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Ein Haufen Barcelona

Drei junge Maenner fuhren ueber Zuerich nach Bern, weiter nach Lausanne und Genf, dann nach Lyon. Von Lyon aus ging es der Rhone entlang bis nach Avignon, dann weiter nach Nimes, Montpellier und Perpignan. Bei Port Bou fuhren sie ueber die franzoesisch-spanische Grenze, dann weiter ueber Figueres und Girona nach Barcelona.
Barcelona: Blinden an Stoecken gleich, tasteten sie sich in dem kleinen Auto durch die belebten, zum Teil ueberfuellten Strassen und Gassen des Viertels rund um den Hafen.Ueberall quoll und pulsierte das Leben. Alle Menschen schienen unterwegs zu sein, Kinder, Alte, Junge, Maenner und Frauen, viele trugen etwas, schoben etwas, lieferten oder holten etwas ab und standen beieinander und unterhielten sich gestenreich. Mit lauten und durchdringenden Stimmen versuchten manche sich gegenseitig zu uebertoenen oder sich durch heftige Zurufe Gehoer zu verschaffen. Das hallte und brodelte, das schrillte und vibrierte, das meckerte und gackerte. Und es machte den dreien erst einmal Angst. Nach der langen Zeit in der dumpfen Schwuele des kleinen Autos, mit dem sie wie in einem fahrbaren Terrarium ihren Lebensraum gewissermassen mit sich gefuehrt hatten, waren sie jetzt dem wirklichen Leben ausgesetzt: mediterran, heiss, laut und heftig.
Sie fuhren im Schrittempo durch die Strassen und folgten den Orientierungspunkten, die im Reisefuehrer vermerkt waren und gelangten schliesslich zu einem grossen, heruntergekommenen Hotel, das in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sicherlich eine gute Adresse war. Ein Haus mit bleiverglasten und ornamentierten Fenstern, hohen Stuckdecken, langen und breiten Fluren, einem ehemals attraktiven, nach innen gelegenen Lichthof, bequemen Treppenaufgaengen und grossen Zimmern. Am Empfang begruesste sie ein Mann mittleren Alters, der sein schwarz glaenzendes Haar kunstvoll um die kahlen Stellen seines Schaedels trapiert hatte. Er steckte in einem oft und oft gebuersteten blauen Anzug. Der Stoff wirkte so muede und muerbe wie der Mann hinter dem Tresen. Er zeigte ihnen ein Zimmer mit vier Betten, das von einer gelben Gluehbirne spaerlich beleuchtet wurde. Der Hitze wegen waren die Fensterlaeden geschlossen. Aber es gab ohnehin nicht viel zu sehen und sie waren zufrieden damit und mieteten sich ein.
Das Hotel befand sich an einer Querstrasse der Rambla, in der Naehe der Markthalle und des Chinesischen Viertels, also inmitten des lebendigsten und interessantesten Teils der Altstadt Barcelonas. Auf der anderen Strassenseite stand ein Palast, den Antoni Gaudi fuer seinen grossen Goenner, Foerderer, Freund und Bauherrn Eusebi Guell, entworfen und gebaut hatte.
In dem Hotel lebten nur wenige Touristen. Die meisten Gaeste waren alte Leute, die hier als Dauermieter wohnten. Viele von ihnen schlurften Tag und Nacht ueber die Marmorflure; in dicke wollene Hausmaentel gehuellt, mit heruntergetretenen Hausschuhen an den Fuessen, unverstaendliche Woerter und Saetze vor sich hinbrabbelnd. Ziellos, zeitlos. Auch Handwerker lebten hier, die auf einer der zahlreichen Baustellen in oder um Barcelona arbeiteten und Vertreter, die sehr auf ihr Aeusseres hielten und stets auddaellig gut geputzte Schuhe trugen.
Und Katzen lebten in dem Haus. Zehn? Dreissig? Fuenfzig? Hundert? Fortwaehrend bewegte es sich in den daemmrigen Fluren und Aufgaengen. Miauen und fauchen war zu hoeren. Ebenso die Geraeusche kurzer und erbitterter Kaempfe. Dann war es wieder still oder man hoerte das Schlabbern und Schmatzen der Tiere beim Fressen. Katzen stinken. Das mag manche Katzenfreundin und manchen Katzenfreund empoeren. Aber es ist so. Wirklich. Bei aller Katzenhygiene und bei allen Katzenklos mit saugfaehigsten Katzenstreu: Katzen stinken. Wenn sich aber so viele in einem Geaebaeude aufhalten, dort ihre Geschaefte verrichten, ihre Reviere markieren und Futtereste in den Ecken vergammeln lassen - dann wird der Gestank oft unertraeglich. Und genau das war der Haken an ihrer Unterkunft.
Die Stadt schien die drei erwartet zu haben und empfing sie mit offenen Armen. Angesteckt von der laermenden und draengenden Lebendigkeit ihrer Umgebung, durchstreiften sie – meist unabhaengig voneinander - die Strassen und Gassen der beiden grossen Altstadtviertel Barri Xines und Barri Gotic, entdeckten immer neue Palais, Stadthaeuser, Maerkte, Parks, Durchgaenge, Kirchen und Museen. Es war ein Fest fuer ihre Sinne und ein Doping fuer ihr Lebensgefuehl.
Waren sie nach solchen Tagen muede und hungrig, trafen sie sich am Abend im Los Caracoles, einem Restaurant oestlich der Rambla, das zwar ausserordentlich touristisch war, aber ein einmaliges Ambiente bot; es ging laut und heiss her und die Speisen und Getraenke wurden weniger serviert als vielmehr herbeigeschafft. Eine Grossgaststaette allerersten Ranges, geleitet von zwei sehr beleibten Bruedern, wobei der eine wie eine lebendige Reklamefigur vor dem Eingang zu seinem Restaurant auf einem zarten Stuehlchen aus Buchenholz mit einem geflochtenem Strohsitz sass und die Honneurs machte, waehrend sein etwas juengerer Bruder im Lokal schwitzend und keuchend wirtschaftete, ermahnte, kommandierte, verbesserte, dirigierte, tobte und auch sonst nach dem Rechten sah.
Hier sassen sie dann, besprachen die Erlebnisse, die der Tag gebracht hatte, assen und tranken und machten Plaene fuer den neuen Tag. Bald zeigte es sich jedoch, dass bei aller neu gewonnenen, lieb gewonnenen und genossenen Freundschaft die Interessen der drei doch allzu weit auseinanderlagen. Sie beschlossen sich zu trennen und eigene Wehe zu gehen. sie gingen noch einmal miteinander aus, tranken auf ihre Freundschaft und verliessen erst spaet in der Nacht das Los Caracoles. Am anderen Vormittag zogen die beiden anderen los, er wechselte im selben Hotel in ein kleineres Zimmer. Er nahm sich vor, es auch alleine so zu halten wie bisher: neugierig sein, die Augen offen halten, Neues kennen lernen. Und gerade hier in dieser Stadt die Augen offen halten fuer attraktive Frauen.
Er liess sich treiben, durchstreifte und erforschte das viel zitierte Barri Xines und entdeckte dabei die Plaetze, an denen die Maedchen auf ihre Freier warteten. Besonders in den Abendstunden - und je laenger die Abende dauerten, desto mehr - war verwirrendes Leben auf den Strassen und in den Gassen. Maedchen standen in Hauseingaengen, manche spazierten - aufreizend gekleidet und mit ebensolchen Bewegungen - die Haeuser entlang und sprachen moegliche Kunden an. Oder sie lehnten an den Tresen in den Bars, nippten an einem Getraenk und taten so, als wuerden sie sich fuer die anwesenden oder eintretenden Maenner nicht interessieren. Sie schauten abschaetzend aus ihren ueberschminkten dunklen Augenwinkeln, machten Gesten, sprachen halblaut und lockend, mit schmeichelnden Stimmen und weich modulierten Worten, die er nicht verstand. Schwarzafrikanerinnen waren darunter, Zigeunerinnen, Frauen aus Marokko und der Tuerkei und jede Menge junger, schlanker Maedchen mir blond gefaerbten Haaren – speziell hergerichtet fuer die Matrosen der US-Navy, die Barcelona mit den Schiffen ihrer Mittelmeerflotte immer wieder anliefen.
So kam es, dass manche Naechte fuer ihn sehr lang wurden und er oefter als der letzte Liebhaber eines Maedchens den Rest der Nacht bei ihr blieb. Nach ein wenig gemeinsamer Nachtruhe gingen sie hin und wieder in den nahe gelegenen Markt und fruehstueckten in einer winzigen Taverne: Kaffee mit den typischen, in kleinen Pfannen gebackenen Tortillas aus Kartoffeln, Zwiebel und Ei. Hinterher einen zweiten Kaffee und dann einen Anislikoer. Das war zwischen sieben und acht Uhr. Und obwohl er nur ganz wenig Spanisch sprach und verstand, hatten er Spass in der Bar und ging anschliessend muede, satt und zufrieden in sein Katzenhotel - einem siegreichen Kater gleich, der nach einer aufregend durchstreunten Nacht in sein Revier zu-rueckkehrt.
Das Barri Gotic kannte er aus zwei voellig unterschiedlichen Perspektiven: einmal tagsueber als einen Ort der Zivilisation und Kultur, der stroemenden Menschenscharen, als Platz von Kirchen, der Kathedrale von Barcelona auch, und der Museen. Es war fast ein Ueberangebot fuer seine Augen und seine Sinne. Und an den Abenden? In den Naechten? Da trafen sich die Schwulen um den Place Reial, fluesterten, luden ein, machten Handzeichen und freundliche, ganz selten auch obszoene Gesten - alles blieb zurueckhaltend, andeutend nur, leise. Es herrschte ja noch immer der in die Jahre gekommene Gaudillo General Franco und seine reaktionaeren, faschistischen Freunde und die allmaechtige Guardia Civil, die grauen Maenner mit ihren grotesken, lackglaenzenden Kopfbedeckungen.
Er hatte mit Schwulen nicht viel im Sinn. Aber manchmal musste er sich die Zeit vertreiben zwischen dem Abendessen im Los Caracoles - diese Gewohnheit hatte er nach der Abreise seiner beiden Reisegefaehrten beibehalten, und es freute ihn jedes Mal, wenn er wie ein Stammgast begruesst und bedient wurde - und der Zeit nach Mitternacht, ehe er bei den Maedchen im Barri Xines vorbeischaute. Spaziergaenge auf den glatten Steinplatten der malerisch beleuchteten Rambla gefielen ihm, aber ebenso lockte ihn die schattendunkle Welt seiner fluesternd umherhuschenden Geschlechtsgenossen. Vielleicht ist das Hervorlugen aus einem sicheren Versteck und Beobachten eine zutiefst menschliche Eigenschaft?
Vom Picasso-Museum zur Catedral de Barcelona ist es nur ein knapper Kilometer. Und trotzdem liegen Welten dazwischen. Das Museum und die Kathedrale befinden sich im Gotischen Viertel - eng, traditions- und geschichtsbeladen. Jeweils von einem Menschenbild erfuellt, das unterschiedlicher nicht sein koennte: selbst erschaffen das eine, aus sich selbst heraus, ohne die Inanspruchnahme von Lehrmeinungen und Lehraemtern. Von Gott gegeben das andere und von seinem Sohn bestaetigt und in dessen Mutter verehrt. Gerade in dieser Zeit des von Franco so angstvoll und zentralistisch regierten Spaniens, wo separatistische Aeusserungen - von Bewegungen war noch gar keine Rede - der Catalanen und Basken mit aeusserstem Misstrauen beobachtet wurden, spielte der Platz vor der Kathedrale eine zunehmend politische Rolle: Jeden Sonntag traf sich halb Barcelona hier und die Juengeren unter ihnen, aber auch manche Aeltere, tanzten mit Hingabe ihre traditionellen Taenze. Diese waren nicht spanisch, sondern katalanisch. Und das Publikum klatschte, die Kinder wuselten und die Beamten der Guardia Civil stolzierten lackiert umher, unsicher, ob diese Situationen zum Einschreiten herausforderten oder nicht.


Die Ramblas rauf und runter, rein und raus



Der Weg aus dem Barri Gotic zu den Ramblas ist nicht weit. Aber es ist der Weg aus dem Mittelalter in die Gegenwart. Die Ramblas sind die Flaniermeile der Buerger Barcelonas und der Touristen, der Ort konzentrierten katalanischen Lebensgefuehls und europaeischer Kultiviertheit, sowie Spaniens grosser Roter Teppich zu seinem wichtigsten Hafen und damit zum Meer. Auf einer hohen Saeule weist Christoph Kolumbus den Weg. Die Ramblas sind eine Mischung aus buergerlicher Dekadenz, ja sogar Ueberdruss, Avantgarde, Aufgeklaertheit und der ueberschaeumenden Vitalitaet und Lebensfreude junger, zukunftsfroher Generationen.
Eigentlich sind Ramblas trockene Flussbette, die nur nach starken Regenfaellen Wasser fuehren. In Nordostspanien wurden solche Trockenfluesse kanalisiert oder abgeleitet und haeufig als Strassen oder Promenaden ueberbaut. So auch in Barcelona.
Die Ramblas dort sind aus grossen, glatten Steinplatten gefuegt, wie von Hand poliert und nach einem Regenschauer durchaus gefaehrlich zu begehen. Die Ramblas sind bunt, laut und geschaeftig: Vogelhaendler, Blumen- und Pflanzenstaende, Verkaufsstaende mit Spielwaren und Schleckeis und Suessigkeiten fuer Kinder, breitgefaecherte Angebote an neuen Buechern und einem vielfaeltigen Modernen Antiquariat. Maechtige Platanen spenden Schatten. Links und rechts davon brandet der Autoverkehr. Und links und rechts sind auch die Palais und Hotels, die Cafés und Restaurants und die Theater und Filmtheater und die Flamenco-Lokale, die Abend fuer Abend die Vergnuegungssuchenden locken.
Und hier entdeckte er sie. Hier, wo sich die Ramblas nach Sueden hin ausweiten und in den Placa del Portal de la Pau einmuenden, auf dem das Denkmal des Christoph Kolumbus steht. Er sass im Freien unter der Markise einer Bar und trank eine Kleinigkeit. Und beobachtete sie. Einem aufgeregten Vogel gleich huschte sie ueber die glatten Platten, gross, duenn, mit sehr langen Gliedmassen und auffallend heller Haut. Sie hatte dunkle Haare und ein huebsches Gesicht. Ihr Alter war schlecht zu schaetzen. Vielleicht war sie achtzehn. Vielleicht war sie fuenfundzwanzig. Sie bewegte sich zwischen den Platanen und schien sich immer wieder hinter deren maechtigen, geschuppten Staemmen zu verstecken. Mit ungerichteten Schritten eilte sie auf Maenner zu, die alleine unterwegs waren. Sie wich wieder zurueck - wie erschrocken ueber den eigenen Mut zu diesen Annaeherungen -, ging wieder auf sie zu und sprach sie an. Eindringlich und mit ausdrucksstarken Gesten versuchte sie offenbar, den Maennern etwas zu erklaeren, sie zu etwas zu ueberreden. Jeder winkte ab, einige lachten, die meisten gingen kopfschuettelnd weiter.
Er bezahlte sein Getraenk und schlenderte wie absichtslos auf die Stelle zu, wo er das Maedchen zuletzt gesehen hatte, blieb stehen, tat unentschlossen und ... tatsaechlich kam sie daher und sprach ihn an. Auf Englisch. Sie sei Kunststudentin und habe etwas sehr Dringendes in Paris zu erledigen, etwas, das fuer ihre ganze weitere Karriere entscheidend sei. Was, sagte sie nicht. Sie habe kein Geld fuer die Reise. Aber einen gueltigen Pass habe sie. Natuerlich. Ob er ein Auto haette und ob er sie nach Paris fahren koennte? Wenn er kein Auto haette, waere sie auch zufrieden, wenn er ihr einhundert Dollar schenken wuerde. Er war irritiert. Er glaubte ihr kein Wort. Andererseits war die Geschichte ungewoehnlich und fuer jemanden, der sich sein Geld auf der Strasse verdiente, originell. Das Maedchen war, aus der Naehe betrachtet, auf eine unuebliche Weise sehr huebsch. Und, na ja, wer weiss?
Er konterte: Er selbst haette vorgehabt, etwas aus der Stadt rauszufahren, an die Kueste. Ob sie Lust haette, ihn zu begleiten. Hinterher koennten sie ja weitersehen wegen der Reise nach Paris oder den einhundert Dollar.
Ohne lange zu ueberlegen, nickte sie zustimmend. Sie verabredeten einen Ort und einen Zeitpunkt fuer den folgenden Tag. Und jeder ging seiner Wege.
Seine Fragen ueberraschten den Manager des Katzenhotels nicht. Er beantwortete sie ausfuehrlich und empfahl ihm grundsaetzlich, etwas weiter aus der Stadt hinauszufahren, nach Lloret de Mar oder Tossa de Mar, zum Beispiel. Am anderen Tag packte er einige Sachen in die Reisetasche, fuhr zu dem verabredeten Treffpunkt und siehe da - das Maedchen wartete bereits. Sie trug etwas anderes als am Vortag, weniger grau und weniger duester. Sie hatte eine grosse Badetasche umgehaengt. Er freute sich, sie wiederzusehen, liess sie einsteigen. Sie fuhren langsam aus der Stadt hinaus und auf der Kuestenstrasse in Richtung Lloret.
In Lloret suchten sie nicht lange, sie nahmen sich ein Zimmer in einem kleinen, gemuetlichen Hotel direkt ueber dem Meer. Kaum auf dem Zimmer, spuerte er ein starkes Verlangen nach dem Maedchen. Er nahm sie in die Arme. Sie liess ihn gewaeren. Er zog sie schnell und zielstrebig aus. Sie liess ihn gewaeren. Sie schliefen miteinander. Lange und leidenschaftlich, dann zaertlich, dann wieder heftig. Sie liess ihn nicht nur gewaeren, sie schien Spass daran zu haben.
Hinterher, als sich ihre nassgeschwitzten Koerper wieder beruhigt hatten, nahmen sie ihre Badesachen und gingen an den Strand. Auf dem Weg kauften sie einen aufblasbaren Ball. Sie spielten damit, lachten viel und plantschten wie die Kinder. Dann schwammen sie ins Meer hinaus und in einem weiten Bogen wieder zurueck, doesten im Sand, schwammen wieder, gingen zurueck auf das Zimmer, schliefen miteinander, duschten. Spaeter zogen sich um und gingen essen.
Anschliessend liefen sie durch mehrere Discotheken, bis sie eine fanden, in der es ihnen gefiel. Sie war nur von ganz jungen Leuten besucht. Er war mit der Aelteste und er fuehlte sich ein wenig fremd. Da und dort schnappten Feuerzeuge und beleuchteten mit den flackernden Flammen die Gesichter von unten. Das sah unheimlich aus und gespenstisch. Manche der Jungs hatten laessig eine Zigarette im Mundwinkel haengen. Ihr Verhalten an der Bar und an den Tischen wirkte trotzig. Die Musik droehnte laut und haemmerte einen aggressiven Rhythmus. Die Baesse trafen direkt ins Sexzentrum. Das verstaerkte die vibrierende Atmosphaere.
Es war heiss und feucht in dem dunklen Raum und nach wenigen Minuten klebte ihm das Hemd am nassen Koerper. Eine Saengerin kreischte ins Mikrophon und die Band zog nach. Augenblicklich stuerzten sich viele auf die Tanzflaeche. Er nahm das Maedchen an der Hand und sie tanzten weich und mit selbstvergessenen Bewegungen. Stueck fuer Stueck fuer Stueck. Ohne Unterbrechung. Jenseits von Zeit und Raum. Bis die Musik verstummte und jemand aus der Band eine Pause ankuendigte.
Er war gluecklich und auch ein wenig stolz, eine so gutaussehendes Maedchen bei sich zu haben. Verschwitzt, wie sie waren, nahmen sie sich an den Haenden, verliessen die Disco und gingen zurueck aufs Zimmer. Sie zogen sich die schweissnassen Kleidungsstuecke von den Koerpern. Es ging nicht schnell genug und sie begannen zu zerren und zu reissen, landeten unter der Dusche und dann, sich leidenschaftlich umarmend, im Bett.
Sie waren eingeschlafen. Das heisst, er war eingeschlafen. Ob das Maedchen geschlafen hatte, wusste er nicht. Als er aufwachte, tastete er nach ihr. Nichts. Leise rief er nach ihr. Nichts. Er stand auf und suchte nach ihr, erst im Bad und dann auf dem Balkon. Nichts. Sie war weg. Jetzt erst kam ihm der Gedanke: Seine Brieftasche. Mit einem Griff hatte er sie in der Hand und kontrollierte den Inhalt. Es fehlten genau sieben Scheine, sieben Mal fuenfzig Mark. Also dreihunderthundertfuenfzig Mark. Alle anderen Scheine waren noch da. Sie hatte sich die einhundert Dollar genommen, um die sie ihn gebeten hatte. Sie hatte sich genau das genommen, was sie angeblich so dringend brauchte. Das fand er akzeptabel. Er konnte das Maedchen verstehen und ihre Handlung nachvollziehen. Irgendwie fand er das pfiffig.
In seinem Katzenhotel empfing man ihn am naechsten Tag, grinste und uebergab ihm - mit einem Laecheln in den Augenwinkeln - seinen Zimmerschluessel und einen gefalteten Zettel. "Thank you" stand darauf, "for the good time we had." Sonst nichts.


Alles Flamenco, oder was?


"Barcelona ist auch die Stadt des Flamenco. Nicht des wirklich guten Flamenco. Den gibt es nur in Andalusien und in einigen Lokal in Madrid zu hoeren und zu sehen. In den einschlaegigen Lokalen Barcelonas gibt es zu viele Touristen, Leute, die fuer einige Stunden oder einen oder zwei Tage von der Kueste, von der Costa Brava, herkommen, auf eigene Faust oder mit einer organisierten Reisegruppe, ein wenig auf Kultur machen, abends schoen zum Essen gehen - ins Los Caracoles zum Beispiel - und dann hinterher in eine Flamencoshow. Das sind Auffuehrungen, die kein Einheimischer besuchen wuerde, die sind so kommerziell und deshalb so gnadenlos schlecht. Ich selbst aergere mich gruen und blau ueber die Manipulationen und Verstuemmelungen des zu Herzen gehenden Ausdrucks der spanischen Seele. Und das bei diesen unverschaemt hohen Preisen fuer Getraenke und Speisen bei den Tablaoshows. Aber die Auslaender sind ja selbst schuld, wenn sie auf solche Tricks hereinfallen. Und was heisst schon spanische Seele? Flamenco, das ist juedisch oder maurisch oder indisch oder iberisch oder persisch oder andalusisch. Oder alles zusammen. Wer weiss das schon so genau?
Auf jeden Fall kam der Flamenco von den Gitanos aus Andalusien. Von den Aermsten der Armen. Den Verfolgten und Ausgestossenen. Und vielleicht auch von den Andalusiern selbst. Aber spanisch war der Flamenco nie. Und katalanisch ebensowenig. Nein, nein, der Flamenco hier in Barcelona ist mehr fuer die Touri-sten, das ist eher ein Touristenspektakel. Jaaa, in Andalusien, da ist das etwas anderes. Auch in Madrid - da gibt es keine Touristen, die schnell mal fuer einen Tag und eine Nacht vom Strand in die Stadt kommen. Da gibt es Aficionados und ein fachmaennisch kenntnisreiches Publikum in den Tablaoshows, den Flamencolokalen. Wobei einem klar sein muss, dass der echte, der wirkliche Flamenco ohnehin nicht in Kneipen oder Theatersaelen stattfindet, mit festen Uhrzeiten und Eintrittsgeld und Verzehrzwang. Nein, der echte Flamenco findet nur im Kreis der Familie statt, im Kreis der grossen Familie vielleicht, im Kreis der Freunde und Vertrauten, denen das Leben der Gitanos vom ersten Atemzug ihres eigenen Lebens an bekannt ist, die die tausend Jahre alte Geschichte von Verfolgung, Leid und Ausrottung in sich tragen und die sich nur ueber ihre Familien, ihre Maerchen und Geschichten, aber auch ueber einige eisern zu beachtenden Lebensregeln und ihre Musik, ihre Gesaenge vor allem, und ihre Taenze am Leben erhalten haben. Nur in einem solchen Kreis kann es zu dem Duende kommen, diesem immer wieder zitierten Augenblick der Wahrheit, offenbar dem Moment der ganz besonderen Inspira-tion, der Einsicht, Erleuchtung, Ekstase oder des Kicks. Dass sich so etwas nicht in einem Raum mit kauenden, schmatzenden und schwatzenden und kichernden Frem-den einstellen kann, ist eigentlich klar. Oder? Die Wandlung von Brot und Wein, die Transsubstantiation, findet ja auch nicht in einer Jahrmarktbude statt."
Er bestellte noch einen Anis fuer sich und einen Fundador fuer den alten Mann und frisches Wasser fuer beide. Er hing dem Alten foermlich an den Lippen, diesem Mann, dessen magere Haende von Pigmentflecken uebersaet waren und leicht zitterten, diesem Alten in seinem abgetragenen Anzug, dem fadenscheinigen Hemd mit der altmodischen Krawatte und den Schuhen aus einem im Laufe der Jahre rissig gewordenen Leder, diesen Mann hatte er in einer der Bars entlang der Ramblas kennen gelernt und sich von ihm in ein nicht enden wollendes Gespraech verwickeln lassen. Der Alte wusste fast alles, blieb dabei aber unaufdringlich und mit seiner Ironie und seinem Spott eher auf der milden Seite. Von ihm bekam er Informationen ueber Barcelona aus sozusagen erster Hand.
"Gitanos", fuhr der Alte fort, der trotz der gut fuenfundsiebzig Jahre, die er alt sein mochte, eine frische und kraeftige Stimme hatte und mit schoener Mimik und ausladenden Gesten das Gesprochene untermalte, "Gitanos, so heissen in Spanien die Zigeuner. Gitanes nennen sie die Franzosen, Gipsies die Englaender und Amerikaner, Tiganes sagen die Rumaenen, und bei Ihnen in Deutschland heissen sie neuerdings wohl nicht mehr Zigeuner, sondern Sinti und Roma. Sie alle haben in ihrer Geschichte einen furchtbar langen und einen furchtbar lebensgefaehrlichen Weg hinter sich. Schon seit ueber tausend Jahren, ja, manche sagen, schon seit achthundert nach Christi Geburt. Na ja, Christi Geburt: diese Christen, die christliche Kirche und die Gitanos, das ist eine Geschichte fuer sich - und keine gute. Sie ist keinen Deut besser als die Geschichte der Kirche mit den Juden. Nur redet da kaum jemand davon, weil die Gitanos, diese Nichtsesshaften, keine so einflussreichen Fuersprecher haben. Nicht dass Sie jetzt glauben, ich haette etwas ge-gen die Juden, oder dass ich die Zigeuner bevorzugen wollte in der Bewertung ihrer leidvollen Geschichte. Nein, nein - nur diese Christenheit muss aufwachen, muss sich daran erinnern, dass sie sich in ihrer Geschichte tatsaechlich gegen diese zwei Minderheiten auf besonders schlimme Weise vergriffen hat. Und nicht nur waehrend der vergleichsweise kurzen Zeit der Nazi-Diktatur."
Der Alte nippte an seinem spanischen Cognac und setzte noch einmal an: "Also, seit 800 nach Christus etwa wurden die Gitanos aus ihrer urspruenglichen Heimat in Nordwest-Indien vertrieben. Sie zogen langsam nach Westen und liessen sich zwischen dem elften und vierzehnten Jahrhundert im Mittleren Osten, in Osteuropa und auf dem Balkan nieder. Aber der Zug nach Westen hielt an, und so er-reichten Anfang des fuenfzehnten Jahrhunderts die ersten Gitanos Deutschland und die Schweiz, Anfang des sechzehnten Jahrhunderts England und Anfang des achzehnten Jahrhunderts Amerika. Nun, und was passierte ihnen, als sie zwischen dem fuenfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in dieses Europa kamen? Erst einmal wurden sie ausgegrenzt und dann wurden sie verfolgt! Sie konnten keine Berufe ausueben, die in das staendisch-hierarchische Zunft- und Gildewesen gepasst haetten. Wie die Gaukler, die Handwerker ohne feste Anstellung oder die fah-renden Haendler standen sie ausserhalb der so strukturierten Gesellschaft. Und sie waren keine Christen. Erst wurden sie noch geduldet, aber bald schon vertrieben. Aus Spanien genau seit 1484."
"Es gab dann in den Jahren 1496 und 1497 einen Reichstag, auf dem die Gitanos fuer vogelfrei erklaert, das heisst geaechtet, wurden. Ihre Leichname durften nunmehr nicht in geweihter Erde beigesetzt werden. Die Gitanos wurden zur Verfolgung, Haft, Folterung und Toetung freigegeben - einfach deshalb, weil sie Gitanos waren. Sie sollten mit Feuer und Schwert ausgerottet werden und unverstaendlicherweise erliess das Heilige Roemische Reich die haertesten Gesetze gegen die Gitanos. Die gingen nun in den Untergrund. Sie verzogen sich in die Berge, sie lebten abseits der spanischen Gesellschaft. Oder sie wurden sesshaft und mussten sich in Ghettos niederlassen, wie es sie auch fuer die Juden gab. Sevilla hatte so ein Ghetto, Jerez und Cadiz auch. Hier gingen sie ihren Religionen nach, pflegten ihre Traditionen und hier entstand wohl auch der Flamenco - stark beeinflusst von der andalusischen Musik, wo sie doch mit den Aermsten der Andalusier, quasi in einer Lebens- und Schicksalsgemeinschaft der Armen, Tuer an Tuer lebten."
"Was waren das eigentlich fuer eiserne Lebensregeln der Gitanos, von denen Sie vorher sprachen?" "Tja, diese ungeschriebenen Gesetze beziehen sich in erster Linie auf das Verhalten innerhalb der Familien: halte dein Wort, heisst eines; und das zweite: bezahle deine Schulden; und - nur fuer Frauen: halte deinem Ehemann die Treue, das dritte. Die einzige Regel fuer den Umgang mit Nicht-Gitanos lautet: mische dich nie mit einem, der nicht zu uns gehoert - ausser um ihn zu beluegen oder ihn zu bestehlen."
"Das klingt sehr danach, als wollte man damit die uralten Vorurteile gegen die Gitanos mit Gewalt am Leben halten. Glauben Sie denn, dass diese Gesetze heute noch gelten?"
"Es hat sich in den zurueckliegenden Jahrzehnten seit dem Buergerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg vieles veraendert. Auch die Lebensumstaende der Gitanos. Und das Verstaendnis, mit dem man ihnen heute begegnet, hat zu genommen. Aber wenn es hart auf hart kommt: was sind fuenfzig oder sechzig Jahre gegenueber zwoelfhundert Jahren des Erleidens von Verfolgung und Vertreibung? Ich glaube, dass sie diese Erfahrungen noch lange mit sich herumtragen muessen, bis die Wunden anfangen, vielleicht endgueltig zu verheilen."
"Und wie funktioniert das mit dem Flamenco?" "Na, da funktioniert eigentlich ueberhaupt nichts. Im Gegenteil. Der Flamenco entspringt der spontanen, der improvisierenden Lebensweise der Gitanos. Nur das Jetzt ist wichtig, nur das Jetzt kann tatsaechlich erlebt und gelebt werden. Was morgen ist - wer weiss das schon? Und dieses Lebensgefuehl, diese Lebensart, spiegelt der Flamenco wider. Das ist ja auch mit ein Grund, warum grosse internationale Konzertagenturen nicht so gern mit Flamencogruppen zusammenarbeiten. Die Gitanes halten sich nur widerwillig an Stundenplaene oder langfristige Vereinbarungen. Wird jemand aus der Gruppe krank, dann kann die Gruppe nicht auftreten, sondern alle weilen an dessen Krankenlager. Verstehen Sie? - Tja, der Flamenco entwickelt sich waehrend einer Juerga. Da ist nichts geplant. Nichts vorherbestimmt. Nichts choreografiert."
"Eine Juerga?" "Ach ja, eine Juerga. Eine Juerga ist ein Treffen, eine Zusammenkunft von Leuten, die vielleicht Flamenco miteinander machen wollen oder tatsaechlich Flamenco miteinander machen. Ein bisschen vage, was? Aber so war das mit dem Flamenco - frueher. Heute ist natuerlich alles schon vorhersehbarer. Die Gaeste zahlen ja schliesslich und wollen fuer ihr Geld etwas hoeren und sehen. Der urspruengliche Flamenco aber, der echte, tiefe, innerliche Flamenco hatte immer einen rituellen Charakter. Er diente nie der Unterhaltung eines zahlenden und nur passiv lauschenden und zuschauenden Publikums. Flamenco und ein Publikum, das sich unterhalten lassen will, das sich bei einer Tablaoshow einen anregenden Abend machen will - das ist ein Widerspruch in sich. Dieses Publikum sollte lieber in eine Varieteshow gehen, in den Zirkus, in einen Nightclub oder in einen Film!"
"Jetzt werden Sie aber streng. Stellt denn der Flamenco inzwischen nicht ei-nen integrierten Bestandteil der hiesigen Unterhaltungsindustrie dar - so wie der Stierkampf auch? Gaebe es denn ohne die zahlenden Touristen und ohne die Fernsehuebertragungen ueberhaupt noch den Flamenco und den Stierkampf in Spanien?"
"Da haben Sie sicher Recht. Die jungen Menschen in Spanien, gerade auch in der wohl zu Ende gehenden Aera der Francisten, wollen den Anschluss an die internationale Musik nicht verlieren. Sowohl als Musiker als auch als Musikhoe-rer. Und der Flamenco verkommt vielleicht unter dem Einfluss der zwangslaeufig oberflaechlicheren Touristen und durch die in aller Welt organisierten Buehnenauftritte und Fernsehsendungen besonders schnell zu mehr und mehr Oper oder Operette. Beim Stierkampf ist das vielleicht anders: Da ist es der Fussball, der heute die Massen anzieht. Und trotzdem interessieren sich weiterhin viele junge und auch gebildete Spanier fuer die Corridas und gehen in die Arenen. Erfolgreiche Toreros werden noch fast so verehrt wie erfolgreiche Fussballer. Man wird sehen. Ich denke, das gute Toros und gute Matadore die Arenen immer fuellen werden. Aber - ich sage Ihnen - diese Costa-Ausfluegler ... Wer setzt sich denn schon halbnackt, schwitzend und bruellend in die pralle Sonne und trinkt ununterbrochen billigen Rotwein aus Lederbeuteln? Na, also: Das sind die auslaendischen Touristen, die aus allem ihr eigenes Spektakel machen muessen, an Kultur in Wirklichkeit desinteressierte Badeurlauber, die sich einen aufregenden Nachmittag machen wollen. Sollen sie doch. Aber ohne Respekt vor den Toros und den Toreros und dem Matadore zu haben - da waere es doch besser, wenn sie zu Hause blieben."
"Ja. Ich kann Ihren Unmut schon verstehen. Auf der anderen Seite fuehren diese von Ihnen so ins schlechte Licht gerueckten Touristen ja nichts Boeses im Schild. Sie wissen es halt nicht besser und nicht jeder hat soviel Glueck wie ich, auf einen so kenntnisreichen und seine Kenntnisse so grosszuegig mitteilenden Mann zu treffen, wie Sie das sind. Uebrigens, haetten Sie noch ein wenig Zeit und auch Spass daran, mir noch etwas ueber den Flamenco zu erzaehlen? Wie er sich aufbaut, was die einzelnen Darbietungen fuer eine Bedeutung haben und so weiter?"
"Aber gerne. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Was halten Sie davon, werter junger Herr aus Deutschland, ich koennte Sie heute Abend begleiten und wir koennten uns eine vergleichsweise serioese und authentische Juerga anschauen? Ich kenne eine gute Tablaoshow in einer Seitenstrasse der Rambla. Dort sind nicht so viele auslaendische Touristen, mehr spanische. Und die Preise sind moderat. Sie koennten mir vielleicht ein paar kleine Drinks ... und vielleicht eine kleine Mahlzeit ... in meinem Alter isst man ohnehin nicht mehr so viel ... Wollen Sie?"
So verabredeten sie sich zum Abendessen, leerten ihre Glaeser, schuettelten sich zum kurzen Abschied die Haende und gingen auseinander. Puenktlich trafen sie sich wieder, beide fuer den Abend etwas zurechtgemacht, und beide erfuellt von der Vorfreude auf einen spannenden Abend und eine lange Nacht.
Beim Essen nutzte der Alte die Pausen und sprach weiter ueber den Flamenco. "Der Mittelpunkt, das Kernstueck sozusagen und auch der aelteste Teil des Flamenco, ist der Gesang, der Cante. Bei dem Flamenco, von dem wir dauernd sprechen, ist es der Cante jondo, das ist andalusisch und kommt vom spanischen hondo, was soviel bedeutet wie tief oder innerlich. Der Cante wird fast immer von Gitanos gesungen, also von Maennern. Ja, ja, das stimmt schon. Es gab und gibt seit Jahrhunderten nicht so viele beruehmte Saengerinnen. Heute erlangen ja die Taenzerin-nen oder Taenzer, aber auch die Flamenco-Gitarristen die nationale und internationale Aufmerksamkeit und Beruehmtheit, aber eigentlich treten sie ja nur in den Luecken auf, die ihnen die Saenger, die Cantaores, zwischen ihren Liedern lassen. Mit der Klagesilbe Ay beginnen viele der Lieder, und der Saenger drueckt schon mit seiner Stimme, seiner Mimik und seiner Koerperhaltung den ganzen Schmerz aus, der in dem Lied steckt, das er vortragen wird. Aaayyyyy ... Der Cantaores singt von Schuld und Suehne, von Liebe und Tod, und sein Vortrag enthaelt, wenn er gut ist, den ganzen jahrhundertealten Schmerz und das Leiden seines Volkes und das gestei-gerte, vielleicht sogar uebersteigert wirkende, Gefuehl von dem Leben im Augen-blick, vom Leben im im Hier und Jetzt."
"Zwischen den Liedern waeren ja eigentlich Pausen. Aber diese nuetzen Taen-zer, Taenzerinnen und Gitarristen, um sich mehr in den Vordergrund zu spielen, um sich etwas wichtig zu machen, sozusagen. Der Cantaores raeumt ihnen diese Zeit zwischen seinen Liedern auch ein, muss er doch die durch seinen Vortrag aufgewuehlten Gefuehle beruhigen und - fast wie in einer Meditation - sich innerlich auf das naechste Lied vorbereiten. Heutzutage, wo beim Publikum der Tanz so beliebt ist - die Bewegung, das Stampfen, das Klatschen und das Klappern mit den Kastagnetten, die grellfarbenen Kostueme mit ihren opulenten Rueschen, den herausfordernden Bewegungen, dem wissenden Laecheln, dem Aufscheinen einer weiblichen Fessel oder gar einer Wade oder eines nackten Knies - der Tanz und die wunderschoenen Soli auf der so warm und so voll klingenden Flamenco-Gitarre, die so viele Sehnsuechte hervorruft und so viel zaertliche Befriedigung verspricht - heute also, wo Tanz und Gitarrespiel viel beliebter sind als der Gesang, werden die Pau-sen zwischen den Liedern immer laenger. Gerade im Tanz drueckt sich auch die andere Seite des Gitano-Seins aus: die laute, ueberschaeumende, fast beaengstigende und gewalttaetige Lebensfreude, die nur den Augenblick kennt - nichts anderes."
"Aber das ist auch so etwas, was ich vorher meinte, als ich von der Manipulation und Verunstaltung durch das Publikum sprach: Flamenco ist keine Tanzveranstaltung, auf der Liebeslieder geschmachtet werden -, von Gitarrenmusik begleitet. Und soweit ist es schon fast gekommen. Aber der Flamenco ist eben auch keine Kunst fuer das Museum. Er muss sich erneuern koennen, er muss seine Gegenwart zum Ausdruck bringen koennen - aber er muss sich selbst treu bleiben und immer den Kontakt zu seinen Wurzeln suchen und behalten. Denn, mein lieber Herr: Flamenco ist Kunst. Flamenco ist eine Lebensweise. Flamenco ist keine Folklore!"
Nach diesem gewichtigen Schlusswort machten sie sich auf den Weg zum Geheimtipp des Aficionados. Der Veranstaltungsort war schwer zu entdecken. Er befand sich im Untergeschoss eines buergerlichen Wohnhauses, und wem der Ort nicht bekannt war, der ging wahrscheinlich daran vorbei. Er lag etwas abgeschieden und es fehlte jegliche nach Aufmerksamkeit heischende Reklame.
Nur einige Kerzen erleuchteten den Saal, in dem kleine Tischchen aufgestellt waren und die ueblichen zierlichen Holzstuehle mit Sitzen und Lehnen aus Bastgeflecht. Eine nicht sehr tiefe Buehne an der Stirnseite war so breit wie der Raum. Die Buehne war mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Als Dekoration diente die stilisierte Darstellung eines armseligen Dorfplatzes irgendwo in Andalusien.
Sein Begleiter wurde von den Leuten respektvoll mit Handschlag begruesst. Auch ihm gab man die Hand, und dann schob man die beiden an anderen eng gestellten Tischchen vorbei an einen freien Platz, der eine gute Sicht ueber den Saal und zur Buehne hin bot. Sie bestellten ihre Getraenke, die schnell serviert wurden, zusammen mit einigen Oliven, Chips, kleinen Gurken und eingelegten Zwiebeln.
Das Licht wurde schwaecher. Vier farbenfroh gekleidete Frauen traten auf die Buehne, plaudernd und scherzend, zwei Maenner in schwarzen Anzuegen folgten mit ihren Instrumenten, die Guitarristas, und dann kamen zwei aeltere und ein junger Mann, ebenfalls in dunklen Anzuegen, mit weissen Hemden. Die Guitarristas begannen ein paar weiche Tonfolgen zu spielen, und einer der beiden Aelteren trat zum Microphon und blieb davor stehen. Im Publikum wurde es still. Der grossgewachsene, sehr schlanke Mann hatte eine feines, sensibles Gesicht, dem man an-sah, dass er schon Vieles im Leben gesehen und mitgemacht hatte. Starke Falten um die Augen, die Nase, den Mund und das Kinn sprachen ihre eigene Sprache. Der Hals hatte laengst nicht mehr die Straffheit seiner Jugend und lugte etwas verloren aus dem gestaerkten Hemdkragen hervor. Er hatte wunderschoene Haende mit schmalen langen Fingern, die er mehr vorsichtig als zugreifend bewegte. An der rechten Hand hatte er einen Ehering, an der linken einen grossen Siegelring. Der Cantaores trug einen elegant gestreiften Anzug mit uebertrieben breiten Revers und einem weissen Einstecktuch, dazu eine Krawatte mit einer auffaelligen Nadel. Noch immer stand er versunken vor dem Mikrophon, und im Raum hatte sich inzwischen eine fast unertraegliche Spannung aufgebaut. Kurz bevor sie in Teilnahmslosigkeit haette umschlagen koennen, sang er los.
"Aaayyyyy...", begann er, und alles an ihm zog sich zusammen, zog sich in ihn hinein, schwang sich hoch, brach sich und dann ... Mit rauher Stimme sang er sein Lied, so ergreifend, so praesent und alle Zuhoerer so in Beschlag nehmend, dass er sich hinterher fragte, ob er waehrend des Singens ueberhaupt geatmet haette. Das war reine, entfesselte Leidenschaft und unverstelltes Gefuehl. Er hatte nicht einmal mitbekommen, ob dieser wundervolle Cantaores beim Singen von dem Gitarristen begleitet worden war oder nicht oder ob es allein die Ausdruckskraft sei-ner Stimme war, die ihn so gebannt hatte.
"Sehen Sie, hoeren Sie nur", fluesterte der Alte in sein Ohr - aber schon wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Buehne gelenkt: die aeltere der Frauen draengte sich nach vorne, in die Mitte der Buehne. Was fuer eine Frau. Ein schmaler, schlanker Koerper, darauf ein grosser Kopf, kraeftige Brauen, eine kraeftige, gerade Nase, ein ueppiger, grosser Mund, die Backenknochen ausgepraegt und hoch. Und eine dichte Maehne von Haaren, ein kleiner, fester Busen und ... und ... diese Pose. "Oh ja, mit der moechte ich auch einmal ..." "Besser nicht, mein Freund. Die wuerde Sie wahrscheinlich fertig machen. Und wenn nicht sie, dann ihre Maenner und ihr Klan." Der Alte hoerte ganz offensichtlich noch sehr gut und hatte fuer jede Situation noch einen angemessenen Ratschlag parat.
Diese Pose: Sie stand entschlossen und voller Wut, blickte ins Publikum, hob den Saum ihres langen, mit grossen weissen Punkten gemusterten Kleides, hob ihn bis zu den Knoecheln, bis zur Mitte der Wade, bis unters Knie. Die anderen Frauen, die sich hinten an der Wand aufgestellt hatten, riefen ihr etwas zu. Aufmunternd. Feuerten sie an. Der Saum rutschte noch hoeher, bis zum Knie, jetzt ueber das Knie. Da hielt sie still. Starrte nach vorne, hob langsam das rechte Bein und - wumm! - stampfte sie auf. Und noch einmal - wumm. Dann schneller wumm - wumm - wumm. Wumm - wumm - wumm - wumm - wumm! Es hoerte sich an, als wuerde eine Dampflokomotive aus dem Bahnhof fahren, erst langsam, dann schnell, schneller, dann immer noch schneller. Stakkato. Und die Energie einer Lokomotive steckte auch in dieser Bailaoras, dieser Taenzerin. Sie stampfte, schritt aus, drehte sich, wirbelte, spielte fortwaehrend mit ihrem Kleid. Wie der Torero mit der Capa. Die Frau und der Mann, die Torera und der Toro, die Schoene und das Biest ... Eigentlich war klar, wer die Arena als Sieger verlassen wird. Geschlechterkampf. Und immer wieder und immer noch dieser wuetende, animalische, furchterregende Gesichtsausdruck, leidenschaftlich angefeuert von den anderen aus der Gruppe. Das Publikum war fasziniert. Es tobte und applaudierte stehend.
"Sehen Sie. Nicht der Saenger bekommt den groessten Applaus, sondern die Taenzerin!"
Wieder sang der Cantaores. Diesmal offenbar ein Liebeslied, soweit er ueber-haupt etwas davon verstehen konnte. Ein Lied voller Bitten, voller Zartheit, voller Schmelz und voller Hingabe. Diesmal wurde auch der Saenger mit viel Beifall ueberschuettet.
Julian Bream, Andres Segovia, John McLaughlin oder John Williams - das waren die Gitarristen, die er kannte und deren Musik er zu Hause auf Schallplatten hatte. McLaughlin machte ja etwas, das er Flamencojazz nannte, aber das hatte mit dem Spiel der Guitarra Flamenca nichts zu tun. "Die Guitarra Flamenca ...", fluesterte der Alte in der kurzen Pause, die sich ergab, bis der Gitarrist Platz nahm und sich auf seinen Auftritt einstimmte, "... die Guitarra Flamenca hatte sich unter dem Einfluss der klassischen Gitarre vom reinen Begleitinstrument zum Soloinstrument entwickelt und hat dadurch den Flamenco selbst sehr viel reicher gemacht. Aber im Gegensatz zur klassischen Gitarre ist das Solo der Guitarra Flamenca immer dem ganzen untergeordnet. Perfektioniertes Spiel und Virtuositaet um ihrer selbst willen sind in der Guitarra Flamenca nie vorhanden - oder sollten es jedenfalls nicht sein."
Der Gitarrist begann ganz leise, schlug und zupfte die Saiten und streichelte sie. Es war wirklich so, als druecke er sein Instrument wie einen Frauenkoerper an sich, den er sanft, verstaendnisvoll, kenntnisreich und zaertlich beruehrte. Er baute mit seiner Musik eine Landschaft darauf auf, Wiesen, Huegel, Berge - nichts schroffes -, einen Quellbach, der hell perlend herabsprang, einen durchsichtig blauen Himmel und traege fette Wolken. Er liess Tiere an dem Quellbach trinken und Voegel durch die Luefte fliegen. Er hielt die Augen geschlossen, atmete ganz tief und genoss die inneren Bilder, die in ihm durch diese wunderbare Musik entstan-den. Ja, Flamenco ist keine Folklore. Flamenco ist Kunst. Flamenco ist Therapie.
Das Publikum war begeistert. Und die Begeisterung nahm im Lauf der Nacht noch zu. Es war ein Funke von der Flamencogruppe auf das Publikum uebergesprun-gen und vom Publikum wieder zurueckgeflogen an die Akteure, durch Anteilnahme und Compassion, durch Begeisterung und Beifall. Es wurde immer weiter gesungen, getanzt und gespielt: in unterschiedlichen Paarungen, in unterschiedlichen Gruppierungen, zu zweit, manchmal im Quartett, manchmal die ganze Gruppe. Und als zwischen ein und zwei Uhr die letzten Touristen gegangen waren, rueckten die verbliebenen Gaeste weiter vor zur Buehne. So wurde der Kontakt noch persoenlicher und noch enger, und es ging noch einmal los, mit neuer Freude, neuer Energie und mit neuer Lust.
War vielleicht waehrend dieser Juerga in einer Altstadtgasse von Barcelona doch zu etwas wie einem Duende gekommen?
"Wer weiss das schon?", bemerkte der freundliche Alte verschmitzt, als sie gegen fuenf Uhr morgens muede, aber beschwingt, hinaustraten - hinaus in den fruehen und frischen Morgen, der ueber der Stadt lag.


Corrida, o le!



Natuerlich hatte er schon Bilder, Fotos, von Stierkaempfen gesehen. Und er hatte Jahre vorher in Hemingways Tod am Nachmittag hineingelesen - ohne davon sonderlich beeindruckt gewesen zu sein. Er wusste - was nicht allzu viele wissen -, dass Rainer Maria Rilke im Jahr 1907 ein Gedicht ueber den Stierkampf geschrieben hatte. Er hatte es zufaellig in der Gesamtausgabe entdeckt, die er sich als post-pubertaerer Rilke-Verehrer angeschafft hatte. Und er kannte Stierkampf-Darstellungen aus einem Buch mit Goyas grafischem Werk sowie einige von Picassos Zeichnungen zum gleichen Thema. Eine recht kuenstlerisch-kuenstliche Annaeherung also an dieses uralte Ritual, das im Verlauf seiner Entwicklung eine formale und regelgemaesse Ausformung erfahren hat und das eigenartigerweise fast nur in der spanischsprechenden Welt ueberlebte. Und in einer unblutigen Form in Portugal.
Er hatte sich entschlossen, in Barcelona eine Corrida zu besuchen, wo doch in dieser Stadt die zweitgroesste Arena des Landes steht. Sie verfuegt ueber 22000 Sitzplaetze. Die Arena von Madrid ist noch groesser, sie hat 26000 Sitzplaetze. Der hilfreiche Portier seines Katzenhotels war so liebenswuerdig gewesen und hatte ihm eine gute Karte fuer die Corrida am folgenden Sonntag besorgt. 17 Uhr, Sombra, im Schatten. Nicht Sol, in der Sonne, und auch nicht Sombra y Sol, Plaetze also, die waehrend der Kaempfe teils in der Sonne, teils im Schatten lagen. Einen schoenen Sperrsitz hatte er, ziemlich weit vorne und im Schatten. Auch deshalb dort, weil viele der Aktionen der Toreros in diese Richtung vorgetragen werden, eben weil da die Leute sitzen, die zehnmal soviel fier ihren Platz bezahlen wie die anderen, auf der heissen Sonnenseite. Weil sich da auch die Praesidentenloge befindet und weil hier meistens die Freundinnen und Freunde des Matadors sitzen. Also Gruende genug.
Am Placa Monumental, an der Gran Via de les Cortes Catalanes gelegen, befinden sich die Arena und auch das Stierkampf-Museum. Wie bei jedem grossen Kampf waren sechs Stiere aus- und den Toreros zugewaehlt worden, und diese wurden, zusammen mit den Namen der Zuechter, auf den farbenfrohen Plakaten angekuendigt. Die Namen von drei Matadoren wurden genannt. In grossen, eindringlichen Lettern. Er kannte selbstverstaendlich keinen davon.
Etwas linkisch fuehlte er sich, als er vor der Arena eintraf. Er beobachtete die vielen Maenner, die suchend umhergingen und nach Freunden Ausschau hielten oder sich bereits angeregt mit Freunden und Bekannten unterhielten. Einzelgaenger, wie er einer war, sah er selten in der Menge. Deshalb fuehlte er sich auch ein wenig unsicher.
Ein etwas kurz geratener, dafuer umso beleibterer Mann, in Anzug, Krawatte und mit Hut, fiel ihm auf. In der Haltung eines Matadors wollte er einem Bekannten offenbar vormachen, wie bei einem ganz bestimmten Kampf der Matador haette vorgehen muessen, um den Stier bereits beim ersten Mal toeten haette koennen. Nicht erst beim zweiten oder dritten Mal. Er richtete sich auf, versuchte, seinen umfangreichen Bauch einzuziehen, taenzelte, legte mehrere kurze Schrittchen ein, trippelte auf den Zehenspitzen, hatte den Stier, die Bestie, vor sich und den Degen zum entscheidenden Stoss in der erhobenen Rechten. Trotz seiner Beleibtheit aufgerichtet, angespannt, den imaginaeren Stier fixierend - so stand er fuer einen Moment in atemloser Konzentration. Der Schweiss lief in schmalen Streifen unter dem Hut hervor und ihm ueber das Gesicht. Auch andere blieben stehen, schmunzelten, lachten, riefen dem Dicken etwas zu. Der rief zurueck - das ging Schlag auf Schlag. Und zum Schluss gab es ein grosses Gelaechter.
Es wurde Zeit, dass er seinen Platz im grossen Rund der Arena suchte. War er erst von der Architektur fasziniert, den vielen Menschen, der so stark maennlich dominierten Atmosphaere, spuerte er dann, wie sein Koerper in eine eigenartige Spannung verfiel, wie seine Haut zu jucken begann und die Haare wie elektrisch geladen erschienen. Da begann die Kapelle auch schon mit der Musik. Etwas schraeg klang das, mit viel Blech - heiter und melancholisch zugleich. Wie in einem kleinen Wanderzirkus auf einem Jahrmarkt. Pasodobles. Musik der Angst? Musik von Triumph und Tod?
Der Matador, der Held, der Chef, der Toeter, betrat - von einem Pasodoble begleitet - die Arena. Zusammen mit seiner Mannschaft, seinen Mitarbeitern: den Pikadores, den Banderilleros, den Toreros. Mit Ausnahme der Pikadores waren das alles eher kleine und sehr schlanke Maenner, in fabenpraechtigen, wertvollen Anzuegen, in Prunkjacken und mit Prunkcapas, die sie gleich auf der Barriere ablegen wuerden. Erst der Gruss hinauf zur Paesidentenloge, dann zu den Freunden, Freundinnen und Goennern. Das spanische Publikum verfolgte jede Bewegung und versuchte erste Eindruecke fuer aktuelle Einschaetzungen zu gewinnen, versuchte herauszufinden, wie der gleich beginnende erste Kampf wohl werden wuerde.
Der Pr¦sident warf einem der Alguacil, das sind Gerichtsdiener, einen Schluessel zu, der ihn mit einem Hut zu fangen suchte. Mit dem Schluessel schloss er symbolisch das auf der gegenueberliegenden Seite in der prallen Sonne liegende Tor auf, das Tor der Angst.
Das massive Holztor wurde aufgerissen und herausgestuermt kam der Stier, der Toro. Im Nacken das Faehnchen mit den Farben seines Zuechters. Ein Schrei ging durch die Arena. Was fuer ein prachtvolles Tier: ein schlanker, schwarzer Koerper, besonders der hintere Ruecken wirkte geradezu elegant, kraeftige Muskeln am Oberkoerper und eine ungeheure Nackenmuskulatur. Fast fuenfhundert Kilogramm gespannter Beweglichkeit und Muskelkraft in Verbindung mit ausgepraegter Intelligenz und angezuechtetem Mut - eine einzige Kampfmaschine. Den Schaedel stolz aufgerichtet, geblendet von der grellen Sonne und irritiert von dem Geschrei der Menge stand er da und orientierte sich nervoes nach allen Seiten.
In diesem Moment trat der Matador hinter der Bande hervor - nunmehr in eine weit weniger kostbare Jacke gegekleidet als jene, die er beim Betreten der Arena getragen hatte, sein Kampf-Anzug, die Kampf-Capa ueber den Arm gelegt. Durch heftige Bewegungen und laute, hoehnisch wirkende Schreie, machte den Stier auf sich aufmerksam. Der Stier erkannte sein Gegenueber und wandte sich ihm zu. Der Kampf begann.
Er verfolgte gebannt die eleganten Bewegungen, die Figuren mit dem rosa Tuch, der Capa, er pfiff und schimpfte wie die Spanier, als der Pikador auf dem gepolsterten Pferd mit seiner Lanze viel zu lange und zu heftig und immer wieder in den Nackenmuskel des Stieres stiess, um ihn moeglichst viel Blut verlieren zu lassen. Er war hingerissen von dem Mut und der Beweglichkeit der Toreros und des Matadors, wie sie dem Stier die farbigen, aber messerscharfen Banderillas in Nacken und Ruecken setzten, und er hielt den Atem an, als der Matador versuchte, den Stier mit Hilfe der Muleta so in Stellung zu bringen, dass er ihn mit einem einzigen Degenstoss in eine bestimmte Stelle des Nackenmuskels, hinab zur Hauptschlagader, toeten konnte. Er war wie besessen von dem Schauspiel, der Schweiss lief ihm den Koerper hinab und zwischendurch erschien es ihm, als wuerde er selbst in der Arena stehen und kaempfen.
Erschoepft und betaeubt verliess er nach sechs Kaempfen mit den Zuschauern die Arena.
Das waren die erste Stierkaempfe, den er in seinem Leben sah, und es war der Beginn einer Leidenschaft, die ihn eine zeitlang immer wieder in Atem hielt.


Tarragona - Balkon des Mittelmeers



Schon in praehistorischer Zeit besiedelt, von Iberern bewohnt, von den Karthagern als wichtiger Handelsplatz befestigt, wurde Tarragona von den Roemern erobert und zur bedeutendsten Stadt der Iberischen Halbinsel und zur Hauptstadt der groessten roemischen Provinz in Spanien ausgebaut. Tarraco, wie sie von den Roemern genannt wurde, verlieh der roemischen „Provincia Tarraconensis“ ihren Namen, und die Buerger Tarragonas hatten die gleichen Rechte wie die Buerger Roms – was fuer ein Privileg. Schon damals - ca. 25 v.u.Z. - soll sie eine Million Einwohner gehabt haben, und die bebaute Flaeche der Stadt soll zehnmal so gross gewesen sein, wie zweitausend Jahre danach.
Spaeter wurde Tarragona von den Westgoten und den Mauren zerstoert, von den Normannen wieder aufgebaut und besiedelt und abermals von den Mauren zerstoert. Eine weitere Zerstoerung passierte 1813 waehrend des Spanischen Unabhaengigkeitskrieges. Dann, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, wurde die Stadt abermals aufgebaut und neu besiedelt.
Von all dem bemerkte er jetzt nicht viel. Er hatte sich ein angenehmes Zimmer genommen und genoss die Ruhe und die Uebersichtlichkeit dieser Stadt, die die Kraft der Antike mit dem Charme des 19. Jahrhunderts zu verbinden schien. Die Menschen waren weniger laut und weniger hektisch als die in Barcelona. Die Wege zwischen Hafen, Strand, den antiken Mauern, der gothischen Kathedrale, dem Archaeologischen Museum und dem Aequadukt vor der Stadt waren nicht weit und nicht ueberfuellt.
Er litt noch immer an den Folgen seines Unfalls. Wenn er - verpflastert und mit steifem Bein - durch die Strassen humpelte, zog er die Blicke von Passanten auf sich - haeufiger als ihm lieb war. Trotzdem erschien ihm die Stadt weniger anstrengend. Das Beschauliche, im Grunde Provinzielle, machte sie so anziehend, dass er beschloss, einige Tage zu bleiben.
Er interessierte sich fuer die Sehenswuerdigkeiten der Stadt, aber haeufig zog es ihn hinunter zu dem wuseligen Treiben im Hafen, wo er das Ent- und Beladen der Schiffe beobachtete, oder er humpelte weiter zum nur noch wenig belebten Strand, setzte sich so, dass ihm die Sonne ins Gesicht schien, liess den feinen Sand durch seine Finger rieseln und genoss die Luft und den Ausblick aufs Meer. Schon lange nicht mehr hatte er sich so entspannt und zufrieden gefuehlt. Einfach einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen …
An einem Abend suchte er nach einem Lokal. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen, sein Bein schmerzte, und er hatte Hunger. Nun war er in der Altstadt, nicht weit von der Kathedrale entfernt, und er suchte nach einer Gelegenheit, sich bequem hinzusetzen und ausruhen zu koennen. Aus einem Keller hoerte er Musik und Stimmen. Beim Naeherkommen entdeckte er eine Bodega, gut versteckt in einem alten Kellergewoelbe. Er konnte nicht viel erkennen, aber er hoerte weiche Gitarrentoene, und der Duft kraeftig gewuerzten Essens liess ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Er raffte sich auf und humpelte die ausgetretenen Steinstufen hinunter, oeffnete die Tuere und stand in einem hohen, hoehlenartigen Raum. Die Waende und die Decke waren aus behauenen Steinen gefuegt. Mehrere Saeulen mit schoen gearbeitete Kapitellen nahmen die Last des Tonnengewoelbes auf. Rechts stand ein langer Tresen, dort wurden Bier gezapft und Wein ausgeschenkt. Kleine Schuesselchen mit Tapas standen auf den Tischen bereit. Dahinter befand sich die Kueche. Sie war nicht besonders gross. Die Gaeste kamen wohl in erster Linie zum Trinken hierher. Er gab eine Bestellung auf, nachdem er sich fuer einen kleinen Tisch entschieden hatte. Von dem aus konnte er das Lokal gut ueberblicken. Er wollte etwas essen und trinken und er wollte schauen und hoeren und beobachten.
Nur der Wirt und eine Gruppe junger Gitanos waren im Raum. Die jungen Maenner waren auffallend gut gekleidet. Alle trugen Anzuege und weisse Hemden, die bis weit aufgeknoepft waren. Einige trugen schwere Goldkettchen um Hals und Handgelenke. Sie alle waren um die zwanzig, waren aufgekratzt, neckten sich gegenseitig, lachten und hatten Spass miteinander. Die Musik, die er oben auf der Strasse gehoert hatte, kam von einem Plattenspieler, aber von Zeit zu Zeit sangen einige der Gitanos mit, oder einer von ihnen griff sich eine Gitarre von der Wand und begleitete darauf die Musik aus dem Lautsprecher.
Nachdem er mit dem Essen fertig war, stellte er sich an den Tresen und lud die jungen Gitanos ein, etwas mit ihm zu trinken. Er wollte mit ihnen ins Gespraech kommen. Und schnell verstand er ihre gute Laune: sie waren mit einer Gruppe Maedchen aus England verabredet, jungen Frauen, die den Sommer ueber in Tarragona lebten und mit denen sie sich angefreundet hatten. Nun hofften sie ungeduldig darauf, die eine oder andere bald ins Bett zu bekommen. Die Maedchen wuerden erst sehr spaet aufstehen, dann miteinander zum Strand gehen und erst spaet am Abend in die Bodega kommen. Fuer sie, die Gitanos, waere das etwas anstrengend, denn sie haetten alle am Vormittag schon etwas zu arbeiten, mussten also schon frueh wieder raus. Aber trotzdem wuerde das Warten Spass machen. Und diese weisshaeutigen Englaenderinnen - wer weiss, vielleicht wuerde sich das Warten wirklich lohnen.
Kaum waren sie an diesem Punkt ihres Gespraechs angelangt, oeffnete sich die Tuere und herein kam eine Gruppe ziemlich durchschnittlich aussehender Maedchen um die zwanzig. Hergerichtet zum Ausgehen, kichernd, selbstbewusst, unsicher, aber geborgen in ihrer Clique. Die beiden Gruppen - die jungen Maenner und die jungen Frauen - bewegten sich aufeinander zu wie Schueler eines Knaben- und Schuelerinnen eines Maedcheninternates. Voller Freude aufeinander, voller stummer Beobachtung, voller Erwartung, voller Angst vor einer Enttaeuschung. Aber die Maedchen aus London und die Gitanos kannten sich bereits, und so war der Umgang miteinander schnell entspannt und geloest. Sie fingen an, miteinander zu albern, die Herren luden die Damen ganz gentlemanlike zu Drinks ein. Und sie kicherten und lachten ohne Ende.
Er sass wieder an seinem kleinen massiven Holztisch und beobachtete die Szene. Er war ein klein wenig neidig und eifersuechtig. Er fuehlte sich ausgeschlossen von den Flirts, von der Heiterkeit und dem von dem Gelaechter. Wie gerne haette er in diesem Moment dazugehoert. Und wie albern erschien ihm gleichzeitig dieses Gekichere und Gegackere. Wie ein Klassentreffen. Sagte er zu sich selbst.
Eine der jungen Frauen war ihm von Anfang an aufgefallen. Sie war gross, nicht uebermaessig schlank, hatte ein flaechiges Gesicht, schulterlange, dunkelblonde Haare und eine von der spanischen Sonne leicht gebraeunte Haut - eine sympathische und sinnliche Erscheinung. Aber wirklich auffallend waren ihre Augen, ihr Laecheln und ihr Lachen.
Ihre Augen - wenn es stimmt, dass die Augen der Spiegel der Seele sind - offenbarten eine zarte und reine Seele, frei von schlechten Gedanken und boesen Absichten. Sie zeigten aber auch die Verletzbarkeit dieser Seele und ihre Angst vor eben solchen Verletzungen. Heiterkeit und Intelligenz, Lebensfreude und Unsicherheit, Naivitaet und Zuneigung, Sinnlichkeit und Erotik. All das stroemte aus diesen wundervollen Blicken.
Beim Laecheln hob sie den Kopf, schuettelte ihn ein wenig, so dass ihre fuelligen Haare in Bewegung kamen. Auf diese Weise bot sie ihrem Gegenueber den heiteren Blick, das laechelnde Gesicht, die erwartungsfrohe Haltung, so, als wollte sie dazu auffordern, genauso offen und heiter zurueckzulaecheln.
Zwischendurch lachte sie. Dabei oeffnete sich ihr Mund. Ihre grossen weissen Zaehne wurden sichtbar und die Spitze ihrer feucht glaenzenden Zunge. Dann warf sie den Kopf ganz nach hinten, die Haare bauschten sich, ihr Koerper kam in Bewegung. Nicht uebertrieben. Nicht konvulsiv. Aber von tief innen bahnte sich ein kraeftiger Ton seinen Weg und ueberschuettete alle mit dem weichen, vollen, warmen, erotischen Klang ihres Lachens.
Gebannt sass er da und beobachtete sie. Natuerlich war sie mit Manuel zusammen, dem bestaussehenden und maennlichsten der Zigeuner. Die beiden gaben ein schoenes Paar ab. Sie unterhielten sich. Die junge Englaenderin sprach fliessend Spanisch und es war zu merken, dass beide gerne und gerne intensiv miteinander redeten. Offenbar war er jetzt zum Thema ihrer Unterhaltung geworden. Die beiden blickten mehrmals zu ihm hinueber, der junge Mann erklaerte, deutete. Ihm hatte er, so gut das sprachlich moeglich war, von seinem Unfall erzaehlt und damit das allgemeine Interesse auf sich gezogen. Durch diese Anteilnahme ermutigt, stand er auf und ging zu den beiden hinueber. Sie lehnten am Tresen, wo sie ihre Glaeser stehen hatte. Er stellte sich ihr vor. Sie hiess Elizabeth. Manuel, den Gitano, kannte er schon mit Namen.
Die Englaenderin und der Spanier hatten sich im zurueckliegenden Jahr in Tarragona kennengelernt und angefreundet. In diesem Jahr hatten sie ihre Freundschaft wieder aufgenommen und vertieft. Die Maedchen kamen aus Suedengland, die meisten aus London oder einem der Vororte der Hauptstadt. Sie hatten sich entschlossen, im Winter bei Zeitarbeit-Firmen irgendeinen besser bezahlten Buerojob zu machen und das Halbjahr vom Fruehsommer bis zum Spaetherbst an der spanischen Mittelmeerkueste zu verbringen. Zusammen hatten sie in Tarragona eine grosse moeblierte Wohnung gemietet. Der Komfort sei nicht gross, aber die Miete erschwinglich und sie konnten sich dort selbst kleine Mahlzeiten bereiten, was ihren schmalen Budgets nur gut tat. Ausserdem hatten sie eine sturmfreie Bude. Fuer die sieben jungen Frauen offenbar ein Wert an sich.
Es war Elizabeths dritter Sommer in Spanien, ihr zweiter in Tarragona. Wie sie sagte, liebte sie die Stadt, den Hafen und den Strand und sie mochte Manuel gerne - ihn und seine Freunde. Ueberhaupt sei es fuer sie ein besonderer Kitzel, mit echten Zigeunern befreundet zu sein. Das war exotisch. Das war ausserhalb der Reihe. Das war etwas, worauf sie sich etwas einbildete. Elizabeth selbst kam aus Richmond in Surrey. Sie hatte ihre Hochschulreife in der Tasche, war aber voellig unentschlossen, welchen weiteren Weg sie einschlagen sollte. Irgendetwas mit Sprachen vielleicht. Sie genoss ihre Aufenthalte in Spanien, das unbeschwerte Zusammensein mit ihren Freundinnen und das Kribbeln, das ueber sie gekommen war, als sie feststellte, dass sie von Manuel, diesem gut aussehenden und feurigen Gitano, verehrt und begehrt wurde.
Elizabeth loeste die entstandene leichte Spannung in der Dreierkonstellation auf und bezog sich wieder staerker auf die Gruppe ihrer Freundinnen und Freunde, und bald hatten sie alle miteinander viel Spass und lachten viel - ihn mit eingeschlossen. Sie wirkten ausgelassen und ueberdreht und tranken und lachten. Unter den Tischen aber lauerten das Krokodil Erotik und das Krokodil Begehren, schweigend zwar und noch zurueckhaltend, aber immer hellwach und auf der Lauer, bis sich der neue Tag bereits grau am Himmel ankuendigte. Frueh am Morgen verabredeten sie ein neues Treffen fuer den folgenden Abend und verabschiedeten sich voneinander.
Und so vergingen die Tage. Er uebernahm wie selbstverstaendlich den Tagesablauf der jungen Frauen aus England: er schlief bis in den Vormittag hinein, machte kleinere oder groessere Ausfluege in die Umgebung. Den spaeteren Nachmittag verbrachte er am Strand, schrieb ein wenig, las ein wenig in einem der Buecher, die er dabei hatte und die den Unfall schadlos ueberstanden hatten. Und er dachte an sie. Er hielt Ausschau nach den Maedchen, genauer nach Elizabeth, die er gerne einmal alleine getroffen und alleine gesprochen haette. Seit dem ersten Augenblick ihrer Begegnung war sie nicht mehr aus seinen Gedanken verschwunden. Er fand sie anziehend und er erlebte sich stark zu ihr hingezogen. Es schien aber aussichtslos, ihr tagsueber zu begegnen, und so musste er den Abend und die Nacht abwarten, wo sich alle wieder in der Keller-Bodega trafen.
Dann ereignete sich doch, was er sich erhofft hatte: im Park um die Zyklopenmauer traf er auf sie. Sie freuten sich ueber dieses Zusammentreffen und verstrickten sich augenblicklich in ein heiteres, ernstes, beliebiges, intimes, absichtsloses und doch voller Absicht gefuehrtes Gespraech. Sie gaben Auskunft ueber sich selbst und legten ihrer Neugierde keine Zurueckhaltung auf. Es war wie das Kinderspiel: Ich liebe Griessbrei - was magst du am liebsten? Sie wusste viel von Spanien, von seinen Menschen, seiner Geschichte, seiner Kunst und Literatur. Sie hatte offenbar bereits eine ganze Menge Bilder spanischer Maler gesehen - allerdings nicht im Original, sondern als Reproduktionen in Kunstmappen und in Kunstbuechern.
Ueberhaupt Buecher. Als sie darauf zu sprechen kamen, bluehte sie noch mehr auf, erzaehlte von ihren Lieblingsautoren und ihren Lieblingsbuechern. Als er ihr erzaehlte, dass er beruflich mit Buechern zu tun habe, fand sie das beneidenswert. Und als er ihr davon berichtete, dass er in den naechsten Tagen nach Madrid fahren wuerde, vor allem um sich Velasquez, Goya und Bosch im Prado anzuschauen, wollte sie am liebsten mitkommen. Er hielt kurz den Atem an. Ihm wurde heiss. Doch dann hatte sie sich wieder ganz unter Kontrolle und bat ihn, ihr hinterher von seinen Madrid-Erlebnissen zu erzaehlen.
Das Eis war gebrochen. Kurze Zeit spaeter verabschiedeten sie sich voneinander. Er kuesste sie auf beide Wangen. Mehr zu tun haette er sich nicht getraut. Er gluehte. Und er schwebte. Sie hatten die ganze Zeit Englisch miteinander gesprochen, und er fand es einfach, auch schwierigere Dinge auf Englisch auszudruecken, befluegelt von dem Wunsch, ihr naeher zu kommen und mit ihr moeglichst viele Gemeinsamkeiten zu entdecken.
Ein zweites Treffen ergab sich vor seiner Abreise. Er versprach, in etwa einer Woche zurueck zu sein, und gut gelaunt spendierte er einige Runden. Alle tranken, Manuel spielte auf der Gitarre und es bildeten sich einige Paare, die in langsamem Tempo miteinander tanzten. Er haette Elizabeth gerne zum Tanz aufgefordert, doch sie gab ihm mit den Augen ein klares Zeichen, dies nicht zu tun. Er verstand und fuegte sich, brach aber - etwas verstimmt - bald danach auf. Er wollte sich frueh am naechsten Morgen auf den Weg machen.


1 x Madrid und zurueck

Madrid fand er heiss und ermuedend. Ein Standpunkt, den man einem Altbayern und Mitteleuropaer nachsehen kann, dehnten sich doch dort die Staedte, Doerfer, Burgen und Schloesser an Fluessen oder Seen aus, zumindest aber an Kreuzungen wichtiger Verkehrswege inmitten gruener Landschaften. Madrid aber wirkte auf ihn wie eine kuenstlich am Leben erhaltene Oase inmitten der steinigen, ausgedoerrten und staubigen Wueste der kastilianischen Hochebene.
Der Verkehr und die Betriebsamkeit der Menschen in der Hauptstadt, ihre Lautstaerke und ihre ausgestellte Kraft und ihr wie eine Fahne vorangetragener Stolz wirkten auf ihn wie das unentwegte Anleben gegen die Macht der Wueste vor den Toren der Stadt, gegen die leisen, aber bestaendig wirkenden schleifenden Kraefte des Sandes: der Mensch siedelt nach vorne, und wenn er hinten nicht aufpasst, deckt die Natur alles wieder zu.
Madrid empfand er auch als protzig. Natuerlich war es ueber Jahrhunderte hinweg – trotz der Kuestenferne - ein Zentrum der Seefahrt und ihrer Entdeckungen, ein Zentrum des Welthandels, der Eroberungskriege, des Kolonialismus, der Ausbeutung. Es war schliesslich Karl V., spanischer Koenig und Kaiser des Heiligen Roemischen Reiches, der behauptete, dass in seinem Reich die Sonne niemals unterginge. Und alles unter dem Schutz und mit der Unterstuetzung des Heiligen Stuhls in Rom. Erzkatholisch waren die spanischen Koeniginnen und Koenige und der spanische Adel; das spanische Koenigshaus trug das Katholische sogar in seinem Titel. Im katholischen Spanien nahm die Inquisition ihren Anfang, die Hexenverbrennungen und die Pogrome gegen Juden und Zigeuner. Gut katholisch waren auch die Faschisten unter Franco noch, die Francisten.
Und all dies stellte die Stadt auch jetzt noch zur Schau. Auf jeden Fall sah er es so: die breiten Strassen, die unendlich weiten Plaetze, das Fehlen menschlichen Masses, menschlicher Proportionen. Nein, da war er sich ganz sicher: mit dieser Herrschaftsarchitektur sollte der einzelne Mensch klein und unbedeutend gehalten werden, sie sollte ihn einschuechtern. Das Reich, der Thron, die absolutistischen Herrscher drueckten sich so in ihrer Hauptstadt aus. Grosse Fassaden. Und dahinter? Das stetige Mahlen des Sandes vom kastilischen Hochland?
Wie anders hatte er Barcelona erlebt. Die katalanische Hauptstadt in ihrer Heiterkeit und Menschlichkeit, trotz Katholizismus und francistischer Kontrolle und der Bevormundung durch die Zentralregierung in Madrid. Ja, Barcelona war vielfaeltig, liberal und lebendig. Madrid im Vergleich dazu war einfach nur staatstragend. Katalonien und Kastilien, das ist wie Bayern und Preussen, dachte er und mermelte vor sich hin.
Auch wenn es komisch klingen mag: nicht Madrids wegen war er nach Madrid gekommen, sondern wegen des Prado-Museums, des Flamencos und des Stierkampfes. Im Prado wollte er die Werke von Bosch,Velasquez und Goya im Original sehen und sich intensiv damit auseinandersetzen, und dann wollte er herausfinden, ob die Madrider Clubs wirklich besseren Flamenco boten als die von Barcelona - wie der Alte kuerzlich so selbstsicher behauptete, und ebenso ging es ihm mit einer Corrida, die er am folgenden Sonntag in der Arena von Madrid besuchen wollte. Alles andere in und um Madrid war ihm eher gleichgueltig - er hatte nicht vor, eine Sightseeing Tour durch die spanische Hauptstadt zu machen, voreingenommen, wie er war. Und dann wollte er schleunigst zurueckkehren nach Tarragona. Elizabeths wegen.
Er begann mit dem Prado. Aufgeregt und neugierig suchte er dieses Weltmuseum auf, ausgeruestet mit einem kleinen Katalog, seinem Skizzenbuch und der festen Absicht, sein insgeheimes Vorhaben zu verwirklichen. Was fuer ein Vorhaben? Er konnte es selbst nicht genau erklaeren, wann und wo ihm erstmals der Gedanke eingefluestert wurde, darueber zu entscheiden, welcher der vier grossen spanischen Maler der bessere sei: El Greco - obwohl auf Kreta geboren, gilt er doch ueberall als spanischer Meister -, Murillo, Velasquez oder Goya. Eine verrueckte Idee, ohne Sinn und Verstand eigentlich und fuer niemanden von Interesse - wie sollte man auch Aepfel mit Birnen vergleichen?
Aber er wusste aus der Lektuere, wie oft sich Goya auf Velasquez bezogen hatte und wie sehr er ihn als den Meister und als sein grosses Vorbild betrachtet hatte und wie sehr es ihn danach draengte, das grosse und erfolgreiche Vorbild zu ueberwinden und besser zu malen als Velasquez. Wettbewerb und Konkurrenz ueberall und zu allen Zeiten - warum also nicht den spanischen Meistermaler - oder Malermeister - aller Klassen ermitteln? The Spanish Champion in Oil on Canvas; Vinegar and Oil; in Pastels.
Velasquez hatte bereits als junger Mann eine glaenzende Karriere gemacht: Als Vierundzwanzigjaehriger wurde er von Sevilla an den Hof nach Madrid berufen, bald darauf war Hofmaler und spaeter Kammerherr.1629 bis 1631 machte er eine Studienreise nach Italien. Dort studierte er Caravaggio, Tizian und Tintoretto. Auf einer zweiten Italienreise 1649 bis 1651 portraetierte er Papst Innozenz X.
Das gewaltige Bild Las Menias - die Infantin Margerita mit ihrem Gefolge, mit Selbstportraet Velasquez’ war ausgestellt, das Fest des Bacchus, verschiedene Portraets und Ganz- oder Halbdarstellungen von Mitgliedern der koeniglichen Familie, auch zu Pferd oder als Jaeger kostuemiert, die Uebergabe von Breda - das monumentale Bild, das eigentlich fuer das Koenigsschloss Buen Retire bestimmt war, die Bilder Apollo in der Schmiede des Vulkan, der Hofnarr Sebastiaen de Morra und der Garten der Villa Medici in Rom.
Er war begeistert. Er untersuchte die Kompositionen, machte sich Skizzen dazu, las entsprechende Textstellen in einem kleinen Handbuch nach, liess die raffinierten Farbzusammenstellungen auf sich wirken und die Effekte, die immer kuehler und distanzierter ausfielen, je aelter der Maler wurde. Ueberhaupt schien es ihm, dass Velasquez ab einem nicht genau zu fixierenden Zeitpunkt nur noch der Farben wegen malte, besser, der Farbigkeit wegen, und nicht mehr der Formen halber oder der dargestellten Personen, Tiere, Pflanzen, Landschaften oder Gegenstaende wegen. Licht und Farben waren zum Ende seines Lebens ins Zentrum seines Schaffens gerueckt. Sie waren ihm wahrscheinlich das einzig wirklich Wichtige geworden, und es ist kein Wunder, dass die franzoesischen Impressionisten des 19. Jahrhunderts Velasquez hoeher stellten als jeden anderen Maler.
Er berauschte sich an der Delikatesse und Raffinesse, mit der Velasquez ein Stueck Seidenstoff malen konnte, die Oberflaeche eines glasierten oder eines unglasierten Keramiktopfes mit malerischen Mitteln voneinander unterschied, das Fell eines Hundes oder die Reflexe auf einem schweren Glas. Dabei liess er eine ganze Menge aus, er malte die einzelnen Details gar nicht mehr, sondern rechnete mit dem Funktionieren des menschlichen Auges und des Gehirns, so dass diese, gewitzt und geschaerft durch ihre eigenen Erfahrungen, das Fehlende schlichtweg komplettieren und auf diese Weise zu einem aeusserst natuerlichen Gesamteindruck gelangen. Cezannes unvollendete Bilder lassen gruessen!
Noch einmal und noch einmal betrachtete er die Bilder des Diego Velasquez. Er rannte buchstaeblich hin und her zwischen den Saelen, verglich, ging ganz nahe an die Leinwaende heran, so dass bald das Museumspersonal auf ihn aufmerksam wurde und ihn genau beobachtete, er ging nahe auf die Leinwaende heran und betrachtete die Malstrukturen, die Pinselfuehrung, den Farbauftrag und die im Alter immer aquarellhaftere Maltechnik des Meisters. Licht und Farbe. Mit diesem Eindruck ging er etwas ermattet, aber erfuellt und gluecklich ins Museumscafe und vervollstaendigte seine Notizen und erholte sich ein wenig.
Ganz anders Goya. Ein Kraftprotz. Ein Wilder. Ein Bauer. Ein Besessener. Ein Fanatiker. Der Mann mit dem Loewenkopf auf dem baeuerischen Stiernacken. Wie lange hat dieser Mann warten muessen, bis man ihn ueberhaupt als Maler akzeptierte. In sechzehn Jahren entwarf er und fuehrte er dreiundsechzig alberne Kartons fuer die Koenigliche Teppichmanufaktur aus. Dabei brannte er darauf, seinem Schwager und Goenner, dem etablierten Hofmaler Franciso Beyeu, und der ganzen Malergilde und der ganzen Welt zu beweisen, was alles in ihm steckte. Und ein Weiberheld war er. Auch in diesem Punkt war Goya wie besessen. Seine Vitalitaet, sein Ehrgeiz, sein Machismo und seine Sucht nach Selbstbestaetigung wollten immer wieder gefuettert werden, wollten immer wieder befriedigt werden. Auch suchte er bei den Frauen offenbar die Zuflucht und den Schutz vor Geistern und Daemonen, die ihn sein ganzes Leben lang ueberfielen und beherrschten und von deren dunklen Kraeften und Machenschaften er wohl mehr wusste als die gesamte unmenschliche Inquisition seiner Tage. Ja, waehrend in Frankreich die Revolution die Regenten guillotinierte, fanden in Spanien - mit dem ausdruecklichen Einverstaendnis des Heiligen Stuhls und der Duldung der Katholischen Majestaeten - Prozesse der Inquisition statt, die alle entweder mit Haft, Vertreibung oder Hinrichtung endeten.
Mit sechsundvierzig Jahren verlor Goya infolge einer schweren Krankheit sein Gehoer. Der Taube nannten sie ihn fortan. Da war er gerade drei Jahre Hofmaler, aber drei Jahre nach seiner Taubheit wurde er Akademiedirektor und sieben Jahre spaeter Erster Hofmaler unter Karl IV. und seiner Frau Luisa, einer geborenen Herzogin von Parma. Sechsunddreissig Jahre nach dem Verlust seines Gehoers, zweiundachtzigjaehrig, starb Goya im franzoesischen Bordeaux, im Exil also, in das er 1824 freiwillig gegangen war, als das politische Klima in Spanien nach der Thronbesteigung durch Ferdinand VII. noch bedrueckender und fuer liberale Koepfe noch gefaehrlicher geworden war.
Und diesem Hof war 1789 der gierige Mann aus der Provinz - protegiert von seinem ewig anweisenden, kontrollierenden, zurechtweisenden und diplomatisch-vorsichtigen Schwager Francisco Bayeu - begegnete als der Portrait-Maler; als Maler von Portraits, wie sie von Hof und Adel immer wieder in unregelmaessiger Folge als freie Auftraege vergeben wurden - Bilder fuer die Familienalben sozusagen. Erinnerungsstuecke.
Und Goya portraitierte sie so, wie er sie sah: eine geile Bande vergnuegungssuechtiger Potentaten, die sich in die Betten holten, was sie kriegen wollten und was sie kriegen konnten. Verschwendungssuechtig, luestern, machtgeil, bigott, nicht dem Volk verpflichtet, sondern nur sich selbst und dem eigenen Klan. Jede notwendige und moegliche Neuerung in Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Handel und Wissenschaft blockierend, sofern auch nur der Hauch eines Verdachtes bestand - begruendet oder nicht -, dass das die Macht und die Tagesertraege des spanischen Hofes und seines Adels schmaelern koennte.
Nicht, dass er sie haesslicher malte, als sie waren. Aber er schoente sie auch nicht. Die Bilder wirkten auf den ersten Blick repraesentabel. Materialien, Kleider, Uniformen, Orden und Schaerpen, Tiere und Landschaften im Hintergrund waren mit grosser Gewandtheit und Eleganz gemalt. Aber die Portraits, die Gesichter selbst! Wohl nie hat ein Hofmaler seinen Auftraggebern so aussagestarke, durchdringende, schonungslos offene und damit enthuellende Portraits abgeliefert, wie Goya das tat. Manches Mal erinnerten sie fast an Karikaturen.
Das eindrucksvollste dieser Bilder ist das grossformatige Karl IV. und seine Familie: Der etwas duemmliche und gemuetliche Karl, feist, mit rotem Gesicht, stolz darauf, seine Familie um sich geschart zu haben; die alternde Koenigin Maria Luisa, die Italienerin, wie sie genannt wurde, eine scharfe Schlampe und eine ausgebuffte Politikerin mit einem Raubvogelgesicht und den stechenden Augen eines Nagetieres, zwei ihrer Soehne bei sich haltend, der eine zwoelf, der andere sechs; die Infantin Maria Luisa und ihr Saeugling, zusammen mit ihrem Mann, dem Erbprinzen von Parma; dann Don Antonio Pascual, der Bruder des Koenigs, der diesem zum Verwechseln aehnlich sieht; der sechzehnjaehrige Thronfolger Don Fernando, der spaeter als Ferdinand VII. die letztendliche Ursache fuer Goyas Weg ins franzoesische Exil sein wird; die aeltere Schwester des Koenigs, die unsaeglich haessliche Maria Josefa und zwei zum Zeitpunkt dieser durch den Maler vorgenommenen Familienaufstellung abwesende Infantinnen: Die regierende Prinzessin von Portugal und eine noch nicht endgueltig erwaehlte Gattin des Erbprinzen, eine Prinzessin von Neapel, die auf Wunsch des Koenigs so undeutlich dargestellt werden sollte, dass sich keine spezifische Portraitaehnlichkeit ergeben konnte. Ein gewaltiges Werk und wohl eines der beeindruckendsten Familienbilder der Kunstgeschichte. Uebrigens wurde Goya fuer das Bild nach Koepfen honoriert. Fuer die Abbildung der beiden abwesenden Damen gab es vereinbarungsgemaess weniger Geld.
Seiner leidenschaftlichen und verzehrenden Liebe und Verehrung zu der verwitweten Herzogin Cayetaba de Alba verlieh Goya in den beiden beruehmten Bildern Die nackte Maya und Die bekleidete Maya Ausdruck. Beide Bilder haengen im Prado. Die Darstellung eines nackten Frauenkoerpers wurde zu Goyas Zeiten von der spanischen Inquisition mit dem Tod bestraft.
In seinem malerischen und grafischen Werk setzte sich Goya immer wieder mit politischen, sozialen und klerikalen Misst¦nden in Spanien auseinander. Der Koloss ist ein Beipiel dafuer oder das erschreckende Bild Saturn verschlingt seine Kinder. Ein anderes Beispiel ist das beruehmte grossformatige Gemaelde Die Erschiessung der Aufstaendischen vom 3. Mai 1808 - ein nationaler Aufstand gegen die franzoesische Besatzungsmacht unter Napoleon I., der in Madrid seinen Ausgang nahm. Und natuerlich seine Radier- und Aquatintafolgen Los Caprichos, die 1799 zum ersten Mal veroeffentlicht wurden.
Und extremer noch durchbrach Goya den gefuegten Rahmen dessen, was ein Maler seines Ranges zu malen hatte und was nicht. In einer Mischung aus tiefenpsychologischen Phaenomenen, symbolischen und allegorischen Darstellungen sowie Maerchen, Mythen und Volkssagen setzte sich Goya intensiv - und fuer ihn sicher immer wieder ueber die eigenen Schmerzgrenzen hinaus - mit seinem Innenleben auseinander, mit Angst, Dummheit, Grausamkeit, Unterdrueckung, Schmerz, existenzieller Ohnmacht. In Bildern mit visionaerer Kraft aus albtraumhaften, rational nicht erfahrbaren Grenzbereichen zeigt er den Menschen in seiner Geworfenheit und Erbaermlichkeit.
Neben seinen strahlenden, wenn auch bissigen, hoefischen Bildern - Portraits vor allem - mit all ihrer Prachtentfaltung und ueberheblichen Selbstdarstellungslust, liess er sich hineinfuehren in seine dunklen, fast schon pathologischen Seiten, in sein Innerstes. Er stellte sich der Herausforderung und bewaeltigte sie als Maler wie als Mensch.
Er war zutiefst beruehrt: nicht nur, dass Francisco Goya ein so glaenzender Maler war, der in der Regel einfache und auf klare Wirkungen hin konzipierte Raumaufteilungen raffiniert aufgebauten Bildern vorzog. Er war ein herausragender Kolorist, der mit flinkem Pinsel die Farben so setzte, dass jede Schwere sich aufloeste, keine Konturen zu sehen waren, die ausgemalt haetten werden muessen. Wo die Farben sich aneinander stiessen, aneinander rieben, miteinander in Bewegung kamen. Wo sich Flaechen bildeten, die zu Formen wurden und diese wiederum zu Koerpern, und diese ergaben - zusammen mit dem Hintergrund - das Gesamtbild.
Aber Goya war viel mehr als nur ein glaenzender Maler. Zeitgleich David in Frankreich, der sich allerdings erst fuer die Revolution und dann fuer die Restauration einspannen liess, wahrte Goya immer den notwendigen Abstand zu den politischen Stroemungen und zu den politisch Handelnden. Vielleicht sah er die Zeitlaeufte mehr mit den Augen des Bauernburschen aus Fuendetodos, als der er aufgewachsen war und der er auf eine gewisse Weise auch blieb. Aber wie Jacque-Louis David waehrend der Franzoesischen Revolution sprengte auch Goya den Rahmen dessen, was ein Maler zu malen hatte: Heiligen- oder Andachtsbilder, Themen aus der griechischen oder der roemischen Mythologie, verehrende Darstellungen der Mitglieder des Hofes und des Adels, Landschaften als solche und Genrebilder waren fuer Goya passe. Ein neuer Zeitgeist und ein neues Selbstverstaendniss vom Menschen kam in vielen seiner Bilder zum Ausdruck. Man bedenke nur: den Tod in Kauf nehmend fuer das Malen eines Aktbildes seiner Geliebten. Was fuerr eine Hingabe.
Am liebsten haette er im Prado uebernachtet, so aufgeregt und angeregt war er von seinem ersten Besuch dort. Aber sein Kopf und sein Herz waren auch nicht weiter aufnahmefaehig und so beschloss er, Hieronymus Bosch auf den naechsten Tag zu verschieben. Murillo hatte er klammheimlich von seiner Liste gestrichen.
Am naechsten Tag machte er sich wieder auf in den Prado. Und wieder zog es ihn zu den Bildern von Velasquez. Er konnte nicht genug bekommen von den Farben, Kostuemen, den Personen, den Koepfen. Und es war wiederum Goya, der ihn besonders anzog, und wieder und wieder verglich er Velasquez’ riesige, drei Meter hohe, fast fotografisch konzipierte und komponierte Momentaufnahme Las Meninas, Die Hofdamen, auf der der Koenig und die Koenigin im Spiegel zu sehen sind, der Maler selbst sich mit Farbpalette und Pinsel in der Hand darstellt und alles sich um die kleine, niedliche Infanta Margarita zu drehen scheint - verglich er dieses in Farbharmonie schwelgende Bild mit dem nicht minder gewaltigen Familienbild ganz anderer Art: Karl IV. und seine Familie. Malerei um der Schoenheit willen und Malerei um des Ausdrucks willen stehen sich anscheinend gegenueber - Impressionismus und Expressionismus, zwei Richtungen in der Malerei, weit vor ihrer Zeit in der Geschichte der Kunst.
Ein dritter Besuch im Prado folgte einen Tag spaeter. Jetzt endlich wollte er die Tafelbilder des Hieronymus Bosch anschauen. Das Triptychon Garten der Lueste war ausgestellt, das Triptychon Der Heuwagen, Paradies und Hoelle und das der Heiligen Drei Koenige.
Ueber das Leben von Hieronymus Bosch ist sehr wenig bekannt. Nicht einmal sein Geburtsjahr laesst sich genau bestimmen. Um das Jahr 1450 herum kam er im hollaendischen Herzogenbusch zur Welt und wurde 1516 auch dort begraben. Sein eigentlicher Name ist Jeronimus Bosch van Aken. Bosch’s grosser Beitrag zur Entwicklung der Kunst ist wohl der, dass er die Faehigkeit der Kuenstler seiner Zeit zur naturgetreuen Darstellung des Sichtbaren nuetzte, um die nicht sichtbaren Dinge mit gleicher Hingabe an das naturalistische Detail darzustellen. Mit den Errungenschaften der Malerei am Uebergang vom fuenfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert machte er Dinge sichtbar, die noch kein Mensch erblickt hatte, die aber die noch lebendigen Ueberlieferungen aus dem Mittelalter in einer Weise darstellten, als haetten ihm all die ekelhaften, wunderlichen, monstroesen, geilen, obszoenen, furchteinfloessenden Wesen tatsaechlich Modell gestanden.
Darin liegen die Faszination und die tiefe Wirkung, die von den Bildern Bosch’s ausgeht und alle Betrachter in ihren Bann schlaegt: die Darstellung der Maechte des Boesen in einer Art und Weise, als wuerde auf jedem Bild irgendwo in einer Ecke stehen: „Ich bin dabei gewesen. Ich hab’s gesehen.“ Berichterstattung aus dem Bereich der abartigen Luesternheiten und Versuchungen also, aus dem Saal des Juengsten Gerichts,dem Fegefeuer und der Hoelle; viele Szenarien unbewusster menschlicher Aengste und Leiden, wie sie jetzt - auf eine andere Weise - im Horror- und Fantasy-Roman und im Horror- und Fantasy-Film wieder aktuell geworden sind.
Da Hieronymus Bosch im Wesentlichen auf seinen Bildern auf grosse Figuren verzichtete und die Flaechen mit einer schier unendlichen Zahl kleiner und kleinster Figuren und Gegenstaende fuellte, ist es notwendig, nahe an so ein Triptychon heranzutreten und die einzelnen inhaltlichen und kompositorischen Kreise zu studieren - die dargestellten Szenarien, Interaktionen, Menschen, Tiere, Untiere, Fabelwesen, Gegenstaende und Landschaften, am besten gleich mit einer Lupe oder einem Fernglas zu betrachten, um auch die feinsten und kleinsten Details entdecken zu koennen.
Es wurden ueber die Jahrhunderte zahlreiche Versuche unternommen, unter verschiedenen Ansaetzen die Symbolik in den Bildern des Hieronymus Bosch zu entschluesseln, die vielen Raetsel zu loesen, die da aufgegeben sind, mit Hilfe literarischer Dokumente aus seiner Zeit, auch dadurch, dass man dem Maler Beziehungen zur Alchemie nachweisen wollte, zur Schwarzen Magie oder zu ketzerischen Sekten - aufgeklaert wurde die grausam-satirische Bildsprache des Jeronimus Bosch van Aken allerdings bis heute nur sehr unzureichend.
Das Wetter war umgeschlagen. Herbst lag in der Luft. Grau war der Himmel, grau erschienen ploetzlich die Gesichter der Menschen und durch die Strassen pfiff ein kuehler Wind. Das war wohl mit ein Grund, warum am Sonntagnachmittag so wenig Zusachauer in die Arena gekommen waren, um bei der Corrida dabei zu sein. Es war die letzte der Saison, die letzte in dem Jahr. Aber die groesste Stierkampfarena des Landes war nur gut halb gefuellt und entsprechend lausig war die Stimmung unter den Zuschauern und unter den Stierkaempfern. Sogar die fuer die Kaempfe ausgewaehlten Stiere schienen von der schlechten Stimmung angesteckt zu sein: einige wirkten mutlos und unwillig, als sie in das Rund der Arena kamen - eher hineingetrieben als hineinstuermend; einer verweigerte sich total, er wollte einfach nicht zum Kampf antreten, wurde ausgepfiffen, die Menge tobte, er aber stand unbeeindruckt und bewegte sich nicht. Er stand da wie auf einer Radierung von Goya - und pisste. Schliesslich trieb man ihn aus der Arena, begleitet von dem gellenden Pfeifkonzert der Zuschauer. Der Tod durch den Metzger war ihm gewiss.
Das Flamenco-Lokal, das ihm der Alte empfahl, hatte er gesucht und gefunden. Ein schicker Laden. So schick, dass ihn zahlreiche Amerikaner zu einem spaeten Abendessen mit anschliessend feucht-froehlicher Geselligkeit auf- und heimgesucht hatten. Flamenco gab’s nur im Hintergrund –von den Touristen mehr oder weniger ignoriert. Saenger, Taenzer und Guitarristen waren frustriert, und er selbst wollte nicht laenger darauf warten, ob sich im Lauf des Abends noch ein Umschwung ergeben wuerde. So verliess er relativ frueh und relativ enttaeuscht den Club.
Er hatte in Madrid nichts mehr zu erledigen. Die Sehnsucht nach Elizabeth hatte ihn in den Tagen begleitet, er hatte oft an sie gedacht und freute sich nun - waehrend er seine Sachen packte und sein Zimmer raeumte - auf die Rueckkehr nach Tarragona. Was wuerde ihn erwarten? Wuerde sie ihn erwarten? Hatte sich vielleicht eine Aenderung in ihrer Beziehung zu Manuel ergeben? War sie schon abgereist, ohne seine Rueckkehr abzuwarten? Voller Neugierde und Spannung verliess er die grosse Stadt Madrid und fuhr auf der gleichen Strasse zurueck, die er gekommen war. Nur war jetzt die Sonne weg und auch die Hitze, die ihn auf der Herfahrt begleitet hatten. Kuehl war es geworden, das war angenehm. Und grau und staubig war es jetzt, das war unangenehm.
In Tarragona aber schien noch die Sonne, als er die Kueste, das Meer und die Stadt erreichte. Die Luft war frisch und sie schmeckte salzig. Sein Zimmer stand noch leer und er konnte wieder einziehen. Und kaum in der Stadt angekommen, traf er Elizabeth. Auf der Strasse. Einfach so. Sie sahen sich. Gingen aufeinander zu. Fingen an zu laufen und flogen sich gegenseitig in ihre weit geoeffneten Arme. Sie drueckten sich und kuessten sich. Lange und zaertliche, aus einer erloester Sehnsucht und von durchlebten Zweifeln geborene Kuesse. Atemlos gingen sie wieder auf Distanz, eine Armlaenge nur, und und schauten sich an. Verwirrt. Verstaendnislos. Und wieder umarmten sie sich und hatten noch kein Wort miteinander gesprochen. Nur kuessen, streicheln, Luft holen, sich anschauen, so als haetten sie sich noch nie voeher gesehen. Dann nahm sie ihn bei der Hand, haengte sich bei ihm ein und fuehrte ihn zu ihrer Wohnung. „Im Momement ist niemand anderes da ausser uns beiden“, sagte sie, als sie die Tuere aufschloss. Das war der erste Satz, der zwischen ihnen gesprochen wurde, seit sie auf der
Strasse zusammengetroffen waren. Sie ging voraus in ihr Zimmer, schloss die Tuere hinter ihnen und begann sich auszuziehen. Er tat es ihr gleich. Sie betrachteten sich gegenseitig in ihrer Nackheit, nahmen sich wieder in die Arme und gingen, ohne einander loszulassen, zu dem grossen Bett, das in einer Ecke des Raumes stand.
Spaeter, als er aus dieser Art Trance erwachte, bemerkte er, dass Elizabeth eingeschlafen war. Neugierig betrachtete er ihren Koerper, die schoenen Rundungen und die sonnengebraeunte Haut. Ihr Haar war leicht verschwitzt und der Mund war leicht geoeffnet. Wenn er genau hinhoerte, konnte er ein leises Schnarchen hoeren. Er musste laecheln, kuschelte sich ganz nahe heran an ihren Koerper und versuchte, ebenfalls ein wenig zu schlafen.
Die naechsten Tage erlebten sie in einer unbeschreiblichen Wechsel zwischen Ruhe und Aktivitaet, zwischen stiller Zaertlichkeit und schriller Ekstase, zwischen schweigsamem Beieinandersein und hitzigen Debatten, zwischen langen Spaziergaengen am Meer und schnell vorueberziehenden Stunden in verschiedenen Kneipen und Bars. Morgens um vier assen sie Gambas a la blancha in einer Bude am Strand, frisch hereingebracht von den Fischern, auf einem Blech gegrillt und nur mit etwas Salz bestreut. Sie assen die Gambas wie Pommes und tranken leichten Weisswein dazu, den der Strandwirt aus einem kleinen Holzfass zapfte.
Eher beilaeufig erfuhr er von ihr, was sich in den Tagen seiner Abwesenheit ereignet hatte: Manuel hatte Elizabeth einige Szenen gemacht. Er warf ihr vor, dem Deutschen schoene Augen gemacht zu haben und nun sehnsuechtig auf seine Rueckkehr zu warten. Schliesslich waren Elizabeth die Vorwuerfe zu viel geworden, sie hatte sich von Manuel und seinen Freunden verabschiedet und war seither nicht mehr in der Roemischen Bodega gewesen. Von ihren Freundinnen wusste sie, dass sich die Gitanos eine andere Stammkneipe in einem anderen Viertel gesucht hatten und ebenfalls nicht mehr in die Roemische Bedega kamen.
Elizabeth hatte einige ihrer Sachen zusammengepackt und war bei ihm eingezogen. Niemand machte Umstaende. Sie lebten zusammen und besuchten noch einmal gemeinsam die sehenswerten Plaetze der Umgebung. Fuerr ihn war das ein besonderes Erlebnis, denn Elizabeth kannte sich aus, hatte viel dazu gelesen und konnte seinen Informationen vieles hinzufuegen. Er hingegen betrachtete die Dinge wie immer zu allererst mit seinen Bilder-Augen und machte sie auf das eine oder andere aufmerksam. Beide fanden es schoen, dass sie sich so gut ergaenzten, genossen es und respektierten einander.
Tage wie aus einem Maerchenbuch waren das, und die Naechte dazu. Sie hatten Spass miteinander, obwohl sie wussten, dass sie nur noch wenige Tage zusammen sein wuerden. Vielleicht fuehlten sie sich gerade deshalb so zueinander hingezogen und vielleicht versuchten sie gerade deshalb, aus jedem Moment den groesstm¨glichen Genuss und die groesstmoegliche Befriedigung zu empfangen. Die Zeit verging schnell. Er musste seine Heimreise antreten, er hatte seinen Urlaub ohnehin schon um einige Tage ueberzogen. Elizabeth wollte zusammen mit ihren Freundinnen noch zwei, drei Wochen bleiben und dann mit Bahn und Faehre nach England zurueckfahren.
Er mochte keine Abschiedsszenen. Seinen Kram hatte er schon am Abend vorher ins Auto geladen, das Zimmer war bezahlt. Als ihn die Sonne am Morgen weckte, ging er leise ins Bad, zog sich geraeuschlos an, kuesste die schlafende Elizabeth auf Stirn, Nase und Mund, steckte den Schluessel von aussen vorsichtig in das Tuerschloss und verliess sehr leise das Zimmer. Unten gab er den Schluessel ab, verabschiedete sich, verstaute noch seine Reisetasche auf dem Ruecksitz, stieg ein, startete und fuhr los, Richtung Barcelona und franzoesische Grenze.
Elizabeth aber stand am Fenster, nackt, und winkte ihm mit traurigen, kleinen Bewegungen nach.
Einige Wochen spaeter trafen sie sich in Paris wieder. Es war ein Fest. Er holte Elizabeth vom Bahnhof ab, sie verbrachten Naechte und Tage im Hotelzimmer, sie machten ein Pique nique im Bois de Boulogne, sie besuchten Museen, Galerien und Buchlaeden.
Dann fuhr er sie zur Aermelkanalkueste, zu ihrer Faehre nach England. Sie bleiben in einem kleinen Hotel, es war schon spaet im Jahr und sie waren die einzigen Gaeste. Der Hotelbesitzer spielte Klavier. Dann fuhren sie einen grossen Bogen weg vom Aermelkanal und weg von der Faehre nach Dover.
Sie fuhren gemeinsam nach Muenchen. Erst bewohnten sie ein Zimmer dort, dann suchten sie eine gemeinsame Wohnung. Und sie lebten eine Weile zusammen in dieser Stadt und dieser Wohnung. Dann trennten sie sich.
Sie blieben ueber Jahre eng befreundet. Dann befreundet. Und dann verloren sie sich aus den Augen.



Impressum

Texte: Adi Bachmann
Bildmaterialien: Collage: Adi Bachmann
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012

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