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Wenn du wohingehst, vergiss nicht, wo du herkommst


Die Geschichte einer Familie




Johann Bachmann, 1360 - 1421



Unvermittelt schrecke er hoch. Er hatte nicht gut geschlafen. Etwas lag ihm auf der Seele. Doch es war kein Traum gewesen, sondern ein fremdes Geraeusch, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Sein Koerper hatte sich versteift und er lag wie gelaehmt auf der Stohmatratze, die den wuchtigen Bettkasten von Rand zu Rand ausfuellte. Hildegard, seine junge Frau, lag rechts von ihm; sie atmete ruhig. Neben ihr lagen Bernhard, der dreijaehrige Bub und Rosa, die erst vor sieben Monaten zur Welt gekommen war. Die vier aelteren Kinder aus seiner ersten und zweiten Ehe lagen im hinteren Teil der Schlafkammer.
Vorsichtig tastete er nach dem Knueppel aus Buchenholz, den er vor Jahren von einem Baum in den Wertachauen geschnitten hatte und der immer auf seiner Seite unter dem Bettkasten lag. Das Holz wog schwer in seiner Hand. Er lauschte in die Dunkelheit hinein und versuchte herauszufinden, was fuer ein Geraeusch das gewesen und aus welcher Richtung es gekommen war. Nichts ruehrte sich. Nichts Ungewoehnliches war zu hoeren. Im Stall standen die beiden Kuehe und das schwere Ross, das hin und wieder einen verhaltenen Schnauber ausstiess.
Nein, ein Herrenreiter war er nicht und er wuerde es wohl auch niemals werden und auch nicht werden wollen. Einer, der hoch zu Ross durch die Gegend streift, ueber die Felder und Weiden und sich einen Dreck darum schert, ob er mit seinem Pferd die muehevolle Arbeit der Bauersleute zu Schanden ritt oder das niedrige Wild in den Waeldern und Auen unnoetig verschreckt. Er, der Herr, jagt ohnehin nur Hochwild und Wildsauen – jedes Mal mit einem ungehoerigen Aufwand an Treibern und Jaegern. Aber wehe, wenn ein armer Bauer dabei erwischt wurde, dass er einmal ein Reh mit der Schlinge gefangen hatte. Dann schleppte man ihn gleich vor den Herrn und der Herr hielt Gericht. Wilderei wurde hart bestraft. Denn man musste den Unterschied zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, zwischen maechtig und ohnmaechtig immer wieder deutlich sichtbar machen. In manchen Bezirken durften die Bauern nicht einmal ihre mageren Schweine in die Waelder der Adeligen treiben, damit sich die Tiere an den Bucheckern und Eicheln guetlich tun und ein wenig mehr Fett ansetzen konnten. Man befuerchtete, dass die Schweine die Baeume beschaedigen wuerden. In einer Verordnung aus der Zeit hiess es, man möge dem Übeltäter, naemlich dem Schwein, den Darm aus dem Leib ziehen, ihn an der beschädigten Eiche festbinden und so lange um den Baum laufen lassen, bis der Darm vollständig um den Stamm gewickelt sei.
Sein Pferd war kein Reittier, sondern es half fleissig und kraeftig bei der Arbeit mit, die jahrein, jahraus auf so einem kleinen Anwesen anfiel. Ja, er brauchte das Ross fast ausschliesslich zur Arbeit, harter Arbeit oft. Auf den Feldern zog es den Wagen mit dem Mist, den eisenbeschlagenen Pflug oder die hoelzerne Egge und bei der Ernte den Leiterwagen. Den gleichen Wagen zog das Pferd, wenn das gemachte Heu oder – im Winter – die duenneren der umgeschlagenen Baeume, das Krueppelholz, heimgeschafft wurden. Auch beim Ruecken der geschlagenen Baumstaemme in den Monaten Januar und Februar war es eine grosse Hilfe.
Nur zur Kirchweih und zu anderen hohen kirchlichen Festagen wurde das Ross solange gestriegelt, bis sein struppiges Fell seidig glaenzte, und es wurden ihm duenne Zoepfe aus Haferstroh in die Maehne und den Schweif eingeflochten und bunte Baender. So ritt er dann hoch zu Ross, drei, vier Kinder hinten auf dem breiten Ruecken, den Huegel hinauf nach Bertoldshofen, wo die Kirche stand. Hildegard, seine Frau, ging zu Fuss, aber stolz, hinterher.
Das Ross hoerte auf den Namen Racker. Racker wie rackern. Als Erinnerung daran, dass das Leben in erster Linie Arbeit und dass die Arbeit meist schwer war und dass das Rackern oefter als befuerchtet keinen Gewinn abwarf.
Seine kraeftige Rechte, die den Knueppel noch immer fest umschlossen hielt, war inzwischen schweissnass geworden und er wischte sie – ohne dabei ein Geraeusch zu machen – an dem groben Leinenstoff der Matratze ab.
Freilich war das schon ein Zeichen von einem gewissen Wohlstand, sagte er oefter zu sich selbst und auch zu seiner Frau und zu den Kindern, dass sie neben den beiden Kuehen auch das Ross hatten. Die Kuehe arbeiteten langsamer und weniger energisch als das Pferd. Dafuer aber gaben sie Milch; nicht so viel, wie Hildegard sich manchmal wuenschte – wegen der Arbeit, die sie tun mussten und der Kaelber, die sie zwischendurch hatten – aber doch so viel, dass es meist fuer die morgendliche Milchsuppen der immer groesser werdende Familie reichte. Und fuer den einen oder den anderen Weidling voll gestoeckelter Milch und fuer ein wenig Rahm und etwas Butter, manches Mal. Und wenn im Fruehsommer dann das Gras oft fett war und die Blumen auf der Wiese kraeftig wuchsen und bluehten, gaben die beiden Kuehe – vielleicht aus lauter Freude an dem guten Futter – soviel Milch, fett und gelb, dass die Hildegard hin und wieder einen kleinen Laib Kaese formen und reifen lassen konnte. Das war dann eine ganz besonderes Ereignis und ein besonderer Leckerbissen, wenn der Kaese angeschnitten und verkostet wurde. Da leuchteten die Augen der Kinder und so manchem lief sichtbar und hoerbar das Wasser im Mund zusammen.
Einmal im Jahr, wenn die Zeit dazu da war, trieb er eine der beiden Kuehe hinueber zum Burler, dem Schmied, wo er sie von einem kraeftigen und gesunden Stier bespringen liess. Das kostete ihm zwar jedes Mal etwas und nicht immer wurde nach den Monaten des Herwartens ein gesundes Kalb geboren; manchmal wurde ein Tier krank und verendete unter unerklaerlichen Umstaenden. Das war bitter. Aber viel oefter ueberlebten Kuh und Kalb eine solche Schwangerschaft und die Geburt und die oft schwierigen Wochen nach der Geburt ohne Schaden, und dann war das Glueck wieder einmal auf ihrer Seite.
Ja, ja, das Glueck. „Der Herr hat’s gegeben, und der Herr hat’s genommen. Lobet und preiset den Herrn!“ Es waere ihm nie im Traum eingefallen, sich gegen die unerforschlichen Handlungen Gottes, des Herrn, aufzulehnen. Erstens war er dazu viel zu kirchen- und gottglaeubig und zweitens ahnte er, dass ihm eine solches Auflehnen ohnehin nichts einbringen wuerde. Also hielt er sich lieber bedeckt – nicht, dass er vor Allem und Jeden den Kopf eingezogen haette; aber er war nicht auch nicht vorlaut und nicht ohne Grund aufmuepfig. Er anerkannte Eigenschaften wie Mut, Stetigkeit und Bestaendigkeit und er liebte die Kraft, die er manches Mal in sich spuerte, wenn er auch in schwierigen Situationen ruhig und beherrscht blieb. Das passierte ihm leider nicht immer.
Wieder lauschte er in die dunkle Nacht hinein. Nichts Ungewoehnliches war zu hoeren. Zu sehen ohnehin nicht. Langsam fing er an, sich zu entspannen. Aber in seinem erregten Zustand hatte er angefangen, sich an dies und das zu erinnern und sich darueber seine Gedanken zu machen. Und dieses Nachdenken und sich Erinnern wollte jetzt einfach nicht aufhoeren. Auch musste er sich gerade jetzt zugeben, dass er nach innen eigentlich schon immer recht aengstlich war und auch heute noch leicht ausser sich geriet, wenn ihn etwas erschreckte. Aber als das aelteste Kind in der Familie, als der grosse Bruder, hatte er schon frueh begonnen, den aengstlichen Johann in sich mit einer gespielten Maske aus uebertriebener Selbstsicherheit und lauter Staerke zu uebertoenen. Und er war damit nach aussen meist recht gut gefahren. Seine Geschwister, seine Eltern und der Grossvater, die Onkel und Tanten, Schwager, Vettern und Basen respektierten ihn in so, wie er war und viele hatten ihn ins Herz geschlossen und liebten ihn. Wie sein Grossvater Simon, zum Beispiel, der Vater seines Vaters. Die Grossmutter, die Frau des Simon und Mutter seines Vaters, hatte er nie gekannt; sie war kurze Zeit nach der Geburt ihres neunten Kindes gestorben. Er wusste nur, dass sie Elsbeth geheissen hat und eine tuechtige Frau war. Das wusste er von seinem Grossvater und auch von seinem Vater.
An die Eltern seiner Mutter konnte er sich nur sehr undeutlich erinnern.
Mit Antonia war das anders. Sie war die Mutter seiner Frau Hildegard. Er hatte sie zwar auch nur zwei Mal gesehen, aber da war er schon erwachsen und sie war seine Schwiegermutter geworden, um die herum viele Geschichten erzaehlt wurden. Sie war als junge Frau zusammen mit anderen aus dem tirolischen Inntal ins Baierische gezogen, als der Krieg in Tirol und der Hunger und die Verzweiflung wieder einmal viele Menschen dazu zwangen, das Land zu verlassen, um anderswo nach Arbeit und Brot zu suchen. Das hatte Hildegard oft erzaehlt, die es wiederum von ihrer Mutter wusste. Als niedrige Dienstmagd hatte Antonia, die Tirolerin, wie sie genannt wurde, eine Anstellung bei einem groesseren Bauern gefunden, dessen Hof zwischen Muehldorf und Oetting lag. Aus dem Inntal war sie also nicht hinausgekommen. Auf einem Markt in Tuessling hatte sie den Lenz, den Lorenz, kennengelernt, der bei den Herrschaften dort Vorknecht war. Ein gestandenes Mannsbild, durchaus fesch, nicht mehr ganz jung – aber sie war ja auch kein ganz junges Ding mehr. Mit der Erlaubnis beider Dienstherren durften sie 1376 heiraten und drei Jahre spaeter kam Hildegard zur Welt, ihr erstes und einziges Kind.
Als haette das Oettinger Land fuer die Bachmannschen aus Bertoldshofen eine von Gott gegebene, besondere Bedeutung gehabt - in eben diesem Oetting, dem vielbesuchten Wallfahrtsort mit seiner wundertaetigen „Schwarzen Madonna“, trafen die Hildegard aus Tuessling und der Johannes aus dem Wertacher Land aufeinander. Es muss eine Liebe auf den ersten Blick gewesen sein und ein solches Funkenspruehen, dass einem Angst und Bange haette werden koennen. Koennen – aber nicht muessen.
Hildegard war mit den anderen Jungfrauen aus ihrer Markgemeinde hinuebergewandert zum sich jaehrlich wiederholenden Bittgang nach Oetting und zur Gnadenkapelle. Das war kein weiter Weg fuer sie.
Im eiskalten Januar des Jahres 1401 war Maria, Johanns zweite Ehefrau, an einer boesen Entzuendung an der Lunge gestorben. Sie hatte zum Schluss nicht einmal mehr die Kraft gehabt, nach dem Erteilen der Sterbesakramente das Kreuz zu schlagen. Danach sass Johann allein da mit vier Kindern. Die beiden Soehne Heinrich und Anton hatte er mit Mechthild, seiner ersten Frau, die so frueh von ihnen gegangen war. Mit Maria hatte er die kleine Maria und den Lukas dazubekommen. Vier Kinder also, vierzehn, zwoelf, zehn und sieben Jahre alt – wie die Orgelpfeifen. Keine Wickelkinder mehr, nein, ganz bestimmt nicht. Alle vier hatten schon frueh lernen muessen, kraeftig mit anzupacken im Haus, in der Muehle und in der Landwirtschaft. Aber trotzdem: die Kinder brauchten noch immer eine Mutter, besonders die kleine Maria, der als „der einzigen Frau im Haus“ einfach zuviel abverlangt wurde. Und er, Johann, inzwischen einundvierzig Jahre alt, war noch voller Saft und Kraft – er sehnte sich inzwischen wieder heftig nach einer Frau. Das Trauerjahr war um und so hatte er die lange und beschwerliche Pilgerreise nach Oetting angetreten, um fuer eine neue Ehe die Hilfe und den Segen der Jungfrau Maria zu erbitten. Und ausgerechnet hier verliebten sich Johann und Hildegard auf den ersten Blick – auf dem Kapellplatz, dem Platz vor der kleinen Wallfahrtskirche. Wenn das keines der vielen kleinen und grossen Wunder war, die man der „Schwarzen Madonna“ von Oetting landauf, landab zusprach!
Noch am selben Tag begleitete Johann die Hildegard nach Tuessling in ihr Elternhaus. Hildegards Eltern waren mehr als verwundert, als der Fremde aus dem fernen Oberschwaben so mir nichts, dir nichts, um die Hand ihres einzigen Kindes anhielt. Man fragte den nicht mehr jungen Mann nach Strich und Faden aus, fand ihn aber nicht unangenehm und was er sagte, hatte Hand und Fuss und machte Sinn. Mit schweren Herzen, letztlich aber nicht ohne einer gewissen Zufriedenheit, stimmten Antonia und Lorenz dem Verloebnis mit Johann zu, dem Mueller und Freisassen aus Bertoldshofen. Noch am gleichen Abend steckte Johann den Trauring seiner verstorbenen Maria an den Ringfinger von Hildegards rechter Hand. Er hatte den Ring waehrend seiner Zeit als Witwer immer bei sich getragen. Die Verlobung war also beschlossene Sache, ein fuer beide Seiten passender Hochzeitstermin wurde aufgesetzt und die Fragen ueber Aussteuer und Mitgift ausgeredet. Das alles geschah in einer eigentlich unchristlich kurzen Zeit, in wenigen Stunden nur – aber tatsaechlich ohne jede innere Hast und ohne eine Spur von schlechten Hintergedanken. Es war fast so, als haette man aufeinander gewartet und sich darauf vorbereitet, diese Ehe zu stiften und sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Johann machte sich auf den Weg zurueck nach Bertoldshofen, uebergluecklich, und nach wenigen Wochen traf der Leiterwagen ein mit der Braut, den Brauteltern und der Aussteuer. Wagen und Pferd hatten die Herrschaften auf Tuessling dem Lenz ohne Gegenleistung ausgeliehen, das Futter fuer das Tier mussten die Brauteltern allerdings selber beschaffen. Es fand eine Hochzeit statt, wie man sie schon lange nicht mehr gesehen hat in dieser Gegend und in dieser schweren Zeit. Alle Verwandte, Freunde und Bekannte waren gekommen, um Johanns junge Frau kennenzulernen, den mitgebrachten Hausrat zu begutachten und den im oberbairischen Stil bemalte Truhe zu bewundern. Ja, auch wenn die Brauteltern nur ein Vorknecht und eine Magd waren, hatten sie doch fuer ihr einziges Kind im Lauf der Jahre so viel auf die Seite legen koennen, dass sie jetzt ihrer Hildegard eine stattliche Aussteuer mitgeben konnten.
Es wurde gegessen und getrunken auf der Hochzeit, dass es eine Freude war. Da schaeumte das Bier in den Kruegen, die frisch gebackenen Brotlaibe und die Kaese dufteten, die Forellen aus dem Muehlbach, die am Spiess gebratenen Huehner und das Spanferkel, das die Muehlknechte zu Ehren ihres Meisters und seiner jungen Fau spendiert hatten – alles war da, und zwar ueberreichlich. Es wurde fast ohne Ende musiziert, getanzt und gesungen, und es wurde geratscht und getratscht und auch manche ernsthafte Nachricht ausgetauscht. In diesen harten Jahren hatte man nur noch wenig Gelegenheiten, sich bei froehlichen Anlaessen wiederzusehen. Beerdigungen mit einem anschliessenden aermlichen Leichenessen waren dafuer bestimmt kein Ersatz.
So wurde die Hildegard eine echte Bachmann, eine Muellerin, Baeuerin und Freisassin und ihren vier Stiefkindern eine gerechte und liebevolle Mutter, ihrem Johann eine umsichtig wirtschaftende Ehefrau, die die Schluesselgewalt im Haus mit Sachkenntnis und Autoritaet ausuebte. Und eine zaertliche Bettgenossin war sie ausserdem und bald auch die Mutter ihres ersten gemeinsamen Kindes, des Bernhards. Als sie zwei Jahre spaeter von der gesunden Rosa entbunden wurde und sich schnell wieder von dem Kindbett erholt hatte, mochte sie manchmal vor Glueck schreien oder weinen oder singen oder einfach Purzelbaeume schlagen. Wie konnte ein einzelner Mensch so viel Glueck haben und ohne laute und bewegte Gefuehlsausbrueche ertragen?
Fast schon wieder eingeschlafen, musste Johann zurueckdenken an seinen Grossvater Simon. Simon war um 1304 in der Gegend von Oberndorf in einer kinderreichen Haeuslerfamilie zur Welt gekommen. Schon frueh war er vor der Enge und Not von zu Hause fortgelaufen und hatte sich mit Gelegenheitsarbeiten und kleinen Diebereien ueber Wasser gehalten. Er war ein Vagant geworden. Auf einem seiner ziellosen Streifzuege kam er als Helfer beim Besitzer einer kleinen Muehle unter, dessen einziger Sohn nach einem Unfall daniederlag und bei dem es noch eine Zeitlang dauern wuerde, bis er wieder in der Muehle mitarbeiten konnte. Der Mueller fasste Vertrauen in den jungen Simmerl und nahm ihn fuer ein Jahr fest in Stellung. Der Lohn war gering, aber das Essen reichlich und gut, und Martin bekam einen eigenen Strohsack, auf dem er nachts seinen mueden Koerper ausstrecken konnte. Was aber viel Wert hatte als all das zusammen, waren die Kenntnisse, Kniffe und Tricks, die ihm der alte Mueller im Lauf der Zeit beibrachte. Dieser hatte die Wissbegierde des Jungen erkannt und er freute sich daran. Deshalb hatte er sich vorgenommen, den Martin auszubilden wie einen richtigen Lehrbuben und ihn einzuweihen in die Geheimnisse der Mahlkunst – mit allen Haupt- und Nebensaechlichkeiten. Und Martin war ein tuechtiger Lehrling und ein arbeitsamer dazu. Die schwere Arbeit liess ihn kraeftig werden und das Lernen machten sein Gehirn und sein Sprechen geschmeidiger als das der allermeisten Gleichaltrigen. So wirkte Simon reifer, als er es an Jahren tatsaechlich war. Als nach einem Jahr die Vereinbarung abgelaufen war und der junge Mueller wieder das Regiment in der Muehle uebernommen hatte, liess sich Simon seinen Lohn auszahlen, dankte dem Mueller und der Muellerin fuer die gute Behandlung und dem Mueller besonders noch fuer die gute Ausbildung, die er ihm gewaehrt hatte. Selbstsicher und zufrieden verliess er die Muellersleute und die Muehle und zog weiter.
Wie er es nur kurze Zeit spaeter zu einem kleinen Vermoegen gebracht hatte, darueber schwieg sich der Grossvater Simon zeitlebens aus. Aber es muss etwas mit Gluecksspiel zu tun gehabt haben, einem Raufhaendel und einer Messerstecherei – ganz geheim konnte Simon sein grosses Geheimnis auf Dauer doch nicht halten. Doch was sich tatsaechlich abgespielt hatte, darueber redete er nicht, wie schon gesagt.
Simon hatte grosse Plaene im Kopf. Zuerst kehrte er zurueck in die Gegend, aus der er urspruenglich gekommen war. Dann kaufte er mit gut dem halben Teil des Inhalts seiner Boerse ein Wiesengrundstueck, das zwischen einem gemischten Wald aus Fichten, Tannen, Buchen und Eichen und einem Wildbach lag. Ein geringer Teil des Waldes gehoerte zu seinem Grund, der Wildbach ebenfalls. In der Naehe des Bachs, aber oberhalb von dessen Hochwasserlinie, baute er mit geringem Aufwand eine einfache Huette, in denen er seine wenigen Werkzeuge aufbewahrte und in der er auch hauste. Von frueh bis spaet, an sieben Tagen der Woche, bei jeder Witterung und zu jeder Jahreszeit sah man ihn jetzt rackern: einerseits begradigte er den Wildbach und versuchte, die Sohle des Bachs einigermassen zu nivellieren. Zum anderen sammelte in der ganzen Gegend Feldsteine ein, kleinere, grosse und ganz grosse, die er zum Ausbau der Bachsohle brauchte und spaeter als Bausteine fuer die geplanten Gebaeulichkeiten, beziehungsweise deren Fundamente verwenden wollte. Und hin und wieder schlug er Baeume aus seinem Waldstueck, die er anschliessend sorgfaeltig entrindete und mit dem Breitbeil zu Kanthoelzern zurichtete und andere Teile davon zu Brettern zersaegte. Das war eine wirklich muehselige und kraftraubende Arbeit.
Nur an ganz hohen Feiertagen ging Simon hinauf in die Kirche nach Bertoldshofen und nahm an dem Gottesdienst teil. Hinterher ging er mit den anderen Maennern in eine verrauchte Stube, wo ein Bauer aufgesteckt hatte, das heisst, selbstgebrautes Bier verkaufte. Aber mehr als einen Krug des malzig-pappigen Gebraeus wollte sich der Simon nie leisten - vielmehr horchte er sich neugierig und aufmerksam um und fragte die Maenner aus nach neuen Nachrichten aus der Umgebung, aus dem Bezirk und aus dem Land. So erfuhr er wenigstens hin und wieder – wenn auch nur ungefaehr - was sich zutrug ausserhalb seiner kleinen Baustelle zwischen Bach und Wald, auf der er fast alle Zeit verbrachte und fast unmenschlich schuftete und jeden Fehlschlag durch einen neuen Anlauf wettmachte.
1329 – er war gerade einmal fuenfundzwanzig Jahre alt, konnte Simon fuer einige Tage ausspannen. Er hatte sein Vorhaben verwirklicht: er besass ein Grundstueck mit einem begradigten Bach, einer Wiese und einem kleinen Stueck Mischwald. Ausserdem stand da ein teils aus Feldsteinen, teils aus Holz gebautes Muehlengebaeude, nicht sehr gross, aber gross genug, um bei Bedarf fast alles Getreide aus der Gegend vermahlen zu koennen. Das durch die Kraft des Baches angetriebene Muehlrad klapperte zwar nicht, aber es uebertrug seinen Schwung ueber ein einfaches Holzgetriebe auf den Mahlstein, der sich gleichmaessig ueber dem Muehlstein drehte. Ueber eine kurzen, ueberdachten Gang ging man hinueber in das freistehende, schlichte Wohnhaus, das im Gegensatz zur Muehle nur ein Stockwerk hatte. Eine Stube gab es darin, die gleichzeitig Kueche war, einen Schlafraum, und eine gemauerte kleine Vorratskammer, die nur oben kleine, lukenartige Oeffnungen nach draussen hatte; der Raum sollte Schutz bieten gegen Ratten und Maeuse und gegen mancherlei Gesindel, das sich ueberall herumtrieb, solange die Obrigkeit tatenlos zusah und es gewaehren liess - ja oft genug selbst solchen Banden angehoerte. Auch einen Waschraum und einen Abtritt hatte das Haus, mit einer direkten Verbindung hinunter zum Muehlbach. Ein praktischer Einfall, lobte sich Simon selbst, sooft er hinueberschaute zu dem angebauten kleinen Erker.
Ja, er hatte es geschafft. Nicht ganz alleine, aber doch fast. Auf dem jaehrlich abgehaltenen Pferdemarkt in Bertoldshofen hatte er schon bald nach seiner Ankunft ein kraeftiges und gefuegiges Ross gekauft, das er lange hinter seinem Schuppen untergebracht hatte. Ohne die Hilfe des Pferdes haette er Arbeit nicht tun koennen. Jetzt aber konnte er das Pferd in den luftigeren Schuppen stellen und – wer weiss - vielleicht einmal andere Tiere dazu. Manches Mal hatte er einen Nachbarn oder zwei oder drei bitten muessen, ihn bei den ganz schweren Arbeiten zur Hand zu gehen, die er alleine – auch nicht zusammen mit dem Pferd – haette bewerkstelligen koennen. Dafuer musste er aber auch bereit sein, dem jeweiligen Nachbarn zu Diensten zu sein, wenn dieser ihn brauchte. Mit Geld wurden solche Nachbarschaftshilfen nie bezahlt.
Jetzt konnte Simon zufrieden sein und mit Stolz auf seinen Besitz schauen und Gott danken und sich selbst loben fuer seine Leistung. Er musste aber auch gleich wieder vorausdenken und vorausschauend planen: er musste sich in der Nachbarschaft und im ganzen Kreis sehen lassen und einsagen, dass er in wenigen Tagen seine Muehle in Betrieb nehmen wuerde, ganz genau rechtzeitig zum Ausmahlen der 1329er Dinkel- und Haferernte, Weizen gab es in der Gegend kaum. Also schnuerte er sein Buendel, verriegelte sorgfaeltig Muehle, Wohnhaus und Schuppen, steckte Boerse und Messer in den Guertel und schwang sich hinauf auf das Pferd. Das stampfte und schnaubte erst einmal ganz gehoerig unter der ungewohnten Last und der ungewohnten Arbeit, die ihm da auf einmal abverlangt wurde. Aber Simon und der Wallach kannten sich inzwischen lange genug, und schliesslich trug das Ross seinen Reiter ergeben fort und folgte seinen Anweisungen. Hoch zu Ross kam also der Simon durch die Gegenden, aus denen er vor Jahren davongelaufen war.
Das Einsagen erwies sich als ein voller Erfolg. Nicht dass nach der Ernte die Bauern aus der Gegend vor der neuen Muehle Schlange gestanden haetten. Aber jeden Tag kamen mehr – erst einmal nur die Neugierigen, dann die Wichtigmacher mit ihren Fragen, aber dann mehr und mehr richtige Kunden, die sich ihr Getreide ausmahlen liessen. Und der Simon war ganz in seinem Element. Er, der in der Schankstube oft seinen Mund nicht aufbrachte und eher verdriesslich als heiter wirkte, war wie ausgewechselt: er redete und lachte, hatte fuer viele Gelegenheiten einen passenden Spruch parat, handelte ohne Verbissenheit und sorgte insgesamt fuer eine gute Stimmung auf der Muehle. Zusammen mit seinem ersten Muehlknecht lieferte er eine saubere und gewissenhafte Arbeit, wog genau und half mit Schwung, die prallen Saecke mit dem frisch gemahlenen Mehl wieder zurueckzuladen auf die Karren der Bauern. „Das koennt ihr euch merken und auch weitersagen: hier beim Simmerl gehts ehrlich her. Da wird nicht betrogen, nicht gelogen und nicht vertaeuschelt. Das ist eine christliche und ehrliche Muehle. Auf der anderen Seite lasse ich mich aber auch nicht der Nase herumfuehren und zum Deppn machen. Eine saubere und gute Arbeit muss ehrlich und gut bezahlt werden. Umsonst ist Tod, heisst’s – und der kostet’s Leben.“
Die Bauern hatten ihn verstanden. Nach und nach verschwanden die Handmuehlen wieder in den Truhen und das Getreide brachte man zum Mahlen zum schneidigen Simon von der Bachmann’schen. Ja, „Bachmann“ nannte er sich jetzt, Simon Bachmann, Mueller und Bauer zu Bertoldshofen. Er war der erste Bachmann in der langen Reihe von Bachmanns, die auf ihn folgen wuerden. Der Mann am Bach. Der Mann am Muehlbach. Der Mann, der Tag und Nacht vor Augen und in den Ohren hatte, dass tatsaechlich alles fliesst. Selbst in den kaeltesten Wintermonaten fliesst unter den dicksten Eisschichten noch das Wasser.
Gab es etwas, was den Simon haette noch zufriedener machen koennen? „Oh ja“, waere es ihm schnell und ohne nachzudenken entwischt: „eine Frau; die richtige Frau; die Frau, die zu mir und zu meiner Muehle passt.“ In manchen Naechten war er dagelegen und hatte sich vorgestellt, wie es zuging in den Badstuben, die es in Kempten, Memmingen und in Mindelheim geben soll. Und wie das sei, sich mit Dirnen, den Kepsweibern, in den mit warmen Wasser angefuellten Zubern zu vergnuegen. Und hinterher erst ... Manchmal hatte er auf den Maerkten der groesseren Marktgemeinen in der Gegend Huren gesehen in bunten Gewaendern, grell geschminkten Augen und Lippen und freizuegig zur Schau gestellten Bruesten, deren Warzen mit leuchtenden Farben bemalt waren. Aber er hatte Angst vor den ansteckenden Krankheiten, die sich Maenner im Umgang mit den Huren holen konnten, und es tat ihm auch leid ums Geld, wo sich doch seine Barschaft immer schneller ihrem Ende zuneigte, je weiter seine Neubauten gediehen.
Aber mit einer anstaendigen und fleissigen jungen Frau zusammenzustehen und zusammenzuarbeiten und zusammen fuer eine ausreichend grosse Nachkommenschaft zu sorgen, und das Vergnuegen geniessen, das er in seiner jungmaennlichen Vorstellungswelt mit dem Geschlechtlichen verband – ja, das alles wollte er inzwischen sehr, und dafuer wuerde er auch gerne etwas von seiner gewohnten und geliebten Freiheit abgeben.
Simon war ueber die Jahre an manchen Sonn- und Feiertagen nach der Kirche in die Schankstube gegangen und hatte gewissermassen verdeckt und aus dem Hintergrund heraus das Heranwachsen der drei Wirtstoechter beobachten koennen. Die Aeltere war ihm zu frech und zu vorlaut, so war so ein richtiges Mannweib, das immer die Hosen anhaben wollte. Auch schien sie sich um jede schwerere Arbeit zu druecken, so gut sie konnte. Die Juengste hingegen, war eine ganz ruhige, fast schon eine talkerte. Nein, mit der wuerde der Ehestand keine rechte Freude machen. Stellte er sich vor. Aber die Mittlere, die Elsbeth, war ganz nach seinem Geschmack: sie war zwar keine ausgesprochene Schoenheit – aber was heisst das schon an der Seite eines jungen Muellers, wo eine Frau hinlangen koennen muss, und das nicht zu knapp. Und seinen Samen sollte sie aufnehmen und Kinder austragen und gesund zur Welt bringen.
Jahrelang hatte der Simon zugeschaut, wie die Elsbeth herangewachsen war und wie sie in dem elterlichen Sach mitgearbeitet hatte und sich dann fast ganz alleine um den Haushalt und die Schaenke kuemmern musste, als die Mutter ploetzlich vom Schlag getroffen wurde und von einem Moment zum anderen tot in ihrer Kuchl lag.
Viele Frauen hatte der Simon mit seinen fuenfundzwanzig Jahren noch nicht kennengelernt; erst war er noch zu jung dazu gewesen und dann war er ueber die Jahre so sehr mit seiner Bauerei beschaeftigt gewesen, dass er fuer die Weiberleut einfach keine Zeit hatte. Aber jetzt war er soweit. Er wusch sich gruendlich, stutzte sich den Bart zurecht und zog sich etwas Sauberes an. Dann ging er hinauf zum Schoenlinner, dem Wirt und dem Vater der Elsbeth, und fragte ihn ohne lange Vorreden geradeheraus, ob er ihm die Elsbeth zur Frau geben wuerde. Bei drei unverheirateten Toechtern musste der Schoenlinner nicht lange ueberlegen. Die beiden Maenner sprachen in aller Ruhe ueber die Mitgift und legten einen Termin fuer die Hochzeit fest. Der wurde spaet ins Jahr gelegt, damit die Arbeit nach der Ernte in Ruhe beendet werden konnte. Und schon war die Elsbeth dem Siman anverlobt und man konnte sie rufen, um ihr das Ganze mitzuteilen.
„Keine schlechte Partie“, sprach man in Bertoldshofen untereinander, „zwei junge, fleissige Leut, die passen zusammen wie der Deckel aufs Haferl. Und grad wuest ausschaun tun die beiden auch nicht. Viele schoen und gesunde Kinder sollns habn auf ihrer neuen Muehle. Damit es ihnen net fad wird, da unten.“ Das fand auch die Elsbeth, die in aller Heimlichheit schon vor Jahren ein Auge auf den Simon geworfen hatte, der so anders war, als die lauten und aufdringlichen Burschen, und aus dem jetzt ein Mueller mit einer eigenen Muehle und einem kleinen Bauernsach geworden war.
So kam es dann: Simon und Elsbeth heirateten im November 1329, und sie standen gut zusammen. Auch, aber nicht nur bei der Arbeit. Und so brachte Elsbeth – die tuechtige Muellerin und die erste Bachmann – im Laufe der Jahre neun Kinder zur Welt: 1330 den Rudolf, 1332 den Johann, 1335 den Anton, 1356 den Kilian. Die letzte Geburt war fast eine Totgeburt – Kilian starb wenige Stunden, nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte. Und Elsbeth vier Tage spaeter im Kindbett. Sie hatte Blutungen, die durch Nichts zu stillen war. So lief ihr Leben buchstaeblich aus. Als sie wusste, dass sie sterben wuerde, rief sie den Simon in die Kammer und bat ihn, sich zu ihr zu setzen. Er hielt sie bei der Hand und sie legte die ihr darueber. „Weisst du, Simmerl. Einmal hat der Pfarrer gesagt, der Herr Jesus haette zu Simon, dem Petrus gesagt: Du bist der Stein, auf dem ich meine Kirche baue. Petrus heisst naemlich Stein, auf Lateinisch. Hat der Pfarrer gsagt. – Eine Kirche ist auf dir zwar nicht gebaut worden, aber die Muehle, die Muehle hast baut und hochbracht. Zusammen habn wir sie hochbracht. Und eine grosse Familie habn wir gegruendet. Du und ich. Auch wenn uns der Anton, die Agnes, die Maria und jetzt auch noch der Kilian wegstorbn sind - bitte versprich mir eins: halt mein Andenken in Ehren, lass mich gut und christlich beerdigen und wenns dir Recht is, heirat halt nimma. Ich hab dich imma lieb ghabt und ich war immer die deine. Ein gutes und langes Lebn wuensch ich dir noch.“
Simon versprach der Elsbeth in die Hand, ihre Wuensche zu erfuellen. Und er hielt sein Versprechen. Er fuehrte die Muehle jetzt alleine weiter, aber mehr und mehr mit der Hilfe seiner Soehne. Schliesslich uebergab er das Ganze und lebte bis zu seinem Tod weiter in der Muehle – jetzt mit der Familie seines aelten Sohnes Rudolf und dessen Frau Adelheid.
Mueller hatten in aller Regel keinen guten Ruf und ihr oeffentliches Ansehen war gering. Und das hatte seine Gruende: allzuoft mahlten sie das ihnen anvertraute Getreide nicht sorgfaeltig aus; um ihren Ertrag zu steigern, mischten sie wertlose Kleie unter das Mehl – streckten es also – was die Bauern umso mehr erboste, da sie doch hinterher das Mehl meist selbst noch strecken mussten, damit es laenger vorhielt. Mueller manipulierten haeufig ihre Waagen und Gewichte und den Feuchtigkeitsgehalt des Mehls. Oft nuetzten sie die Notlage der Bauern, indem sie ihnen bereits ausgemahlenes Getreide zu ueberhoehten Preisen verkauften, wenn deren eigenes Getreide nicht mehr zum Sattwerden reichte. Dafuer nahmen sie Gefluegel, Schweine, manches Mal Rinder oder sogar ein Stueck Land in Zahlung.
Wundert es da, dass zu seiner Zeit, also an der Schwelle eines vielberedeten Neuen Zeitalters, in vielen Haushaltungen noch – oder wieder – wie in uralten Zeiten mit der Hand gemahlen wurde? Mit der Hilfe einer Handmuehle, die aus nichts anderem bestand als aus einer leicht nach innen gewoelbten steinerenen Platte und einem Reibestein. So hatten die Vorfahren schon vor Urzeiten ihre Dinkel-, Hafer- und Roggenkoerner zu Mehl vermahlen.
Wundert es da, dass man den Muellern Geiz, Hartherzigkeit und Geldgier vorwarf?
Wundert es da, dass im Volk so manche Geschichten ueber reiche Mueller ihre Runden machten, von mit Goldstuecken gefuellten Truhen, von vergrabenen Schaetzen, von Silbermuenzen und Edelsteinen?
Auf der anderen Seite wurde so mancher Mueller von seinem Landesherrn ausgepresst und musste zu Bedingungen mahlen, die oft seine Ausgaben nicht deckten. Und oft genug wurde er um seinen verdienten Lohn gebracht, dadurch, dass sein Herr die erbrachte Leistung einfach nicht bezahlte und ihm Fuerchterliches androhte, wenn er von seiner Forderung nicht ablassen wuerde.
Diese manchmal gerechtfertigte, manchmal ungerechte Aussenseiterstellung war nur ein Teil der Geschichte. Der andere Teil ergab sich aus den natuerlichen Gegebenheiten, die erfuellt sein muessen, damit ein Mueller ueberhaupt taetig werden kann: er braucht Wasser, und zwar Wasser, das moeglichst kraeftig und moeglichst gleichmaessig fliesst. Das aber findet er selten in der Mitte einer Stadt oder eines Dorfes. Deshalb liegen die meisten Muehlen am Rand oder gar ausserhalb von Siedlungen, eben da, wo ein Bach oder ein von Hand gegrabener Muehlbach den Betrieb einer Muehle moeglich macht. Die Alleinlagen der Muehlen in Verbindung mit den die Gemueter erhitzenden Geschichten von den sagenhaften Reichtuemern mancher Mueller, zog berufsmaessige Diebe und Einbrecher, aber auch manch einfach umhervagabundierendes Gesindel fast magisch an. Man muss sich vor Augen halten, dass in dieser Zeit, in die Johann Bachmann hineingeboren wurde, fast jeder Dritte nicht sesshaft war, weil er auf der Suche nach Arbeit war oder nach anderen Gelegenheiten, sein Leben zu fristen.
Mueller waren also besonders gefaehrdet, ueberfallen, ausgeraubt, verletzt und sogar ermordet zu werden. Keine beruhigenden Gedanken, die Johann da dachte.
Unvermittelt richtete er sich kerzengerade im Bett auf und erstarrte. Ganz deutlich hatte er etwas draussen vor der Tuere der Schlafkammer gehoert. Maennerstimmen. Mindestens zwei, wenn nicht drei waren es. Sie sprachen mir rauhen und unterdrueckten Fluesterstimmen. „Ja, dann lasst uns nicht lange rumfackeln“ konnte er gerade noch verstehen, als sich Hildegard zu ihm herueberbeugte. Noch benommen von Schlaf fragte sie ihn: „Was ist denn los, Hans? Warum stehst du fast lotrecht im Bett? Warum schlaefst du nicht?“ Er hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, rueckte ganz nahe an sie heran und fluesterte ihr fast unhoerbar ins Ohr: „Da draussen ist wer. Zwei oder drei Maenner, die sicher nichts Gutes von uns wollen. Halt dich ganz ruhig. Gib keinen Laut von dir. Und pass auf die Kleinen auf!“ Er hatte noch nicht zuende gesprochen, da krachte es schon gegen die massive Kammertuere. Die beiden soliden Holzriegel hatten zwar standgehalten, aber die ganze Tuere war durch die Gewalt von drei Maennern aus ihren Angeln gerissen worden und sie flog splitternd und polternd auf den Kammerboden.
. „Raus mit dem Geld!“ „Her mit dem Goldschatz!“ „Geld her oder das Leben!“ schrien sie wild durcheinenander. Es waren furchtbare Gesellen: einer, offenbar der Anfuehrer der Bande, hatte das Gesicht eines Huehnerhabichts, eine scharfe Nase und kleine, boese blitzende Augen ohne Wimpern und ohne Brauen. Der zweite war ein Rothaariger mit einer pockennarbigen Knollennase und faulen Zahnstuempfen im weit aufgerissenen Maul. Er schwang eine Pechfackel ueber dem Kopf und schrie immerzu: „Raus mit dem Geld! Her damit! Raus damit! Sonst zuende ich euch das Dach ueber dem Kopf an!“ Dabei ueberschlug sich seine Stimme und klang wir ein junger Hahn, der das Kraehen uebt. Der Dritte im Bund war noch ein ganz junger Kerl, ein schmaechtiges Buerschchen eigentlich, aber sein sehniger Koerper und sein fanatisch verzerrtes Grinsen liessen ahnen, dass er in seinem jungen Leben schon ueber mehr als nur eine Leiche gegangen war.
Was die drei Eindringlinge nicht wissen konnten war, das Johann schon eine ganze Weile angespannt in seinem Bett gelegen hatte und nur darauf wartete, dass sich irgend etwas Besonderes ereignen wuerde. Er war vorgewarnt und stuerzte sich jetzt, wo die Bedrohung sichtbar geworden war, mit einem durch Mark und Bein gehenden Schrei und mit einem alle Sinne aufs Hoechste anspannenden Mut der Verzweiflung auf die drei wilden Gesellen zu. Sein Weib und seine Kinder, sein Haus und die Muehle, die Tiere und alles, was er an Geld zuruecklegen hat koennen, waren in Gefahr. An sich und sein Leben dachte er jetzt zuletzt. Mit einem tierischen Schrei und fast blind vor Wut stuerzte er sich auf die Maenner. Diese waren nicht nur eindeutig in der Ueberzahl, sie waren auch kampferprobt und ruecksichtslos. Deshalb dauerte es auch nur wenige Augenblicke, bis sie sich von der Ueberraschung des unerwarteten Angriffs erholt hatten und nun ihrerseits kraeftig auf Johann einschlugen. Das war ein wuester und ungleicher Kampf, den auch Heinrich und Anton nicht gewinnen helfen konnten, die beiden Burschen, als sie ueberraschend von hinten auf das Gesindel einschlugen. Bald verliessen sie die Kraefte und wohl auch etwas der Mut, und sie wurden von den Eindringlingen abgewehrt und ruecksichtslos zu Boden geschlagen.
Mit dem ganzen Gewicht ihres wohlgerundeten Koerpers hatte sich Hildegard ueber den dreijahrigen Bernhard und die noch ganz kleine Rosa geworfen. Sie schrie und fauchte und schlug wild um sich. Kam einer der Eindringlinge naeher an das eheliche Bett heran, trat sie ihn mit den Beinen und Fuessen, kratzte, biss und spuckte und schrie dabei so laut, wie sie nur konnte. Sie war zu einem wilden Tier geworden, das unter Einsatz ihres Lebens ihre Jungen beschuetzte. Aber das hielt die Maenner nicht ab – im Gegenteil. Die heftigen Stoesse regten sie auf. Hildegards Nachtgewand war in Unordnung geraten und nun waren ihre Beine und Schenkel entbloest, und die nackten Schultern, Oberarme und Achselhoehlen mit den dichten Haarbuescheln waren ebenso deutlich zu sehen, wie die Ansaetze ihrer vollen Brueste. Das machte die Maenner noch wilder. Jetzt waren es nicht mehr nur ihre Raublust und der Rausch des Hauens und Stechens, die ihre Blicke starr werden liess und blutrot vernebelten, - jetzt waren es auch jede Menge ungezuegelter maennlicher Gier und animalischer Triebhaftigkeit, die ihre Handlungen immer unkontrollierter werden liessen.
Das Raubgesindel hatte sich inzwischen ganz auf die wehrlose und teilweise entbloest ueber ihre beiden kleinen Kinder geworfene Hildegard konzentriert und der erste unter ihnen machte sich bereits an seinem Hosenlatz zu schaffen. Die beiden anderen standen dabei und geiferten wie von Sinnen. Der Atem des Ersten ging wild und in heftigen Stoessen und er war bereit, sich auf die vor Angst und Entsetzen fast ohnmaechtige Frau und Mutter zu stuerzen, als ihn ein von hinten ausgefuehrter Schlag den Schaedel einschlug.
Johann war nach dem furchtbaren Angriff wieder zur Besinnung gekommen. Anton und Heinrich, seine beiden Aeltesten, hatten sich ebenfalls wieder aufrappeln koennen. Die Drei suchten moeglichst geraeuschlos nach Gegenstaenden, die sie als Waffen benutzen konnten. Anton hielt ploetzlich ein schweres Messer in beiden Haenden, Heinrich hatte sich vom Bettkasten ein lose aufgestecktes Kantholz gegriffen und Johann hatte den Buchenknueppel wiedergefunden, den er – wie es ihm schien -, schon vor Stunden mit seiner schweissnassen Hand umkrampft hatte. Vater und Soehne verstaendigten sich mit Blicken. Und dann stuerzte Johann als erster mit einer sich ueberschlagenden Stimme schreiend und mit erhobenem Knueppel von hinten auf den Mann los, der eben dabei war, seiner Hildegard Gewalt anzutun. Anton und Heinrich versuchten es ihrem Vater gleichzutun, aber ihre Kraft reichte nicht mehr ganz, um tatsaechlich lebensgefaehrliche Schlaege auszuteilen. Aber eine wilde Entschlossenheit hatte Johann einfach Baerenkrefte verliehen, und mit der Unterstuetzung des rasenden Vaters gelang es Anton und Heinrich, die beiden anderen Eindringlinge kraeftig zu verpruegeln und in die Flucht zu schlagen.
Langsam kehrte Ruhe in das verwuestete Muellerhaus ein. Doch was war das fuer eine Ruhe? Und wie hoch war der Preis fuer diese Ruhe? Lukas, der dritte von Johannes’ vier Soehnen, war so schwer verletzt worden, dass er noch waehrend der naechsten beiden Stunden an den Hieb- und Stichwunden starb. Er war elf Jahre alt geworden.
Maria hatte sich waehrend des gesamten Ueberfalls in eine finstere Ecke der Schlafkammer der verkrochen. Sie zitterte die ganze Zeit wie bei einem Schuettelfrost und brachte keinen einzigen Ton heraus. Das Schuetteln hoerte kurze Zeit spaeter auf, nachdem der Schock abgeklungen war, mit dem Reden begann sie erst wieder, als mehrere Monate ins Land gegangen waren.
Durch die Raserei aller und durch das Gewicht der Mutter, die sie schuetzen wollte, wurden der kleinen Rose beide Beine mehrmals gebrochen und sie blieb zeitlebens zwar eine Schoenheit – aber eine hinkende. Wie durch ein Wunder blieb Hildegard voellig unverletzt, ebenso wie Bernhard und Markus. Anton aber hatte eine tiefe Schnittwunde abbekommen, die von der rechten Wange hinauf zur Stirn verlief. Sie sollte gut verheilen. Sie blieb ihm als sichtbare Narbe bis an das Ende seiner Tage erhalten, zur Erinnung an diese denkwuerdige Nacht. Heinrich hatte heftige Schlaege und einige nicht sehr tiefe Stichverletzungen am ganzen Koerper einstecken muessen. Aber er jammerte nicht. Er machte niemandem Vorwuefe. Die Wunden heilten gut, die grossen Flecken, die er ueberall am Koerper hatte, verfaerbten sich fast wie die Farben des Regenbogens und verschwanden eines Tages ganz. Sein seelisches Gleichgewicht hatte er waehrend des Ueberfalls und auch danach nie verloren.
Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter: Hildegard war nie ueber den Schock hinweggekommen, den Tod von Lukas, ihrem juengsten Stiefsohn, nicht verhindert zu haben und auch nicht die schweren Verletzungen von Rosa, die fuer immer ein Krueppel blieb. Uebrigens hat Rosa das ihrer Mutter niemals auch nur fuer einem Moment zum Vorwurf gemacht. Im Gegenteil: sie liebte ihre Mutter ueber alles und hing sehr an ihr. Spaeter schlug sie einige durchaus ernstgemeinte Antraege von heiratswilligen Maennern aus; sie wollte viel lieber bei der Mutter bleiben. Instinktiv hatte sie seit der Nacht des Ueberfalls wohl eine tiefsitzende Angst vor Maennern bekommen. Sie pflegte Hildegard bis in deren Tod, den sie selbst nur um wenige Jahre ueberlebte.


Georg Bachmann, 1505 – 1571



Als Georg im Februar 1505 auf die Welt kam, hatte ein strenger Winter das Land und die Leute noch fest im Griff. Bertoldshofen und die anderen Doerfer in der Gegend duckten sich unter der Last von Schnee und Eis, und es war noch immer so kalt, dass der Bachmann’sche Muehlbach bis auf ein schmales Rinnsal zugefroren war. Das grosse hoelzerne Muehlrad war von einer dicken Eisschicht bedeckt und glitzernde Zapfen hingen von den Streben.
Hildegard, die junge Mutter, lag auf dem breiten Bett in der Schlafkammer, fast besinnungslos vor Erschoepfung und den nur langsam abklingenden Schmerzen. Es war ihre erste Geburt, und es war eine fast unmenschliche Anstrengung fuer sie gewesen, dieses grosse Kind zur Welt zu bringen. Die Hebamme und ihre Schwiegermutter und die beiden Maegde hatten waehrend der langen Stunden geholfen und sie jedesmal bei den Presswehen kraeftig angefeuert. Auch jetzt blieben sie noch bei ihr, jetzt, als die Nabelschnur durchtrennt, das Neugeborene gesaeubert und schon angelegt war und bereits kraeftig an ihrer Brust saugte. Ihr Mann hatte in die Kammer geschaut, den neugeborenen Sohn begutachtet, eine Anerkennung gemurmelt und ihr einen kurzen, aufmunternden Blick zugeworfen. Wirklich gesagt hatte er nichts. Mit dem Reden hatte er es ohnehin nicht so sehr, aber besonders jetzt nicht, wo sie statt eines Maedchens einen Buben zur Welt gebracht hatte. Ein Maedchen war es, was er sich sehnlich gewuenscht hatte. Jetzt war sie unzufrieden mit sich und fuehlte sich auch ein wenig schuldig. Aber war’s denn ihre Schuld?
Hildegard hatte keinen Grund zum Klagen: sie war gerade siebzehn geworden, als ihr Vater sie mit Rudolf verheiratet hatte, mit Rudolf Bachmann, den geachteten Mueller und Freibauern in Bertoldshofen, 53 Jahre alt und Witwer. Stark und selbstbewusst, manchmal streng und dickschaedelig, aber auch fuersorglich und aufmerksam war er und sogar ein wenig wohlhabend. Und anders, als man da und dort waehrend ihrer kurzen Verlobungszeit tuschelte, war Rudolf doch noch ein durch und durch gestandenes Mannsbild. Sie jedenfalls war’s zufrieden damit. Dann die Schwangerschaft, und jetzt die Geburt – ja, sie hatte keinen Grund zum Klagen. Ueberhaupt keinen,.
Es war etwas anderes, was sie selbst und was ihr Glueck belastete. Aus seiner ersten Ehe mit Maria waren drei Soehne auf die Welt gekommen, drei stramme junge Maenner, die alle drei in ihrer Kraft und Umtriebigkeit dem Vater nachgerieten: Johann, der Aelteste war schon 30, Franz, der Mittlere 24 und Simon, der Juengste, war 21. Zumindest zwei davon waren in einem Alter, in dem sie ohne Schwierigkeiten Hildegards Ehemaenner haetten sein koennen und nicht nur ihre Stiefsoehne. Dass Rudolf die drei jungen Maenner und seine junge Frau hin und wieder etwas misstrauisch beobachtete, wenn sie miteinander alberten und scherzten, machte die Sache nicht einfacher. Die Spannungen, die zwischendurch aufkamen, fielen jedem auf, der ins Haus kam. Und jetzt hatte sie dieser kraftvollen Maennerbande noch ein weiteres Mitglied hinzugefuegt, aber eins, das so viel juenger war als seine Brueder. So nahm Hildegard das wahr. Und das machte sie unruhig.
Fuer die drei Brueder wirkte die Ankunft des Neuen erst belustigend, dann stoerend. Hildegard, die junge Stiefmutter, war jetzt fuer ihre oft uebermuetigen und manchmal mehrdeutigen Albernheiten nicht mehr zu haben. Jetzt war sie auf einmal eine Mutter und keine Freundin mehr und keine Spielgefaehrtin Und der Georg, der Winzling, war auch bald keine Attraktion mehr. Und so blieb es auch in den folgenden Jahren: Marias drei Soehne waren mehr mit dem Vater zusammen und Hildegards Georg mehr mit der Mutter. Eine unsichtbare, aber spuerbare Trennlinie ging durch die Familie.
Aber wie schliesslich das Eis in diesem kalten und langen Winter von 1504 auf 1505 brach, der Schnee schmolz und die waermer werdende Sonne den Frost aus den Boeden zog und das Fruehjahr und den Sommer brachten, einen neuen Herbst und einen neunen Winter, so ging es auch bei den Bachmanns weiter im Jahreslauf, der besonders das Leben derer bestimmt, die mit der Natur und von der Natur leben.
Einen selbstverstaendlichen und unangefochtenen Platz innerhalb der Familie hatte Georg von Anfang an nicht gehabt. Waehrend er heranwuchs, spielten ihm die aelteren Brueder immer wieder boese und oft auch gefaehrliche Streiche, stifteten ihn zu kleinen Luegen und Betruegereien an und machten sich einen Spass daraus, ihn als das Muttersoehnchen hinzustellen, das er eigentlich gar war und schon gar nicht sein wollte. Zum Einen war er innerhalb der Familie auf die besondere Liebe und die besondere Unterstuetzung der Mutter angewiesen, andererseits merkte er, dass genau diese seine besondere Rolle die Brueder eifersuechtig machte, sie reizte und zum Spott herausforderte. Auch der Vater beleidigte ihn oefter mit Witzen und Redensarten, und er uebertrug ihm manchmal absichtlich Aufgaben, fuer die Georg einfach noch zu jung oder zu schwach war. Um noch eins draufzusetzen, sagte er dann: „Na, das haett ich mir ja gleich denken koennen!“, oder „Ach, lass es doch sein, du mit deinen zwei linken Haenden!“
Bereits 1512 uebergab der Vater die Muehle und den Hof an den Johann, seinem Aeltesten. Er wollte fruehzeitig Platz machen fuer den aeltesten Sohn. Johann uebernahm ein gut gefuehrtes Sach, um das er sich geschickt, fleissig und umsichtig kuemmerte. Noch besprach er sich jedesmal mit dem Vater, wenn er eine groessere Entscheidung zu treffen hatte. Der Johann war dem Vater aehnlich: gross, kraeftig, ein handsames Mannsbild mit einem guten Charakter. Wen wundert es also, dass Johann bald nach der Uebernahme des Familienbesitzes heiratete? Zeit genug fuer die Brautschau hatte er ja gehabt. Franz und Simon blieben vorlaeufig auf der Muehle. Sie hatten dort ihre Arbeit und ihr Auskommen. Ihnen stand schliesslich jeweils ein Teil des Bachmannschen Anwesens und seines Grundbesitzes zu. Wie der Vater und der aeltere Bruder, waren auch sie fleissig und tuechtig und trugen das Herz am rechten Fleck.
Georg war fast zwoelf, als Hildegard ganz ueberraschend noch einmal schwanger wurde und ein huebsches, blondgelocktes Maedchen zur Welt brachte, Veronika. Jetzt war es ganz aus fuer den Buben: der Vater hatte nun endlich das lang ersehnte Toechterchen, und die Mutter richtete ihre Fuersorge in der Hauptsache auf die neugeborenen Kleine. Wie von selbst wurde Georg noch weiter in den Hintergrund gedraengt und fuehlte sich bald als das sprichwoertlich bekannte „fuenfte Rad am Wagen“. Das erste Mal dachte er daran, von zu Hause fortzulaufen.
Bertoldshofen lag nicht am Ende der Welt, aber weit genug von ihren Machtzentren entfernt, als dass man dort schnell und genau informiert worden waere, wie sich eben diese Welt in grossen Schritten und mit tiefen Einschnitten veraenderte.
Als Georg auf die Welt kam, lebten in Deutschland etwa 10 Millionen Menschen. Seit 1493 regierte Maximilian I., erst als Koenig, dann als Kaiser des Heiligen Roemischen Reiches. „Der letzte Ritter“, wie er genannt wurde, war in Wien zur Weltgekommen, er war ein Habsburger: ein Mann zwischen Tradition und Moderne, der eine Reichs- und eine Rechtsreform versuchte, das Land in zehn Reichskreise neu aufteilte und die Reichsstaende gliederte in Kurfuersten, Fuersten- und Reichsritter und Reichsstaedte. Kaiser Maximilian liebte zwar die farbenfrohen Ritterspiele, vertraute aber als Feldherr seinen stramm gefuehrten Fusstruppen, seinen grausamen Landsknechten und den moderner Geschuetzen und nicht mehr den zu Pferde kaempfenden Rittern. Er beschaeftigte namhafte Kuenstler, darunter Albrecht Duerer, und war ein Freund von Malern und Literaten. Er war gleichzeitig Machtpolitiker, Kriegsheld und Spezialist in Sachen Heiratspolitik.
Maximilian regierte in einer Zeit, als sich in Ober-, Mittel-, und Suedostdeutschland ein Wirtschaftssystem stabilisiert hatte, das von Italien her ueber die Alpen nach Norden gekommen war. Dieses fruehkapitalistische System beruhte auf dem Bergbau und der Verhuettung von Erzen, besonders dem Silber, aber auch von Eisen und Kupfer, dem Fernhandel, den Orienthandel mit eingeschlossen, der organisierten Massenproduktion von Verbrauchsguetern, dem sogenannten Verlagswesen, und dem internationalen Geld- und Kreditgeschaeft. Die Wirtschaft bluehte, in Innsbruck, Hall, Salzburg, Regensburg, Ulm, vor allem aber in Augsburg und Nuernberg liefen bis dahin unvorstellbar grosse Geldmengen zusammen – Staedte und Familien wurden reich, Handelshaeuser wie das der Fugger und Welser, der Tucher und Imhoffs wurden so maechtig, dass sie indirekt und direkt Einfluss auf die Politik nehmen konnten.
Das war eine Zeit, in der die Staedte einen vorher nicht gekannten Aufschwung nahmen. Als Fundamente und Zentren einer wachstumsorientierten Wirtschaft erhielten sie besondere Rechte, die auch besondere Freiheiten enthielten. Nicht umsonst ging die Nachricht um: „Stadtluft macht frei“, frei von den Abhaengigkeiten, denen die meisten Nichtstaedter – die Bauern und Doerfler zuerst – unterworfen waren. Stadtrechte umfassten das Recht zum Bau von Verteidigungsanlagen und zum Unterhalt einer bewaffneten Buergerwehr, zu einer eigenen, wenn auch beschraenkten Gerichtsbarkeit, das Recht, Maerkte abzuhalten und, in manchen Staedten, Messen fuer den deutschen und internationalen Warenhandel zu organisieren, Zuenfte zu organisierten, Handwerker anzusiedeln und einheimisches oder aus dem neuentdeckten Amerika importiertes Silber auszumuenzen. Die hohe Ausbeute an Silber in dieser Zeit und die hohen Gewinne aus dem europa-, ja, weltweit verflochtenem Handel, liessen die reinen Geldgeschaefte sprunghaft an Umfang zunehmen: Bankhaeuser entstanden bzw. vergroesserten sich, und die neue Form des Produzierens, des Verlagswesens, suchten und fanden ihre Niederlassungen in Staedten. Auch der schnellere Austausch von Informationen wurde ueber Staedte organisiert: der Gutenberg’sche Buchdruck und der regelmaessige Postdienst durch von Taxis legen Zeugnis dafuer ab. Uebrigens hatte eine gedruckte Bibel in dieser Zeit den Gegenwert von 14 Ochsen, ein Brief von Frankfurt nach Paris war nur 48 Stunden unterwegs,
Mit dem traditionsreichen Rittertum verschwand langsam der niedrige Adel; die „edlen Ritter“ verkamen zu verelendeten Raubrittern. Durch ihre Wirtschaftskraft und ihre Anpassungsfaehigkeit an die neue Zeit, konnten sich nun die Staedter dem bislang machthaberischen und selbstherrlichen niedrigen Adel, dem Landadel, widersetzen. Als Buerger waren sie jetzt Angehoerige des dritten Standes, neben dem ersten Stand, dem Klerus, und dem zweiten Stand, dem hohen Adel.
Klerus, Adel, Buerger – und wer waren die, die diesen drei Staenden nicht angehoerten? Das waren die, die das Land und die Waelder, die Seen und die Fluesse bewirtschafteten, in Doerfern, Weilern oder Einoeden lebten – die Bauern und Doerfler. Deren Existenzgrundlage waren meist unbewegliche Gueter, und anders als andere, lebten sie in einer fast schicksalshaften Verbundenheiten mit und von dem Land. Ein Bauernleben war hart, ungerecht, meist unfrei. Mehr als drei Viertel der Deutschen lebten ausserhalb der Staedte, sie lebten auf dem „flachen Land“ und wurden vom Klerus, vom Adel, aber auch von den Buergern ausgepresst bis aufs Blut.
Manches Mal richtete sich Georg waehrend der Arbeit auf, reckte sich und streckte die langen, knochigen Arme mit den kraeftigen, zum Zupacken geschaffenen Haende in den Himmel und starrte unverwandt in die Ferne. Ein seltsamer Glanz lag dann in seinen Augen. Und dann ueberfiel ihn wieder eine Wut und eine Hoffnungslosigkeit, dass er haette schreien koennen. Er war jetzt siebzehn. Ein hoch aufgeschossener Junge, fast nur Haut und Knochen, aber ein zaeher Bursche, der viel Kraft hatte und auch kraeftig und geschickt hinlangen konnte. Aber fuer was? Und fuer wen? Und warum?
Die Muehle und das Bauernsach gehoerten dem Johann. Der Franz und der Simmerl waren ihre eigenen Wege gegangen und hatten sich woanders nach Arbeit und Bleibe umgeschaut. Wobei der Simmerl unverhofft das grosse Los gezogen hatte: er konnte in eine kleine Muehle einheiraten, auf der es keinen maennlichen Nachkommen gab. Also wuerde er – wenn es Gott und das Glueck so wollten – eines Tages Mueller in einem ruhigen Seitental der Wertach werden, wo er jetzt als Schwiegersohn noch als erster Muehlknecht arbeitete. Und auf diesen Tag liess sich gut und gerne warten. Auch mit seiner Frau hatte er Glueck: sie war ihm gut, war lebenslustig und gescheit und hatte ueberhaupt ihr Herz am rechten Fleck. Sie war zum zweiten Mal in anderen Umstaenden; das erste Kind war ein Bub, inzwischen gut zwei Jahre alt. Aus Liebe und zu Ehren des Grossvaters hatte man ihn auf den Namen Rudolf taufen lassen.
Den Franz aber hatte es weit hinausgezogen, an den suedwestlichen Rand des Schwarzwalds, wo er in einem Saegewerk arbeitete, und – vor allem im Winter - mit den schweren Roessern die schweren Staemme der gefaellten Tannen ruecken und zum Abtransport herrichten musste. „Was fuer eine Blutsschinderei!“, fluchte er oft vor sich hin, wenn die Pferde wieder einmal genau das taten, was sie nicht tun sollten und anders herum. Ja, die Bachmanns und die Roesser. Aber der Lohn war gut, das Essen gut und reichlich, und fuer seinen Strohsack und die wenigen Kleidungsstuecke und Gegenstaende, die ihm gehoerten, hatte er eine eigene kleine Kammer, sodass er nicht mit den anderen Saegwerksburschen in einem Raum schlafen musste. Wie ihn ueberhaupt der Saegmueller und seine Frau fast immer gut und respektvoll behandelten, wo sie doch wussten, dass der Franz aus einer Getreidemuehle im Oberschwaebischen stammte und eines Tages entweder sein Erbe antreten oder seinen Erbteil ausbezahlt bekommen wuerde, also schon etwas mehr darstellte, als ihre anderen Knechte.
Nur manchmal an den Sonn- oder Feiertagen, wenn er mit den Saegwerksburschen ins Dorf zog und dort nach der Kirche im Wirtshaus einkehrte, fing er an zu trinken, trank wie ein verdurstender Ochse, soff, konnte nicht mehr aufhoeren zu saufen, wurde betrunken, wurde besoffen. Ja, und dann wurde der Franz von einem heillosen Heimweh gepackt. Wenn dann ein unrechtes Wort fiel, dann wurde er so zornig und rauflustig, dass es besser war, ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn aber gerade dann die Wirtstube voller besoffener, unverheirateter und rauflustiger Burschen war, dann war eine Rauferei unvermeidlich, dann floss am Ende Blut und man musste hinterher die Verletzten aus dem Wirtshaus hinaus und nach Hause schleppen. Und das passierte mit dem Franz hin und wieder, und das war der Grund, warum der Saegmueller und seine Frau ihn nicht immer gut und respektvoll behandelten.
Aber fuer was? Und fuer wen? Und warum? Der Georg konnte mit starrem Blick in der Ferne schauen solange er wollte – von der Blaeue des fernen Horizonts war keine Antwort zu erwarten. Die Antwort lag in ihm selbst, das spuerte er, aber er konnte sie nicht fassen: das vage Gefuehl, das inzwischen zur festen Ueberzeugung geworden war, dass ihn seine Mutter verraten und im Stich gelassen hatte, dass er zu Hause nur geduldet wurde und dass er ohnehin nur das fuenfte und inzwischen sogar nur das sechste Rad am Wagen war, dass sein Vater von Anfang an die drei Soehne aus seiner erste Ehe vorgezogen und ihn nie als gleichwertig betrachtet hatte - das war einfach zuviel fuer ihn an Zuruecksetzung und an Enttaeuschung. Und so musste sich Georg einfach gegen die tiefere Einsicht sperren, dass er gefangen war in einem unzerreissbaren Netz aus unguten Umstaenden und einem vielfachem Nicht-aus-der-Haut-Koennen.
In dieser Zeit war es, dass Rudolf, dem Vater, etliche Beschwerden des Aelterwerdens das Leben sauer machten. Der Bader hatte in schon zweimal zur Ader gelassen und ihm empfohlen, Kuerbiskerne zu kauen. Kuerbiskerne. Ausgerechnet. Missmutig schlich er sich – wenn ihm das die Schmerzen seiner arg geschwollenen Prostata erlaubten – breitbeinig wie ein Alter um das Austragshaus herum, mermelte, grantelte und kritisierte. Meist ohne Grund. Und so kam es, wie es kommen musste: wegen einer Kleinigkeit schimpfte er mit dem jungen Georg. Der fuehlte sich zu Unrecht beschimpft. Er schimpfte zurueck. Nein, er schimpfte nicht zurueck. Er schrie den Vater an und sagte ihm Dinge, die ein Sohn seinem Vater nicht sagen soll und nicht sagen darf. Dann machte er ein paar wuetende Schritte auf den Vater zu. Der fuehlte sich bedraengt. Und bedroht. Vom eigenen Sohn. Er hob seinen Stock, den er als Gehstuetze benuetzte und schlug empoert und mit Kraft auf Georg ein. Der konnte gerade noch ein wenig ausweichen und seinen rechten Unterarm schuetzend ueber den Kopf halten. Aber der Stock krachte auf seine linke Schulter. So hart, dass ihm der Schmerz die Traenen in die Augen trieb. Aber es kam kein Ton ueber seine Lippen. Er umgriff den Stock, den der Vater erschoepft auf Georgs Schulter hatte liegen lassen. Er riss daran, hatte die Waffe jetzt fest im Griff seiner kraefttigen Rechten. Hob sie hoch und ...
In diesem Moment warf sich Hildegard von hinten auf den Stock und auf Georg und schrie. Das war wie ein Urschrei, der alle ihre verborgenen und zurueckgedraengten Gefuehle von Schuld und Unschuld, von Liebe und Enttaeuschung, von Hoffnung und Vergeblichkeit, von Absicht und Versagen frei setzte. Jetzt schufen sie sich mit lauter Gewalt den Platz und die Aufmerksamkeit, die sie schon seit langem gebraucht haetten. Rudolf und Georg erstarrten.
„Ich geh! Ich geh! Gleich morgen geh ich!“, stammelte Georg halblaut, aber so, dass es alle hoeren konnten. „Ja, geh du nur! S’ist besser so!“, stiess es aus Rudolf hervor. Hildegard sagte nichts. Sie weinte. Und drueckte die fuenfjaehrige Veronika fest gegen ihren Koerper und legte einen Arm schuetzend um das zitternde Kind.
Am andern Morgen, noch bevor die Sonne den Tag aufhellte, machte sich Georg auf den Weg. Er hatte die Nacht ueber nicht geschlafen. Jetzt aber fuehlte er sich munter und stark. Das junge Blut pochte in seinen Adern. „Schlechter als es jetzt ist, kann es nicht werden“, hatte er sich waehrend der Nacht immer und immer wieder vorgesagt. Was wirklich schlecht ist, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber er sollte es erfahren.
Die Blaetter und Graeser lagen flach und niedergedrueckt auf der nassen Erde. Georg atmete tief den wuerzigen Duft des nahen Fruehlings ein. Es war April, und man schrieb das Jahr 1525. Die Sonne waermte bereits ein wenig und die niedrigen Straeucher zeigten ein erstes zartes Gruen. Die Maenner streckten und dehnten sich und fast waere so etwas wie eine Behaglichkeit aufgekommen. Sie waren die ganze Nacht oberhalb des Weges auf der Lauer gelegen und hatten darauf gewartet, ob sich welche von den Helfensteinern sehen liessen. Aber bisher war alles ruhig geblieben.
Sie waren Bauern aus dem Neckartal und dem Odenwald und ein Anhang von ueberall her, der Neckertaler Haufen, die sich hier unter der Fuehrung von Jaecklein Rohrbach gesammelt hatten. Der Rohrbach war ein kleiner Bauer aus Boeckingen bei Heilbronn, ein Leibeigener und nicht viel aelter als Georg. Und er war ein guter lutherischer Christ und ein mutiger Anfuehrer seiner Maenner. Er focht fuer „die Freiheit eines Christenmenschen“ ganauso, wie fuer die Befreiung von Hoerigkeit und Leibeigenschaft, von Fron- und Spanndienst und die immer halsabschneiderischen Abgabenforderungen der Pfaffen und der Adeligen. Er focht ganz einfach fuer ein besseres Leben der Bauern. Aber er war auch ein Hitzkopf und konnte oft seinen wilden und rachsuechtigen Charakter nicht beherrschen.
Wie auch jetzt: Weinsberg war fuer die Auseinandersetzung der Bauern unter der Bundschuhfahne mit den Truppen des Schwaebischen Bundes, dem eisernen Arm der von den Habsburgern vereinten Fuersten, Ritter und Reichsstaedte, ohne jede Bedeutung. Georg Truchsess von Waldburg, der Bauernjoerg, wie man ihn nannte, hatte seine Bundestruppen bei Ulm versammelt, war mit ihnen nach Leipheim an die Donau gezogen und schlug dort die fuenftausend Bauern des Baltringer Haufens in die Flucht. An die tausend wurden erstochen, viele hundert ertraenkt, ihr Anfuehrer Jakob Wehe hingerichtet, zusammen mit einer Reihe von Unterfuehrern. Von Waldburgs Maennern fiel kein einziger. Waehrend also die Baltringer an der Donau zuhauf ihr Leben liessen, waren Rohrbach und die seinen viel zu weit entfernt, um zur Hilfe eilen zu koennen. Das schmerzte ihn und er fuehlte sich schuldig. Deshalb hatte er sich jetzt in den Gedanken verbissen, die Burg Weinsberg nicht nur zu erobern und zu pluendern, sondern sie moeglichst dem Erdboden gleichzumachen. Sollten seine Bauern den Burgherrn zu fassen bekommen, diesen von den Bauern so abgrundtief gehassten Grafen Ludwig von Helfenstein, Amtmann von Weinsberg und Obervogt ueber alle wuerttembergische Bauern und Schwiegersohn des inzwischen verstorbenen Kaisers Maximilan, ja, dann hatte er sich fuer diesen feinen Herren etwas ganz Besonderes ausgedacht. Dass der Vogt samt Frau, Kind und Gefolge sich auf der Burg aufhielt, war sicher. Sie hatten ihn naemlich selbst gesehen, wie er von der Stadt zur Burg hinaufgeritten war. Der Blutsauger. Und auf dem Ritt soll er gesagt haben, dass er alle Bundschuh-Bauern verbrennen lassen wuerde, derer er habhaft wuerde. Der Moerder.
Georg wusste, und oefter hatte er in den zurueckliegenden Wochen mit den anderen darueber debattiert, dass die Bauernhaufen einen Krieg mit den Fuersten eigentlich nicht wollten. Deshalb hatten sich ja einige der ihren in Memmingen versammelt und im Februar und Maerz 1525 die „Zwoelf Artikel“ verfasst, ein Bauernmanifest, das als gedruckte Schrift in Windeseile in ganz Deutschland verbreitet wurde. Ueber diese „Zwoelf Artikel“ wollten sie mit den Fuersten verhandeln. Verhandeln. Es kam auch zu Verhandlungen, aber Scheinverhandlungen nur, die die Bauern in Wirklichkeit nur solange hinhalten sollten, bis die Habsburger ihre Truppen aus Oberitalien nach Deutschland geholt hatten. Die kaiserlichen Soeldner hatten naemlich noch im Februar bei Pavia gegen die Franzosen gekaempft.
„Der Adel und der Klerus denken ueberhaupt nicht daran, mit uns ernsthaft zu verhandeln.“ „Die haben doch gar kein Interesse, dass sich an unseren Lebensumstaenden etwas verbesser.“ „Nein, nein – nur noch mehr auspressen wollen sie uns.“ „Zum grossen Zehnt kommt der kleine Zehnt, dann die allgemeinen Steuern. Und jetzt soll auch noch unser Kleinvieh und das Obst und Gemuese aus unseren Gaerten besteuert werden.“ „Auch den Dorfanger und das Gemeindewaeldchen wollen sie uns wegnehmen. Das sind doch alles nur Halunken und Diebe.“ „Ueber unser Leben als Christen sollen weiterhin die Pfaffen wachen und fett daran werden.“ „Ein Bauer, der einen direkten Weg zu seinem Gott sucht und findet, wuerde ja auch seinen Pfaffen arbeitslos machen.“ „Ich bin auch ohne Arbeit und muss schauen, dass ich weiterkomme.“ „Dann wuerde dem Hurenpapst in Rom das Geld ausgehen und er muesste seinen neuen Dom aus Scheisse und Stroh bauen.“ „In unseren Doerfern wollen wir wieder das Sagen haben und selber bestimmen, wie wir in christlicher Bruederschaft zusammenleben koennen.“
Georg war nie ein Wortfuehrer, wenn es lautstark und hitzig um solche Themen ging. Erstens war er kein Bauer, und zweitens hatte er ganz tief innen wenig Hoffnung, dass sich die Bauern und die kleinen Leute gegen die starke und ueber die Jahrhunderte gewachsene und verfestigte Obrigkeit wuerden durchsetzen koennen. Er war zwar gegen die blutsaugerischen Adeligen und Geistlichen und die reichen Buerger und Kaufleute, und er lehnte sich aus Ueberzeugung gegen Unrecht und Unterdrueckung auf – aber viel mehr litt er darunter, seiner Familie den Ruecken gekehrt zu haben. Deshalb zog er jetzt mit den aufstaendischen Bauern umher – fast drei Jahre schon: erst in die Gegend von Kempten, dann um den Bodensee, sogar in der Schweiz, dann am Rhein und am Neckar. Das bedeutete oft Hunger, Kaelte, Hitze, Naesse, Ungeziefer, Krankheit, Anfeindung, Gefahr. Aber auch Kameradschaft, Maennlichkeit, Abenteuer. Das war jetzt sein Leben. Das war jetzt seine Familie. Keine heilige zwar, aber doch eine, in die er ohne viel Umstaende aufgenommen worden war und der er sich jetzt zugehoerig fuehlte. Hier war er kein ueberfluessiges Rad, sondern der Junge mit den scharfen Augen und dem guten Gehoer: er sah und hoerte alles lange bevor seine Kameraden darauf aufmerksam wurden. Deshalb war er der Spaeher der kleinen Abteilung geworden, und manchmal liess ihn sogar der Jaecklein Rohrbach kommen und nuetzte seine scharfen Augen und sein feines Gehoer.
Er vernahm den Pfiff des nachgeahmten Falken zuerst. Das war das vereinbarte Zeichen. Dann noch einmal. Georg sagte es seinen Kameraden. Es war acht Uhr am Morgen des Ostersonntags 1525. Sie griffen nach ihren Waffen, zerrten die langen, einfachen Leitern aus dem Graben und hetzten hinauf zur Burg. Als letzte kamen sechs Mann, die einen schweren Baumstamm schleppten, in den Griffhoelzer eingelassen waren: ihr Rammbock. Jaecklein hatte zum Angriff befohlen. In hellen Scharen stuermten die Bauern huegelaufwaerts, rammten mit ihren Baumstaemmen gegen das eisenbewehrte Tor, legten ihre langen Leitern an die Burgmauer. „An die Nordmauer! Mehr Maenner an die Nordmauer!“, schrie der Jaecklein. Dort war die Befestigung vor zwanzig Jahren einmal beschossen und schwer beschaedigt worden. Dort war es leichter, ueber die Mauer zu kommen. Die Bauern kletterten die Leitern hinauf, wurden umgestossen, mit Pfeilen und Armbrustbolzen beschossen, mit Steinen beworfen und mit heissem Wasser uebergossen. Hin und wieder krachte der Schuss eines Vorderladers. Die Angreifer handelten wie im Rausch, und die Verteidiger kaempften tapfer um ihr Leben. Aber es waren zuwenige Soldaten in der Burg und zuviele Angreifer – jeder gestuerzte oder verwundete Bauer wurde in Windeseile ersetzt, waehrend die Zahl der Verteidiger rasch abnahm. Sie wurden muede, waren bald erschoepft und schliesslich fehlte es an Pfeilen, Bolzen, Steinen und selbst an heissem Wasser.Viele fielen im Kampf, andere flohen und versteckten sich, wenige suchten Zuflucht im Burggebaeude innerhalb der Ummauerung. Es war neun Uhr am Morgen des Ostersonntags 1525.
Zur inneren Burg fuehrte Jaecklein Rohrbach ueber hundert Bauern, nachdem man das Tor aufgebrochen und die Verteidiger im Torhaus niedergemacht hatte. An seiner Hellebarde hing ein kleiner Wimpel mit dem Bundschuhwappen. Mit der Hellebarde schlug er gegen das Burgtor und schrie mit ueberschnappender Stimme: „Komm heraus und stell dich deinen Freveltaten!“ Und wieder: „Komm heraus und zeig dich als ein Mann, Graf Ludwig!“ Und: „Oder sollen wir vielleicht nach deinem Schwiegervater schicken? Dem toten Kaiser?“ An seiner schrillen Stimme erkannten alle, dass in dem Jaecklein das Blut kochte und dass er ausser sich war. Die Bauern starrten auf den Einlass. Und tatsaechlich hoerte man etwas hinter der schweren Tuere, aufgeregtes Fluestern, Schritte, Geraeusche von Metall, das auf Metall schlaegt, dann ein Schieben und Ziehen: die schweren eisernen Riegel wurden entfernt. Die Burgtuere ging auf und heraustrat – gross und mit erhobenem Kopf, in voller Ruestung, mit Helm und Bewaffnung: Graf Ludwig von Helfenstein, der Leuteschinder und Blutsauger, der Bauernfeind und Schwiegersohn des verblichenen Kaisers. Bleich war auch er. Aber er zitterte nicht, als er mit beiden Haenden den schweren Helm abnahm und ihn einem Nebenstehenden zum Halten gab und das lange Zweihaender-Schwert aus der Aufhaengung loeste und dem Jaecklein ueberreichte. Der zuckte fuer einen Moment aufgeregt mit den Mundwinkeln. Offenbar wollte er etwas sagen. Aber dann schwieg er lieber. Ein anderer Bauer nahm Ludwig das Jagdmesser ab, dann formierte sich eine Bedeckung und man fuehrte Ludwig von Helfenstein, zusammen mit seiner Frau Margaretha, der Tochter des Kaisers und den dreijaehrigen Sohn aus der Burg hinaus und hinunter in die kleine Stadt Weinsberg.
„Er will ihn durch die Spiesse laufen lassen! Er will ihn durch die Spiesse ...“ Die Bauern waren entsetzt. „Jetzt ist der Jaecklein verrueckt geworden!“ „Das kann er doch nicht machen!“ „Bei aller Wut, aber das geht zu weit!“ „Der Helfenstein ist doch einer von hohem Adel.” Die Bauern und die Weinsberger liefen herum wie kopflose Huehner. „Warum denn nicht?“ „Hat er uns nicht behandelt, wie er keinen seiner Hunde behandeln wuerde?“ „Sollen die hohen Herren doch erfahren, was wir Bauern unter Gerechtigkeit verstehen: Auge um Auge. Zahn um Zahn.“ „Alle von uns verbrennen lassen wollte er, der Lump. Jetzt soll er laufen lernen. Durch die Spiesse laufen soll er lernen.“
Das „durch die Spiesse laufen“ war eine schlimme militaerische Strafe, die nur im aeussersten Fall verhaengt wurde, und wenn, dann nur ueber Landsknechte, also ueber Berufssoldaten. Nie und nimmer ueber adelige Ritter. Noch nie im deutschen Reich musste ein Adeliger durch die Spiesse laufen. Das also war es, was sich Jaecklein Rohrbach als Bestrafung fuer den Vogt und Grafen Ludwig ausgedacht hatte. Jaecklein stellte sich taub gegen die Einreden seiner eigenen Leute, taub gegen die Bitten Margarethas, der Frau des Grafen, die sie auf Knien vorbrachte. Man stelle sich vor: Margaretha, die Tochter des Kaisers Maximilian I. kniet vor Jaecklein Rohrbach, dem kleinen, leibeigenen Bauern aus Boechingen bei Heilbronn, und bittet unter Traenen um das Leben ihres Mannes. Was fuer ein Bild. Dieses Bild war es, zusammen mit dem von Ludwig von Helfenstein, wie der durch die enge Gasse aus tobenden und laermenden Bauern taumelt, die von beiden Seiten mit Kriegssensen und gezackten Keulen, mit Fischspiessen und Hellebarden, mit Kriegssicheln und Dreschflegeln auf den Grafen einstechen und einschlagen, solange, bis er zerschlagen und aus vielen Wunden blutend tot am Boden liegt. Diese beiden Bilder brannten sich tief ins Bewusstsein der Menschen ein, besonders der Menschen „von Stand“.
Georg wuergte es und er musste mehrmals erbrechen, noch bevor das Spiesslaufen begann. Die Erinnerung an die Begebenheit auf dem Hof seines Vaters war mit Macht zurueckgekommen und hatte von ihm Besitz ergriffen: der Knueppel, der zum Schlag gegen den Vater erhobene Arm, der Schrei der Mutter, das Entsetzen, seine Verstossung und seine Flucht aus dem Elternhaus.
Auch jetzt floh er: die sinnlose Brutalitaet des Jaecklein, der Wahnsinn in den Blicken vieler Bauern, der unstillbare Durst nach blutiger Rache, die Zuegellosigkeit – nein, das war seine Sache nicht mehr. Dann lieber alleine auf der Welt sein, als so einer Familie anzugehoeren. Er schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Aber alle Aufmerksamkeit war auf das Speisslaufen gerichtet. Also ging er rueckwaerts, erst langsam, dann schneller, dann drehte er sich um und lief so schnell er konnte auf die andere Seite von Weinsberg, nach Westen, in Richtung Heilbronn. Und weiter wanderte er nach Bruchsal und dann an den Rhein. Er wollte weg von den Bauern, weg von dem Hauen und Stechen und Toeten. Er wollte nicht weiter in Dinge hineingezogen werden, die immer nur die schlechten Seiten des Menschen nach aussen kehrten. Er war kein schlechter Mensch, und er hatte nur wenige und einfache Wuensche ans Leben: ein Dach ueber dem Kopf, eine Arbeit, die ihn ernaehrte und ein paar Menschen um ihn herum, mit denen er gut sein konnte und die gut mit ihm waren. War das zuviel?
„Die Weinsberger Bluttat“ loeste unter den Adeligen eine Panik aus. Gab es bis dahin unter ihnen welche, die mit der Sache der Bauern sympathisierten, so stellten sich nun alle geschlossen gegen sie. Martin Luther, der mit ihren Schriften dem Aufruhr der Bauern erst die geistige und geistliche Richtung gegeben hatten, war jetzt voll gegen sie eingestellt. Luther verfasste „Wider die moerderischen Rotten der Bauern“ und sprach von tollen Hunden, die man erschlagen muesse.
Jaecklein Rohrbach wurde aufgegriffen, dem Truchsess von Waldburg uebergeben, der ihn in Neckargartach bei lebendigem Leib verbrennen liess. Die Stadt Weinsberg wurde zerstoert, verlor fuer Jahrzehnte seine Stadtrechte und seine Buerger mussten hohe Strafen zahlen. Die Burg war ausgebrannt und verfiel zur Ruine. Die Bauern aber, die Neckartaler und Odenwalder, vereinigten sich mit den Taubertalern, und die nunmehr an die zwoelftausend Maenner zogen unter der Fuehrung von Florian Geyer, Goetz von Berlechingen und Thomas Muentzer gegen Wuerzburg und Mainz, gegen die Pfalz und nach Stuttgart und Freiburg – immer verfolgt und gestellt von Georg Truchsess von Waldburg und dem Heer des Schwaebischen Bundes. Die Ueberlegenheit der Soldaten der Bundesarmee, besonders die ihrer Kavallerie, ihre bessere Ausbildung und bessere Ausstattung, und nicht zuletzt die Fuehrung durch den „Bauernjoerg“, kam in den wenigen Monaten mehr und mehr zum Tragen. Das Bundesheer musste sich zwar manchmal zurueckziehen, gewann aber doch mehr Einzelschlachten und trieb die Bauern vor sich her und in die Enge. Im Juli wurden zuletzt auch die Allgäuer Bauern in der Gegend von Kempten vom schwäbischen Bundesheer geschlagen. Dreissig ihrer Anführer wurden enthauptet. Ein weitverbreiteter Vers zaehlte zusammen:
Wer im 1523. Jahre nicht stirbt, (= Pestjahr)
1524 nicht im Wasser verdirbt, (= anhaltende Regenfaelle)
und 1525 nicht wird erschlagen, (= Bauernkrieg)
der mag wohl von Wundern sagen.
Georg zog es weiter den Rhein hinauf nach Norden. Er arbeitete auf Floessen, mit denen das wertvolle Tannenholz aus dem Schwarzwald nach Holland geschafft wurde. Auf flachen Schiffen, die Kohle von der Saar, aus Lothringen oder von der Ruhr geladen hatten. Er half manchem Rheinfischer und ging ueberhaupt jedem zur Hand, der seine Arbeitskraft brauchen und ihm dafuer Essen und eine Ecke zum Schlafen geben konnte. In Koeln blieb er fast ein Jahr. Ihm gefielen Stadt und Bewohner und er hatte Arbeit, fuer die er bezahlt wurde, zusaetzlich zum Essen und dem Schlafplatz. In Koeln hoerte er das erste Mal von den Niederlanden und davon, dass dort mit Hilfe des Windes Muehlen angetrieben wurden. Das interessierte ihn. Und auf einmal hatte seine Reise, die sich bislang mehr am Lauf des Stroms als an irgendwelchen eigenen Plaenen orientiert hatte, ein Ziel. Ein Ziel, das irgendwie einen Sinn machte.
Georg fand in den Niederlanden den Platz, wonach er sein ganzes Leben lang gesucht hatte: er wurde Mahlknecht, dann Mueller, er heiratete, zeugte sieben Kinder, darunter vier Soehne, und starb 1582 in dem Bewusstsein, eine kraftvolle und lebenstuechtige hollaendische Linie der Bachmanns gegruendet zu haben. Und er war zufrieden damit.


Anton Bachmann, 1601 – 1638



Eine „kleine Eiszeit“ in der zweiten Haelfte des 16. Jahrhunderts, Missernten und Teuerungswellen, die Pest von 1583, Ueberbevoelkerung und eine insgesamt stagnierende Wirtschaft, betruegerische Geldwechsler, Unruhen unter den Bauern und Doerflern, Judenfeindschaft und Pogrome, und – weil das vielleicht alles noch nicht genug gewesen waere –: die brutale Verfolgung von sogenannten Hexen und Zauberern; tausende Frauen wurden gefoltert und verbrannt, falschen Beschuldigungen waren Tuer und Tor geoeffnet. Der Uebergang vom 16. ins 17. Jahrhundert verlief ausgesprochen turbulent und die Menschen waren unsicher und fuehlten sich bedroht.
Auch das Leben auf der Bachmann’schen Muehle in Bertoldshofen bildete da keine Ausnahme. Bessere Zeiten unterbrachen schlechtere, auf schlechtere folgten ganz schlechte. Wirklich gute Zeiten gab es nur noch in Erzaehlungen. Aber Geburten folgten auf Hochzeiten und Sterbefaelle wechselten mit Geburten; Unfaelle und Krankheiten wurden als selbstverstaendlich im Leben hingenommen, denn man fuhr besser, wenn man die Dinge so nahm, wie sie kamen und wie sie waren. Es war also kein besonders freudiges Ereignis, als im Mai 1601 ein kleiner Junge auf die Welt kam, stramm und munter; es war bereits das vierte Kind; der Kleine wurde auf den Namen Anton getauft. Als er heranwuchs, behielt er das Stramme und Muntere bei; er war stark, aber er arbeitete nicht gerne, dafuer trank er um so lieber und war immer wieder in Raufhaendel verwickelt. Er lief den Roecken nach und oft blieb er tagelang weg, und es wurde darueber geredet, dass er sich mit schlechten Weibern herumtreiben wuerde. So war niemand auf der Muehle und im Dorf so recht ungluecklich darueber, als sich Anton von einem Werber der kaiserlichen Armee anwerben liess. Er bekam ein kleines Handgeld, schnuerte sein Buendel, verabschiedete sich von den Seinen und verliess Bertoldshofen – zusammen mit anderen Rekrutierten aus der Gegend – in Richtung Augsburg und Muenchen. „Ja, ein Soldat - das wird wohl das Richtige sein fuer den Anton. Behuet ihn Gott.“ Das sagte der Vater, als er dem Sohn ein letztes Mal nachsah. Das war im Fruehsommer 1619.
Und tatsaechlich, das Militaer und das Militaerische gefiel dem Anton, und es war fast so, als haetten ihm Drill, Gehorsam und Strenge gefehlt, um seine ueberfliessende Kraft zu zaehmen und aus ihm einen umgaenglichen Menschen zu machen. Ein guter Soldat wurde er auf jeden Fall. Als sein Feldweibel beobachtete, was fuer ein guter Schuetze der junge Anton war, durfte er an einem Scheibenschiessen teilnehmen, bei dem er zum Schluss einen achtbaren dritten Platz belegte. Er wurde befragt und man trug ihm an, die Ausbildung zum Musketier zu machen. Da huepfte sein Herz und von dem Augenblick an konzentrierte er alle seine Faehigkeiten, um ein guter Musketier zu werden. Und das wurde er.
Anton wusste nichts von Georg, seinem Vorfahren, der einhundert Jahre vor ihm mit den Bauern gegen die adeligen Herren gekaempft hatte, ausgestattet mit einem scharfen Auge und dem guten Gehoer, ueber die auch Anton verfuegte. Anton aber hatte dazu noch eine aussergewoehnlich ruhige Hand und verfuegte ueber eine Kaltbluetigkeit, die ihn auch in turbulenten Kampfhandlungen ruhig und ueberlegt sein liess. Er war der ideale Musketier.
Wenn er so dastand, den gruenen Hut mit der kecken Feder auf dem Kopf, dem erdfarbenen Leinenwams mit den gepufften Aermeln, den ebenfalls braunen Leinenhosen, die ueber den Knien gebunden und den wollenen Struempfen, ueber die Gamaschen gewickelt waren, den festen Halbschuhen aus Leder – dazu die lange Muskete mit dem Steinschloss, der Zielstab, an dessen einem Ende eine geschmiedete Gabel zum Auflegen des Gewehrlaufs angebracht war, das lange, flache Pulverhorn, der Degen und der Beutel mit den Kugeln – ja, dann erinnerte eigentlich nichts mehr an den Burschen aus der oberschwaebischen Muehle in Bertoldshofen. Dann stand er da wie ein Denkmal, wie das Vorbild fuer alle kaiserlichen Musketiere.
Anton erwarb sich in vielen kleinen Scharmuetzeln Anerkennung und auch Auszeichnungen. Seine erste, wirklich grosse Schlacht kaempfte Anton aber erst 1631, im September, in Breitenstein, im Norden der grossen Stadt Leipzig gelegen – weit weg von Bertoldshofen, Augsburg oder Muenchen. Der Schwedenkoenig Gustav Adolf, ein evangelischer Herrscher und Anfuehrer der evangelischen Union, war mit dreizehntausend Soldaten unter schwedischem Befehl ueber die Ostsee nach Usedom uebergesetzt, hatte mit Hilfe der protestantischen Sachsen unter Johann Georg I. von Sachsen das Heer auf vierzigtausend Mann vergroessern koennen und war auf Leipzig zumarschiert: Leipzig sollte erobert und als protestantisches Zentrum in Mitteldeutschland gehalten werden. Die katholische Liga, die kaiserlichen, in der Anton Dienst tat, stand unter dem Oberbefehl von Tserklaes von Tilly und Gottfried Heinrich von Pappenheim, dem legendaeren Reitergeneral aus Treuchtlingen im Fraenkischen, der evangelisch getauft worden war, aber dann aus freien Stuecken zum Katholizismus uebertrat. 40.000 Bewaffnete fuehrten Tilly und Pappenheim in die Schlacht. Es war die erste grosse Auseinandersetzung zwischen den beiden christlichen Konfessionen und ihren Heeren: Katholiken gegen Protestestanten. Es war der 17. September, als die Truppen des „Nordischen Loewen“ gegen die Kaiserlichen losschlugen. Ein furchterregendes Hauen, Schiessen und Stechen, und als am Abend ueber Sieg und Niederlage entschieden war, waren 7000 Kaiserliche tot und 6000 in Gefangengeschaft geraten, auf Seiten der Schweden fielen 4000 Maenner, in Gefangenschaft ging keiner. Gustav Adolf eroberte Leipzig, der Weg in den Sueden Deutschlands stand nun offen, er dankte – zusammen mit den schwedischen und saechsischen Soldaten – seinem protestantischen Gott. Den Titel „Retter des deutschen Protestantismus“ bekam er ausserdem.
Anton war weniger an der katholischen oder der evangelischen Sache interessiert, von Religion oder Politik verstand er nichts; weder Reformation noch Gegenreformation betrafen ihn. Er war Soldat. Er war ein Musketier. Er war ein Schwab und er war fuer den bayerischen Kurfuersten Maximilian eingestellt, und er diente zufrieden unter Tilly und Pappenheim. Und er war froh, ohne schlimme Verletzungen auch aus diesem Gemetzel gekommen zu sein. Er hatte den Sachsen und Schweden gehoerig eingeheizt mit seiner Muskete, und trotz der Niederlage war er zufrieden mit sich und seinem Tag und der Schlacht von Breitenfeld.
Die Schweden unter Gustav Adolf marschierten jetzt nach Sueden – die Evangelischen dort erwarteten ihn als Befreier, die Katholiken fuerchteten sich vor dem „Nordlandbarbaren“. Bei Rain am Lech, nahe Augsburg, versuchte die katholische Liga unter Kurfuerst Maximilian und Feldmarschall Tilly, den schwedischen Vormarsch zu stoppen. So nahe war Anton seiner oberschwaebischen Heimat schon lange nicht mehr gewesen. Aber Tilly fiel, und Maximilian, der energischste Widersacher des Schwedenkoenigs, zog sich nach Ingolstadt zurueck. Die Unions-Truppen unter Koenig Gustv Adolf marschierten am 17. Mai 1632 in Muenchen ein.
In der Not dieser Niederlagen uebertrug Kaiser Ferdinand II. den Oberbefehl ueber die Truppen der Liga dem Herzog von Friedland, Albrecht von Wallenstein. Nein, er uebertrug ihm den Oberbefehl nicht, er draengte ihn den Oberbefehl auf, er bat Wallenstein und flehte ihn an – genau den Wallenstein, den er aus Angst vor dessen unkontrolliertem Machtzuwachs und dessen Eigensucht aus dem kaiserlichen Dienst entlassen hatte. Wallenstein gab schliesslich dem Draengen nach und uebernahm als Generalissimus den Oberbefehl – zusammen mit dem beruehmten Gottfried Heinrich Graf von Pappenheim als Feldmarschall.
Eine ganz bestimmte Sorge trieb Gustav Adolf um, und das war die Sorge um Sachsen. Fuer die Schweden war ein evangelisches Sachsen die notwendige Verbindung von der Ostsee ins Zentrum von Deutschland, ein Schutz der langen Nachschubwege aus Schweden einerseits und zugleich ein schuetzender Riegel gegen die Liga. Die Interessen der Liga hingegen machten es notwendig, diesen Riegel zu knacken und Sachsen aus der evangelischen Allianz herauszubrechen. Schaffte man das nicht ohne Gewalt, musste man eben Gewalt anwenden. Das war die Ueberlegung auf Seiten der Liga. Aus diesem Grund setzte Wallenstein seine Truppen nach Sachsen in Bewegung. Eine Drohgebaerde erst einmal. Die Schweden erkannten die Absichten Wallensteins und folgten ihm. Auf alle Faelle mussten sie den Abfall Sachsens von der protestantischen Union verhindern.
Jetzt, im November, dachte Wallenstein daran, sein Heer auf ein Winterlager vorzubereiten, und er begann, die Truppenteile auf verschiedene, strategisch guenstig gelegene Staedte zu verteilen. Auf diese Weise sollte ein Sperriegel zwischen der schwedischen Armee und Sachsen entstehen. Pappenheim bezog sein Lager in Halle, Wallenstein bei Luetzen. Aber Gustav Adolf durchschaute den Plan: er wollte den kaiserlichen Truppen nicht laenger nur folgen, sondern sie in einer offenen Feldschlacht stellen und einen endgueltigen Sieg ueber die Liga erringen.
Gustav Adolf rueckte also mit seinen Truppen nach Luetzen vor, wo sich Wallenstein mit nur einem Teil seiner Truppen festgesetzt hatte. Er erkannte die Gefahr und beorderte Pappenheim in Halle, so schnell wie moeglich nach Luetzen zu kommen. Pappenheim, der Feldmarschall, befehligte das beruehmte Kuerrarsierregiment, das seinen Namen trug - schwer gepanzerte Reiter, kampferprobt, auf schweren, furchtlosen Pferden, die alles zermalmten, was ihnen unter die Hufe kam. Schwer, aber nicht sehr schnell.
Die Schweden waren schneller: als sich am 16. November gegen elf Uhr die Nebel lichteten, betete Gustav Adolf erst mit seinen Soldaten, 19.000 waren es, und liess dann zum Angriff blasen. Auf der Gegenseite stand Wallenstein mit seinen Truppen – die Pappenheimer fehlten noch -, zusammengenommen sollten es schliesslich 23.000 werden. Der Musketier Adolf Bachmann war einer von ihnen. Ueber die Schlacht schreibt Friedrich Schiller in seiner „Geschichte des Dreissigjaehrigen Krieges“:
„Indessen hat der rechte Fluegel des Koenigs, von ihm selbst angefuehrt, den linken des Feindes angefallen. Schon der erste machtvolle Andrang der schweren finnlaendischen Kuerassiere zerstreute die leichtberittnen Polen und Kroaten, die sich an diesen Fluegel anschlossen ... In diesem Augenblick hinterbringt man dem Koenig, dass seine Infanterie ueber die Graeben zurueckweiche und auch sein linker Fluegel durch das feindliche Geschuetz von den Windmuehlen aus furchtbar geaengstigt und schon zum Weichen gebracht werde. Mit schneller Besonnenheit uebertraegt er dem General von Horn, den schon geschlagenen linken Fluegel des Feindes zu verfolgen, und er selbst eilt an der Spitze des Stenbockischen Regiments davon, der Unordnung seines eigenen linken Fluegels abzuhelfen. Sein edles Ross traegt ihn pfeilschnell ueber die Graeben; aber schwerer wird den nachfolgenden Schwadronen der Uebergang, und nur wenige Reiter, unter denen Franz Albert Herzog von Sachsen-Lauenburg genannt wird, waren schnell genug, ihm zur Seite zu bleiben. Er sprengte geradewegs demjenigen Orte zu, wo sein Fussvolk am gefaehrlichsten bedraengt war, und indem er seine Blicke umhersendet, irgendeine Bloesse des feindlichen Heeres auszuspaehen, auf die er den Angriff richten koennte, fuehrt ihn sein kurzes Gesicht zu nah an dasselbe. Ein kaiserlicher Gefreiter bemerkt, dass dem Voruebersprengenden alles ehrfurchtsvoll Platz macht, und schnell befielt er einem Musketier, auf ihn anzuschalgen. ‚Auf den dort schiesse!, ruft er, „das muss ein vornehmer Mann sein.’ Der Soldat drueckt ab, und dem Koenig wird der linke Arm zerschmettert. In diesem Augenblick kommen seine Schwadronen dahergesprengt, und ein verwirrtes Geschrei: ‚Der Koenig blutet – Der Koenig ist erschossen!’ breitet unter den Ankommenden Schrecken und Entsetzen aus.“
Was Schiller nicht wissen konnte: der Musketier, der dem kurzsichtigen und deshalb zu nahe an den Feind geratenen Koenig Gustav Adolf mit seiner Kugel den linken Arm zerschmetterte, war Anton Bachmann. Er hatte waehrend des bislang kurzen Schlachtverlaufs Deckung gesucht, ruhig gestanden, angelegt, anvisiert, abgedrueckt und getroffen. nachgeladen, angelegt, anvisiert, abgedrueckt und getroffen, nachgeladen, angelegt, anvisiert ... und in diesem Moment hoerte aus dem Gebruell von tausend Stimmen, dem Wiehern der Pferde, den Schuessen aus Musketen und Pistolen und dem Droehnen der Geschuetze den Befehlsschrei eines Gefreiten heraus: „Auf den dort schiesse!, rief der, ‚das muss ein vornehmer Mann sein.“ Er hatte angelegt, anvisiert, abgedrueckt und getroffen. Kein schlechter Schuss, dachte er. Aber er hatte wenig Gelegenheit, sich darueber zu freuen: In wenigen Augenblicken war er umringt von den berittenen Schweden, die schrieen, auf ihn einschlugen, einstachen, auf ihn schossen. „Er wars. Der da. Er hat auf unseren Koenig geschossen.“ „Auf den Koenig?“, fluesterte der sterbende Anton. „Ein vornehmer Mann, hat er gerufen. Aber es war der Koenig. Ich hab den Koenig getroffen. Ich. Ganz allein.“ Sterbend lag er auf der feuchten Erde. Aus hundert Wunden blutete er. Ueber sich die wutverzerrten Gesichter, die etwas schrieen. Er konnte es nicht hoeren. Wo er doch sonst so gut hoerte. Es war kurz nach zwoelf Uhr Mittag, als Anton das Augenlicht brach. Die Augen brachen. Die Augen, die alles so gut sehen konnten. Jetzt nicht mehr.
Weiter heisst es bei Schiller: „’Es ist nichts - folgt mir’, ruft der Koenig, seine ganze Staerke zusammenraffend; aber ueberwaeltigt von Schmerz und der Ohnmacht nahe, bittet er in franzoesischer Sprache den Herzog von Lauenburg, ihn ohne Aufsehen aus dem Gedraenge zu schaffen. Indem der letztere auf einem weiten Umweg, um der mutlosen Infanterie diesen niederschlagenden Anblick zu entziehen, nach dem rechten Fluegel mit dem Koenig umwendet, erhaelt dieser einen zweiten Schuss durch den Ruecken, der ihm den letzten Rest seiner Kraefte raubt. ‚Ich hab genug, Bruder’, ruft er mit sterbender Stimme. ‚Suche du nur dein Leben zu retten.’ Zugleich sank er vom Pferd, und noch von mehreren Schuessen durchbohrt, von allen seinen Begleitern verlassen, verhauchte er unter den raeuberischen Haenden der Kroaten sein Leben.“
Inzwischen war Pappenheim mit seinen Kuerrassieren eingetroffen, und die Maenner und Pferde waren durch den Eilmarsch erschoepft. Pappenheim aber goennte sich und den Seinen keine Pause der Erholung, sondern stuerzte sich augenblicklich in die Schlacht. Und das war sein Verhaengnis. Er wurde toedlich verwundet. Seine Truppen flohen und entzogen sich mehr oder weniger der Schlacht und verweigerten den Gehorsam. Einige ihrer Fuehrer kamen spaeter vor ein Kriegsgericht.
Anders als bei den Pappenheimern, entfachte der Tod ihres Koenigs Gustav Adolf einen Rachesturm bei den Schweden, die unter Bernhard von Sachsen-Weimar, ihrem neuen Fuehrer, die Schlacht nicht verloren gaben und die Kaiserlichen mehrmals an den Rand einer Niederlage draengten. Nach der Schlacht, am Abend des 16. November 1632, hatte die Union 5000 Tote und Verwundete zu zaehlen, die Liga zwischen 3000 und 6000 Tote und Verwundete. Das einschneidende Ereignis, das viele an diesem Tag noch unbekannte Folgen nach sich zog, war der Tod Gustav Adolfs.

Nachtrag und Ausblick: Wurde jemand im christlichen Abendland um 1650 herum mit „einem goldenen Loeffel im Mund“, sprich, in eine Familie von Stand hineingeboren, konnte man ziemlich sicher sein – soweit es ueberhaupt so etwas wie Sicherheit geben kann – dass Jahr, Monat, Tag und Stunde der Geburt genau festgehalten und dokumentiert wurden. Das war man sich selbst, dem Stand und dem neuen Erdenbuerger schuldig.
Erblickte jemand zur genanten Zeit das Licht dieser bedauernswerten Welt allerdings als Kind einfacher oder sogar armer Leute, tja, dann war es so gut wie sicher, dass sich niemand fand, der eine solche Geburt amtlich erfasste und beurkundete.
In manchen Gegenden wurden erst in der zweiten Haelfte des 17. Jahrhunderts Pfarrbuecher angelegt, in die des Lesens und Schreibens kundige und gewissenhafte Geistliche Geburten, Taufen, Hochzeiten und Todesfaelle eintrugen. In der Pfarrei Bertoldshofen war das ab 1683 der Fall.
Mit Johann Bachmann, Mueller und Ortsrichter, Geburtsdatum unbekannt (1650?), gestorben am 27.9.1716 in Bertoldshofen, in erster Ehe getraut mit Sibylla, Herkunft nicht feststellbar, gestorben am 3.3.1691 – mit diesen mageren Daten beginnen dann die ersten echten, dokumentierten Daten der Familie Bachmann aus Bertoldshofen; Johann Georg und Therese Bachmann uebersiedelten um 1800 ins nicht weit entfernte Ettringen. Warum, ist nicht vermerkt.


Adolf Bachmann, 1869 - 1933



Der maennliche Vorname Adolf war der beliebteste in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Wie so manches Alte wieder aufgekocht wurde in dieser Zeit, wurde auch wieder mehr an den schwedischen Koenig Gustav Adolf gedacht, dem Nordischen Loewen und Retter des Protestantismus in Deutschland. Warum man denm Namen Adolf dem Vorzug gegenueber dem Gustav gab, und warum eine erzkatholische Familie in Schwaben einen ihrer fuenf Soehne Adolf nannte, tja, das sind zwei Geheimnisse, die so einfach nicht zu enthuellen sein werden. Auf jeden Fall: der Adolf Bachmann, um den es hier geht, kam im Dezember 1869 in Ettringen an der Wertach, im schwaebischen Unterallgaeu, zur Welt. Seine Eltern waren Anton Bachmann, geboren 1837 in Ettringen und bis 1873 Gutsbesitzer am gleichen Ort, und Laura von Pfetten, geboren 1840 in Landsberg am Lech. Die Bachmanns hatten zehn Kinder. Sie uebersiedelten 1873 von Ettringen nach Muenchen. Anton Bachmann starb 1901 in Muenchen, Laura Bachmann 1896, ebenfalls in Muenchen. Mit Anton und Laura kamen die Bachmanns also in die bayerische Landeshauptstadt.
Adolf Bachmann war das fuenfte von zehn Kindern – fuenf Maedchen und fuenf Boden, als waere in der Familie auf eine Balance nach Geschlechtern geachtet worden. Er wurde 184 cm gross, 100 Kilogramm schwer und war Kunst- und Bauschlosser von Beruf. Von 1892 bis 1895 lebte er als Brueckenbauer in Brasilien. Er liebte das Bergwandern und war aktiver Gewichtheber.
In den 1880er Jahren wurde fast ganz Deutschland von einer Art Auswanderungsfieber gepackt. Es gab religioese Gruende dafuer, Protestanten dominierten die Katholiken und Katholiken die Protestanten und Juden wollten den fortwaehrenden Diskriminierungen entkommen. Politischen Freigeistern wurde der autoritaere Druck im von Preussen beherrschten Bismarck-Deutschland zu stark. Es gab aber auch eine wachsende Unzufriedenheit allgemeiner Art: sie betraf die wirtschaftlichen Verhaeltnisse in den sogenannten Gruenderjahren, wo die Gruender immer reicher und fetter wurden, die Arbeiter und kleinen Angestellten aber immer mehr unter Druck gerieten. Die gesellschaftspolitischen Verhaeltnisse hatten sich unter der preussisch-protestantischen Vormachtstellung veraendert, im katholischen Sueden und in Bayern besonders, zum Nachteil der Bevoelkerungsmehrheit, besonders der Bauern. Auch die allgemeine Wehrpflicht wurde zum Thema, seit sich die Soehne wohlhabender Eltern nicht mehr freikaufen konnten, dadurch, dass sie einfach einen Ersatzmann zum Ableisten der eigenen Wehrpflicht „kauften“ („Den kauf ich mir“). Jetzt war die Wehrpflicht tatsaechlich allgemein geworden. Zwei Jahre – Einzugsalter 18.
Aber all das beschaeftigte Adolf nur am Rande. Er hatte seinen Gesellenbrief in der Tasche und auch die Entlassungspapiere vom Ende seiner Dienstzeit, die er zwischen Oktober 1889 und September 1891 beim 1. Bayerischen Feld-Artillerie Regiment „Prinzregent Luitpold“ Nr. 1 abgeleistet hatte. Dabei hatte er noch Glueck gehabt, war Muenchen doch der Friedensstandort seines Regiments; so konnte er waehrend seiner dienstfreien Tage schnell einmal die Eltern und die Geschwister besuchen. Viele seiner Kameraden konnten das nicht.
Was ihn beschaeftigte, konnte er nicht so genau beschreiben: es war eher ein merkwuerdiges Gefuehl als etwas Handfestes, ein nervoeses Flattern im Bauch, als trieben dort die Maikaefer ihr Unwesen. Haette ihm jemand auf den Kopf zugesagt, dass das ein untruegliches Zeichen fuer Fernweh und Abenteuerlust sei, haette er das nicht recht verstanden. Er wusste es einfach nicht. Aber tatsaechlich waren es Fernweh und Abenteuerlust, die ihn so unruhig sein liessen.
Das Fernweh und die Abenteuerlust nahmen zu, und so begann er, sich mit der Moeglichkeit des Auswanderns zu beschaeftigen. In jungen Jahren noch ungebunden die Welt zu erleben, sich jenseits des Bekannten und Sicheren zu beweisen - diese Gedanken nahmen in seinem Denken immer mehr Raum ein. Schliesslich fasste er den Entschluss, seiner Heimat und allem, was er gern hatte, den Ruecken zu kehren und nach Brasilien auszuwandern. Das war ja kein Schritt fuer die Ewigkeit.
Ausgerechnet. Ueber das Auswanderungsland Brasilien gab es zu der Zeit viele Informationen: Emigranten schrieben Briefe nach Hause und die Auswanderungsagenturen und deren Werber streuten welche. Die Regierung warnte vor dem ungesunden Klima und den fremdlaendischen, oft gefaehrlichen Sitten und Gebraeuchen und der Uebervorteilung durch Einheimische oder andere Einwanderer. Rueckkehrer berichteten ueber berufliche und geschaeftliche Moeglichkeiten und Erfolgsaussichten, und die Bauern unter den Gescheiterten beklagten, wie schwierig es sei, landwirtschaftlichen Grund uebertragen zu bekommen und wie ein Grossteil der Landwirtschaft als Plantagen betrieben wuerden, die sich fest in den Haenden maechtiger Grossgrundbesitzer befaenden. So erfuhr er auch von den deutschen Siedlungen in Brasilien, von Neu-Hamburg, Neu-Berlin, Pomerode, Blumenau oder dem deutschen Siedlungsgebiet Santa Caterina. Insgesamt soll es dort ueber 200 deutsche Siedlungen geben.
Doch auch das interessierte ihn nicht besonders. Er war ja kein Bauer, sondern ein Schlosser, ein Kunst- und Bauschlosser, und so interessierte er sich mehr fuer die neu gegruendete Stadt Petropolis, in deren Umkreis die brasilianische Kaiserin Leopoldina Einwanderer ansiedeln liess, vor allem welche aus Tirol. Petropolis lag im Gebirge, und bis dahin fuehrte die neue Eisenbahnlinie von Rio de Janeiro herauf, genauer vom Hafen von Manua an der Guanabara-Bucht. Jetzt hatte die Eisenbahngesellschaft vor, die Strecke zu verlaengern und sie mit der Bahnlinie zu verbinden, die von Macahe nach Friburgo fuehrte. Eine Bahnlinie im Gebirge bedeutete Bruecken, also solide Konstruktionen aus Eisen – und Eisen war sein Metier. Und Berge, Gebirge und Tirol – wie sollte ihm da, dem begeisterten Berggeher, nicht das Herz hoeher schlagen?
Seine Familie war wie vor den Kopf geschlagen. Aber Adolfs Wunsch war staerker und seine Entscheidung stand fest. Ein Auswanderungsagent half ihm nicht nur dabei, die notwendigen Papiere fuer die Ausreise aus Deutschland und die Einreise nach Brasilien zu beschaffen; er vermittelte ihm sogar einen vorlaeufigen Arbeitsvertrag mit der brasilianischen Eisenbahngesellschaft „Estrada de Ferro Leopoldina“ - nur so konnte er fuer die Ueberfahrt aufkommen, die satte Praemie des Agenten mit eingerechnet.
Von 1892 bis 1895, knappe vier Jahre lang, arbeitete Adolf Bachmann als Brueckenbauer fuer die brasilianische Eisenbahngesellschaft. Es war eine harte Arbeit, das subtropische Klima war ungewohnt und fordernd, und es wurde aufs Tempo gedrueckt. Geschenkt wurde den Brueckenbauern nichts: das Eisen zurichten, vermessen, ablaengen, verbohren, heissnieten. Das erforderte Geschick und Praezision und eine gut aufeinander eingespieltes Truppe. Adolf hatte wieder Glueck: er harmonierte mit seinen deutschen Kollegen, fast alles Sueddeutsche, einem Oesterreicher und einem aus der Brandenburger Gegend. Das ging Hand in Hand, sie schafften viel und hatten trotzdem ihren Spass dabei. Natuerlich gab es hin und wieder Streit und auch manche geringsfuegigen Verletzungen – aber eine richtige Rauferei oder ein schwerer Unfall ereignete sich waehrend der ganzen Zeit nicht. Bereits nach einem knappen Jahr konnte er bei der Gesellschaft seine Schulden zurueckzahlen und anfangen, den groessten Teil seines Lohns auf ein Sparkonto in Petropolis einzuzahlen. Zum Geldausgeben gab es nicht viele Moeglichkeiten auf der Baustelle und in der kleinen Stadt.
Es gefiel ihm in Brasilien, die Arbeit, die Kollegen, die Einheimischen. Besonders die braunen, samthaeutigen Frauen hatten es ihm angetan und manchmal dachte er ernsthaft daran, sich in diesem Teil der Welt niederzulassen, zu heiraten und eine Familie zu gruenden. Das war, als er einen Brief von seiner aelteren Schwester Karolina bekam: der Mutter ginge es schlecht, sie wuerde wohl nicht mehr lange bei ihnen bleiben ... und ob er nicht ...
Adolf hatte zeitlebens ein schwieriges Verhaeltnis zu seinem Vater. Vielleicht war das auch mit ein Grund gewesen, so einfach aus Deutschland wegzugehen. Aber seine Mutter Laura, die geborene Freifrau von Vetten, liebte er von ganzem Herzen. Und fast haette er damals ihrer Bitte entsprochen und waere zu Hause geblieben und nicht nach Brasilien ausgewandert. Jetzt hatte er ein schreckliches Gefuehl von Schuld, dass die Mutter durch ihn krank geworden sei. Ja, er fuehlte sich in ihrer Schuld. Und zwar so gewaltig, dass er sich ohne zu zoegern entschloss, Brasilien zu verlassen und zur kranken Mutter nach Muenchen zurueckzukehren ...
Laura Bachmann starb im Januar 1896, kurz nachdem ihr Sohn Adolf aus Brasilien zurueckgekehrt war. Weihnachten hatten sie noch miteinander feiern koennen.
Er trauerte lange um seine verstorbene Mutter, aber er trauerte auch darum, dass er bereits nach so wenigen Jahren Brasilien den Ruecken gekehrt hatte. Er hatte sich gut eingelebt dort, in der kurzen Zeit. Er war jetzt 26 Jahre alt. Aber seine Erfahrung im Brueckenbau verhalf ihm zu einer interessanten und gut bezahlten Arbeit. Seine neue Firma war damit beschaeftigt, an der damals zweithoechsten Eisenbahnbruecke der Welt, der Grosshesseloher Bruecke ueber die Isar suedlich von Muenchen, laufend Wartungs- und Ausbesserungsarbeiten durchzufuehren. Adolf wurde bald Vorarbeiter einer Gruppe von Metallarbeitern, die er – trotz seiner Jugend – sehr zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten fuehrte. Er wohnte voruebergehend in dem Dorf Grosshesselohe, ganz in der Naehe des Bahnhofs der Bayerischen Maximiliansbahn. Neben seiner Arbeit war er Mitglied in einem Sportverein, wo er mit den Gewichthebern trainierte und fuer viele Vergleichs- und Wettkaempfe eingesetzt wurde. Und so oft es ging, fuhr er mit der Bahn in die bayerischen Berge und wanderte hinauf zum Herzogstand, zur Benediktenwand, zur Kampenwand, und einmal bestieg er sogar die Zugspitze.
Und wie das Leben manchmal so spielt: er, der grosse, schwere Mann, der Kraftsportler mit dem kraeftigen Haendedruck, der seine Nase schon hinausgestreckt hatte in die weite Welt, lernte ein noch sehr junges Maedchen kennen. Sie war noch keine achtzehn, als er ein Auge auf sie warf. Die beiden heirateten 1903 in Muenchen. Sie war bereits in anderen Umstaenden und brachte im August des gleichen Jahres einen gesunden Buben zur Welt.
Adolfs Frau war Johanna Schlamp, geboren im Oktober 1884 in Forsthaus Affenthal bei Eichstaett. Sie war nur gut eineinhalb Meter gross und recht zierlich. Ihr Gewicht ist nicht bekannt. Sie war eine, wie man sagte, „gelernte Schneiderin“ – im Unterschied zu den vielen „Nebenherschneiderinnen“. Und sie war Hausfrau und wurde die Mutter von vier Kindern - zwei Soehne und zwei Toechter. Wegen der Balance ...
Adolf Bachmann starb 1933 in Muenchen - „vom Schlag getroffen.“
Johanna Bachmann war fast zwanzig Jahre Witwe; sie starb 1952, ebenfalls in Muenchen.
Adolf Bachmann war ein stolzer Mann. Und, nach den Erzaehlungen seines Sohnes, ein guter und stolzer Handwerker. Gerne wanderte er in den Bergen, in Lederhosen und einen Velourshut frech auf dem markanten Schaedel, dem juengeren Oskar Maria Graf nicht unaehnlich. Verregnete oder truebe Sonntagvormittage verbrachte er oft Zigarre rauchend hinter der Zeitung im sogenannten Herrenzimmer der Wohnung in der Muenchner Schillerstrasse; die Schillerstrasse verlaeuft, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, in nord-suedlicher Richtung. Die Wohnkueche war einer sogenannten „Bauernstube“ nachempfunden, mit Herrgottswinkel und getrockneten Edelweissblueten hinter einem leicht gerundetem Glas. Eine romantisch-kitschige Rueckerinnerung an das eigene Herkommen vielleicht, und moeglicherweise eine Art Beweis dafuer, dass auch ein Schlosser und Sozi ein gottglaeubiger Mensch sein kann, ein sozialkatholischer, sozusagen.
Adolf Bachmann war Gewichtheber. Dieser maennlichen Sportart widmete er sich, solange er ledig war. Mit Hingabe, Freude und Ausdauer. Und mit relativem gutem Erfolg. Mit der Verheiratung war es dann Schluss mit dem Kraftsport. Aber zwei Erinnerungen aus dieser Zeit an den starken Mann machten noch Jahrzehnte spaeter die Runde.
Um seine Armmuskulatur zu trainieren, trug Adolf einen schweren, eisernen Spazierstock. Er hatte ihn selbst geschmiedet. An manchen Sonn- und Feiertagen ging er, gut gekleidet - oft mit Handschuhen, aber immer mit Hut -, durch die Muenchner Innenstadt in Richtung Petersbergl und Viktualienmarkt. Den Spazierstock einmal in der linken Hand, dann in der rechten. Immer abwechselnd. Wie es sich fuer einen anstaendigen und gut katholischen Sozialdemokraten gehoerte, ging er auf ein kurzes Gebet in die Peterskirche und dann die wenigen Meter hinunter zu der schoenen neuerbauten Toilettenanlage aus dunkelroten Backsteinen. Im neugotischen Stil. Und zwischendurch mit dem schweren, schmiedeeisernen Spazierstock: klack, klack, klack, machte das. Waehnte er sich unbeobachtet, stiess er mit dem Stock kurz und kraeftig auf einen der neumodischen Glasbausteine, die in die Decke eingelassen waren und den Sitztoiletten und dem Pissoir von oben her Tageslicht verschafften. Klack, klack und noch einmal klack. Ein Glasbaustein nach dem anderen ging zu Bruch. Wie oft wohl musste die Abteilung Toiletten und Pissorte des Muenchner Bauamts mutwillig zerstoerte Glasbausteine der Toilettenanlage unterhalb des Peterbergls ersetzen lassen? Nach dem oder den Taeter(n) wurde gefahndet. Ohne Erfolg. Schlussendlich wurde elektrisches Licht in den Klos installiert und die Glasbausteine abgeschafft beziehungsweise mit einer dicken Schicht Beton ueberdeckt.
Dass absonderliche Energien noch jahrzehntelang innerhalb einer Familie nisten und ploetzlich wieder zum Ausbruch kommen koennen, zeigt das Beispiel von Adolfs Urenkel Andreas: zusammen mit seinem damals besten Freund schoss er mit dem Luftgewehr auf die Klammern, die die Waesche einer Nachbarin auf der Leine hielten. Da beide Buben ihre Ziele haeufig verfehlten und statt dessen die Waeschestuecke selbst trafen, fuegten sie machem Leintuch, Hemd und mancher Unterhose irreparable Loecher zu. Die Waeschestuecke verschwanden – aber noch Jahre spaeter zeigte die Nachbarin Spuren an ihren Fensterstoecken und -rahmen, die ebenfalls von den Schiessuebungen der beiden Freunde stammten. Haette man sie da an den Urgrossvater des Andreas verweisen und ueber genetische Kodierungen sprechen sollen?
Die zweite Geschichte: Wie sich sein Sohn spaeter als Radrennfahrer hervortat, glaenzte Adolf Bachmann als Gewichtheber. Jedenfalls – wie gesagt - solange er noch ledig war. Ein erfolgreicher Sportler. Er war Mitglied in einem Arbeiter-Sportvereins - wo denn sonst? - und er nahm an zahlreichen Amateur-Wettkaempfen teil. Fand ein Wettbewerb ausserhalb Muenchens statt, fuhr man mit der Bahn. Innerhalb der Stadt aber mit der Tram, dem Fahrrad oder dem Fahrzeug eines Goenners, wie man Sponsoren frueher nannte. Die Episode, um die es hier geht, trug sich im Zusammenhang mit einem Vergleichskampf zwischen Adolfs Muenchner Team und einer Mannschaft aus Augsburg zu. Der Wettkampf sollte in Augsburg stattfinden. Die Sportkameraden aus Muenchen bestiegen im Hauptbahnhof den Zug nach Augsburg. Sie belegten ein Abteil, verhielten sich gesittet, fachsimpelten, stellten Prognosen an, erzaehlten Witze und Geschichten, lange schon, ehe der Zug abfuhr. Die grossen schweren Ledertaschen - mehrfach genaeht und mit besonders verstaerkten Tragegriffen versehen – darin die schweren Eisen, die Gewichte und Hantel - hatten sie auf dem Gang deponiert. So hatten sie es im Abteil bequemer. Der Zug fuhr an. Die Donnersberger Bruecke, Laim und Pasing flogen vorbei, und die jungen Maenner freuten sich und sahen der sportlichen Auseinandersetzung in Augsburg optimistisch entgegen. Da riss der Schaffner mit einem heftigen Ruck die Tuere zum Abteil auf und schnauzte die jungen Maenner an: sie muessten auf der Stelle den Gang frei machen und ihr Gepaeck in den dafuer vorgesehenen Gepaecknetzen unterbringen. Auf der Stelle. Die jungen Maenner lachten. Der Schaffner nicht. Irritiert griff sich der Mann eine der Taschen, um sie eigenhaendig in eine Gepaeckablage zu befoerdern. Er zog, er versuchte zu heben, die Adern an Stirn und Hals schwollen ihm an, wie Fahrradl-Schlaeuch, uebertrieb der Sohn, wenn er - mit Traenen in den Augen - die Geschichte zum wiederholten Mal erzaehlte. Der Schaffner allerdings lief Gefahr, einen Schlaganfall zu erleiden. Jetzt wurde er erst richtig wild. Er beschimpfte die Maenner und drohte damit, den Zug anhalten zu lassen. Wodurch sie zu spaet zu ihrem Wettkampf gekommen waeren. Nicht auszudenken. Er wollte partout nicht ueber eine Ausnahmeregelung mit sich reden lassen. „So ein ganz ein sturer Bahnmensch halt, so ein damischer, wie du sie auch heut noch ueberall treffen kannst.“ Er war ganz gegen das autoritaere Gehabe des Bahnmenschen eingestellt und nahm klar die Position seines Vaters und dessen Freunde ein.
Da sich der Schaffner nicht beruhigte, die Freunde aber ohne Verzoegerung nach Augsburg wollten, griff - na, wer wohl? Adolf natuerlich -, zu einer geradezu odysseushaften List: er nahm seine eigene Tasche mit den schweren Eisen darin und stellte sie dem Bahnbeamten schnell und praezise auf dessen Fuesse. Der Mann tobte und wuenschte den Gewichthebern alles Boese dieser Welt an den Hals. Aber es gelang ihm waehrend der Fahrt bis Augsburg nicht, seine Fuesse unter der Tasche hervorzuziehen und sich von der schweren Last zu befreien. Puenktlich lief der Zug im Augsburger Hauptbahnhof ein. Jeder der Kraftsportler griff sich seine Tasche, verliess den Waggon und ging auf den Ausgang zu. Mitglieder des gegnerischen Vereins waren gekommen, um „die Muenchner“ vom Bahnhof abzuholen. Sie wunderten sich ueber einen schreiend gestikulierenden Schaffner, der mit merkwuerdigen Watschel-Schritten versuchte, den Gewichthebern aus Muenchen nachzueilen.
Was soll man mehr ueber den ersten der drei Bachmann sagen, die auf den Namen Adolf getauft worden waren?


Adolf Bachmann, 1903 - 1972



Anstaendig. Ein sehr altmodisches Wort. Etwas Kleinbuergerliches haftet ihm an. Anstaendig. Da weht ein Klang mit von „Die wichtigen Dinge einfach tun.“ oder „Es gibt Dinge, die sind wertvoller als Geld und Besitz.“ Das Wort „anstaendig“ hoert oder liest man inzwischen nicht mehr oft.
Anstaendig, Anstand. Mit diesen beiden Begriffen koennte man das Leben des zweiten Adolf Bachmann ueberschreiben. 1903 wurde er als das aeltestes von vier Kindern in eine Muenchner Schlosserfamilie hineingeboren. Als kleiner Bub kam er zur Erholung in eine Saegemuehle in den Bayerischen Wald, um dort von den Folgen der sogenannten Englischen Krankheit, Rachitis, vollends kuriert zu werden: gute Luft und gutes Essen. Seinen Aufenthalt musste er sich verdienen und in der Saegemuehle kraeftig mitarbeiten. In dieser Zeit entstand seine Liebe zu Pferden; geblieben sind ihm aber auch die O-Beine und – davon verursacht - ein auffaelliges Gangwerk. Nach der Hauptschule absolvierte er eine vierjaehrige Lehre als Kunst- und Bauschlosser. Sein Gesellenstueck war ein gut gearbeitetes Tuerband mit dem dazugehoerigen Kegel. Adolf Bachmann war Mitglied eines Arbeitersportvereins und als Amateur-Radrennfahrer auf oberbayerischer und bayerischer Ebene recht erfolgreich. Er wurde kein einziges Mal Erster, aber zweite, dritte oder vierte Plaetze belegte er oefter. Einige Pokale aus dieser Zeit stehen noch heute auf einem Regalbrett im Buero seines Sohnes in Ubud auf Bali – gleich ueber dem besagten Gesellenstueck.
Adolf war ein Treibauf und Raufbold – trotz seiner eher geringen Koerpergroesse und der schmaechtigen Figur. Er schlug sich mit den Bauernburschen in der Kugleralm, wohin die Muenchner Handwerksgesellen an Samstagen hinausradelten, um ihnen beim Tanz die Maedchen auszuspannen. Und er kaempfte in den 1920er Jahren auf Seiten der Roten gegen die Braunen. Es ging neben einer ganz alltaeglichen Rauflust selbstverstaendlich auch um politische Meinungsverschiedenheiten. Diese wurden an unter den Augen der berittenen Polizei auf der Theresienwiese in Muenchen sehr direkt ausgetragenen. Dabei droschen die Polizisten oft und gerne mit ihren langen Gummiknueppeln auf die roten Arbeiter und Handwerksgesellen ein. Die Polizei unterstuetzte die jungen Nazis mehr als erlaubt.
Das machte Adolf zu einem ausgesprochenen Polizisten-Feind. Diese Feindschaft bezo

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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2012

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