seinen Herden treiben, waehlte einen weit weniger schoenen und wertvollen Stier als Opfertier aus und opferte diesen dem Poseidon.
Der war wuetend und ausser sich ueber den Betrug der Minos. Und er ueberlegte kurz und war schnell auf eine - wie ihm schien - angemessene Form der Rache gekommen. Die Rache spielt in der griechischen Mythologie ueberhaupt eine herausragende Rolle: Rache ist Blutwurst; Rache bis zum letzten Blutstropfen, sozusagen.
Jetzt rueckte Pasiphae mehr ins Zentrum des Geschehens, die Tochter von Helios, dem Sonnengott, und Perseis, einer Mondgoettin, beste Familie also, Mutter vierer Toechter, eine davon die beruehmteste Fadenspinnerin aller Zeiten, Ariadne. Nichts deutete darauf hin, dass Pasiphae ein anderes Schicksal aufgesetzt sei, als das einer minoischen Koenigin am Hofe von Knossos. Denkt man. Aber siehe da: kaum hatte Minos den wunderbaren Stier nicht zum Opfertisch sondern zu seinen Stallungen treiben lassen, ueberfiel Pasiphae eine merkwuerdige Luesternheit. Nicht ihren Gatten begehrte sie, sondern diesen grossen, weissen, am ganzen Koerper mit feinstem Haar bedeckten Stier, dessen Hoerner aufreizend und sein Atem erotisierend auf sie wirkten. Immer schwerer fiel es ihr, diese Luesternheit unter Kontrolle zu halten. Sie wollte dem Stier beiwohnen. Sie wollte sich von ihm begatten lassen. Sie war verrueckt nach ihm. Tag und Nacht trieb sie sich bei den Staellen herum, streichelte sein Fell, koste seinen Leib, kuesste seine koestlich rosarotes Maul - ihr Widerstand war am Ende. So begab sie sich zu Daedalus, dieser Mischung aus Albert Einstein und Daniel Duesentrieb. der am Hof von Knosses fuer alle ingenieurstechnischen Neuentwicklungen verantwortlich war. Pasiphae schilderte ihm ihr Problem und befahl, sich etwas einfallen zu lassen, damit der Stier sie bespringen koenne. Sie als Koenigin konnte Daedalus Befehle erteilen; und sie ging selbstverstaendlich davon aus, dass der Stier ihre Gefuehle erwiderte.
Ueber Meister Daedalus haben wir ja schon bei den Stoppern gehoert. Nach dem Motto Dem Ingenoer ist nichts zu schwoer, machte er sich an die Arbeit und stellte seiner Koenigin und Auftraggeberin nach kurzer Zeit die vollendete Attrappe einer Kuh vor. Aus Hoelzern, Leisten und Brettchen geformt, mit einer wundervollen, fein gegerbten Kuhhaut ueberspannt und mit einer ausreichend grossen Ein- beziehungsweise Ausstiegsluke versehen, durch die Pasiphae in das Innere der nachgebildeten Kuh gelangen konnte. Eine Meisterwerk Daedaleischen Schaffens. Das richtige Instrument, Pasiphaes aussergewoehnliche Lueste befriedigen zu helfen. Es kam, wie Poseidon es wohl wollte, dass es kommen sollte: sie war inzwischen unertraeglich scharf auf den Stier, und dieser wild die Kuh. Er trieb sich um sie herum und rieb sich an der Kuhattrappe, war bereit, jeden Augenblick zu springen, sein Fell glaenzte, die Augen schimmerten roetlich, sein Genital ebenso. Schaum flockte vor seinem wunderbaren Maul. Und dann geschah das Unvermeidbare: er besprang die Kuh(attrappe), in derem Inneren Pasiphae sich streckte und raekelte. Wir wollen hier nicht noch deutlicher werden.
Da die Empfaengnisverhuetungsmittel unserer Tage den minoischen Menschen noch gaenzlich unbekannt waren - und weil sonst die Geschichte auch einen ganz anderen Fortgang genommen haette - empfing die Koenigin den Samen des Stiers. Und war bald guter Hoffnung.
Gross war das Entsetzen, als Pasiphae nach angemesser Zeit, von einem gesunden und strammen Wesen entbunden wurde. Ich sage ganz absichtlich Wesen - es hatte Schaedel, Hals und Nacken eines Stiers und den Leib und die Extremitaeten eines maennlichen Kindes. Was fuer ein Monstrum. Was fuer eine Bestrafung fuer das Haus Minos.
Wie gross war die Scham der Pasiphae. Wie gross die Scham des Minos. Der Hof schaemte sich. Ganz Kreta – Adel und Volk - schaemte sich.
Minotaurus nannte man die grauenerregende Missgeburt, Stier des Minos. Denn niemand hatte vergessen, dass Minos selbst das Unglueck in Gang gesetzt hatte, als er den schoenen weissen Stier nicht Poseidon opfern wollte, sondern statt dessen einen minderschoenen und minderwertigen den Opferflammen uebergab. Ja, so was: da muss man sich doch nicht wundern, wenn Poseidon zurueckschlaegt und Schande ueber das Haus Minos bringt. Koenig Minos schlich ganz schuldbewusst durch seinen Palast und es gibt auch nirgendwo eine Zeile, aus der hervorginge, dass er seiner taurophilen Gattin Pasiphae auch nur den leisesten Vorwurf gemacht haette. Nur weg muss er, der Kerl, dieser Minotauros. Weg von den Augen des Koenigs, seines Stiefvaters, und den Augen der Menschen in und um Knossos.
Aber wohin? Und jetzt kommen die Anhaenger der Labyrinth-Idee und rufen: „Ins Labyrinth! Ins Labyrinth!“ Wie schon beschrieben: mich, den Schreiber dieser Zeilen, den Schoepfer zahlreicher Labyrinthe aus Sperrholz, verzinktem Blech, Marmor, Rundholzstaeben,
Kunstgras und Dekostoff ueberzeugt das nicht. Ein Labyrinth - gegen meinen Willen argumentiere ich noch einmal - wurde bei Ausgrabungen in Knossos, dem Ort der Palaststadt, oder in deren Naehe, bis heute nicht gefunden. Und ein solches Labyrinth, das so gross war, dass man sich hoffnungslos darin verlaufen konnte, ein solches Labyrinth ist ja nichts fuer die Hosentasche. Da geht es schon um andere Dimensionen. Deshalb bin ich fest der Meinung, dass der Palast selbst, mit seinen vielen Raeumen, das Labyrinth war. Und in einem der Raeume wird man die arme, wilde, verzweifelte, aggressive Mischkreatur wohl gefangen gehalten haben. Denke ich. Und gefuettert wird man ihn haben, die Produkte seiner Notduerfte beseitigt haben und hin und wieder mit ihm gesprochen haben.
Damit unsere Geschichte ihren Fortgang nehmen kann, muessen wir uns kurz einem anderen Schauplatz zuwenden, mit einem modernen Faehrschiff acht Stunden von der Insel Kreta entfernt, nach Attika und seiner Hauptstadt Athen.
Dass Koenig Minos Vater der Toechter Ariadne, Phaedra, Akale und Xenodike war, wissen wir. Jetzt hoeren wir erstmals von seinem Sohn Androgeos. Er war gut aussehend, gewandt und ein geschickter Athlet. Eines Tages reiste er nach Athen, um an den Wettkaempfen teilzunehmen, die Koenig Aigaios ausrichtete. In allen Disziplinen ging Androgeos als Sieger hervor. Das machte Aigaios neidig und er beschwatzte den siegestrunkenen Sohn des Minos, sich mit dem kretischen Stier zu messen, dem Stier, der spaeter von Theseus getoetet werden sollte.
Androgeos, eine glaenzender Athlet, aber kein Heros, verlor sein Leben bei diesem ungleichen Kampf. Vater Minos war empoert ueber die hinterhaeltige Art und Weise, seinen Sohn quasi der Bestie zum Frass vorzuwerfen. Er ruestete seine Flotte, griff Athen an und besiegte es schliesslich nach langen, wuesten Kaempfen. Als Sieger verlangte Minos, dass die unterlegenen Athener einen Blutzoll besonderer Art zu entrichten haetten: jedes Jahr musste Athen sieben Juenglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta bringen, als Futter fuerr den in Knossos gehaltenen Minotaurus. Die Bluete der Jugend der Bestie zum Frasse vorzuwerfen. Welch eine Ungeheuerlichkeit.
Nicht schluessig verbunden scheinen mir einerseits die Anstrengeungen, das Scheusals Minotaurus vor der Oeffentlichkeit zu verbergen, und andererseits die spektakulaere Futterbeschaffung unter der Athener Jugend. Aber was ist schon schluessig?
So ist das manchmal in der Mythologie, und so gelangen wir jetzt auf Umwegen zum attischen Gegenstueck des dorischen Herakles, zu Theseus. Theseus war der Prinz, sein Vater Aigaios der Koenig von Athen. Seine Mutter war Aitra, die Tochter des Koenigs Pittheas aus Troizen. In einer weinseligen Nacht schwaengerte Aigaios die Aitra, machte sich aber alsbald davon, unter Zuruecklassung der Geschwaengerten und seiner Sandalen und seines Schwertes, die er beides unter einem grossen schweren Stein begraben hatte. Sollte Aitra von einem so kraeftigen Sohne entbinden, der eines Tages in der Lage war, den Stein wegzubewegen, sollte er mit den Sandalen und dem Schwert nach Athen kommen: daran wuerde Aigaios ihn als seinen Sohn erkennen.
Theseus wuchs bei Mutter Aitra und Grossvater Pittheas auf. Als er sechzehn Jahre alt war,
hielt ihn seine Mutter fuer stark genug, den von Aigaios hinterlassenen Steinblock wegzubewegen. Kein Problem fuer Theseus. Er nahm die Sandalen und das Schwert an sich und machte sich auf den Weg nach Athen, zu seinem Erzeuger - jugendlicher Heros, der er den Athenern werden sollte. Auf dem Weg dahin vollbrachte er Die Taten des Theseus - er erschlug Periphetes; erlegte ein riesiges, urtuemliches Wildschwein; er stuerzte den boesen Wegelagerer Skiron ins Meer; besiegte den Riesen Kerkyon und toetete ihn; den Raeuber und Uebeltaeter Prokrustes brachte er in dessen eigenem Streckbett um; er half Koenig Peirithoss im Kampf gegen die ausgerasteten Kentauren und schliesslich nahm der den alles verwuestenden kretischen Stier gefangen, den man daraufhin dem Gott Apollon opferte.
Als Theseus in Athen eintraf, wo er von seiner sich von ihm bedroht gefuehlten Stiefmutter vergiftet werden sollte - dazu sind offenbar Stiefmuetter in Maerchen, Sagen und Mythen ganz schnell bei der Hand -, wurde er von seinem Vater Aigaios erkannt und als Sohn und Prinz angenommen. Das Volk jubelte. Es hatte einen neuen, jungen Heros.
Und dieser Theseus schritt zur Tat! War er doch noch so jung an Jahren, konnte er sich, ohne aufzufallen, unter die vierzehn Jugendlichen mischen, die auch im Jahr seines Eintreffens in Athen nach Kreta gebracht werden sollten. Er hoffte auf eine glueckliche Fuegung des Zufalls, die es der Gruppe junger Athenischer Knaben und Maedchen erm¨glichen wuerde, den Mino-taurus zu toeten und selbst wieder heil nach Athen zurueckzukehren.
Mit dem neu gewonnenen Vater Aigaios wurde noch schnell eine kommunikations-techni-sche Vereinbarung getroffen: das Schiff der Athener setzte bei seiner Ueberfahrt nach Kreta schwarze Segel. Sollten bei seiner Rueckkehr die Segel immer noch schwarz sein, war dies das Zeichen fuer eine gescheiterte Mission. Weisse Segel bedeutete demgemaess: Mission erfolg-reich durchgefuehrt!
Der Zufall und der Goetter Wille sind die grossen Beweger, die in der Griechischen Mythologie die Aktionen voranbringen. So auch hier: Das Schiff lief aus, es ueberquerte das Meer, legte im Hafen von Knossos an und die Jugendlichen aus Athen wurden erst einmal den Damen und Herren des Hofes vorgestellt. Die Formen der Hoeflichkeit blieben gewahrt. Unter den kretischen Damen und Herren befand sich auch Ariadne, eine der Toechter von Minos und Pasiphae, ein sinnliches und sinnenfrohes Maedchen, dessen emotionale Grundausstattung ihre Eltern oftmals vor Probleme stellte. Dazu war sie reif, sich zu verlieben, sie wollte sich verlieben und sie verliebte sich auch: in dem Augenblick, in dem sie den Helden Theseus sah, diesen wohlgeformten, heiter wirkenden jungen Mann, ihrem Bruder Androgeos nicht ganz unaehnlich, war es um sie geschehen. Wie seinerzeit ihre Mutter die Naehe des Stiers, suchte Ariadne nun die Naehe des Athener Juenglings. Und sie hatte einen Plan - den ihre Mutter damals nicht hatte. Sie wuerde Theseus dabei unterstuetzen, ihren Halbbruder Minotaurus um die Ecke zu bringen und Theseus dabei zu helfen, anschliessend wieder aus dem unendlichen Gewirr des Palastes zu entkommen und sicher zum Hafen zu gelangen, wenn, ja, wenn Theseus sie mitnaehme, weg von der Insel, weg aus dem faden Knossos mit all seinen laermenden und eiligen Touristen und sich ihr anvermaehlte.
Selbstverstaendlich willigte Theseus in Ariadnes Plan ein. Er hatte ja auch nicht viele andere Optionen. Obwohl er mehr ein Auge auf Phaedra hatte - die schien ihm noch attraktiver als ihre Schwester Ariadne. Aber Ariadne hatte den Plan und wohl auch die Mittel, diesen in die Tat umzusetzen. Also, er willigte ein.
Ariadne ging zu - klar, wir wissen das schon - zu Dem Ingenioer ist nichts zu schwoer, und siehe da, ohne lange ueberlegen zu muessen, empfahl Daedalos die Sache mit dem Knaeuel und dem Faden.
Und so geschah es dann: Theseus drang, unbewaffnet natuerlich, ins Zentrum des Palastes vor, fand die Kammer des Minotaurus, stellte ihn, kaempfte mit ihm, rang ihn nieder und toetete ihn mit blossen Haenden. Und lief gleich wieder hinaus - immer dem Faden entlang, durch das Gewirr von Raeumen, Saelen, Treppen, Fluren, Gaengen, Kammern und Hinterhoefen. Endlich war draussen. Die anderen alle warteten schon. Ganz vorneweg Ariadne. Sie rannten die gepflasterte Strasse hinunter nach Norden, zum Hafen. Da lag das Schiff, die Segel waren gesetzt, man war bereit zum Auslaufen.
Naxos hiess das erste Etappenziel. Naxo war - wie Paros - Lieferant unendlich feinen, kostbaren Marmors. Jetzt aber war es Buehne eines Bubenstuecks ersten Ranges, eines Schmierentheaters: Ariadne schlief noch am Strand, als sich die Griechen heimlich und leise davon machten. Theseus hielt seine Zusage nicht ein. Er wollte mit Ariadne nicht sein. Phaedra begehrte er - und er bekam sie auch.
Aber auch Ariadne widerfuhr Gutes: Dionysos, der Gott des Weines, der Orgien, des Rausches, der Lust, der Sinnlichkeit, Dionysos, den Zeus - im Schenkel eingenaeht - ausgetragen hat, der Begruender eines nach ihm benannten Kultes, kam mit einem Gefolge von Satyrn, Nymphen und Silenen nach Naxos, traf auf die schlafende Ariadne, nahm sich ihrer an - im wahrsten Sinne des Wortes. Die beiden heirateten und hatten drei Kinder. Ariadne hatte es wohl keinen Augenblick lang bereut, von dem trockenen, sproeden Athener Theseus verlassen worden zu sein: sie genoss die Sinnlichkeit und das Glueck mit Dionysos.
Es gibt Interpreten, die behaupten, Ariadne haette schon vorher eine Liaison mit Dionysos gehabt und haette Theseus mit Vorbedacht ziehen lassen, um ihren Geliebten am Strand von Naxos erwarten zu koennen. Wer weiss?
Auf jeden Fall strebt unser Drama seinem vorlaeufigen H¨hepunkt zu. In all dem Durcheinander wurde der Befehl nicht ausgefuehrt, das Schiff des Theseus und seiner Freunde auf der Rueckfahrt nach Athen mit weissen Segeln zu bestuecken. Was fuer Folgen hatte dieses an sich kleine Messgeschick: Vater Aigaios stand bei Kap Sunion auf einer Klippe und hielt Ausschau nach dem Schiff der jungen Leute. Da tauchte es auf am Horizont. Schwarz besegelt. Der Vater und Koenig raufte sich Haupthaar und Bart und stuerzte sich hinab, ueber die Klippe ins Meer. Seither heisst dieser Teil des Meeres bis auf den heutigen Tag Aegaeis.
Jetzt fehlt uns eigentlich nur noch der Bericht, wie es mit Meister Daedalos und seinem Sohn Ikaros weiter ging. Um es gleich vorweg zu sagen: gar nicht gut.
Koenig Minos, der natuerlich die Athener Vergangenheit des Daedalos kannte, verhielt sich dem grossen Meister gegenueber von Anfang an eher reserviert – kein Vertrauen, wenig Zuneigung. Daedalos’ Unterstuetzung erst fuer Pasiphae und dann fuer Ariadne und Theseus, bewertete er als hoechst illoyal und gegen das Reich und ihn selbst gerichtet. Er liess Daedalos in Haft nehmen und seinen Sohn Ikarus gleich mit dazu. Da sassen die beiden nun wahrscheinlich in einem der circa zwoelfhundert Raeume, starrten in die staubige Luft - die Luft auf Kreta ist meist staubig -, bohrten in ihren Nasen und beobachteten den Flug der Tauben. Dem Ingenioer ist nichts zu schwoer - Daedalus beobachtete das Herabtaumeln ausgegangener Federn, wieder und wieder. Dann kam ploetzlich Leben in die beiden Maenner. Vater und Sohn sammelten Federn vom Boden, organisierten Wachs von den Kerzen, die zu Beleuchtung der vielen vielen Gaenge aufgesteckt waren und formten Fluegel aus Federn und Wachs. „Junge, flieg’ nicht zu hoch, flieg’ nicht zu nah’ an die Sonne heran. Das Wachs koennte schmelzen!“ Aber welcher Sohn haette jemals seinem Vater gehoert? Wo waeren wir auch, wenn Soehne ihren Vaetern gehorchten, und Toechter ihren Muettern?
Also: da sie in den niedrigen Raeumen vorher nicht ueben, nicht trainieren konnten, gingen sie volles Risiko, warteten den richtigen Zeitpunkt ab - also die Stunden nach dem Mittagessen, zwischen vierzehn und siebzehn Uhr, in denen ganz Kreta sich zur Ruhe begibt - auch die Ziegen, Schafe und Fische, klebten sich mit dem verbliebenen Wachs gegenseitig die Fluegel auf Schultern, Ober- und Unterarme, stiegen aus dem Fenster ihres Haftraumes, liefen den Palastberg hinab, stiessen sich rechtzeitig ab - und hundertmal abgesprochen: losgings. Uralt ist des Menschen Wunsch zu fliegen, lautet ein alter Kalauer; wie viele uralte Wuensche hat der Mensch eigentlich? Die beiden Vogelmenschen jubelten, waren erfreut, stolz und vergnuegt. Etwas hektisch der Juengere, der Sohn und gleichmaessig kraftvoll der Aeltere, der Vater, schlugen sie mit ihren Fluegeln, erreichten rasch eine angemessene Flughoehe und eine eben solche Reisegeschwindigkeit. Und in Knossos, auf der Insel? DieMenschen waren verbluefft, ueberwaeltigt, erstaunt - platt. Selbst Koenig Minos stand unter seinen aufgeregten Leuten, hielt sich die Hand schuetzend ueber die Augen und beobachtete den sensationellen Fluchtflug. Noch heute koennen Sie im Archaeologischen Museum von Iraklion kleine Figuren aus Bronze und Keramik bewundern, die ihren Kopf in den Himmel strecken und sich mit einer Hand die Augen beschatten. So standen sie da - damals.
Ueber die besserwisserischen Soehne sprachen wir schon. Ikarus wollte offenbar schon beim ersten Mal einen Hoehenflug-Rekord aufstellen, oder er wollte die Ingenioersleistungen seines Vaters durch seine athletischen Faehigkeiten ausgleichen. Wer weiss das schon? Auf jeden Fall flog er viel zu hoch, kam dadurch der Sonne zu nah, das Kerzenwachs wurde weich und schmolz zuletzt. Die Federn loesten sich ab, erst einzeln, dann bueschelweise. Ikarus geriet ins Taumeln, verlor immer rascher an Hoehe. Es pfiff nur noch so. Dann schlug er auf der Wasseroberflaeche auf. Wer jemals aus grosser Hoehe herunterfiel auf die spiegelglatte See, weiss, dass da nicht mehr viel Schmerz empfunden wird.
Welch hohes Ansehen Ikarus bei den Griechen genoss, die ja allesamt zu begeistern sind durch athletisch-sportiven Leistungen, zeigen gleich drei Folgerungen von Ikarus’ Sturz: das Meer in das er stuerzte heisst seither und bis heute Ikarisches Meer; die Insel, an deren Kueste sein Leichnam gespuelt wurde, nennt man seither Ikaria; der grosse Herakles selbst beerdigte den Leichnam des Ikarus.
Und Vater Daedalos? Der flog mit kraeftigen Fluegelschlaegen, gleichmaessig, um sein Leben. Und er flog, bis er die Kueste Siziliens erspaehte. Dort erst landete er und verdingte sich mirsamt seiner Ingenioerskunst in Kamikos bei dem dortigen Koenig Kokalos.
Doch auch Minos war zaeh und er liess nicht locker. Unbeeindruckt vom gelungenen Fluchtversuch seines vormaligen festen-freien Mitarbeiters, suchte er ueberall in der Oekumene nach Daedalos. Vergebens. Da hatte er eine Idee: er dachte sich eine aeusserst schwierige Aufgabe aus und versprach demjenigen, der sie loesen wuerde, eine hohe Belohnung. Minos war fest davon ueberzeugt, dass nur Daedalos die Loesung der Aufgabe gelingen konnte. Und Minos hatte sich nicht getaeuscht. Die Eitelheit, vielleicht auch die Geldsorgen, des grossen Erfinders liessen ihn an dem Bewerb teilnehmen und - wen wundert’s - er fand des Raetsels Loesung.
Minos forderte von Kokalos die Herausgabe des Daedalos. Der und lud den kretischen Herrscher zu einem grossen Gastmahl. Als Mensch von Welt und Adel wollte Minos vor dem Essen sich baden und rasieren. Dabei ueberfielen ihn die beiden Toechter (!) von Koenig Kokalos und toeteten Minos ihn im Bade.
Minos’ Begleitung gruendete auf Sizilien die Stadt Minoa und beerdigte den Koenig in einem zweistoeckigen Grabmal. Im Obergeschoss richteten sie ein Aphrodite-Heiligtum ein.
Was war die schwierige Aufgabe, die Minos der Welt gestellt hatte? Sie lautete: Wie kann man einen Faden durch das Gewinde einer Spiralmuschel fuehren. Daedalos loeste die Aufgabe mit Hilfe einer Ameise, an die er den Faden fest machte.
Texte: Adi Bachmann
Bildmaterialien: Adi Bachmann
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012
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