Cover


Fundstuecke

Inhalt

007 Eine kurze Vorrede

008 Adi’s Spelling – Von Art bis Zero
014 Alte Zeiten – neue Zeiten
021 Antisemitismus und kein Ende
025 Australien: in oder auf – das ist die Frage
030 Bali Paradise, again and again and again
033 Befindlichkeitsmeldung
034 Borobudur, Zentraljava
035 Botanisches
038 Carrefour goes green
039 Da lachte das Kamel. Und ging
040 Das Absurde im Allgemeinen und ueberhaupt
043 Das Heidenkind
043 Das Leben als Eisberg
045 Das Universum und wir
047 Dentales
049 Der Maurer im Haus erspart den Zimmermann
055 Der Suzuki-Adi
055 Die Dreigroschenoper
057 Die gruene Revolution in Indonesien
059 Die Kostenlosigkeit
060 Die Zeit des grossen Sprungs
061 Ein ganz besonderer Ort: Das Auslaenderamt oder Wie man Mensch kleinmacht
067 Ein glueckliches Neues Jahr
072 Ein Hohelied auf ein einfaches Werkzeug
073 Ein Leben zwischen den Kulturen
074 Ertappt
076 Fragen eines 67jaehrigen Kindes
076 Fuenundsechzig ist ein Alter
080 Homotreffen in Ubud
082 Inzwischen
082 Jeder kann Kuenstler sein
089 Kuenstler als Beruf
092 Kuta 12.10.2002
094 Langeweile
094 Little Richard
098 Problemloesungen
100 Rauchender Fussball
102 Rechthaben
102 Sex and Rebirthing
103 Spitzenvorname
105 Ueber das Reptilverhalten
107 Ueber Geldboersen und Visitenkarten
110 Uebers Internet
112 Ursache und Wirkung
114 Vom Tod des Baeckermeisters K.
115 Von der Maus, dem Faden und den Zaehnen der Analytikerin
116 Von Gluehbirnen und Leuchtmitteln
118 Von -or zu -or
120 Warum Rechthaben nicht immer schoen ist
122 Was habe ich bisher gelernt auf Bali?
123 Wer, wenn ich schriee ...
128 Wo er Rech hat, hat er Recht
129 Wo gehts denn hier zur deutschen Leitkultur
134 Zweitausendundzwoelf – der Mayakalender


Eine kurze Vorrede

Die nachfolgenden Texte sind in etwa das, was man andernorts unter Verschiedenes, Panorama oder Misculance findet, unter Fundstuecke oder Untitled. Ich habe mich fuer Fundstuecke entschieden, das betont das oft Zufaellige und Bruchstueckhafte der mehr oder weniger langen, mehr oder weniger wichtigen und mehr oder weniger ernsthaften Beitraege.
Aber auch beim Anlegen einer Sammlung von Zufaelligem und Bruchstueckhaftem ergeben Ordnungs- und Ein- und Zuordnungsproble. Unter welchen Gesichtspunkten soll man die Teile der Sammlung zusammenfuegen und eine gestaltende Hand anlegen? Es hat sich aber schnell einen Weg gewiesen - nicht der Weg, aber ein einfacher und gut gangbarer: das Alphabet. Das Alphabet stellt die ordnende Struktur dar, an der ich meine Fundstuecke aufhaenge. Wie die Wem das zu regelhaft ist, kann sich einfach kreuz und quer durch diese Fundstuecke lesen.
Also, auf geht’s ...



Adi’s Spelling - Von Art bis Zero


Adi’s Spelling - Der Werbetext:
„Von Art bis Zero, von Demokratie bis Polizei, von Menschenrechte bis Spiritualitaet, von Umwelt bis Ressourcen - Adi's Spelling deckt ein komplettes Alphabet an Themen ab. Der deutsche Kuenstler und Autor Adi Bachmann, 65, lebt und arbeitet in Ubud, Bali. Er beschreibt und illustriert seine Sicht der Dinge und seine Gedanken, bezogen auf einige GVom 1. bis zum 14. November 2009 zeigte ich in Hanna Art Space, Ubud, grossformatige digitale Drucke auf Fotopapier. Fuer mein ‚A bis Z’ waehlte ich Begriffe in englischer Sprache aus.
rundlagen sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten global gesehen, oder speziell auf Indonesien und auf Bali bezogen.
Seine 26 digitale Drucke sind ausdrucksstarke Stuecke zeitgenoessischer Kunst. Fotos und grafische Elemente, Zeichnungen und Gemaelde, Zeichen und Symbole sind mit typographischen Elementen und informativen Texten kombiniert. Seinen Ueberlegungen folgend, dass Wahrheit ein Konzept ist, Schaerfe eine Illusion und das Leben eine zerbrechliche Angelegenheit, erforscht Adi Bachmann den Bereich von Moeglichkeiten zur Visualisierung dieser Vorstellungen. Viele dieser Darstellungen sind in ihrer Gesamtheit oder im Detail klar und sind leicht zu identifizieren, andere haelt er lieber im Vagen, im Nichtunterschiedenen. Einige seiner Texte scheinen informativ und bedeutungsvoll zu sein, andere kann man fast nicht lesen - hier werden die Informationen unklar und bleiben geheimnisvoll. Auch wechselt er oefter vom Englischen ins Deutsche - von der ihm fremden Sprache in seine Muttersprache.
Adi's Alphabet beginnt – fast selbstverstaendlich fuer einen Kuenstler – mit A fuer Art, gefolgt von Bali, Corruption, Democracy, Environment, First Family, Genocide, Human Rights, Is-lam, Jakarta, Kalimantan, Military, Nepotism, Orang Utan, Police, Quakes, Recourses, Spirituali-ty, Unemployment, Victim, Wealth, Xenophobia, Youth und Z fuer Zero.
„Adi’s Spelling“ ist eine sehr persoenliche Auswahl. Es ist Adi’s Versuch, einen fuer ihn akzeptablen Standpunkt in der komplexen Welt von heute zu finden. Natuerlich hat diese Themenauswahl ganz unterschiedliche Bedeutungen fuer die verschiedenen Betrachter. Jeder wird fuer sich selbst herausfinden muessen, was sie ihm persoenlich bedeutet.
Adi Bachmann kam 1943 in Muenchen zur Welt. Ins Berufsleben startete er als Schrift-setzer, Typograph; nicht lange danach etablierte er sich als Grafik Designer. Ueber einen Zeitraum von 35 Jahren diente er vielen Verlagshaeusern in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz als freiberuflicher Buchumschlag- und Taschbuch-Gestalter. Jetzt beschaeftigt er sich als Kuenstler (Skulpturen, Assemblagen, Reliefs, Objekte etc.), als Autor und Galerist – und als ehrenamtlicher Mitarbeiter im Yayasan Widya Guna, einem Waisenhaus und Lernzentrum in Bedulu/Bali.
Er verkaufte zum 1. Januar 2000 sein Atelier und verbrachte die ersten sechs Jahre des neuen Jahrtausends in Italien, auf Kreta, in der Naehe von Potsdam und – ueber insgesamt neun Monate – in Aegypten. Im Maerz 2006 uebersiedelte er nach Bali. Adi Bachmann ist inzwischen mit Komang Sarining aus Kalibukbuk/Bali verheiratet; beide leben und arbeiten seit 2007 in Ubud. Ebenfalls seit 2007 kuemmert er sich um die von ihm gegruendete Adi’s Gallery.
Adi Bachmann zeigte seine Kunst 1999 in Reischach bei Altoetting; 2001, 2002, 2003 in Muenchen; 2004, 2005 in Ferch (Potsdam-Mittelmark); 2004, 2005 in Schloss Puechau, nahe Leipzig; 2000, 2001, 2002, 2003 in Kamilari, Kreta und 2006 und 2007 in Kalibukbuk/ Bali.
Seine Ausstellungen in Ubud waren ‘Adi's Bali’, 2007, ‘Adi's World’, 2008, ‘The Hero's Journey’ 2008, and ‘Adi's Spelling’, 2009. In 2010 zeigte er unter dem Titel ‚People, etcetera’ neue Skulpturen im Park des ARMA Museums und ARMA Resorts in Ubud. Ebenfalls im ARMA ist fuer 2012/2013 eine Skulpturenausstellung unter dem Titel ‚Basics’ geplant.“

Adi’s Spelling – die Themen:



Arbeitslosigkeit


Arbeitslosigkeit hat verschiedene Bedeutungen in verschiedenen Gesellschaften. Gerecht bezahlte Arbeit ist fuer die Mehrheit die einzige Moeglichkeit, zu ueberleben.

Bali


Ist Bali eine Paradies-Insel? Gibt es ueberhaupt ein Paradies? Man muss selbst nach Bali kommen, um das herausfinden.

Beben


Erdbeben, Seebeben und Vulkanausbrueche erinnern und daran, dass unsere Erde eine fragiles Ding ist.

Demokratie


Die Partizipation in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozessen und freie und geheime Wahlen sind die Grundlagen aller funktionierenden demokratischen Systeme.

First Family


Es ist gut, eine starke Familie zu haben. Aber es ist schlecht, die Mitglieder der eigenen Familie zu den Inhabern des ganzen Staates zu machen.

Islam


Das monotheistische Christentum und der monotheistische Islam haben eine gemeinsame Mutter: die sehr viel aeltere monotheistische juedische Religion.

Jakarta


Welch ein Unterschied zwischen der hollaendischen Stadt Batavia und der indonesischen Megapolis Jakarta.

Jugend


„Kinder sind unser wertvollster Schatz“ - und Uebervoelkerung eines der groessten und folgenreichsten Probleme der Welt.

Kalimantan


In Kalimantan passieren die wirklichen Sachen. Die meisten Menschen dort werden getrieben von Optimismus, Depression und Hoffnung.

Korruption


Es ist kein Zufall, dass die aermsten Laender der Erde die Transparency Liste in Sachen Korruption anfuehren.

Kunst


Kunst gibt es nicht in gebrauchsfertigen Schachteln; Kunst ist das Ergebnis der Auseinandersetzungen des Kuenstlers mit seiner Abhaengigkeit von ihr.

Legong


Bevor ich nach Bali kam, habe ich noch nie von ‚Legong’ gehoert. Inzwischen mag ich den Legon-Tanz und die jungen Legon-Taenzerinnen sehr.


Menschenrechte


Die Menschenrechte als Realitaet sind so neu, dass man immer wieder daran erinnern muss, sie immer wieder einzuklagen.

Militaer


Ein ungeklaertes, tiefsitzendes Gefuehl macht mich nervoes, wenn ich Menschen in Uniform begegne oder mit ihnen zu tun haben muss.

Nepotismus


Das sind arme Leute, die ueber eine exzellente Ausbildung verfuegen, aber nicht ueber ein funktionierendes Netzwerk. Oder anders herum.

Opfer


Menschen duerfen von Regierungen, Behoerden, Firmen, religioesen Gruppen oder Einzelpersonen nicht zu Opfern gemacht werden.

Orang Utang


Der Orang Utan waere nicht die einzige Art, die von uns Menschen ausgerottet wurde.

Polizei


Es kostet 40 Millionen Rupiah in Melak/Kalimantan und 75 Millionen Rupiah in Gianyar/Bali, um sich eine Anstellung im Polizeidienst zu kaufen. Wieviel kostet es in Surabaya oder in Jakarta?

Reichtum


Das Rennen ums Geld scheint die Religion unserer Tage zu sein. Reichtum aber ist nur ein billiger Ersatz fuer Zufriedenheit und inneren Frieden.

Ressourcen


Einige Ressourcen werden eines Tage zuende gehen, andere wachsen nach. Beide beduerfen es, dass man mit ihnen weitsichtig umgeht.

Spiritualitaet


Spiritualitaet kann eine Oeffnung hin zur Realitaet sein, oder eine Flucht weg von ihr. Die Wahl liegt bei jedem selbst.

Tourismus


Tourismus ist eine Moeglichkeit, Menschen, Kulturen, Ueberzeugungen und Geld zusammenzubringen – oder auseinander.

Umwelt


Die groessten Gefahren fuer unsere Umwelt gehen von uns Menschen aus. Wir verhalten uns so, als haetten wir irgendwo noch eine Ersatzwelt.

Xenophobie


Die Angst vor Fremden ist kein indonesisches Phaenomen; aber besonders auf Bali fuehlen sich Auslaender eher willkommen als abgelehnt.

Zero


Zero ist der Schlusspunkt und der Punkt, neu anzufangen. Zero ist der Anfang und das Ende von allem.




Alte Zeiten – neue Zeiten

Ja, die Zeiten haben sich tatsaechlich geaendert. Das ist nicht mehr zu leugnen. Das scheint inzwischen sogar bei der Frau Kanzlerin angekommen sein und Westerwelle hat es zu spueren bekommen. Frueher war das naemlich alles nicht so.
Alles! Da liefen keine hungrigen Kokodile die Sendlinger Strasse auf und ab und bis in die Seitenstrassen hinein oder von der Asamkirche in den Brunnenhof. Ganz frueher – also vor dem grossen Krieg, als die Altstadt Muenchens noch ganz viele gotische Ecken und Winkel hatte – stoeckelten naemlich keine Krokodile, sondern Damen die Gehsteige an der Sendlinger Strasse auf und ab, suchten den Kontakt zu passanten und alleinstehenden Herren, Radfahrer eingeschlossen und klimperten mit einem Schluesselbund. Klingelingeling. Das galt als das Zeichen, dass die Dame bereit war, eine neue Bekanntschaft zu schliessen und ihrem Gewerbe nachzugehen, Das hat einmal unser Vater zum Besten gegeben. Unter den missbilligenden Blicken unserer Mutter. Er war zeitlebens Radfahrer.
Das muessen eher gemuetliche denn orgiastische Beischlafarrangements gewesen sein, denke ich mir, die Herren oben, Socken und Sockenhalter noch angelegt. Die Herzensdame unten, meist rundlich – vollschlank - und haarig, ganze Gebirge von Scham- und Achselhaaren. Es gibt viele fotografische Dokumente zum Thema aus der Zeit zwischen 1918 und 1939. Eines davon – mit vorwiegend um klasse Autos drapierte Nacktheiten nannte Benedikt Taschen dann auch ‚Spritztour’. Ich hab das Baendchen aus dem Dorf Reischach in das Dorf Kamilari auf Kreta mitgenommen und dann in das Dorf Ferch am Schwielowsee und schlussendlich in das Dorf Kalibukbuk, dann in die kleine Stadt Ubud. Beides auf Bali. Welch eine anstrengende Reise fuer die Damen.
Und welch eine anstrengende Reise fuer mich selbst. Von Muenchen bis Ubud, Bali. Innerhalb Muenchens zog ich elfmal um. Dann gings ins oestliche Oberbayern und von da aus an den Gardasee, weiter nach Kreta, zurueck nach Potsdam-Mittelmark. Eine Uebersiedlung nach Aegypten kam nicht zustande, dafuer die nach Nordbali, anschliessend die nach Ubud - ins Zentrum Balis.
Alles begann am 3. Dezember 1943, 16.30 Uhr, in der Taxisstrasse in Muenchen-Neuhausen: Es war kreischend laut da draussen und staubig. Und es stank. Es stank nach verbranntem Fleisch. Nach Moertelstaub und nach russgeschwaerztem Schnee. „Los. Nottaufe. Sofort. Holt den Pfarrer. Wer weiss, ob wir und der da den naechsten Angriff ueberleben werden. Dann wars halt gleichzeitig die Heilige Oelung. Ach so, evangalisch ist die Mutter. Seis drum. Das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr.“ Und da lag ich, ein rotvioletter, verknitterter Neugeborener, noch immer vor Erschoepfung zitternd. Die Bomber hatten einen sanften Geburtsvorgang nicht moeglich gemacht. Und da lag meine Mutter, ich sah sie zum ersten Mal, ihr schweres schwarzes Haar war wirr und vom Schweiss verklebt. Auf ihrer Oberlippe glaenzten Schweisstropfen. Sie schien total erschoepft. Unsere Augen suchten sich, fanden sich und – blickten ins Leere. Wohl nie mehr im Leben wurde ich von einem solchen Elendsgefuehl ueberkommen wie in dem Moment, als sich herausstellte, dass es zwischen uns nichts, aber auch gar nichts gab, was uns zusammenfuehren und zusammenhalten koennte. Ich schlug die Augen nieder, dann schaute ich an ihr vorbei. Wie eine Rakete hob ich ab und stiess hinein in das pechschwarze, kalte, grenzenlose, fassungslos Unbehauste, was wir gerne romantisch und anheimelnd das Universum nennen.
Soweit eine Art Rueckerinnerung an meine Geburt.
So wurde ich also am Nachmittag des 3. Dezember 1943 hineingetauft in die Gemeinde der Muenchner Christenheit – in die evangelisch-lutherische allerdings. Denn die Mutter hatte die schlimmen Jahre in der bigotten, katholischen Familie ihres Mannes durchgegestanden, hatte sich gewehrt und um ihre Positionen gekaempft. Sie, das junge Ding aus dem Nuernberger Land, ohne Schulbildung, ohne Berufsausbildung, nicht einmal ein Kocherl war sie, sondern eine junge Frau, die wildfremden Leuten den Dreck wegputzte: in Stellung gehen, sagte man dazu. Aber an ihrem evangelischen Herrgott hielt sie fest und an dem, was ihr ‚wahrhaft christlich’ schien. Da die christliche Erziehung des moeglichen Nachwuchses in den Haenden der Mutter liegen wuerde, musste ihrer Meinung nach die Ehe nach evangelischem Ritus geschlossen und die Kinder aus dieser Ehe evangelisch getauft und erzogen werden. Das war ihre Vision und das war ihre Mission. Da gab es kein Vertun. Gar keins. Und dass man sich auch ohne viel Schulbildung und ohne besondere Eloquenz in Kernfragen des Lebens gegenueber scheinbar Ueberlegenen in Stand, Bildung und Vermoegen behaupten und durchsetzen kann, zeigen auch andere Biographien.
Der Himmel ueber Muechen hing voller bombenschwerer amerikanischer und britischer Flieger. Die Allierten hatten laengst die Lufthoheit ueber Deutschland gewonnen. Da konnten Goering und Goebbels toenen und toben, wie sie wollten. Die Menschen in den Bunkern und Luftschutzkellern wussten es besser. Sie wussten genau, was oberhalb ihrer Luftschutzkeller ablief. Die Flugabwehrkanonen hatten keine Chance gegen die alliierten Bomber. Das gebuendelte Licht der Grosscheinwerfer war auf den Nuernberger Parteitagen wirkungsvoller gewesen als in den Naechten der Flaechenbombardements auf deutsche Staedte. Die Zivilbevoelkerung sollte demoralisiert werden, damit sich die Frauen und Kinder und die Alten und die Kriegsversehrten und die Drueckeberger und die unabkoemmlich Gestellten gegen ihre Maenner, Vaeter, Brueder, Onkel, Neffen, Schwaeger und Schwiegervaeter, gegen ihre Arbeitskollegen und Parteigenossen draussen im Feld erheben und damit den Frontsoldaten in den Ruecken fallen sollten. Ein zweites 1918? Ein zweiter Dolchstoss? Sogar ein Putsch gegen Hitler schien moeglich. Ein erfolgreiches Attentat, um die ‚Vorsehung’ Luegen zu strafen?
Die Flaechenbombardements hatten andere Auswirkungen, als sich die Allierten das ausrechneten. Erst jetzt – unter dem Terror der Bombenangriffe – wuchsen die Deutschen zu der ‚Volksgemeinschaft’ zusammen, von der Hitler und seine Kumpane seit den fruehen 1920iger Jahren schwadronierten. Ohne Ende. Trotz strenger Rationierung von allem, was der Mensch zum Leben braucht, wurde die Versorgungslage erst einmal nicht gravierend schlechter. Die Frontsoldaten hatten sich zu wahren Beutejaegern entwickelt und die Beutestuecke nach Hause geschickt. Ob in Russland, Polen, der Tschoslowakei, Italien, vor allem selbstverstaendlich in Frankreich – an erster Linie Lebensmittel, aber auch die unterschiedlichsten Wertgegenstaende wurden ‚requiriert’ und als Postpakete nach Deutschland geschickt. Heinrich Boell berichtete in Briefen darueber und Goetz Aly hat ein faktenreiches Buch zum Thema verfasst.
Obwohl sich viele Deutsche in den Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien niedergelassen hatten, und obwohl viele Deutsche im Krieg fuer die amerikanischen Auslandsdienste taetig waren, wussten die Alliierten wenig ueber dieses deutsche Wesen.
Bei den alliierten Strategen und Luftschlagspezialisten war man von falschen Erwartungen ausgegangen. Sie erfuellten sich nicht. Was blieb, war oft er blanke Hass auf alles Deutsche und der finstere Trieb, der nach der Vernichtung alles Deutschen verlangte. ‚Bomber Harris’ war so ein Hasser. Er war ein besonders handverlesenes Expemplar von Deutschenhasser und ein erschreckend gefuehlloser, kulturloser und engstirninger Spiessbuerger. Doch davon konnten sich die Dresdner nichts kaufen. Tote, Verwundete, Gebaeude zerstoert, unschaetzbare Kunstwerke und kunsthandwerkliche Gegenstaende zerstoert, verbrannt. Von einer maechtigen Feuerwalze niedergemacht.
Nur ‚Little Boy’ und ‚Fat Man’, beide am 6. und. 9. August 1945 auf die japanischen Staedte Hiroshima and Nakasaki abgeworfen, entzuendeten ein Feuer, das um ein Vielfaches heisser und in seinen Wirkungen noch viel brutaler war, als das von Dresden. In der Lobby des UN-Gebaeudes in New York werden Stuecke gezeigt, die aus den plattgemachten und radioaktiv verstrahlten Epizentren geborgen wurden, Da wird eine verschmolzene Herrenarmbanduhr mit einem flexiblem Metallarmband zu einem Symbol, das mitten ins Herz zielt.
Alte Zeiten – neue Zeiten.
Dass die Bombennaechte Dresdens vom 13./14. Februar 1945 in juengerer Zeit dafuer herhalten muessen, Aufmaersche und Kundgebungen der Alt- und Neunazis verwaltungstechnisch zu begruenden, ist mehr als nur ein ironischer Schlenker der deutschen Geschichte.
Ich aber sitze im Maerz 2011 auf der kleinen, kosigen Terrasse vor meinem Zimmer in Tirta Gangga, in der Naehe von Amlapura, Regierungsbezirk Karangasem (Bali), und frage mich, schon sehr ernst, aber auch sehr distanziert: wie liberal muss ein Staat sein, dass er solch Rundumunsinn dulden und verwaltungstechnisch moeglich machen muss. Muss ein Rechtsstaat nicht doch mehr differenzieren beim Zumessen von Buergerrechten. Buergerrechten, die in der Verfassung der Bundesrepublik verankert sind, aber doch je nach Zeitgeist, Interessenlage des Bundesverfassungsgerichts und anderer Verfassungsorgane und den nicht kontrollierbaren Stroemungen und Einflussnahmen hinter den Kulissen unterschiedlich betrachtet werden muessen.
Das Bundesverfassungsgericht ist aber kein politisches Organ. Sein Maßstab ist allein das Grundgesetz. Fragen der politischen Zweckmäßigkeit dürfen für das Gericht keine Rolle spiele, heisst es..
Am Grundproblem des Verfassungsgerichts hat sich nichts geaendert, im Gegenteil. Das Problem hat sich seit Kohl noch wesentlich verschaerft und ist unter Merkel um keinen Deut besser geworden: fundamentale politische Entscheidungen in den Bereichen Sozialpolitik, Innenpolitik, Wirtschaftpolitik und Aussenpolitik werden in den demokratischen Kremien oft nur noch lustlos ausgekungelt, weil man weiss, dass die Problemkisten ohnehin nach Karlsruhe geschickt werden. Und in Karlruhe entscheiden sieben Verfassungsrichter, ob dieses oder jenes Gesetzesvorhaben mit der bundesdeutschen Verfassung in Einklang steht. Sieben Richter, die ueber ein elitaeres, interessendominiertes Auswahlverfahren ins Amt gehoben werden und nicht durch das einzig moegliche Mittel der Legitimation in einer Demokratie: durch freie und geheime Wahlen.
Die Verfassungsrichter sind mittlerweile dazu uebergegangen, nicht nur die Verfassungsmaessigkeit eines Gesetzes zu pruefen – nein: wie ein Rat der Weisen, ein Club von Auserwaehlten, deren Mitglieder offenbar vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, geben sie Empfehlungen an die Politik und ueberschreiten damit eine der sensibelsten Grenzlinien in demokratischen Systemen: die Trennung der Verfassungsorgane Legislative, Exekutive und Juztiz und ihre Unabhaengigkeit voneinander. In Karlsruhe werden also nicht nur die Intensionen des Grundgesetzes geschuetzt, sondern deutsche Politik gemacht.
Alte Zeiten – neue Zeiten.
Herausgekommen ist wieder einmal eine Kette von Assoziationen, wild wuchernd, im ersten Moment ohne Bindung miteinander. Aber so erlebe ich das oft: ein Gedanke taucht auf, Erinnerungen, der Vater, die Mutter, ein Foto, die voellig zerschlissene Geburtsurkunde mit dem Hakenkreuzstempel, alte Einsichten, alte Veraergerungen, neue Enttaeuschungen – alles ruehrt sich wie von selbst in einen einzigen grossen Topf ein.
Eigentlich ein spannender und unterhaltsamer Prozess - dieses Hirnkino. Nur: hin und wieder ist es notwendig, die Assoziationen an der Realitaet abzugleichen.
Ausserdem: Eigentlich waere es besser gewesen, mit Vater und Mutter noch zu ihren Lebzeiten das Gespraech zu suchen und offen und interessiert nach ihren Meinungen, Erfahrungen, Ideen, Visionen oder Gefuehlen zu fragen. Und diese mit ihnen zu diskutieren. Das waere einfacher, ehrlicher und wirkungsvoller gewesen, als jetzt den Toten hinterherzufantasieren.
Da geht naemlich nichts mehr mit ‚an der Realitaet abgleichen’.



Antisemitismus und kein Ende



„Ich leite seit 20 Jahren das Zentrum für Antisemitismusforschung: Selbstverständlich befassen wir uns hier mit der Frage, wodurch sich Antisemitismus von gewöhnlichem Fremdenhass unterscheidet und welche Rolle Verschwörungstheorien spielen. Wer antisemitische Vorurteile hegt, klagt gern über den angeblichen jüdischen Einfluss in der Presse oder an den Börsen. So etwas äußert man dann mit dem Zusatz »Aber das darf man ja nicht sagen«. Auf diese Weise steigert man noch das Gefühl der vermeintlichen Bedrohung: Die Fremden und ihre Helfershelfer wollen einem den Mund verbieten! Die populistische »Islamkritik« funktioniert ganz ähnlich. Da ist dann nicht die Rede von einer Weltverschwörung, aber von einer drohenden Islamisierung.“ – Wolfgang Benz, Historiker, Berlin; aus einem Interview im Spiegel
An einer anderen Stelle stellte ich fest: „Indonesien ist ein ausgesprochen antisemitisches und antiisraelisches Land.“ In der indonesischen Verfassung wird die juedische Religion, also die aelteste monotheistische Religion ueberhaupt, nicht als solche genannt, also auch nicht akzeptiert. Indonesien unterhaelt keine diplomatischen Beziehungen zu Israel und israelischen Staatsbuergern ist die Einreise nach Indonesien nur mit einer Sondergenehmigung erlaubt. Menschen juedischen Glaubens und Israelis koennen keine(n) indonesischen StaatsbuergerIn heiraten.
Bei ‚Granmedia’ in Yogyakarta, Granmedia ist das groesste Verlagsunternehmen im Land und Yogyakarta gilt als liberal und kunstliebend, steht ein Buecherregal mit sage und schreibe eineinhalb Metern zum Teil extremer antisemitischer/antiisraelischer Literatur. Auch gut ausgebildete und lebenskluge Kuenstlerkollegen in Ubud bekennen sich ganz selbstverstaendlich zum Anitsemitismus und beziehen Stellung gegen die Existenz Israels in Palaestina und natuerlich gegen die Palaestinapolitik Israels und die Israelpolitik der USA.
Antisemitismus als Grundueberzeugung und Verhaltensmuster, eine juedische Weltverschwoerung, die Gnome von Zuerich – uebrigens 1956 vom englischen Premierminister Harold Wilson in die Welt gesetzt und eigentlich ‚nur’ die Schweizer Bankiers im Allgemeinen verunglimpfend und nicht die juedischenn; der Ausspruch wurde dann aber in einem antisemtischen Sinn weitergetragen -, die Protokolle der Weisen von Zion: all das sind auf der ganzen Welt verortete Abwehr- und Angriffskraefte, die sich, auch in unserem aufgeklaerten Jahrhundert, in Wellenbewegungen mal mehr und mal weniger stark erheben. Als unintelligenter, neurotisierender, lebens- und menschenfeindlicher Urschlamm stellt der latente Antisemitismus durchgehend die Naehrstoffe fuer haeufig grauenhaft abartige Handlungen zwischen Menschen bereit.
Wie jeder weiss, oder wissen sollte, haben ueber zweitausend Jahre lang Kaiser und Koenige, Fuersten, Herzoege und Grafen bis hinunter zum kleinen Landadeligen, Lobbyisten und Pressure Groups in den Zentren der jeweiligen Macht, haben Politik, Militaer, Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Wirtschaft, Verwaltungen und Denkschulen den Antisemitismus dazu benutzt, mit Hilfe einfacher Problemverschiebungen von eigenen Fehlern, Problemen, Unzulaenglichkeiten und Unfaehigkeiten abzulenken. Abzulenken auf leicht zu diskriminierende Randgruppen. Die Juden gehoeren dazu, Andersglaeubige insgesamt, Sinti und Roma, wie man die Zigeuner heute in Deutschland politisch korrekt nennt, andere Ethnien insgesamt und Homosexuelle, Linke, Kommunisten und Frauen, die als Hexen denunziert und als solche gefoltert und ermordet wurden und auf Frauen, die noch heute geschaendet, verstuemmelt und getoetet werden, beziehungsweise ihr Tod billigend in Kauf genommen wird. Tod durch Klitorisbeschneidung, Tod durch Steinigung, Tod durch innerfamiliaere sogenannte Ehrenmorde. Frauenschicksale eben.
Faschisten gehoeren nicht zu diesen Randgruppen.
Welche Massen an tief verwurzeltem Schuldbewusstsein und handfester krimineller Energie muessen in uns latent wirksam sein und dort ihr Unwesen treiben, dass es ueber zwei Jahrtausende moeglich ist, solche Suendenbocksyndrome am Leben zu erhalten? Und wie schmal muss der Uebergang tatsaechlich sein vom schlechten und vorurteilsbeladenen Denken hin zu schlechten und lebenvernichtenden Handlungen?
Um einen von Deutschland ausgehenden geplanten Voelkermord in die Tat umzusetzen, bedurfte es mehr als eines Hitlers, Himmlers, Heydrichs oder eines Eichmanns. Um 500.000 bis 1.000.000 chinesisch-staemmige Indonesier, Kommunisten und Kleinbauern zu ermorden, mussten mehr Menschen handeln als nur Suharto und Subianto. Um den Voelkermord an den 800.000 bis 1 Million Tutsi durchzufuehren, brauchte es mehr als das Wueten der drei Hutuextremisten Bogosora, Sindikubwabo und Kambanda.
Die Entstehungsgeschichte des Staates Israel, die Kriege und Terroranschlaege um die Existenz Israels in Palaestina, der Kampf um Jerusalem, die aggressive Besiedlungspolitik, die militaerisch abgesicherte Landnahme und das Festhalten an den eroberten und besetzten Gebieten, die Diskriminierung der arabischen Nachbarn, insbesondere der Palaestinenser und dieses oft arrogant und immer autoritaer und militant auftretende und handelnde Israel und die oft engstirnig und arrogant auftretenden Israeli, liefern allerdings genuegend Material, um die antisemitische und antisraelische Stimmung wieder und wieder anzuheizen.
Und das nicht nur im Nahen Osten. Denn noch immer gilt ueberall auf der Welt die altmodische Volksweisheit: Wie man hineinruft in den Wald, so schallt es zurueck.




Australien: ‚in’ oder ‚auf’ – das ist die Frage

Lieber Edgar.
Ubud auf Bali erscheint manchmal wie ein Vorort Tokyos und Balis Sueden wie das Wochend-Ausflugsziel der Australier.
Jedenfalls schliesse ich hier immer wieder neue Bekanntschaften mit Vertretern des ‚homo australiensis sapiens’, machmal sogar mit den seltenen Exemplaren von ‚homo australiensis sapiens sapiens’, den Original-Australiern also. Original-Australier sind Australier in der dritten Generation, die aber doch noch etwas Cockney, Boehmisch oder Wuerttembergisch drauf haben. Wie sagen die Wuerttemberger so richtig von sich? „Wir koennen alles – nur nicht deutsch.“
Die Saeulen meiner deutsch-australischen Beziehungen sind allerdings von anderer Qualitaet:
Von Januar bis Maerz lebte ein Freund aus Innsbruck bei uns, der zur Zeit in Australien von seiner chinesischen Ehefrau geschieden wird und sich momentan teils in Italien und teils in Suedfrankreich aufhaelt.
Dann habe ich einen Freund, ein Muenchner, einen recht erfolgreichen Maler, der mit einer Japanerin verheiratet ist und teilweise auf Bali lebt, und dort auch arbeitet und ausstellt. Das Gleiche macht er auch in in Sidney, Australien: leben, arbeiten, ausstellen. Allerdings unter besseren Bedingungen, wie seine Frau meint. Dieses Freundes Frau mag Bali nicht besonders.
Weiters habe ich einen Freund, ebenfalls ein Muenchner – unter Muenchner verstehe ich uebrigens und selbstverstaendlich nur diejenigen, die, wie ich, tatsaechlich in Muenchen geboren wurden und nicht die, die nur voruebergehend dort lebten bzw. noch immer dort leben. Ein echter Muenchner also ist dieser Freund und ein erfolgreicher Kunstmaler noch dazu. In jungen Jahren studierte er bei Ernst Fuchs und Salvadore Dali. Dieser Freund ist allerdings nicht mit einer Australierin verheiratet oder mit einer Japanerin oder mit einer Chinesin, sondern mit mit einer Indonesierin von der Insel Java. Sie dominiert ihn so, wie die Javaner seit langem ganz Indonesien dominieren. Die muslimischen Javaner haben offenbar das Dominanz-Prinzip von den hollaendischen und den japanischen Herren abgeschaut – obwohl diese bekanntlich weder Moslems waren noch sind noch werden wollen.
Oefter erzaehle ich den neuen Freunden aus dieser deutsch-oesterreichischen Connection, dass ich einen Freund habe, der seit nunmehr zwanzig Jahren mit Teilen seiner wachsenden Familie in Australien lebt. Ebenfalls ein Deutscher. Dabei faellt mir auf: Warum sagt man, korrekterweise, wie ich finde,’auf Bali’, aber nicht ‚auf Australien’, sondern ‚in Australien’. Obwohl man bekanntlich ‚in’ einer Insel auf Dauer nicht leben kann, sondern nur ‚darauf’. Mit England und Mallorca oder Ibiza ist das auch so eine Sache: ‚in England’, o.k., aber ‚auf Mallorca’ und ‚auf Ibiza’. Wuerde jemand sagen, er habe mit seiner Geliebten tolle Tage ‚in Ibiza’ verbracht, wuerde man in ihm sofort den Niederbayern, den Mecklenburger, den Vorpommerer oder den Burgenlaender vermuten. Ja, so ist das halt.
Aber das nur nebenbei.
Eigentlich wollte ich Dir nur sagen, dass ich hin und wieder mit guten und lieben Gedanken an Dich denke und mir von Herzen wuensche, dass es Dir gut geht, auf jeden Fall so gut wie beim letzten Mal. Bei geringfuegig auftretenden Schwankungen bin ich nicht nachtragend. Zu Deiner Erbauung schicke ich Dir im Anhang zwei aeltere, aber wieder aufpolierte und zwei neue Geschichten mit. Noch ofenwarm, allerdings noch ohne abschliessenden Firniss beziehungsweise Zucker- oder Schokoladenguss darueber. Ohne die Politur also.
Uebrigens hat mich wieder einmal die Schreibwut am Wickel und ich arbeite unter anderem an einem sehr umfangreichen, ernst gemeinten Text ueber das Aelterwerden: ‚Aelter werden – jung bleiben’, heisst der Arbeitstitel. Das ist vielleicht eine spannende Angelegenheit, kann ich Dir sagen. Was da beim Schreiben, beim Recherchieren oder Ueberpruefen alles hochkommt, beziehungsweise was da alles losgetreten wird!
Wenn der Text fertig ist, werde ich ein kopiertes Exemplar per Briefpost an Dich schicken, und dann darauf warten, was Du dazu sagst. Immerhin hast Du beim Thema ‚Aelter werden – jung bleiben’ einiges zu sagen. Du faellst ja bald in die ‚Johannes-Hesters-Kategorie’ oder in die Kategorie von Maurizios Mutter, die ungerechterweise weniger bekannte ‚Maurizio’s-Mutter-Kategorie’. Mein italienischer Freund Maurizio flog letzte Woche nach Rom, um seiner Mutter zu ihrem 100sten Geburtstag eine sehr schoen gemalte Kopie von Marc Chagall’s ‚I and the Village’ nicht nur zu schenken, sondern sie hoechst persoenlich zu ueberreichen und aufzuhaengen. Ein guter Sohn. Oder ein guter Erbberechtigter in spe?
Die Kopie – gutes Oel auf guter Leinwand – kaufte er uebrigens bei mir, in meiner Galerie. Es ist eines von bislang vier verkauften Bildern aus der Ausstellung ‚Meisterwerke des 20. Jahrhunderts in Kopien’. Maurizio entwickelt sich langsam aber sicher zu einem Dauerkunden. Und er scheint etwas mit Kuehen am Laufen zu haben. Erst erstand er eine wunderbare Skulpturengruppe ‚Pasiphae und der Stier aus dem Meer’, eine Terrakotta, zusammen mit einem Messingguss, von mir arrangiert, verbohrt und verdrahtet, auf Meersand gesetzt und anschliessend mit einer Kamperholzleiste gerahmt. Und jetzt schleppt er den Chagall nach Rom, das Bild mit dem grossen Kuhkopf drauf und den wunderbar feuchtweichen Augen. Kuhaugen natuerlich.
Nur der von mir typographisch illustrierte und signierten Druck mit dem Rilke-Gedicht, eine Arbeit aus meiner Lehrzeit als Schriftsetzer, die er fuer gutes Geld erwarb, hat mit Kuehen nichts zu tun. Es geht in dem Gedicht mehr um Engel. Das Gedicht ist naemlich die erste der zehn ‚Duineser Elegien’ Rilkes: ‚Wer, wenn ich schriee, hoerte mich den aus der Engel Ordnungen? ... Denn das Schoene ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen’ ... Ein Gedicht, das mich beim Lesen noch heute mitten ins Herz trifft.
Jedenfalls werde ich bei den naechsten Ausstellungen darauf achten, dass ich fuer Maurizio etwas kuhhaftes beziehungsweise Sanftaeugiges im Angebot habe. Gibt es doch fuer eine Galerie nichts wichtigeres und besseres als moeglichst viele Dauerkunden. Die erfolgreicheren meiner Kollegen unter den Galeristen nennen solche Erscheinungen ‚Collectors’. Die Leute von Sothoby’s uebrigens auch. Die Artisten hingegen sprechen zufrieden und erfurchtsvoll von ‚My collector’, oder noch besser - wenn es denn so ist - von ‚My collectors’.
Noch einmal zurueck zu den Lebensaltern: fast scheint es mir, als seien die in der Dekade zwischen Waehrungsreform 1923 und Hitlers Machtergreifung 1933 zwei besonders alterungsbestaendige Jahrgaenge hervorgegangen. Wer den Zweiten Weltkrieg ueberlebte, hatte offenbar gute Chancen, alt zu werden. Allerdings hat meine private Statistik eine zu schmale Grundlage, um zu verallgemeinerbaren Aussagen gelangen zu koennen. Auffaellig hoch allerdings war und ist die Lebenserwartung einiger auslaendischer Kuenstler, die auf Bali sesshaft wurden: Ari Smit, der Heros unter den Heroen, geboren 1916 und noch immer auf den Beinen, Antonio Blanco wurde 87, Rudolf Bonnet 83, Willem Gerard Hofker wurde immerhin 79, Hans Snel 78.
Walter Spies machte Bali in den 1920iger und 1930iger Jahren einer breiteren Oeffentlichkeit bekannt. Ihm zog der Krieg einen Strich durch Rechnung und Leben: er ging mit der ‚Van Imhoff’ unter, die von einer japanischen Fliegerbombe getroffen worden war. Spies sollte, zusammen mit anderen Gefangenen, die im Weltkrieg von den Hollaendern interniert worden waren, im Januar 1942 von Sumatra nach Ceylon gebracht werden. Walter Spies wurde nur 47 Jahre alt.
Uebrigens, mein lieber Edgar, zitiere ich manches Mal aus Deinen logisch-mathematischen Schlussfolgerungen zum Thema caring. Die sind zwar nicht so lyrisch wie Rilke, aber einerseits, wie gesagt, logisch, und zweitens sehr realitaetsbezogen. Allerdings ohne Engel und ohne Kuhaugen.
Mein lieber Freund und grosses Vorbild, ich wuensche Dir alles Liebe und alles Gute, gute Gesundheit weiterhin und vor allem, und ebenso weiterhin und vor allem, eine moeglichst ungetruebte Lebensfreude.
Dein Adi ‚auf Bali’.


‚Bali Paradise’, wieder und wieder und wieder …

Ich liebe Bali auch als Insel mit einigen noch aktiven Vulkanen und als Insel, die direkt neben dem ‚Wallacegraben’ liegt, der Bali von Lombok trennt. Ich liebe die Erregung, die manchmal in dem Wissen entsteht, dass sich jeden Moment eine grosse Naturkatastrophe ereignen koennte. Das ist ein Abklatsch von dem Leben auf ‚The Ring of Fire’, ueber den die abenteuernden Brueder Blair gesprochen und geschrieben haben, worueber sie vier eindrucksvolle Filme drehten und wovon sie tausende von atemberaubenden Fotos machten.
‚The Ring of Fire’. Es ist in Wirklichkeit atemberaubend genug, den unhaufhaltsamen Tourismus auf Bali und sein nahezu ungeplantes Wachstum und die Konsequenzen daraus zu beobachten: Resorts, Hotels, Pensionen, tatsaechlich private Villen und private Villen, die zahlende Gaeste aufnehmen oder Privatunterkuenfte bei balinesischen Familien. Dazu Restaurants, Gaststaetten, Schnellimbisse und lokale Geschaefte plus, neuerdings, die rund um die Uhr geoeffneten Supermaerkte: die Cirkle Ks, Indomarts, Deltas und so weiter. Fuer alles, was man verkaufen kann, entsteht ein neuer Laden.
Alles waechst wie die Pilze im warmen Tropenregen. Ein Wildwuchs ist das, Uebernutzung, Ausbeutung, die totale Kommerzialisierung. Die Zerstoerung eines Paradieses?
Bali war nie ein Paradies. Bali war nie die Suedseeinsel á la Paul Gauguin. Bali war immer – und ist es heute vielleicht mehr denn je – ein Ort scheinbar unveraenderbarer sozialer und wirtschaftlicher Spannungen und Verwerfungen, religioeser und kultureller Verschiedenartigkeiten und vieler Unterschiede in der Lebensfuehrung zwischen den vier Kasten, zwischen armen und wohlhabenden Familien, zwischen Balinesen und den Indonesiern von anderen Inseln und zwischen Einheimischen und Auslaendern. Wo Harmonie und Harmonisierung ganz oben auf der Werteskala stehen, regieren oft genug Disparität und Disharmonie.
Bali hat eine sehr komplexe soziale Struktur mit vielen fuer mich unverstaendlichen Aspekten, die manches mal sogar etwas Geheimnisvolles an sich haben und Aspekten, an die ich am besten erst gar nicht denken mag. Einsicht in diese sozialen Strukturen zu gewinnen, ist nicht einfach. Auch fuer mich nicht, obwohl ich mit einer Balinesin und ihrer Grossfamilie verheiratet bin. Diese sozialen Strukturen scheinen gleichzeitig konstruktiv und destruktiv zu sein und sie koennen sich in der gleichen Region von Dorf zu Dorf unterscheiden - von Region zu Region ohnehin.
Aber als der ‚Bule’, der Auslaender, der Fremde, der auf Bali lebt, oder in Indonesien, in Suedostasien, in Asien – als Bule kann ich nur sehen, hoeren oder fuehlen, was ich ohnehin schon weiss. Es basiert auf der Einsicht: du siehst nur, was du weisst. Diese Einsicht gilt immer und ueberall, sie wird nicht begrenzt durch Geographie, Kultur oder durch Glaubenssysteme.
Weil es so schwierig erscheint, Bali und die Balinesen zu begreifen und etwas mehr ueber ihre Lebensart, ihre kulturellen Einbindungen und Einengungen und ihre Religiositaet und ihre Abhaengigkeit von ihrer Religion zu lernen, sehe, hoere und fuehle ich nur ein klein wenig von dem, was tatsaechlich da zu sein scheint. Ich koennte es auch das ‚Eisberg-Syndrom’ nennen. Oder ein Fass ohne Boden. Oder einen Teufelskreis.
Vor einiger Zeit sagte ein gebildeter und durchaus auslandserfahrener balinesicher ‚Upper Caster’ zu mir: „Es muss fuer dich als Deutschen sehr schwierig sein, auf Bali zu leben.“ Er fragte das nicht, er stellte es fest. Fuer ihn ist klar, dass besonders wir Deutsche alles analysieren und auf die Reihe bringen wollen und dass wir alles staendig miteinader vergleichen muessen. Und er weiss auch, dass man sich so den Geheimnissen Balis nicht naehern kann.
Der Mann hat Recht. Einhundert Prozent Recht. Aber, und das ist meine Frage: Ist denn Bali nur fuer mich oder fuer uns Deutsche ein Problem?
Mein ‚innerer Sisyphus’ ist mir ein guter und starker Partner und er sagt mir von Zeit zu Zeit, was ich tun soll. Seinem hilfreichen Ratschlag folgend, sammle ich kleine Informationsstuecke von und ueber Bali. Von Zeit zu Zeit versuche ich dann, diese Fragmente zu einem Mosaik zusammenzufuegen, zu einem Bild, von dem ich aber weder die Form noch die Groesse, weder den Durchmesser weiss, noch eine Ahnung davon habe, welche Farbe neben welcher Farbe plaziert werden muss.
Aber mein Sisyphus hilft mir dennoch weiter: er ermutigt mich, alles Moegliche zu versuchen und dabei auch Fehler nicht zu scheuen, weiter zu versuchen und weiter zu irren ...
Ja, Bali entwickelt sich mehr und mehr zum ultimativen Ort fuer meinen inneren Sisyphus.
Aber sogar mein Sisyphus fragt mich inzwischen: ‚Ist es wirklich notwendig, durch all das noch einmal und noch einmal durchzugehen, bevor du deine Augen fuer immer schliesst?’

Was soll ich antworten?
Die Antwort ist einfach: ‚Tut mir leid – ich kann nicht anders’.



Befindlichkeitsmeldung vom Donnerstag,
den 28. Mai 2009, Pegel Ubud, Jalan Bisma


Ich gehe den Weg ziehender Wolken,
des ohnmaechtig bruellenden Loewe,
und der fallenden Blaetter.

Ich gehe den Weg
quicklebendiger Schimpansen
und rauflustigen Hunde.

Ein rastlos Suchender in
wirbelndem Wasser
und auf steinigem Weg.

Ein Mensch ohne echte Hoffnung
und ohne echtes Ziel –
nur immerfort in Bewegung.

Mit klopfendem Herzen,
und erfuellt von Dankbarkeit
und Anteilnahme. Manchmal.

Gestern, heute und morgen
unerloest - und doch im Moment
recht zufrieden.



Borobudur, Zentraljava

I Gusti Soundso, ein ausgewachsenes und ausgesprochen rundes Mannsbild aus Sangeh, Bali, hatte Angst, alleine in seinem Zimmer zu schlafen. Das Hotelzimmer erschien ihm zu gross, genauer, das Zimmer war ihm zu lang, ausserdem war es ihm zu dunkel und er konnte angeblich das Klimageraet nicht vertragen. Deshalb wuenschte er, dass wir Zimmer tauschen: er wollte mein kleines Zimmer, das mit einen Ventilator anstelle eines Klimageraetes ausgestattet war. Ich haette dafuer sein grosses, komfortables Zimmer haben koennen. Alternative: Er wollte bei mir im Zimmer schlafen. Ein zweites, ungenutztes Bett war tatsaechlich vorhanden. Er sei bestimmt kein Schwuler, versuchte er mich zu ueberzeugen: „I’m not a Homo – ha, ha, ha!“
Auf den Gedanken, dass man sowohl ein Klimageraet als auch einen Ventilator nicht unbedingt einschalten muss, war er nicht gekommen.
I Gusti Soundso aus Sangeh hatte ich in einem kleinen, gemuetlichen Hotel in Borobudur, Zentraljava, kennengelernt. Er hatte einen aelteren Herrn aus Deutschland nach Borobudur chauffiert. Ich schreibe das so salopp, als waere aus mir selbst nicht laengst ein aelterer Herr aus Deutschland geworden. Der Herr aus Deutschland wollte sich den Sonnenaufgang auf dem weltberuehmten Tempelgelaende von Borobudur anschauen. Aber: die Sonne ging zur der Zeit etwa gegen 5.30 Uhr auf. Der Zutritt zum Tempelgelaende war aber erst ab 6.00 Uhr moeglich. Also nichts da mit einem Sonnenaufgang in Borobudur. Sonnenaufgang von den hinter Borobudur gelegenen Bergen aus war allerdings moeglich.
Mit dem Sonnenuntergang war es auch nicht besser: die Sonne ging bereits ab 17.45 Uhr unter, aber das Tempelgelaende musste schon um 17.30 Uhr geraeumt sein. Sonnenuntergang von den hinter Borobudur gelegenen Bergen aus war allerdings moeglich.
Und: Borobudur im Morgendunst war immer moeglich. Als Deutsche wissen wir spaetestens seit Caspar David Friedrich, dass Dunst und Nebel die besondere Atmosphaere fuer tiefsinnige, ja mysthische Stimmungen und Gefuehle schaffen.
Uebrigens ging ich auf keinen der Wuensche des Gusti aus Sangeh ein. Ich kann auch hartherzig und abweisend sein, besonders dann, wenn ich zuvor alle Ebenen des gewaltig grossen buddhistischen Tempels von Borobudur auf eigenen Fuessen umwandert habe. Wie den Berg Kailash in Tibet. Das waren etwa fuenf Kilometer. ‚Tempeltrekking’ sagt man heute dazu.
Danach bin ich grundsaetzlich fuer einen Zimmertausch nicht mehr haben.



Botanisches

Ich hatte vor, Agung Rai auf dem Gelaende seines Museums zu treffen. Es gab etwas, was ich mit ihm besprechen wollte, und die Sonntagvormittage sind immer gut geeignet, ihm dort ueber den Weg zu laufen. Um mich nicht ganz planlos auf dem weitlaeufigen Gelaende zu verlieren, erkundigte ich mich bei seinen Mitarbeitern, wo ich ihn am besten treffen koennte.
Den Hinweisen folgend, gelangte ich schliesslich zu einer der beiden grossen offenen Hallen auf dem Gelaende des Resorts. Am Eingang waren auf einem grossflaechigen Banner unterschiedliche (Welt)Religionen durch Pictogramme symbolisch dargestellt. Monotheistische Religionen nur. Und wie immer in Indonesien, blieb die juedische unerwaehnt.
Eine stattliche Zahl von geladenen Gaesten hatte sich dort versammelt, um gemeinsam einen ‚Peace Day’ zu begehen. Gut gekleidete Leute, Indionesier und Bulés (weisse Auslaender), sassen an Tischen und lauschten aufmerksam. Auch einige buddhistische Moenche waren da und balinesche Priester und Hohepriester.
Die Haltung der Leute und die Atmosphaere in dem Balé, erinnerten mich ein wenig an Veranstaltungen, die ich manchmal als Heranwachsender in meiner ehemaligen Kirchengemeinde in Muenchen-Schwabing besuchte. Und sie erinnerten mich auch ein wenig an Wochenend-Veranstaltungen am Starnberger See, die von der Evangelischen Akademie Tutzing organisiert wurden. Auf solchen Veranstaltungen war immer massiv das Ringen um Toleranz zu spueren gewesen. In den Herzen und Koepfen der Teilnehmer war das Verlangen nach Tolerenz und der Anspruch auf Toleranz fast mit den Haenden greifbar gewesen. Toleranz um, nach, auf ... Religioese Tolenanz. Und jetzt auf einmal Vergleichbares hier in Ubud.
Die Gaeste waren alle geladen worden. Zu solchen Veranstaltungen wird man geladen oder man bleibt aussen vor. In Bali nimmt man das mit dem Geladen- oder Nichtgeladenwerden allerdings nicht so genau. Da wird einem kein Nachweis abverlangt, man muss keine nobel gedruckte Einladung vorlegen oder sich einem tatsaechlich geladenen Gast zugehoerig zeigen koennen. Trotzdem drueckte ich mich bescheiden am Rand von Tischen und Stuehlen vorbei, blieb stehen und lehnte mich vorsichtig gegen eine gemauerte Saeule. Ich versuchte den Raum ganz zu ueberblicken und hielt Ausschau nach vertrauten Gesichtern. Ich kannte nur wenige. Das war eigenartig, da man in Ubud viele Auslaender wenigstens vom Sehen her kennt. Schliesslich entdeckte ich Agung Rai, den Gruender und Besitzer des ARMA Museums und des ARMA Resorts und gruesste ihn mit einem Kopfnicken. Langsam ging ich zu seinem Platz hinueber, und wir gaben uns kurz die Hand. Mir war inzwischen klar geworden, dass dies kein geeigneter Rahmen war, um praktische Fragen zu besprechen. Und so entschied ich mich, kurz zu bleiben und den Rednern zuzuhoeren. Den Peace Day-Rednern.
Einem Referent, der gerade einen auf Indonesisch gehaltene Vortrag beendet hatte, wurde freundlich applaudiert. Es folgte ein Redner aus Deutschland, der das, was er sagen wollte, in einem eher holprigem Englisch vortrug. Unter anderem sagte er aber etwas, das simpel klang, aber vielleicht gerade deshalb eindringlich und nachhaltig:
Er erzaehlte von einer Blume, die ihm waehrend eines Spaziergangs aufgefallen sei. Er beschrieb den Ort, die Tageszeit, das Wetter, den Standort der Blume, den Blickwinkel, unter dem er die Blume betrachtet hatte, die Stimmung, in der er sich befand und die Gedanken, die ihn in diesem Moment beschaeftigten. Er beschrieb, wie er sich unter all diesen verschiedenen Gesichtspunkten ein ganz bestimmtes Bild von der Blume machte.
Dann gab er zu bedenken, dass andere Spaziergaenger, die dieselbe Blume am Wegrand entdecken und unter ihren ganz persoenlichen Bedingungen betrachten wuerden, dieselbe Blume wahrscheinlich auf sehr unterschiedliche Weisen sehen wuerden. Ein jeder auf seine, auf seine eigene Weise.
So weit, so gut, fuhr der Redner fort. Ein Problem entstuende tatsaechlich erst dadurch, dass sich fast jeder Betrachter wuenscht, dass alle anderen diese Blume auf eine einzige, am besten auf seine Weise sehen wuerden. Erst dann sei er mit sich, der Blume und allen anderen Menschen wirklich und tatsaechlich und rundherum zufrieden. Andernfalls waeren Enttaeuschung, Verstimmung, Streit, moeglicherweise sogar Taetlichkeit und Krieg programmiert.
Damit erklaerte er uns Zuhoerern kurz und knapp die Phaenomene ‚Rechthaben und Rechthaben wollen’ mit all ihren Folgen. Ich sagte schon: simpel, aber eindringlich und nachhaltig. Mir jedenfalls hats eingeleuchtet.


CGG - Carrefour Goes Green



Hut ab, denke ich mir - die Franzosen geben den Schrittmacher auf Bali und setzen in eigener Regie wenigstens einen winzigen Teil aus den vielen Absichtserklaerungen der ‚Global Warming Converence’ von Nusa Dua, Bali, Indonesien, Dezember 2008, um. Denke ich.
Aber: wenn Carrefour gruen geht, heisst das, dass sie die grossen Einkaufstueten aus Plastik jetzt mit sattgruener Farbe bedrucken lassen. Ob der farbig bedruckte Kunststoff durch seine thermische Behandlung dann auch wirklich so umweltfreundlich von der Insel verschwindet, wie das der Tuetenaufdruck versichert, kann ich nicht beurteilen. Ich habe meine Zweifel daran. Ausser es nimmt jemand die gruene Carrefour-Tuete mit zurueck in sein Herkunftsland und entsorgt sie dort vorschriftsmaessig in der entsprechenden Plastikfraktion (siehe Aufdruck in der Tuetenfalte).
Was mir in diesem Zusammenhang auffaellt: Wann auch immer so ein griffiger und im ersten Momet einleuchtender Slogan unters Volk gebracht wird, muss ich an junge Maenner denken, mit hochgegelten Haaren, hippem Outfit, Zigaretten und schwarzen Kaffee. Und nicht aelter als siebenundzwanzig. Die jungen Vordenker, denen ohne Nachdenken zu jedem Scheiss ein entsprechender Scheiss einfaellt. Hauptsache trendy.
Das sind die Situationen, in denen ich mir eine handfeste, mittellange Depression herbeisehne. Um zwischendurch abtauchen zu koennen. Und sei es nur voruebergehend und die Realitaet verdraengend.
Ich bin inzwischen 67.



Da lachte das Kamel. Und ging.

„Warum“, fragte mich das Kamel, „warum tragen die kretischen Schäfer so hohe und oben so weite und so feste Stiefel?“
„Du weißt, dass ich vier Jahre auf Kreta gelebt habe?“
„Ja – du hast es mir selbst erzählt.“
„Hm.“
„Wen, wenn nicht dich, könnte ich sonst fragen?“
„Hm.“
(Pause)
„Hm. Also, du willst wissen, warum die kretischen Schäfer so hohe und oben so weite und so feste Stiefel tragen? Du musst wissen, das sind Lederstiefel. Normalerweise handgenäht. Aus gutem Leder und mit guten Nähten. Mit gutem, gewachsten Zwirn genäht. Zweifach. Sie tragen sie deshalb, weil ... weißt du ... sie nehmen das Schaf ... Und stecken es mit den hinteren Läufen in die Stiefel. Einen Lauf links. Den anderen rechts.“
„Warum?“
„Damit es beim Ficken nicht davonlaufen kann!“
Da lachte das Kamel, und ging.



Das Absurde im Allgemeinen und ueberhaupt

absurd

(lat. „misstoenend“, „sinnlos“), allg.: unsinnig, widersinnig (>ad absurdum);
ad absurdum

(lat.), etwas ad a. fuehren, die Widersinnigkeit beweisen, z.B. eine Behauptung dadurch, dass man aus ihren Praemissen mit logischen Mitteln eine gegenteilige Folgerung zieht, sodass dadurch die Behauptung selbst als absurd erwiesen wird. (aus Brockhaus Enzyklopaedie, 1986)

Also, schon die alten Roemer gingen davon aus, dass es etwas gibt, das als wohltoenend beziehungsweise als sinnvoll gilt und zu gelten hat. Diese alten Roemer kamen nie bis Bali. Deshalb lernten sie auch die misstoenende Gamelanmusik nicht kennen und das sinnlose Streben, einerseits mit den Touristen Geld auf die Insel zu locken und andererseits unbeeinflusst davon ihre Religion, Tradition und ihren Lebensstil weiterzupflegen. Fuer Balinesen wiederum, von denen viele bis heute nicht wissen, wo Italien und Rom auf dem Globus suchen sollten, sind ihre Musik und ihr Streben sowohl wohltoenend als auch sinnvoll. Also, was nun? Und wer, bitte schoen, macht den Schiedsrichter? Absurd?
Wir nehmen uns und alles um uns herum, uns und die Welt, sozusagen, nicht in ihrer ganzen Komplexitaet und Widerspruechlichkeit als ‚so seiend’ wahr. Wir erschaffen uns und die Welt mit jedem Blick auf uns und die Welt neu. Mit jedem Gedanken, mit jeder Gefuehlsregung und mit jedem unkontollierten oder konditionierten Reflex oder Triebregung oder instinktiven Entscheidung. Nach unseren Vorstellungen. Nach unserem Willen. Nach unseren persoenlichen Moeglichkeiten. Absurd?
In einem umfassenden, komplexen ‚so Sein’ kann es keine Widersprueche geben. Nichts Wohltoenendes oder Misstoenendes - nur Toenendes. Nichts Sinnvolles oder Sinnloses – nur Etwas. Da gibt es nicht normal oder anormal, gut oder schlecht, nicht uebersichtlich und logisch geordnet oder chaotisch dem Zufall ueberlassen, nichts Sinniges oder Absurdes. Da ist alles einfach so, wie es ist und befindet sich in Balance, im Streit, im Miteinander, im Gegeneinander, im Fuereinander, in Aufnahmebereitschaft, im Widerstand und im Kampf mit all den nun wirklich nicht zaehlbaren Erscheinungen im Sein dieser Systeme von Universen.
Die Welt, die Universen oder – traditionell ausgedrueckt - die Schoepfung an sich, sind leer und bedeutungslos. Wir geben diesen Strukturen und Phaenomenen Namen und Bedeutungen und versuchen mit unserem in aller Regel liniearen und kausalen Denken, wir nennen es logisch, ‚dem Ganzen’ auf seine Schliche zu kommen. Ob andere Seinserscheinungen das auch tun, wissen wir nicht - in anderen Welten vielleicht, spekulieren wir. Wir nennen sie, in Abgrenzung zu unserer ‚wirklichen Welt’, ‚Parallelwelten’. Wir bemuehen uns heftig, auch das herauszufinden.
An dieser Stelle ist es ueberfluessig festzustellen, aber ich tu es selbstverstaendlich trotzdem, dass es fuer ‚das Ganze’ keinen uns bekannten Masterplan, keinen Netzplan, keine Zielvorgaben, keine Zeitachsen oder Halbwertzeiten und keinen Oberingenieur gibt, nichts, was das ganze Durcheinander zusammenhaelt. Da koennen die Kreationisten tausend Mal von einem allmaechtigen Weltenschoepfer und Weltenlenker oder Herren der Schoepfung sprechen.
Verglueht eine Sonne, leuchtet vielleicht eine andere umso heller oder stellt auch ihr Gluehen ein. Faellt ein Blatt von der Pflanze, waechst vielleicht ein anderes nach oder es war das letzte Blatt und die Pflanze verkommt. Stirbt ein Lebewesen, erblickte vielleicht ein anderes das Licht der Welt, vielleicht auch nicht. Das ist vielleicht das einzige, was wir vielleicht lernen und begreifen koennen. Alles scheint zu werden und zu vergehen. Absurd? Vielleicht.
Damit es nicht zu kopflastig wird, moechte ich kurz etwas schildern, das ich als besonders absurd empfand:
In der Nacht vom dritten auf den vierten Maerz 2011 traeumte ich von einem Interview, das der frueher bekannte und verehrte Volksschauspieler Willy Millowitch einem Mitarbeiter der Kulturredaktion einer Tageszeitung gab. Es ging prinzipiell um Museumsbesuche und speziell um den Besuch des Museums Ludwig in Koeln, der Heimatstadt Millowitschs. Auf die Frage zu einem moeglichen Besuch des Museums Ludwig antwortete er: „Ein richtiger Koelner tut das nicht zu sich selbst.“ Das war Millowitschs Antwort, so, wie ich sie gleich nach dem Aufwachen niedergeschrieben habe. Ich habe Millowitsch und sein Theater nie gemocht.
Ein zweites, nicht weiter kommentiertes Beispiel: ‚Als das Telefon klingelte, war ich in der Küche, wo ich einen Topf Spaghetti kochte und zu einer UKW-Übertragung der Ouvertüre von Rossinis 'Die diebische Elster' pfiff, was die ideale Musik zum Pastakochen sein dürfte.’ - Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel


Das Heidenkind

Ich traeumte: Vor der ganzen Grundschul-Klasse soll ich ein christliches Lied singen. Ich weigere mich lange, aber die Lehrerin setzt sich schliesslich durch und ich singe das Lied.
„Na, da schau an, Du kannst ja sogar den ganzen Text ohne steckenzubleiben.“
„Ich bin zwar kein glaeubiger Christ, aber bloed bin ich auch nicht!“.
Ende der Traumsequenz.


Das Leben als Eisberg

‚Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel’ ... das kennen wir schon. Tom Hanks hat es in Forest Gump bedeutungsvoll gesagt, und ‚man weiss nie, was drin ist’.
‚Das Leben ist wie ein Eisberg’, fuege ich dem nicht minder bedeutungsschwer hinzu, ‚nur ein Teil davon wird oeffentlich sichtbar, der weit groessere Teil spielt sich im Verborgenen ab’.
Jetzt liegt Bali allerdings fernab von vereisten Polkappen. Es moegen die Gletscher an Nord- und Suedpol noch so heftig kalben, ihre Eisberge gelangen vielleicht gerade noch in die Sichtweite von Neuseeland, aber nie bis in die Bali Sea oder den Teil des Indischen Ozeans, den die Indonesier beharrlich den Indonesischen Ozean nennen.
Ja, Indonesien hat sich in seiner kurzen Geschichte so manches angeeignet. Widerrechtlich, wie die Betroffenen bis heute meinen. Eisberge waren nicht darunter. Aber weiss man, was noch kommen wird?
Das Schnitzen und Bemalen von Masken ist ein bedeutender Teil balinesischen Kunsthandwerkes. Masken werden bei vielen verschiedenen balinesischen Taenzen getragen. Das ist ein Teil der balinesischen Kultur. Die eigenen Wuensche, Absichten und Gefuehle hinter Masken zu verbergen, gehoert ebenfalls zum balineschen Menschen und zu seinem alltaeglichen Verhalten, so wie das Ei zur Henne oder der Slendang, das ist der Stoffguertel oder die Schaerpe, zum Sarong. Wobei ich hier sofort anmerken moechte, dass die Charaktermaske nicht ausschliesslich balinesich ist, sondern auf Asiaten im Allgemeinen, die Asiaten also, zutrifft. Aber nicht nur auf diese.
Meine bisherigen Erfahrungen mit Menschen aus Indonesien, Japan, der Volksrepublik China, aus Singapur, Malaysia, Taiwan, Thailand, den Philippinen oder Suedkorea werden statistischen Mindestanforderungen nicht gerecht. So etwas wie einen tief verwurzelten Hang zur Maskerade bei den Menschen aus diesen Laendern scheint es aber tatsaechlich zu geben.
Was also ist es, was der Eisberg in den kalten Fluten der Ozeane verbirgt? Was ist es, was BalinesInnen ihren Mitmenschen vorenthalten? Was ist es, was sie uns weisshaeutigen, oftmals blonden oder rothaarigen Langnasen nicht zeigen wollen? Und warum?
Wer weiss das schon.


Das Universum und wir

Da wir gemeinhin davon ausgehen, dass das Universum so etwas ist wie ein Ausflugsziel fuer Einheimische und nicht Einheimische, wie der Staffelsee oder der Kleinhesseloher See zum Beispiel, oder die Kugleralm oder das Glockenspiel im Turm des Neuen Rathauses in Muenchen, vergessen wir darueber gerne, wie gross wir uns dieses Universum eigentlich vorzustellen haben und wie leicht darin alles Moegliche verlorengehen kann.
Da sagen uns jetzt aber andere, die von sich behaupten, sich im Universum so gut auszukennen wie unsereins in seinen Hosentaschen – manche dieser universumskompetenten Fachleute wollen uns also weissmachen, dass das Universum ein geschlossenes System sei und dass in einem geschlossenen System nichts, aber auch gar nichts verloren gehen kann. Jeder Furz, der eine halbwegs zivilisierte Abendessengesellschaft sprengen wuerde, jedes gute und jedes boese Wort, jede hilfreiche Geste und jedes Schurkenstueck, jede Luege und jede Vorenthaltung, fuer all die denkbaren und auch fuer die gar nicht erst auszudenkenden menschlichen Absonderungen in den zurueckliegenden 4,5 Millionen Jahren Evolutionsgeschichte gilt: Nichts, aber auch gar nichts ging und geht verloren. Das stinkt und miachtelt, das lallt und sabbert, das flucht und aechzt, das jammert und stoehnt, das schreit und fluestert, saeuselt, suessholzraspelt und weint da draussen vor sich hin und niemand kann den Stecker ziehen und es zum Schweigen bringen. Denn der sogenannte Kreator hat auf Funktionen wie ‚Maintenance’ oder ‚Stecker ziehen’ schlichtweg vergessen. Oder haben Sie jemals etwas in der Richtung gehoert? Deshalb geht es ja auch so wuest zu in seiner Schoepfung. Von wegen Selbstlaeufer! Mangelnde Folgenabschaetzung wuerde man ihm heute vorwerfen, dem Kreator. Durchaus anklagend und mit erhobenem Zeigefinger.
Dr. Murkes gesammeltes Schweigen gegen Hitlers Reden an die deutschen Volksgenossen, die bescheidenen Toene der Mutter Teresa gegen die vollen Toene Richard Wagners, Jack Nickolson ueber dem Kuckucksnest und Hans Albers auf der Kanonenkugel, Willy Brandt im Wahlsonderzug und Angela Merkel beim Arbeitsessen mit Josef Ackermann - und dazwischen immer wieder frech und vorlaut, aber resigniert mit der Stimme des klugen, beissend spoettischen, mitfuehlenden, aber schlussendlich nicht sehr lebenstuechtigen Kleinkuenstlers Karl Valentin, der nach Wilhelm Busch und noch vor Gerhard Polt groesste Kenner (klein)deutschen Hirns und (klein)deutscher Seele.
Was fuer ein Wortzirkus, was fuer ein Stimmensalat, was fuer eine Geruechte- und Geruechekueche, was fuer ein Anschauungsunterricht von Abdomen (Bauch) bis Zipfelschwingen in Hilpoltstein (Kreis Roth, Mittelfranken), und welche Klimaschwankungen sind da geboten in besagtem Universum zwischen Sahara- und Gobitrockenheiten und heissfeuchten Klimata in den Restbestaenden tropischer Regenwaelder auf Borneo und in Brasilien?
Ja, ja – der Mensch wird es nicht leicht haben da draussen. Es ist die Geschlossenheit des Systems, die uns fertigmacht.
Wahrscheinlich. Vielleicht. Und ueberhaupt.



Dentales

(Lustvoll resigniert)

Wie es das Leben manchmal so schafft! Ueber die Jahrzehnte hinweg war beziehungsweise bin ich Patient von drei voellig unterschiedlichen und gleichzeitig besonders herausragenden Zahnarzt-Persoenlichkeiten: bei Herrn Dr. Dr. Joseph Kastenbauer in Altoetting/Oberbayern, bei Frau Gabriele Hueller in Caputh/Brandenburg und bei Ibu Dokter Gigi Hilda S. Juliawan in Singaraja/Bali, Indonesien.
„Gabriele Hüller ist die bekannteste ostdeutsche Wasserski-Sportlerin. Insgesamt siebenunddreissig nationale Titel hat Gabriele Hüller bereits gewonnen. Jüngst fügte die erfolgreiche Wasserski-Akteurin aus dem brandenburgischen Caputh am Schwielowsee ihrer Sammlung bei den deutschen Meisterschaften eine Bronzemedaille im Trick-Ski hinzu. Längst hat sich die Zahnärztin, Jahrgang ...., auf Material aus Carbon umgestellt. ‚Auf Holz-Ski würde ich ziemlich alt aussehen, wenn ich mich wieder umstellen müsste’, gesteht sie und wurde bei den Titelkämpfen vor der Haustür in Werder an der Havel zwangsläufig an alte, skurrile Zeiten erinnert, da Caputh als das Mekka des ostdeutschen Wasserski-Sports galt.“
Der in Burghausen, Oberbayern, geborene Doppeldoktor (legal erworbene Dr. med. und Dr. dent., nix copy and past!), der mit seiner Familie am Chiemsee lebt und in Altoetting, ebenfalls Oberbayern, eine gutgehende Praxis betreibt, hat seinen Berufsstand nicht auf dem Wasser, sondern mehr politsch in Verbaenden, Gremien und Auschuessen vertreten. Ausserdem vertritt er die Bundesrepublik Deutschland als Honorarkonsul in Afrika.
Ueber zwei Jahrzehnte hatten wir viele Gespraeche und manche Diskussion – vor und nach der eigentlichen Behandlung. Allerdings, und das muss ich an dieser Stelle einmal loswerden, waren waehrend der Behandlung die Positionen oft unfair verteilt: Er, der Arzt, gross und schlank, stehend, entspannt, ueber mich gebeugt, haeufig laechelnd, eleoquent, mit wohltoenender Stimme. Ich, der Patient, gross, mal mehr, mal weniger schlank, liegend, angespannt, leicht veraengstigt, selten laechelnd, eleoquent, aber am Sprechen gehindert, weil meist mit einer grossen Spreizspange im Mund. So ein Dialog muss misslingen. Klar artikulierte Saetze seinerseits, die Brumm-, Grunz- und Stammellaute meinerseits. Ja, es gibt kaum Schlimmeres fuer einen eitlen und selbstverliebten Menschen, der sich nur zu gerne reden hoert, als dass seine wohldurchdachten und wohlformulierten Saetze auf animalischeBrumm-, Grunz- und Stammellaute reduziert werden. Das ist fast schmerzhafter als eine Fuellung mit vorausgegangener Bohrung.
Auf Bali ist alles anders! Klar doch. Auch die Zahnarztbesuche unterscheiden sich von meinen frueheren Erfahrungen. Meine Zahnaerztin auf Bali ist Ibu (Frau) Hilda S. Juliawan, Dokter Gigi (Gigi bedeutet Zahn), eine chinesischstaemmige Indonesierin aus Jakarta, die zusammen mit ihrem Ehemann (Dr. Lee) und den gemeinsamen Kindern in Singaraja, Nordbali, lebt. Dort hat sie auch ihre Praxis. Dr. Hilda ist sehr beliebt, besonders auch bei den Auslaendern. Sie hat eine gute Ausbildung zu haben und mindestens zwei Fortbildungen in Europa absolviert. Ihre Praxis ist modern eingerichtet, alles ist peinlich sauber, die Mitarbeiter sind freundlich und gehen ihr gut zur Hand. In der Regel sehen wir uns zweimal im Jahr. Meine Frau und ich fahren zwar nicht nur wegen der Zahnbehandlung von Ubud nach Singaraja, aber wir verbinden unsere Besuche in Lovina mit einem faelligen Zahnarzttermin. Soweit, so gut. Aber was Dr. Hilda und die dentalen Termine bei ihr so aus dem Rahmen des ueblichen fallen laesst, ist der Umstand, dass sie bei ihrer Arbeit haeufig singt. Ja, sie singt. Da bleiben Radio, CD-Player und der Fernseher ausgeschaltet und Dr. Hilda singt mit zarter, aber ausdrucksstarker Stimme mir unverstaendliche Lieder vor sich hin. Zu ihrer eigenen und zur Erbauung ihrer Patienten. Einfach so. Ohne Aufpreis. Na, wenn das nicht aus dem Rahmen faellt.



Der Maurer im Haus erspart den Zimmermann

Problemlösungen, sagt man, sucht man meist da, wo man sich auskennt. In den Bereichen also, in denen man bereits Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt hat und sich deshalb leichter zu helfen weiss.
Bald nach unserem Einzug hatte ich den Wunsch, in dem angemieteten Haus in Ubud einen an seiner Ostseite offenen Raum umzubauen und als dritten Ausstellungsraum für die geplante kleine Kunstgalerie zu nutzen. Dieser Raum war bis dahin Garage und Abstellraum gewesen, Kunstwerke werden ja oft geparkt und abgestellt. Als erfahrener Hobbyschreiner und Akzidenzzimmerer wollte ich eine Wand aus Holz und Faserplatten in einer leichten, aber soliden Ständerbauweise selbst aufrichten. Der Raum wäre dann an seinen vier Seiten abgeschlossen gewesen. Als Verbindung zum Eingangsraum haette ich dann eine Türöffnung ausgebrochen.
Also doch die Maurer. Dann könnte ich die neue Wand auch gleich mauern lassen. Oder? Und ausserdem koennte die bestehende Aussenmauer auf der Nordseite, zum Enten-Nachbarn hin, um vier Steinreihen erhöht und anschliessend verputzt und gestrichen werden. Klingt auch logisch. Oder?
Tja – kommen erst einmal die Maurer ins Spiel, dann wird aus jedem kleinen, bescheidenen Do-it-Yourself-Projekt ein groesseres Projekt, zu dessen Durchfuehrung einige logistischer Probleme gelöst werden müssen. Auch auf Bali.
Der sogenannte ‚Human-Factor’ zuerst: Kenne ich einen Maurer? Auf Bali? Also ganz genau gesagt: Maurer auf Bali? Auf einer Insel, auf der fast alle heranwachsenden und volljährigen Männer von sich behaupten, alles zu können. In einem Land, in dem sich Arbeitsteilung fast nur auf die Bereiche Medizin bezieht, auf Bürokratie und Verwaltung, Polizei, Militär, Elektro- und Computertechnik. Aber sonst kann und macht ein Balinese tatsaechlich fast alles selbst. Oder er kennt jemanden, von dem er weiss oder annimmt, dass er es koennen koennte. Und vieles wird dann auch entsprechend. Da gibt es gute Arbeit zu bewundern, verblüffende Improvisationen und kreative Loesungen, aber auch viel Pfusch und Unzulänglichkeiten. Meist eine Mischung aus beidem, plus einer Mischung aus zu wenig Geld, Unfähigkeit, mangelnden und mangelhaften Werkzeugen und schlechtem Material.
Also nachgefragt: Kenne ich einen Maurer auf Bali? Der kleine Madé war eigentlich kein Maurer, sondern auf Grund seiner Persönlichkeit und seiner Intelligenz eher Bauleiter. Trotzdem – Madé hätte mir helfen können; zumindest weiterhelfen auf der Suche nach einem tüchtigen Maurer. Aber er hatte die Arbeit bei mir im Haus und in der Werkstatt von einem Tag auf den anderen aufgegeben, als er endlich die Dauerstellung in einem Hotel bekam, für die er sich bereits ein Jahr vorher beworben hatte. Eine Dauerstellung in einem Hotel. Und einigermassen gut bezahlt. Und mit der Moeglichkeit, Beziehungen mit Gaesten aus dem Ausland einzufaedeln. Solche Beziehungen zu haben ist wie ueber ein Sparkonto bei einer Bank zu verfuegen. Hat man sie, wird vieles moeglich. In Tagtraeumen und in Wirklichkeit.
Mit dem Madé also wird das nichts. Da Komang und ich neu sind in Ubud, haben wir erst wenige Kontakte, egal in welche Richtung und zu welchem Zwecke. Eine tragfaehige Infrastruktur aufzubauen gehoert zu den wichtigsten Dingen, die eine Neuer in moeglichst kurzer Zeit leisten muss. Tragfaehig, tief, breit, zuverlaessig, auf qualitativ gutem Niveau. Egal ob in Manerba, Kamilari, Ferch oder in Ubud. Aber das dauert. Und wir, vorrangig ich, wollten die Maurer moeglichst schnell im Haus haben.
Da kam Komang schliesslich der rettende Gedanke. Ueber einen ihrer Brueder erreichte sie ihren Vater, meinen sehr geschaetzten Schwiegervater Pak Gede. Er ist einige Jahre aelter als ich - das kommt davon, wenn man eine viel juengere Frau heiratet - und ist ein aeusserst gelenkiger und geschickter Mann. Komang musste kaum zuende sprechen, da sagte er auch schon zu. Bereits am uebernaechsten Tag kam er an, zusammen mit einem Kollegen, den er von verschiedenen Baustellen in Lovina her kannte. Mein Schwiegervater war, und ist es noch immer, ein erfahrener Bauarbeiter der balinesichen Art.
Die beiden fackelten nicht lange. Kaum hatten sie ihr Zimmer bezogen, den obligatorischen Morgenkaffee getrunken, sie trugen bereits ihre Arbeitskleidung, da wurde auch schon gemessen, diktiert, zusammengefasst. Komang, meines Schwiegervaters juengste Tochter, schrieb alles auf und dolmetschte und uebersetzte. Schliesslich wurde ich mit einer Liste zu einem Baustoffhaendler geschickt. Geld hatte ich einstecken. Nach dem Mittagessen bereiteten die beiden Maurer die Baustelle vor. Bald darauf kam auch schon ein Pickup mit dem bestellten und im Voraus bezahlten Material. Das alles ging ratz-fatz.
Fuenf Tage spaeter waren nicht nur die Mauern hochgezogen und der Eingang zu dem neuen Galerieraum durchgebrochen – nein, es war alles verputzt und bereits zum ersten Mal gestrichen. Den Bauschutt verwendeten wir, um eine kleine Terrasse im Hof anzulegen. Nach sieben Tagen war der Hofraum teilweise neu gepflastert und verschiedene kleine Mauer- und Putzschaeden am Haus ausgebessert.
In der zweiten Woche bauten wir zusammen eine drei Meter hohe Skulptur aus Beton. Eine stehende Welle, aehnlich der, die ich schon einmal aufgestellt hatte, wenn auch viel simpler und aus Holz: in Ferch am Schwielowsee, in der Naehe von Potsdam. Zusammen mit anderen Exponaten meiner damaligen Aegyptenausstellung. Damals hiess die Skulptur noch ‚River Nile’, aegyptisch eben. In Ubud heisst sie ‚Blue Wave’. Sollte die Skulptur einmal in Muenchen aufgestellt werden, wuerde ich sie umbenennen in ‚Isaria’ (die Reissende). In Wien hiesse sie selbstverstaendlich ‚Zur blauen D...’. Ganz einfach. Ja, so ist das mit den Fliesswaessern und Wellen: alles aendert sich, und das einzig Bestaendige ist die Skulptur.
Die beiden Maenner mauerten einen soliden Sockel, dann hoben wir die Rohform besagter Welle darauf. Sie wurde verputzt, erhielt eine superfeine Deckschicht und ich strich sie zwei Mal mit einer UV-bestanedigen Fassadenfarbe. Da steht sie heute noch: gross, blau und unuebersehbar. Letztlich ueberlebt nur das Monumentale, pflegte Wolfgang Heinrichs zu sagen, mein unvergessener Meister und Mentor. Recht hat er. Man werfe nur einmal einen Blick auf die grossen Pyramiden.
Was soll ich sagen? Hast du einen zuverlaessigen Mauerer erst einmal im Haus, oder sogar deren zwei, gibt es fuer die eigene Kreativitaet kaum noch Grenzen. Da wird hochgezogen, weggeschlagen, ausgebessert, neu verputzt. Sogar einer der beiden Fischteiche konnte mit einer geschmeidigen, fetten Betonmischung endgueltig abgedichtet werden. Die kleineren der Fische muessen nun nicht mehr schnellstmoeglich wachsen, damit sie nicht in den Rissen und Hoehlungen ihres Teiches verschwinden.
Da muss ein Hobbyschreiner und Akzidenzzimmerer Material und Werkzeug beiseite legen und ohne Scham oder Neid, sondern mit Ehrfurcht gestehen: gegen einen Maurer im Haus hat er nicht die geringste Chance.
Zu seinem Trost vielleicht diese nachgereichte Information: wegen seines hohen Gipsanteils im Zement wird der Beton in Indonesien nach etwa fuenfzehn Jahren muerbe und muss saniert werden.
Allerdings: auch harte Hoelzer und nicht laminierter Bambus sind nach fuenfzehn Jahren den unablaessigen Termitenattacken, intensiven UV-Strahlen und tropischen Regenfluten nicht mehr gewachsen. Bambus hat uebrigens in seinem Zellgewebe einen hohen Zuckeranteil, und der Zucker ist es, den Ameisen und Termiten lieben. Wie wir Menschen auch.
Alles ist eins, sagt der Philosoph. Besonders in den Tropen, sage ich.
Uebrigens fuhr vor einiger Zeit ein unaufmerksamer LKW-Fahrer mit seinem Truck gegen die ‚Blue Wave’ und beschaedigte sie erheblich. Ich hatte die Kollision vom Fenster meines Arbeitszimmer kommen sehen und rannte so schnell ich konnte vom ersten Stock auf die Strasse. Ich sprang vor den Laster, baute mich auf wie ein alter Gorilla und schrie auf den verdatterten Fahrer ein. Selbstverstaendlich in einem starken Muenchnerisch-Reischacher Dialekt. Ganz im Sinne von: Nutze die Kraft, die in deiner Muttersprache liegt. Genuetzt hat es nichts. Der Fahrer konnte und wollte keine Kompensation bezahlen – er habe keine Geld. Der Besitzer des LKW wollte auch nicht bezahlen: „Ich bin ja nicht gefahren.“ Ein als Entschaedigung zugesagter kostenloser Transport von Ubud nach Kalibukbuk/Lovina, nur den Diesel haetten wir bezahlen muessen, fand nie statt. Den LKW und seinen Fahrer aber haben wir in unserer Strasse nie wieder gesehen.
Offensichtlich hat der Fahrer ein fruehkindliches Affentrauma. Wer weiss das schon?
Inzwischen habe ich ‚Blue Wave’ in eine blausilberne Plastikplane verpackt und diese mit einer kraeftig roten Plastikschnur umwickelt. Ja, Verpackungungskunst gibts nicht nur in Berlin. Auch Ubud verpackt nach dem Motto: ‚Was die koennen, kopieren wir schon lange.’
Soll ich sagen, wies kommen wird? Die rote Plastikschnur wird ausbleichen und die Farbe von waesserigem Schleckeis mit synthetischem Him- oder Erdbeergeschmack annehmen. Die silbrige Beschichtung der an sich blauen Plastiplane broeselt jetzt schon. Wir werden also in Zukunft damit beschaeftigt sein, von Zeit zu Zeit die Silberbroesel zusammenzukehren.
Und das alles nur deshalb, weil ich Sockel und Monument, entgegen der Ratschlaege und Warnungen meiner balinesischen Nachbarn, etwa einen halben Meter zu weit in die Strasse ragen liess. ‚When a huge truck comes ...’ - ‚Deppen, ihr habt doch keine Ahnung von grossen Trucks .... auf eurer Mickerinsel ...’
Und die Moral von der Geschicht’?
Manches Mal genuegt schon ein kleiner Truck ...



Der Suzuki-Adi

Lieber Karl.
Dir moechte ich die Neuigkeit auf keinen Fall vorenthalten: Seit gestern 12.05 Uhr bin ich stolzer Besitzer einer Suzuki Skywave; 125 ccm; zwei Stossdaempfer, speichenlose Felgen; tiefschwarz, mir roten Federn um die Stossdaempfer. Vom Zuendschloss aus kann ich die Sitzbank oeffnen. Der Motor schaltet sich automatisch aus, wenn ich den Staender ausklappe, und mit ausgeklapptem Staender kann ich die Maschine gar nicht erst starten. Ein heisser Kuebel. Nur einen Rueckwaertsgang hat er nicht. Das war's fuer heute.
Liebe Gruesse an Dich und an alle.



Die Dreigroschenoper
Von Bertold Brecht

Der Mensch lebt durch den Kopf
Der Kopf reicht ihm nicht aus
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt hoechstens eine Laus.

Denn fuer dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlau genug.
Niemals merkt er eben
Allen Lug und Trug.

Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein grosses Licht!
Und mach dann noch 'nen zweiten Plan
Geh' n tun sie beide nicht.

Denn fuer dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein hoeh' res Streben
Ist ein schoener Zug.

Ja, renn nur nach dem Glueck
Doch renne nicht zu sehr!
Denn alle rennen nach dem Glueck
Das Glueck rennt hinterher.

Denn fuer dieses Leben
Ist der Mensch nicht anspruchslos genug
Drum ist all sein Streben
Nur ein Selbstbetrug.




Die Gruene Revolution in Indonesien

Besonders wichtig ist die ‚Grüne Revolution’ für Indonesien, wo seit 1966 der Einsatz der Internationalen Reissorte 8 (IR8), die auf den Philippinen gezüchtet wurde, staatlich gefördert wird. Die Vegetationsperiode dieser Reissorte ist um ein Drittel kürzer als die herkömmlicher Reissorten, was 2-3 Ernten pro Jahr ermöglicht und der Körnerertrag der Pflanze ist deutlich höher. Hinzu kamen Maßnahmen wie der Ausbau der Bewässerungsanlagen, die Einrichtung von Beratungsstellen und besonders die Ansiedlung von Kreditunternehmen in den Dörfern (LPD’s). Verluste auf den Feldern und nach der Ernte wurden durch eine deutliche Verkürzung der Lagerzeiten um rund 15% vermindert; dies war möglich durch verbesserte Ernte-, Dresch-, und Mahltechniken.
Das Ergebnis war eine beträchtliche Produktionssteigerung, wie im Falle von Java von 2,6 t/ha auf 5,4t/ha; d.h. eine Verdoppelung der Pro-Kopf-Produktion trotz weiter wachsender Bevölkerung. Anfang der 90er Jahre konnte sich Indonesien mit Reis vollkommen selbst versorgen. Durch die Grüne Revolution war es Indonesien ermöglicht, sich vom größten Reisimporteur Anfang der 80er Jahre zum beachtlichen Reisexporteur zu entwickeln.
Die Grüne Revolution führt zu ökologischen, ökonomischen und sozialen Wandlungsprozessen, weshalb deren Bewertung eher kontrovers bleibt. Während Makroökonomen die Ertragssteigerungen und deren gesamtwirtschaftliche Bedeutung in den Mittelpunkt stellen, sehen Mikroökonomen und besonders Ökologen eher Probleme. So sind die Hochertragssorten sehr schädlingsanfällig. Besonders bedrohlich ist dabei die Braune Reiszikade, die früher kaum von Bedeutung war, da ihr Brutzyklus jährlich nach der Ernte durch Nahrungsmangel unterbrochen wurde. Bei drei Pflanzungen pro Jahr ist dies nicht mehr der Fall, was zu einer Explosion der Population dieser Zikade führte. Um dem entgegenzuwirken, wurden große Mengen an Schädlingsbekämpfungsmitteln eingesetzt, die über die Nahrungskette auch die Fischbrut in den Reisfeldern, sowie die Vögel, Ameisen und Spinnen dezimierten. Der Verlust an den natürlichen Fressfeinden macht einen noch stärkeren Pestizideinsatz nötig. Im Laufe der Zeit haben einige Insekten eine Resistenz gegen die Bekämpfungsmittel entwickelt. Diesem Problem konnte man jedoch durch den Mischanbau mit traditionellen Reissorten erfolgreich begegnen, ohne dass dabei die Produktion sank.
Trotz der Grünen Revolution stößt die Reisproduktion in Asien an ihre Grenzen, aufgrund Wassermangels und der beschränkt nutzbaren Flächen. Hinzu kommen die Degradation der Böden und die Verteuerung der Arbeitskräfte. Besonders die junge Bevölkerung bevorzugt Erwerbsmöglichkeiten in den Städten gegenüber der harten Arbeit auf dem Land, wobei der Mechanisierung, besonders im Terrassen-Anbau, enge Grenzen gesetzt sind. Deshalb werden neue Forderungen nach Genmanipulation und Biotechnologie laut, die man häufig als Lösungsmöglichkeiten dieser Probleme sieht. www.greenmind.besser-web.net/landwirtschaft



Die Kostenlosigkeit

Viele gute und sogar sehr gute Dinge im Leben kosten nichts oder so gut wie nichts. Denken zum Beispiel, oder nachdenken, sich erinnern, fuehlen, mitempfinden, mitleiden, sich mit jemandem treffen, sich gegenseitig beruehren, beieinander sitzen, miteinander sprechen, miteinander schlafen, spazierengehen oder wandern, im See, im Fluss oder im Meer schwimmen, gymnastische Uebungen machen, Yoga praktizieren, meditieren, beten, schreiben, etwas aufschreiben, singen, Gedichte oder Geschichten verfassen, zeichnen; den Voegeln zuhoeren, den Grillen und Zikaden, den Froeschen, den Huehnern und Haehnen, der Kettensaege, mit deren Hilfe Palmen gefaellt werden, den Enten, dem Murmeln des Baches, dem Rauschen des Wasserfalls, dem Anschlagen von Wellen an einem Felsen, dem Rollen der Steine am Strand, dem Wind in den Blaettern und dem fernen Geraeusch des silbrigen Jets hoch ueber Bali.
All das ist gibts entweder ganz oder fast ganz umsonst. Papier und Stifte kosten nur Pfennige. Schuhe und Kleidung habe ich ohnehin.
Und vielleicht finde ich dabei das, wonach ich in Wirklichkeit immer suche: mich selbst. Vielleicht finde ich mich in meiner Schoenheit und in meiner Erbaermlichkeit, mit meinem Mut und mit meiner Ohnmacht, mit meinen Visionen und mit meinen Aengsten. Vielleicht finde ich mich als das, was ich tatsaechlich bin: ein Unikat. Nie dagewesen vor mir, nie wiederkehrend nach mir. Einfach ich selbst. Ungeklont. Im gestern, heute und morgen - im ieri, oggi, domani.
(Der italienische Anhang ist Angelika und Alfonso gewidmet.)



Die Zeit des grossen Sprungs

Nach mehr als einem Jahr auf Bali hoerte ich damit auf. Ich zog einen Schlusstrich darunter, die Balinesen verstehen zu wollen. Finito. Finish. Fin. Aus. Ende. Amen.
Die religioesen und kulturellen Wirklichkeiten auf Bali, die noch immer sehr tiefe religioese Verwurzelung der Balinesen, die sie zentriert und zugleich begrenzt, ihr System aus Glauben und Aberglauben, aus weisser und schwarzer Magie, die Art und Weise, wie sie ihre Dinge tun oder nicht oder nur teilweise tun, was ihnen peinlich ist und unter welchen Umstaenden sie ihr Gesicht teilweise oder ganz oder fuer immer zu verlieren glauben und wie sie mit all dem letztlich zurechtkommen im Leben und ganz offensichtlich mit manchen Umstaenden besser als wir Westler, das Sterben und den Tod mit eingeschlossen - das alles wurde mir einfach zu komplex und zu kompliziert. Ich konnte mich mit Hilfe meiner abendlaendisch gepolten Denkweise, Codes und Gepraegtheiten einfach nicht darin zurechtfinden. Ich war im Lauf der Jahre entweder weniger flexibel und aufnahmebereit geworden, oder es haette ohnehin zu keinem Zeitpunkt ausgereicht, ein tieferes Verstaendnis fuer die Realitaetsvorstellungen, Traeume, Hoffnungen, Sehnsuechte und Geheimnisse ‚der Balinesen’ entwickeln zu koennen. Also Strich darunter.
Seit ich die grundsaetzliche Entscheidung akzeptieren kann, mich auf Bali niedergelassen zu haben, fuehle ich mich besser. Nach dem ersten Jahr in Kalibukbuk, meinem schwierigsten Jahr im Paradies, ist das ein grosse Veraenderung – ‚a big change’, ja, auch ich mache in changes, Herr Obama, langsam zwar, dafuer aber wirkliche und nachhaltige.
Die Anpassung an das real existierende Bali ist fuer mich ein grosser Sprung ueber den Graben: weniger Erwartungen, weniger Projektionen, weniger Enttaeuschungen. Ohne die Menschen um mich herum, haette ich wahrscheinlich nicht springen koennen. Das weiss ich.
Dafuer bin ich dankbar. Komang selbstverstaendlich an erster Stelle. Ich danke meiner angeheirateten balinesischen Verwandtschaft und jenseits dieser grossen und fuer mich nach wie vor unuebersichtlichen Familie, manchen Balinesen und Indonesiern von anderen Inseln, die auf Bali leben. Kuenstlerfreunde und -kollegen sind das, Galeristen, Musiker, Handwerker und Kunsthandwerker, auch ein frueherer Abgeordneter des balinesischen Landtags ist darunter.
Ich danke den auf Bali sesshaft gewordenen oder einfach nur haengengebliebenen Auslaendern, mit denen ich ueber die Jahre Bekanntschaften und sogar einige Freundschaften schloss. Und bei vielen durchreisenden Touristen bedanke ich mich, den Repraesentanten des intellektuell und emotional manchmal arg anstrengenden Durchlauferhitzer-Prinzips.
Es bleibt weiterhin ein weites Feld zu beackern. Es liegt gewissermassen zwischen Verstehen und nicht Verstehen, zwischen Lachen und Sarkasmus, zwischen Wohlsein und Inselkoller.
Wenn das keine Perspektiven sind.


Ein ganz besonderer Ort: Das Auslaenderamt
oder Wie man sich die Menschen passend macht



Kantor Imigrasi heisst in Indonesien das Amt, auf dem indonesisiche Staatsbuerger einen Reisepass beantragen oder verlaengern lassen koennen und Auslaender eine Aufenthaltsgenehmigung fuer Indonesien beantragen und erhalten koennen.
Die weiblichen und maennlichen Offiziere der Kantor Imigrasi auf Bali, in Singaraja und in Denpasar, sind Beamte des Oeffentlichen Dienstes. Bezogen auf ihre Berufsbezeichnung und ihren Status tun sie also Dienst an der Oeffentlichkeit. Sie sind also Diener.
Nichts da. Statt zu dienen, bevormunden und dominieren sie ihre Klienten, die indonesischen Buerger und Steuerzahler, die vorstellig werden, um beispielsweise einen Reisepass zu beantragen. „Kann ich bitte einen Reisepass beantragen?“ „Einen Reisepass?“ „Ja.“ „Fuer was brauchen Sie einen Reisepass?“ ... Antwort ... „Wohin wollen Sie reisen?“ ... Antwort ... Wann? ... Antwort ... „Warum?“ ... Antwort ... „Fuer wie lange?“ ... Antwort ... So in etwa verlaeuft ein typisches Frage-und-Antwort-Spiel zwischen dem in der Regel von vorneherein eingeschuechterten Antragssteller und dem Mitarbeiter des Auslaenderamts. Ein Spiel, das dem Antragssteller jedes Mal seine Unwichtigkeit im Allgemeinen und seine Abhaengigkeit von der Kooperations- und Hilfsbereitschaft des Apparates im Besonderen vor Augen fuehrt.
Denn so ein Antrag auf einen Reisepass oder dessen Verlaengerung ist nunmal kein einmaliger Vorgang, sondern ein vielstufiger Prozess, den zu einem guten Ende zu bringen eine grosse Menge an Geduld und Zeit aufgewendet werden muss.
Ein ungleich kleinere Gruppe von Antragstellern betrifft die Auslaender, die um eine laengere Aufenthaltdauer in Indonesien nachsuchen, als es das gewoehnliche vierwoechige Touristenvisum vorsieht, das man problemlos bei der Ankunft am Flughafen bekommt. Dieser Gruppe geht es um Verweildauern in Haeppchen von drei oder zwoelf Monaten, mit jeweils der Absicht und Aussicht auf Verlaengerung.
Fuer mich selbst beantrage ich jedes Jahr ein ‚Tinggal Terpatas’ (Limited Stay Permit). Weil dieses Tinggal Terpatas in Form einer ‚Kartuzin Tinggal Terpatas’ dokumentiert wird, hat man aus der Ansammlung der Buchstaben von K bis s fuenf herausgegriffen und daraus die Abkuerzung KITAS destilliert.
Um diese KITAS jedes Jahr rechtzeitig zu erhalten, bedarf es eines grossen Aufwands an Geduld und Zeit, und es ranken sich zum Teil abenteuerliche Geschichten von Schikanen, Erniedrigungen, Zeitverschwendung und unerlaubten Geldzuwendungen um diesen an sich klar strukturierten und eindeutig vorgezeichneten Verfahrensweg. Die Kosten fuer die einjaehrige KITAS belaufen sich nach ausgehaengter Preisliste derzeit auf 755.000 Rp.
Um eine beschraenkte Aufenthaltsgenehmigung von einem Jahr (KITAS) erhalten zu koennen, muss man erstens mindestens 55 Jahre alt sein, zweitens ueber einen indonesischen ‚Sponsor’ (Buergen) verfuegen und drittens in wirtschaftlich geordneten Verhaeltnissen leben (Nachweis ueber ein Bankkonto im Herkunftsland). Das mit dem Alter und mit dem Bankkonto sind glatte Angelegenheiten, bei der Geschichte mit dem Sponsor wird es entweder schwierig oder kostenintensiv, oder beides.
Das Verfahren, eine beschraenkte Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen, erscheint auf Anhieb verworren und deshalb schwierig zu sein. Das liegt daran, dass manche Formulare nur in Indonesisch vorliegen, vor allem aber daran, dass jeder auslaendische Antragsteller einen indonesischen Sponsor haben muss. Wer ein solcher Sponsor sein kann – darueber gehen die Informationen, sprich Meinungen, auseinander. In dieser Luecke haben sich gewerbsmaessige Helfer etabliert, die dem Antragsteller versprechen, ihm professionell und erfahren zur Seite zu stehen. All diese freundlichen Helfer, Agenten oder Agenturen wollen nur sein Bestes. Naemlich sein Geld. So kommt es, dass das Produkt ‚Aufenthaltsgenehmigung’ (KITAS) fuer ein Jahr, das an der Kasse des Kantor Imigrasi 755.000 Rp kostet, bei einer der freundlichen Agenturen fuer 3.500.000 Rp bis 9.000.000 Rp zu haben ist. Je nach dem.
Was passiert mit dem Differenzbetrag?, fragt man sich an dieser Stelle. Klar, der Helfer, der Agent, die Agentur haben Unkosten: Miete, Personalkosten etc. Die wollen von den 3.500.000 bis 9.000.000 Rp erst einmal bezahlt sein. Dann die echten Kosten fuer die KITAS, sprich 755.000 Rp., die gehen bar an die Kasse des Kantor Imigasi. Aber der Rest, sprich die abenteuerliche hohe Differenz zwischen dem, was der Antragsteller zahlt und dem, was Helfer, Agent oder Agentur an echten Kosten haben? Wohin gehen die? Dieser Betrag wird nach einem unbekannten Schluessel zwischen Helfer, Agent oder Agentur und den Beamten der Kantor Imigrasi aufgeteilt. Heisst es.
Wen wunderts, dass meine Frau Komang Sarining und ich keine grosse Freude bei den Beamten ausloesten, als wir das zweite Jahr hintereinander das ganze Antragsverfahren ohne Hilfe von aussen auf den Weg bringen wollten. Moeglich ist das durch ein Entgegenkommen des Gesetzgebers, der indonesischen Staatsbuergern erlaubt, fuer ihren auslaendischen Ehepartner den Sponsor zu geben. Fuer uns eine feine Sache, fuer die Beamten des Kantor Imigrasi ein undankbarer Fall, weil er Nebeneinnahmen nicht beinhaltet.
Und das liessen sie uns spueren: hier fehlte angeblich eine notwendige zusaetzliche Fotokopie, hier ein besonderer Sponsorbrief; dann eine Neufassung des Sponsorbriefs nach einer Vorlage, bei der er sich um die Arbeitsgenehmigung eines suedkoreanischen Ehepaares handelte. Komang, meine Ehefrau und Sponsor, musste zu einem extra anberaumten Gespraech nach Denpasar fahren, fuer das es, wie sich herausstellte, keinen Anlass gab. Dann mussten alle Unterlagen zu einer besonderen Ueberpruefung in die Hauptstadt, nach Jakarta, geschickt werden. Dort konnten wir uns ueber den Fortgang des Verfahrens nicht informieren, weil die Unterlagen nicht auffindbar waren. Die Zeit fing an, knapp zu werden. Und waehrend all der Wochen hatte ich weder Pass noch KITAS - man muss beides mit den Antragsformularen abgeben. Das heisst, ich haette aus Indonesien weder ausreisen noch wieder einreisen koennen.
Zu meinem Aerger und meiner Verdrossenheit kam jetzt das ausgesprochen haessliche Gefuehl hinzu, ein Gefangener eines Landes zu sein, dessen Organen ich, aus guten Gruenden wie ich finde, nicht ueber den Weg traue. Das war der Zeitpunkt, als ich den Einfall hatte. Verlangte ich in den vielen zurueckliegenden Wochen in Situationen, in denen die Schikanen besonders deutlich wurden, immer um ein „Chefgespraech“, um das Verfahren wieder ein wenig voranzubringen, was in Grenzen tatsaechlich auch immer etwas Bewegung ins Spiel brachte, trug ich jetzt ein Argument ganz anderer Art vor.
„Sie wissen“, sagte ich zu dem Beamten, „ich komme aus Deutschland. Das koennen Sie ja aus meinen Unterlagen ersehen. Ich habe noch eine Tante. Sie lebt in Deutschland. In der Naehe der bekannten Stadt Nuernberg. Sie ist die einzige Tante, die ich noch habe. Sie ist die Schwester meiner verstorbenen Mutter. Tante Emma, so heisst sie, ist meine Lieblingstante. Seit ich mich erinnern kann, ist sie das. Meine Tante Emma ist ueber neunzig Jahre alt. Und sie ist krank. Sehr krank. Sie liegt im Krankenhaus.“ An dieser Stelle unterschied ich absichtlich nicht zwischen Krankenhaus und Pflegeheim. „Es kann sein, dass sie stirbt. Vielleicht heute. Vielleicht morgen. Vielleicht naechste Woche. Wer weiss das schon?“ Ich blickte meinem Gegenueber ernst und lange in die Augen, was Asiaten nicht so gerne haben. Als er seinen Blick abwandte fuhr ich fort: „Und was tue ich? Ich haenge hier auf Bali herum, ohne meinen deutschen Reisepass, ohne meine KITAS, ohne ein Wiedereinreise-Visum! Und was passiert, wenn meine einzige, meine Lieblingstante Emma in diesen Tagen stirbt? Ich kann nicht nach Deutschland reisen und ich kann nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen und ihr die letzte Ehre erweisen! Und warum? Weil Sie auf meinen Unterlagen sitzen und meinen Antrag nicht so bearbeiten, wie es sich gehoert! Ihretwegen kann ich nicht zur Beerdigung meiner Tante Emma fliegen!“
Bei einem Menschen mit dunklerer Hautfarbe kann man nicht so leicht erkennen, wenn er bleich wird. Aber diesem Beamten war es problemlos anzusehen. Er wandte sich zur Seite, griff nach dem grossen roten Umschlag, in dem sich meine Unterlagen befanden, ja, die waren auf einmal auf wundersame Weise wieder aufgetaucht, drehte sich auf dem Absatz um und hastete zum Buero seines Vorgesetzten. Von meinem Standort aus konnte ich sehen, wie die beiden Maenner erregt miteinander sprachen. Dann gingen sie, tatsaechlich rannten sie fast, miteinander zu ihrem gemeinsamen, ranghoeherem Vorgesetzten. Sie verschwanden in dessen Buero. Was sich darin abspielte, konnte ich nicht mehr sehen.
Tatsache war, dass ich bald darauf in das Buero gerufen wurde und man mir mitteilte, dass ich in einer Woche meinen Pass und meine neue KITAS abholen koenne und dass man hoffe, dass meine Tante diese Zeitspanne ueberleben wuerde.
Eine Woche spaeter hatte ich mit Tante Emmas indirekter Hilfe meinen Pass und meine neue KITAS. Ich bin noch immer verwundert, dass das Tante-Emma-Argument so gegriffen hat und ich habe mich inzwischen, aus Verwunderung und Dankbarkeit, darauf festgelegt, dass ich tatsaechlich zu Tante Emmas Beerdigung fliegen werde, wenn es einmal so weit sein wird.



Ein glueckliches Neues Jahr

Schon Tage vor und noch viele Tage nach dem eigentlichen christlich-abendlaendischen Neujahrstag wuenschen die Leute hier ein gutes Neues Jahr. Balinesen – freundlich wie sie nun einmal sind – liefern die guten Wuensche gleich im Paket ab. Sie wuenschen “Merry Christmas and a Happy New Year” als eine zeitlich und inhaltlich verbandelte Einheit.
Nun stelle ich die einfache Frage: Wie lange kann ich ‚All the best for 2011’ oder 12, oder 13 etc. wuenschen, ohne wie ein Idiot dazustehen, beziehungsweise mein Gegenueber zu zwingen, sich peinlich beruehrt zu fuehlen? Ist es waehrend der ersten Woche nach dem Neujahrstag noch in Ordnung, also etwas bis zum Dreikoenigstag, den man hier nicht kennt? Wird die erste Januarhaelfte noch akzeptiert? Oder sogar der ganze Januar? Ich habe in dieser Angelegenheit selbstverstaendlich gegoogelt, aber es scheint, dass niemand in diesem angeblich weltweiten Netz mit seiner Schwarmintelligenz an dieser Fragestellung interessiert ist, beziehungsweise meine Frage beantworten kann oder will.
Moechten Sie wissen, warum mich das mit den Neujahrsglueckwuenschen so beschaeftigt? Lassen Sie es mich mit wenigen Worten erklaeren: Eine englische Freundin von mir lebt auf Kreta und seit vielen Jahren schickt sie mir, anstelle eines eher persoenlich gehaltenen Neujahrsglueckwunsches, eine dieser Rund-um-den-Erdball-Nachrichten. Selbstverstaendlich als e-mail mit Hilfe des Internets.
Diesmal war die die Neujahrsnachricht mit phantastischen Fotos illustriert, auf denen Winterlandschaften zu sehen waren. Aufnahmen, die in Norwegen, Kanada, Oberbayern, Oesterreich, den Dolomiten und anderswo gemacht worden waren. Blaueste Himmel, Schnee und Eis in Massen, rustikale Bauernhaeuser in dicken Schneemaenteln, romantische kleine Kapellen mit gemuetlichen kleinen weissen Hueten obenauf, Eisschollen und Eiszapfen an den Ufern schnellfliesende schwarzgruene Gebirgsbaeche, und so weiter. Der weltweite Winter in Bestform. Tatsache ist, dass ich in kurzen Hosen und ohne Hemd vor meinem Laptop sitze und wie ein Schwein schwitze. Auch wenn Komang Sarining, meine balinesische Ehefrau, mich gerne an diesem Punkt berichtigt und feststellt, dass Schweine nicht schwitzen. Vielleicht die balinesischen Haengebauchschweine nicht, deren Fleisch nach Dr. rer. nat. Dr. med. Rainer Michel, Reischach, so viel gesuender sein soll als jedes andere Schweinefleisch. Seis drum, ich bin Vegetarier – aber die bayerischen Schweine schwitzen wirklich. Das ist der Grund, warum wir Bayern sagen: ‚Ich, er, sie oder die schwitze(t)(n) wie ein Schwein’.
Also, ich schwitze wie ein bayerisches Schwein und traeume von den Schoenheiten und den An- und Aufregungen des Winters, von berauschenden Abfahrten auf gruenen, roten oder schwarzen Pisten und vom Dahingleiten auf wohlpraeparierten Langlaufloipen, von rasenden Schlittenfahrten und dem Spass, auf Schlittschuhen ueber einem zugefrorenen See zu gleiten. Ja, ich kann mich noch immer gut an die Winter in Bayern, Oesterreich und Norditalien erinnern. Die klimatischen und lebensartlichen Unterschiede zwischen meinem Leben auf Bali heute und meinem Leben frueher in Mitteleuropa haetten deutlicher nicht dargestellt werden koennen.
Aber den fabelhaften Fotos von den fabelhaften Winterwundlandschaften waren Einsichten, Weisheiten, Empfehlungen und Anweisungen beigefuegt. Und einige der Einsichten, Weisheiten, Empfehlungen und Anweisungen hatten mich an den Haken genommen. Ich bin, wie viele andere einfache Gemueter auch, ein Freund von erhellenden Zitaten und schlauen Kalenderspruechen. Es waren derer insgesamt fuenfundvierzig ‚Denk-einfach-einmal-darueber-nach’-Saetze, die mich in der Folge tatsaechlich ueber dies und das nachdenken liessen.
Ich teile gerne und meist ohne zu zoegern. Deshalb moechte ich diese fuenfundvierzig ‚Denk-einfach-einmal-darueber-nach’-Saetze mit Ihnen teilen. Sie werden vielleicht den einen oder anderen moegen, manche werden fuer Sie eine besondere Bedeutung haben, andere gar keine oder Sie werden sie albern oder banal finden. Wie auch immer, ein glueckliches neues Jahr kann tatsaechlich immer anfangen. Das haengt nicht von einem bestimmten Datum ab oder von einem Kalender. Nicht einmal von dem so sehr ins Gerede gekommenen Maya-Kalender fuer 2012.

Hier sind die Saetze:



01 Das Leben ist nicht gerecht, trotzdem ist es gut.
02 Wenn du Zweifel hast, mache einfach den naechsten kleinen Schritt.
03 Das Leben ist zu kurz, um Zeit damit zu verschwenden, jemanden zu hassen.
04 Deine Arbeit wird sich nicht um dich kuemmern, wenn du krank bist; deine Freunde und
deine Eltern aber schon. Also halte den Kontakt mit ihnen.
05 Bring jeden Monat Dein Bankkonto in Ordnung.
06 Du musst nicht in jedem Streit Recht behalten. Akzeptiere einfach,
wenn es keinen gemeinsamen Nenner gibt.
07 Weine mit jemandem zusammen; das ist heilsamer, als alleine zu weinen.
08 Etwas fuer das Alter zu sparen beginnt mit deiner naechsten Gehaltszahlung.
10 Wenn einmal alles auf die Schokoladenseite faellt, glaube ja nicht,
dass das immer so weitergeht.
11 Schliesse Frieden mit der Vergangenheit, dann wird sie deine Gegenwart nicht (zer)stoeren.
12 Es ist in schon Ordnung, wenn dich deine Kinder weinen sehen.
13 Vergleiche dein Leben nicht mit dem Leben anderer. Du hast keine Ahnung, wie es in deren
Leben tatsaechlich zugeht.
14 Wenn eine Beziehung geheim bleiben muss, solltest du nicht ein Teil davon sein.
15 Atme ganz tief ein und aus: das beruhigt.
16 Befreie Dich von allem, was nicht nuetzlich oder schoen ist oder keine Freude macht.
17 Versuche herauszufinden anstatt zu glauben.
18 Lasse einen einfachen Streit nicht zu einem Rundumschlag ausarten.
19 Wenn es um das geht, wonach du im Leben wirklich verlangst,
dann darfst du ein „Nein“ nicht als Antwort gelten lassen.
20 Hebe nichts fuer eine besondere zukuenftige Gelegenheit auf:
die besondere Gelegenheit ist heute.
21 Plane alles gut im Voraus - aber dann lass die Dinge laufen.
22 Sei schon jetzt ein wenig ‚verrueckt’, und warte nicht bis du zu alt bist,
um ‚verrueckte Dinge’ zu tun.
23 Das wichtigste Sexualorgan ist das Gehirn.
24 Niemand ist fuer dein Glueck verantwortlich ausser du selbst.
25 Betrachte jede sogenannte Katastrophe unter dem Gesichtspunkt, ob sie in fuenf Jahren noch
immer so katastrophal erscheinen wird wie jetzt.
26 Entscheide dich immer fuer das Leben.
27 Vergebe jedem alles.
28 Was andere Menschen von dir denken, geht dich nichts an.
29 Zeit heilt fast alles. Also gib der Zeit Zeit.
30 Wie gut oder wie schlecht die Lage ist – sie wird sich auf jeden Fall aendern.
31 Nimm dich selbst nicht so wichtig. Niemand anderer tut es.
32 Versuche, moeglichst gesund zu leben. Gesundheit ist die Voraussetzung fuer Vieles.
33 Hadere nicht mit deinem Schicksal. Lebe es jetzt und mache das beste daraus.
34 Das Altern hat einen Gegner bereits besiegt: das jung Sterben.
35 Deine Kinder haben nur eine Kindheit.
36 Das einzige, was schliesslich zaehlt, ist, ob du geliebt hast.
37 Geh jeden Tag nach draussen. Dort erwarten dich ueberall Wunder.
38 Wenn wir alle unsere Probleme auf einen Haufen werfen wuerden und die Probleme eines
jeden anderen sehen koennten, wuerden wir unsere eigenen schnell wieder zurueckholen.
39 Neid ist reine Zeitverschwendung. Du hast bereits alles, was du brauchst.
40 Identifiziere dich nicht mit den Dingen.
41 Egal, wie du dich fuehlst: steht auf, zieh dich an und geh unter Menschen.
42 Halte deine Versprechungen.
43 Leben bedeutet auch, sich immer wieder beugen zu muessen.
Und trotzdem ist es ein Geschenk.
44 Das Beste kommt erst noch.
45 Glaube an Wunder.


Ein Hohelied auf ein einfaches Werkzeug

Den herabstuerzenden Fluten des tropischen Monsunregens kann Einhalt nicht geboten werden. Da hilft nur anschliessendes Aufraeumen und Trockenwischen.
Ein Gummirakel am Stiel kann dabei von grossem Nutzen sein:
Ehre, wem Ehre gebuehrt.


Ein Leben zwischen den Kulturen

Eine meiner wichtigsten Erfahrungen in Sachen Mann-Frau-Beziehung mache ich nun tatsaechlich auf Bali, zusammen mit meiner balinesischen Ehefrau Komang Sarining. Auf Grund der gegebenen fundamentalen Unterschiede zwischen uns beiden, auch und vor allem wegen der total unterschiedlichen Kulturen aus denen wir kommen, wurde mir klar, dass wir diesen abgrundtiefen Graben nicht ueberwinden koennen mit den Mitteln, die mir bisher zur Verfuegung standen. Meine Faehigkeiten zu bedenken, zu analysieren, zu besprechen, zu interpretieren, meine Lebens- und Selbsterfahrung und meine alltagspsychologischen Kenntnisse helfen in diesen Faellen von Unverstaendnis fuereinander und den daraus resultierenden Frustrationen, die wiederum Anlass fuer lautstarke Streits sind, so gut wie gar nicht. Alles fuer die Katz.
Inzwischen bin ich der Meinung, dass auch unsere juedisch-christliche, Freudianische und Jungsche Psychologie auf Bali oder in Suedost-Asien oder in ganz Asien keine Anwendung finden koennen. Sie passen besser in den Westen, nach Europa und Nordamerika. Ein Beispiel nur: der Sophokleische ‚Oedipus Rex’ haette auf Bali nie geschrieben werden koennen. Fuer das ganze Oedipus-Drama gibt es auf Bali keine Basis und keine Ursache.
Also, was gibt es fuer Moeglichkeiten, eine solche schwierige interkulturelle Beziehung ueberhaupt zu leben?
Ich muss diesen abgrundtiefen Graben als solchen anerkennen! Ich muss meine Partnerin so zu nehmen lernen, wie sie ist! Ich werde wahrscheinlich etwas an der Oberflaeche veraendern, manipulieren, erziehen oder erzwingen koennen, aber nichts was unter der Oberflaeche liegt, was tiefer geht, was in ihrem Unbewussten verankert ist.
Ich musst mich auf meine Gefuehle besinnen, auf mein Herz, sozusagen. Dann profitiere ich sogar von dieser anscheinend unueberbrueckbaren Unterschiedlichkeit. Meine Gefuehle werden wieder staerker und deutlicher, direkter und verlaesslicher und ich lerne, mich darauf zu verlassen. Schritt fuer Schritt. Mein Herz faengt foermlich an zu wachsen und es empfindet differenzierter und spricht in unterschiedlichen Weisen. Das heisst nicht, dass ich meinen Verstand verloren haette oder dass ich ihn nicht mehr dazu benuetze, um mich im Alltag und im Leben ueberhaupt orientieren und behaupten zu koennen. Aber ich kann ihn manchmal etwas hintan stellen, besonders in Beziehungsdingen.
Und hier, an dieser Stelle frage ich: Wann im Leben geht es eigentlich nicht um Beziehungsdinge?


Ertappt

Jakarta Post – 17. Januar 2011 –

17 Gouverneure unter Korruptionsverdacht’



‚Jakarta – 17 von 33 Gouverneuren des Landes sind namentlich als Korruptionsverdaechtige benannt worden, teilte am Montag Innenminister Gamawan Fauzi mit.
Der juengste Fall betrifft den Gouverneur von Bengkulu (Suedwest-Sumatra), der angeblich in den Missbrauch von Haus- und Grundsteuern in Hoehe von 23 Billionen IDR ( = ca. 1.95 Mio Euro) verwickelt sein soll.
„Ich habe seine Entlassungsurkunde vor zwei Tagen unterschrieben. Hoffentlich wird der Praesident die Entlassung innerhalb von zwei oder drei Tagen bestaetigen“, sagte er in Jakarta waehrend eines Treffens mit Regionalvertretern.
Er sagte, dass zwei Gouverneure, Ismeth Abdullah (Riau, Ostsumatra) und Syamsul Arifin (Nordsumatra), wegen Korruptionsvergehen bereits angeklagt seien.
„Bis heute wurden 155 Amtsleiter verdaechtigt. Aber ich denke, es werden noch mehr sein. Jede Woche taucht ein neuer Verdaechtiger auf. Drei Monate im Dienst und sie geben Anlass zur Verdaechtigung ...,“ sagte er.
Gamawan Fauzi, ehemaliger Gouverneur von Westsumatra, sagte, um Gouverneur zu werden, muss man ein Menge Geld ausgeben – zwischen 60 und 100 Billionen IDR ( = ca. 5 bis 8.3 Mio Euro). Wie auch immer, das hoechste Monatesgehalt eines Gouverneurs, wie das des Gouverneurs von Jakarta, betraegt nur 90 Millionen IDR ( = 7.500 Euro), fuegte er hinzu.“
Mithilfe seines Gehaltes kann ein Gouverneur seine Einstandsinvestition also nie zurueckzahlen. Womit also dann?


Fragen eines 67jaehrigen Kindes

Ist man von Geburt an ein Mensch?
Wird man waehrend der Schwangerschaft zum Menschen?
Ist man von der Zeugung an ein Mensch?
Ist die Menschwerdung ein Prozess, der einen Anfang und ein Ende hat?
Ist es die Lebensaufgabe des Menschen, ein Mensch zu werden?
Bedarf es mehrerer Leben, um ein Mensch zu werden?
Sind Verstand und Wohlstand, Gefuehl und Gesundheit die Voraussetzungen,
um ein Mensch zu sein?
Ist ein Irrer ein Mensch, ein Geisteskranker, ein Psychopath?
Warum regieren Menschen Menschen?
Warum unterdruecken Menschen Menschen?
Warum foltern Menschen Menschen?
Warum toeten Menschen Menschen?
Gibt es ein kollektives Empfinden namens Menschheit?
Gibt es eine Menschheit, die auf kollektive Bedrohungen kollektiv reagiert?
Gibt es eine Menschheit, die auf kollektive Bedrohungen kollektiv handel?
Rettend und bewahrend?



Fuenfundsechzig ist ein Alter, in dem sich Zukunft und Vergangenheit die Waage halten

Ausgerechnet! Ausgerechnet auf Bali werde ich 65 Jahre alt.
Fuenfundsechzig ist kein Alter, sagen die einen.
Fuenfundsechzig ist ein Alter, in dem man entspannen kann, sagen die anderen,; ein Alter, in dem man Rueckschau halten und weise werden kann. Fuenfundsechzig ist ein Alter, in dem man all das tun kann, worauf man frueher, in juengeren Jahren, wohl oder uebel verzichten musste, sagen ganz andere.
Ich selbst halte es wie mit der Weihnachtsbaeckerei: viele schoene Zutaten mit Bedacht aufeinander abgestimmt; Gewuerze aus fremden Laendern mit Sehnsucht erweckenden Namen – ich denke dabei an Zimtstangen, Gewuerznelken oder an Muskatnuesse, an die Gewuerzinseln und das Land, wo der Pfeffer waechst; traditionelle Rezepte neben der Lust am Ausprobieren von neuen Moeglichkeiten; gute Handwerksarbeit beim Mischen, Kneten, Formen und Ausstechen der Teigmassen; kuenstlerische Ambitionen beim Dekorieren; mittlere Hitze beim Backen und einen heiteren Sinn bei Servieren und beim Entgegennehmen liebenswuerdiger, manchmal sogar ernstgemeinter Komplimente. Strahlende Augen, sinnliche Waerme, ein pulsierendes Herz – ein Hauch von Glueck.
‚Fuenfundsechzig ist ein Alter, in dem sich Zukunft und Vergangenheit die Waage halten.’ Ein schoener Satz, was? Er ist von mir. Vielleicht bleiben mir noch einige Jahre um herauszufinden, ob er auch stimmt.
Arbeiter gehen in Rente, Beamte und Angestellte aber in Pension – und das mit fuenfundsechzig. Das hat sich mir als Schlosser- und Hausmeistersohn ganz tief eingepraegt, tiefer, als ich es je fuer moeglich hielt, habe ich mich doch als Verlagsgrafiker mein Berufsleben lang als ein in der Wolle gefaerbter Selbstaendiger hervorgetan. Mit dem Ergebnis, dass ich bereits mit sechsundfuenzig jede Art von bezahlter Taetigkeit aufgab, Auftragsarbeit ohnehin. Um meine Wunden als frisch Geschiedener zu heilen und meinen von einem Blasenkrebs attackierten Koerper, Hirn und Psyche Raum und Zeit zur Gesundung zu geben, musste ich mein Leben aendern. Raus aus dem Hamsterrad und hinein in die Freiheit.
Ha, wer war ich denn!?
Von einem Tag auf den anderen wurde ich ein sogenannter freischaffender Kuenstler, ein Schmalspurbildhauer, allerdings ein ausgesprochen ambitionierter und produktiver – dann Autor und spaeter auch noch Galerist. Auf diese Weise gelang es mir schliesslich, wieder aufzutauchen in einem Leben mit Zukunft. Meinem eigenen.
Ha, wer war ich denn!?
Die Fuenfundsechzig beschaeftigte mich laenger als ein Jahr – und mehr als die Sechzig oder die Fuenfzig, die ich 1993 noch mit Pauken und Trompeten feierte.
Als Ouvertuere sozusagen, organisierte ich in Personalunion als Kuenstler und Galerist im Juli 2008 eine Ausstellung ‚Adi’s Welt’, und am 11. Oktober 2008 eroeffnete ich – ebenfalls in der eigenen kleinen Galerie in Ubud - meine Ausstellung ‘The Hero’s Journey’. Ich bat meinen Freund Anello, fuer die Ausstellung einen Soundtrack zu komponieren und zu produzieren. Gegen Bezahlung selbstverstaendlich. Das Ergebnis seiner Arbeit war gerade rechtzeitig zur Eroeffnung fertig geworden.
Am 3. Dezember 2008 lud ich fuenfundsechzig neue Bekannte ein, Menschen, die ich auf Bali kennengelernt hatte. Ich lud sie ein, um zusammen Anello’s Konzert ‚The Hero’s Journey’ live anzuhoeren. Da sich auf Bali viele Abende dazu eignen, eine Art Sommernachts-Traum zu inszenieren und sich der kleine Hof und der Garten vor unserem Haus besonders gut dafuer eignet, wurde die Konzerteinladung ein Erfolg. Komang trug mit ihren gebratenen, frittierten und gebackenen Snacks wesentlich dazu bei. Und sie konnte nebenher auch ein wenig Reklame fuer ihr neu eroeffnetes ‚Sweet Komang’s Gallery Cafe’ machen.
‚Statt Karten – Ansichten, Einsichten und Zuversichten’ heisst der Titel einer kleinen Schrift, mit der ich mich zu meinem Fuenfundsechzigsten selbst beschenkte, zusammen mit den beiden Ausstellungen, dem Soundtrack und dem Konzert. Tatsaechlich: 2008 war das Jahr ueppiger Geschenke an mich selbst. Ein Ausdruck dafuer, dass ich angekommen bin in den Bereichen positiver Selbsteinschaetzung und Freude an meinen eigenen Faehigkeiten und Leistungen? Es hat lange genug gedauert. Haeufig stand ich auf der Kippe und war oefter als einmal gefaehrdet, tatsaechlich abzustuerzen.
Ich wuensche mir und dem Rest der Welt alles Gute, gute Gesundheit, gute Gedanken, Lebensfreude und starke Tendenzen zu ausgepraegter und anhaltender Zufriedenheit und Dankbarkeit. Ich habe es ausprobiert: wir koennen unsere Zufriedenheit nicht vom Wechselkurs des Euro oder den Notierungen an den Boersen abhaengig machen; nicht von den Spielergebnissen des FC Bayern und schon gar nicht von den Vorhersagen unterschiedlicher Horoskop- oder Wetterdienste.
Zufriedenheit waechst mit sinkenden Anspruechen und Wuenschen, sagt der Buddhist. Auch so eine Weisheit, denke ich. Und: wie Recht er damit haben koennte. Der Buddhist.



Homo-Treffen in Ubud

‚Homo oeconomicus’ und ‚Homo faber’ trafen in Ubud/Bali aufeinander, ohne sich dieses Treffens tatsaechlich bewusst zu werden.
Sie begegneten sich zufaellig, als Homo oeconomicus in einem von ihm eher harsch gefuehrten Gespraech herauszufinden versuchte, welche Leistungen er erwarten konnte, wenn er das angepriesene Ticket fuer eine Gamelan-Auffuehrung erwerben wuerde.
Diese Tickets werden in Ubud jeden Tag von fliegenden Haendlern in der Gegend von Markt, Koenigspalast, Hauptstrasse, Hanoman- und Monkey Forest Street angeboten.
Natuerlich flog keiner der Haendler – aber im Deutschen ist das eine gaengige Formulierung: Der fliegende Haendler. Nicht zu verwechseln mit ‚Der fliegende Hoellaender’ aus der Wagner-Oper, deren Besuch in Berlin mich vor Jahren, nein, nicht nur weinen liess, sondern eine nicht enden wollende Sturzflut von Traenen ausloeste. Aber das nur nebenher.
Ein Homo oeconomicus kauft so gut wie nie eine Katze im Sack. Seine Intelligenz und das ihm innewohnende Eigeninteresse, seine tiefsitzender Trieb, den eigenen Nutzen nach Moeglichkeit und wo auch immer zu maximieren und seine klar umrissenen Vorlieben und Abneigungen, lassen ihn kuehl und ueberlegt alle Informationen einholen und moeglichst alle Umstaende auf ihre Auswirkungen hin ueberpruefen. Erst dann ist er bereit, sich zu entscheiden.
Der balinesische Kartenverkaeufer war ein freundlicher, aber auch ein einfacher Mann. Sein Fremdsprachenkenntnisse beschraenkten sich auf Weniges und Zweckdienliches aus verschiedenen Sprachen. Ein paar Brocken Japanisch, einige Woerter Englisch, manche Phrasen auf deutsch oder hollaendisch. Das wars. Schliesslich konnte er davon ausgehen, dass seine potentiellen Kunden wussten, was sie bei einer Gamelan-Auffuehrung erwartete. Mutmasste er. Der Kartenverkaeufer und der Homo oeconomicus konnten sich nicht verstaendigen. Der Verkaeufer konnte die gewuenschten Informationen beim besten Willen nicht geben. Deshalb fehlten dem Homo oeconomicus die Entscheidungsgrundlagen und deshalb entschied er sich, zumindesten fuer diesen Abend, vom Erwerb einer Eintrittskarte abzusehen. Deshalb kam ein Geschaeft zwischen den beiden nicht zustande.
Ganz anders Homo faber. Ihn, den praktischen und taetigen Menschen, den aktiven Veraenderer seiner Umwelt, interessiert grundsaetzlich erst einmal alles, was Menschen hervorzubringen in der Lage sind. Seine Neugierde ist ausgepraegt und haeufig passiert es ihm, dass die Begeisterung fuer etwas mit ihm durchgeht und er erst in einem Vorgang des im Nachhinein-Denkens, des zeitlich gesehen Hinterher-Denkens, auf Fehler in seinen Entscheidungen stoesst. Aber wie gesagt, Unbekanntes, besonders im kuenstlerischen Bereich, lockt und verlockt ihn, und balinesische Musik und Tanz gehoeren zweifellos dazu.
So dauerte es auch nicht lange, bis sich der Homo faber einen Ueberblick ueber das reichlich vorhandene Gamelan-Angebot verschafft hatte, sich fuer eine der Vorfuehrungen entschied und dem zufriedenen Haendler eine Eintrittskarte abkaufte. Von eben dem Haendler, mit dem der Homo oeconomicus nicht klar kam.
Homo faber genoss die Vorfuehrung und den Abend.
Und wie es manches Mal passiert: Homo oeconomicus hatte waehrend seines weiteren, von langer Hand geplanten Baliaufenthaltes keine Gelegenheit mehr, eine Gamelanvorfuehrung zu besuchen. Auch das zufaellige Zusammentreffen mit Homo faber, das genau genommen nur ein zufaelliges Nebeneinander war, hinterliess bei ihn keine Spuren.
Schade eigentlich.



Inzwischen

Inzwischen bin ich, wie bereits erwaehnt, Vegetarier und Nichtalkoholiker. Nichtraucher war ich vorher schon. Am Tag trinke ich eine Tasse vom guten Bali Kaffee, keine schwarzen oder gruenen Tee mehr, sondern nur noch Kraeutertee. Also, die Gesundheit waechst mir bald aus den Ohren heraus.
Und ehrlich gesagt: mein Mitgefuehl mit manchen Mitmenschen haelt sich inzwischen in Grenzen, solange sie nicht bereit sind, waehrend einer Umstellungsphase Opfer zu bringen und ihre Ernaehrungs- und Konsumgewohnheiten zu aendern.
Aber wie meine Mutter immer wieder sagte: „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.“ Oder sein Untergang?



Jeder kann Kuenstler sein

Lieber Paul.
Ich danke Dir fuer Deinen Aufsatz, den ich per e-mail erhielt. Er mich belehrt und unterhalten. Was kann ich mehr verlangen?
Ueber lange Passagen Deiner Ausfuehrungen kann ich Dir folgen, besonders, was Du ueber die 1970er schreibst, die Hippiezeit, die New-Age-Geschichten und ueber die 2012er-Aufregungen und die sogenannten globalen Veraenderungen im Zusammenhang mit dem Kalendersystem der Maya.
Diese mono-kausalen Ideen und Fantasien, die helfen sollen, die Komplexitaet des Universums leichter zu verstehen, und uns mit der Komplexitaet unseres Lebens als existenzielles Abenteuer und mit dem Verstricktsein mit unseren taeglichen Muehen und Beschwernissen besser zurechtzukommen – ich kann sie nicht mehr hoeren. Da geht es mir so wie Dir. Strukturell schwierige Zu- und Umstaende sollen auf einmal einfach zu verstehen sein. Entschuldige, aber das ist wieder nur neue Glaubenssaetze. Ich mag mich nicht laenger mit den Erfindern und Verbreitern solcher, in meinen Augen, Peinlichkeiten abgeben.
Das war einer der Gruende, warum ich das ‚Noosphere-Forum’ vor seinem Ende verliess. Ich habe nicht mehr darueber sprechen wollen, um was ich gebeten war, ueber ‚Leben als Kunst’.
So weit, so gut oder nicht gut. Aber da ist eine Sache, in der ich Dir nicht folgen kann. Du stellst fest, dass es nur einer kleinen, speziell dafuer ausgebildeten Gruppe von Kunstschaffenden erlaubt sein soll, sich Kuenstler zu nennen. Ich gehe davon aus, dass die von Dir zitierte Definition aus einem Fachartikel stammt. Meiner Meinung nach sollte sie aktualisiert werden und auf breiterer und mehr zeitgemaesser Ebene diskutiert werden, die nicht von vorneherein so viele Teilaspekte und Menschen vor allem ausschliessen sollte.
In Deinem Beitrag beziehst Du Dich sehr stark auf die Notwendigkeit einer besonderen schulischen beziehungsweise akademischen Ausbildung, die ein Kuenstler durchlaufen muss, ehe er sich guten Gewissens als Kuenstler bezeichnen kann.
Dazu moechte ich anmerken: 30.000 v.u.Z., von den von mir verehrten Kuenstlern der Hoehlen von Lascaux bis zum Ende des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, gab es ueberhaupt keine Kunstschulen und keine akademische Ausbildung fuer Kuenstler. Ein junger Mann, oftmals nicht aelter als dreizehn, und es waren nur junge Maenner, soviel ich weiss, der berufsmaessiger Kuenstler werden wollte, musste sich einen Meister suchen und bei ihm als Lehrling arbeiten. Diese Art der Ausbildung wurde von Zuenften organisiert, die ihren Daumen darauf hielten und gleichzeitig das Geschaeft kontollierten. So ging das bis ins 17. und 18. Jahrhundert.
Parallel zu dieser etablierten und aeusserst erfolgreichen Art der Ausbildung (Mantegna, Raphael, Michelangelo, da Vinci als einige wenige Beispiele) wurden seit der Renaissance die Naturwissenschaften immer wichtiger – fuer die Gebildeten und fuer die Gesellschaft. Und auch fuer die Kuenstler.
Anatomische-, Perspektiv- oder Naturstudien in Stilleben, naturalistischen Portraits, reinen Tierdarstellungen usw. waren einige Gebiete fuer diese neuen Form der naturwissenschaftlich-akademischen Ausbildung der Kuenstler. Kuenstler waren auf einmal mehr als nur die Benutzer von Farben, Pinseln und Maluntergruenden, sie wurden zu Denkern, Philosophen und Interpreten in religioesen, sozialen oder Beziehungs(Liebes)-Angelegenheiten. Man muss sich nur den Michelangelo anschauen, wie er mit seinen Fresken in der Sixtinischen Kapelle das christliche Universum quasi neu entwarf.
Die Ausbildung der Kuenstler veraenderte sich. Ausgehend von Florenz und von da aus sich ueber ganz Europa verbreitend, wurden Kunstakademien gegruendet, die immer mehr die Ausbildung von Kuenstlern uebernahmen. Nach wie vor wurde von Meistern ausgebildet, vor allem in grossen Ateliers, denk nur an die Ateliers von Rubens oder Rembrandt. Andy Warhol war definitiv nicht der Erfinder der ‚Factory’-Idee.
Seit dem 19., aber besonders im 20. Jahrhundert war die akademische Ausbildung fuer Kuenstler das Gegebene, das Normale, das Unabdingbare. Kuenstler waren zu Akademikern geworden
Welch eine Ironie: haette Adolf Hitler die Aunahmepruefungen bestanden und waere Student an der Allgemeinen Malerschule der Wiener Kunstakademie geworden – welche andere Richtung haette moeglicherweise die Geschichte des 20. Jahrhunderts genommen? Wer weiss?
Was ich sagen will ist, dass es keinen Weg zurueck gibt, natuerlich nicht: Kunstakademien und Kunstschulen waren hilfreich, ein bestimmtes Verstaendnis dafuer zu erzeugen, was ein Kuenstler ist und was die Stellung eines Kuenstlers in der Gesellschaft sein kann: vom brotlosen Kuenstler bis zum Malerfuersten, von van Gogh bis Liebermann, von Gauguin bis Picasso.
Staatliche oder private Kunstschulen sind Teile eines politischen und oekonomischen Systems, in das sie eingebettet sind und in dem sie die Beduerfnisse befriedigen, die das System stuetzen. Man kann das sehr leicht untersuchen, wenn man die Ausbildung und deren Ergebnisse von Ost- und Westdeutschland ueber einige Jahrzehnte hinweg vergleicht, zwei unterschiedliche und miteinander konkurrierende politische und soziale Systeme,
Oder man kann anhand eines anderen Beispiels veranschaulichen, welch wechselnden Systemen und Ideen die Akademie der Bildenden Kuenste Muenchen von 1770 bis heute verpflichtet war. Die Muenchner Akademie deshalb, weil Muenchen meine Heimatstadt ist.
1770: Gruendung der Akademie als Zeichenschule, respektive Maler- und Bildhauerakademie;
1806-1918: Koenigreich Bayern;
1871-1918: Deutsches Kaiserreich;
1918-1933: Weimarer Republi:
1933-1945: Drittes Reich;
seit 1949: Bundesrepublik (West)Deutschland;
1960er-1990er Jahre: Studenten-, APO-, Anti-Atom-, Friedens-, Oekologie-Bewegung;
1990: Wiedervereinung West- und Ostdeutschlands;
1990 bis heute: die Akademie verliert ihre Bedeutung als Kristallisationspunkt kuenstlerischer, politischer und sozialer Bewegungen als Folge der zunehmenden Individualisierung und weitergehenden Auffaecherung der Kunstszene. Soweit Muenchen mit seiner Akademie.
Aus jeder Periode koennte ich Kuenstler nennen, die bekannt, erfolgreich, und einige davon privilegiert und reich wurden, dadurch, dass sie den Zeitgeist in einer Weise ausdrueckten, dass es die Menschen erreichte. Jede Phase der deutschen Geschichte der zurueckliegenden 150 Jahre hat seine ‚Masterpainter’, wie sie in Indonesien genannt werden. Sie wurden Symbole und Helden und selbstverstaendlich auch Projektsionsflaechen nationaler Identitaet – wie Sportler, Filmschauspieler, Dirigenten, Literaten oder Nobelpreistraeger auch.
Die heutige Inbesitznahme von Kunst und Kuenstlern ist ueberwaeltigend: fast jeder und fast alles werden dem Kapitalismus, der Globalisierung und der Marktwirtschaft geopfert. Der Kunstmarkt ist eine weltweit operierende Industrie geworden. Denken und Haltung werden bestimmt von ‚Mein Geschaeft – meine Beschaeftigung – mein Bankkonto – mein Auto – mein Haus – meine Yacht – meine Geliebte – mein Geliebter – meine Frau – meine Kinder ...’
Bereits im fruehen Stadium einer Kuenstlerkarriere ist das Marketing eine aeusserst wichtige Angelegenheit. Noch ehe sie dreissig werden, muessen sich Kuenstler ein Image der Einzigartigkeit zulegen, eine ‚Marke’ sein, oder sie verpassen wahrscheinlich den globalen Kunstmarkt und werden zu Verlierern der Globalisierung. Ihren Lebensunterhalt koennen sie sich dann als Taxifahrer verdienen.
Lieber Paul, in Deinem Aufsatz erwaehnst Du haeufiger den Begriff ‚liberal art’. In Deutschland nennen wir das freie Kuenste, frei Kunst und die Freiheit der Kunst.
Hier kann ich Dir auch nicht mehr folgen: freie Kuenste, Freiheit der Kunst und kuenstlerische Freiheit spiegeln eine Bewegung in Gesellschaft und Politik wider, die sich seit dem 18. Jahrhundert erst argumentativ, dann durchaus gewaltsam gegen die absolute Macht des Adels und der katholischen Kirche richtete. Hoehepunkt in Europa war die Franzoesische Revolution, in der britischen Kolonie Amerika der Unabhaengigkeitskrieg. Beide Ereignisse waren brutal, aber beide zielten in Richtung Freiheit. Freiheit von Unterdrueckung und Bevormundung, von Ungleichheit und Ausbeutung, Freiheit im Denken, Schreiben, Reden, Freiheit in der Kunst.
Freiheit ist eine Sehnsucht, ein Verlangen. Freiheit ist etwas, wonach Menschen streben. Freiheit zu erlangen, ist eine maechtige und stark motivierende Energie im Leben, einfach deshalb, weil wir Teil einer Dominanz- und Dominanz-Vermeidungs-Struktur sind. Und die meisten Menschen dominieren lieber, als dass sie sich dominieren lassen. Freiheit hat also einen durchaus selbstsuechtigen, egoistischen Aspekt – einen gesunden, wie ich meine.
Die Grenzen ausloten, so weit gehen, wie es die Umstaende erlauben, die Regeln kennen und sie brechen, seinen eigenen Weg gehen, seine eigenen Gesetze machen: das alles zielt auf Befreiung ab und hat mit der Sehnsucht nach Freiheit zu tun und dem Wunsch, nicht beherrscht zu werden.
Wir Europaeer haben seit 200 Jahren und bis heute viele Freiheiten erlangt. Freiheiten wie die Freiheit der Berufswahl, die sogenannte Gewerbefreiheit, die beinhaltet, ein eigenes Geschaeft eroeffnen zu koennen, oder das Recht, sich im eigenen Land ueberall niederlassen zu koennen, ohne die Behoerden um eine Genehmigung bitten zu muessen.
Also warum vor diesem Hintergrund dann nicht die Entscheidunghsfreiheit, aus dem Nichts, sozusagen, Kuenstler zu werden? Warum soll man sich nicht selbst einen Kuenstler nennen duerfen und das Leben eines Kuenstlers zu leben, frei im Sinn von Selbstverantwortung fuer alles, was man tut oder nicht tut. Dazu braucht man keine akademische Ausbildung. Ich finde es inzwischen peinlich, wenn ein 60jaehriger Kuenstler noch immer auf die Professoren verweist, die ihn als 25jaehrigen lehrten. Das Leben wird einen letztlich lehren, ob man begabt, geduldig und stark genug ist, als Kuenstler wahrgenommen zu werden und ein Kuenstlerleben zu fuehren. Da bin ich mir sicher.
Ausserdem bin ich inzwischen davon ueberzeugt, dass es in einem weiteren Sinn wirklich eine eigene Kunst ist, sich in diesen vielschichtigen und ziemlich schwierigen Strukturen zurechtzufinden, in die wir hineingeboren wurden, an die wir uns anpassen muessen und die wir nur geringfuegig veraendern und mitbestimmen koennen. Wir muessen im Leben all unsere Fantasie, Faehigkeiten, Ideen, Erfahrungen, unser Bewusstsein und unsere Kreativitaet, Intelligenz, Ausbildung und unsere Geduld einsetzen, um ueberhaupt den Kopf oben behalten zu koennen.
Das bezeichne ich als Lebenskunst. Und was braucht ein Kuenstler viel mehr, um Kuenstler zu sein?
Herzliche Gruesse, Adi.


Kuenstler als Beruf

“Alle Kuenstler sind verrueckt”, stellt meine liebe Komang immer wieder einmal fest. Als Anfangszwanzigerin war sie mit einem sogenannten ‚Abstrakten’ liiert, der sie aber nicht heiratete, sondern lieber in die Niederlande reiste und dort ausstellte.
Ob es ihr gekraenkter Stolz ist, der sie zu ihrem Urteil kommen liess, oder eine dem balinesischen Menschen innewohnende Abneigung gegen Abstraktes und Analytisches, sei dahingestellt. Als wir 2007, erst teilweise und schliesslich ganz nach Ubud zogen und uns dort niederliessen, kam sie wieder vermehrt mit solchen ‚Verrueckten’ in Kontakt. In Ubud wimmelt es von Menschen, die vorgeben, Kuenstler zu sein und solchen, die sich tatsaechlich fuer den Beruf des Kuenstlers entschieden haben. Nicht sehr viele davon erfolgreich. Die Mehrheit kommt gerade so ueber die Runden, und ein nicht geringer Teil darbt. Darbt so sehr, dass das Geld nicht fuer regelmaessiges Essen reicht und die Behausung oft so ist, dass sich ein mitteleuropaeischer Hund weigern wuerde, den Tag und schon gar nicht die Nacht darin zu verbringen.
Auf die Berufstaetigkeit selbst hat das oft direkte Auswirkungen: sind die Acrylfarb- oder die Oelfarbtuben bis auf ihren allerletzten Rest ausgequetscht, gibt es eine weiche, fast selbstverstaendliche Hinwendung zur Malerei in Grau- und Schwarztoenen. Hitham = schwarz und Putih = weiss sind erheblich billiger als die Farbtoene mit teuren Pigmenten. Oder die Zeichnung, Arbeiten mit chinesischer Tinte oder Installationen aus alten Flipp Flopps, CD- und DVD-Scheiben oder abgewrackten Autos beziehungsweise Teilen davon, treten dann staerker in den Vordergrund.
Sich einen Hilfsarbeiterjob auf einer der zahlreichen Baustellen im Zentrum Balis oder seinem Sueden zu suchen, voruebergehend als ‚room cleaner’ in einem Hotel zu arbeiten, Ausfahrer, fliegender Haendler, Ticketverkaeufer oder als ‚hooker’ fuer was auch immer ein Ein- und sich damit ein Auskommen zu sichern: Nein! Nie im Leben. Dafuer sind Kuenstler nicht geschaffen!
Und so kommt es, dass manche Maler und Bildhauer, Videokuenstler und Performer lieber hungern und schlecht riechen, Seife und Waschpulver kosten Geld, als Pinsel und Malmittel, Eisen und Schlegel, Kamera und Mikrophon auf die Seite zu legen und einer festen Arbeit ausserhalb ihres Studios nachzugehen.
‚Die Balinesen wurschteln sich schon durch’, merkt Peter aus Muenchen trocken an. Sich Geld leihen, es zurueckzahlen, wenn sie wieder etwas in der Hosentasche haben, zwischendurch von dem Entliehenen selbst etwas zu verleihen, die notwendige Zeremonie weniger kostspielig auszurichten als ueblich, das Moped zu verkaufen, ein reich geschnitztes Stueck an eine dicke Frau aus Perth loszuwerden, und danach einen Kris – das entspricht balinesischem Handeln. Variationen sind moeglich: ein Stueck Land zu verpachten, beim Hahnenkampf zu gewinnen, beim Kartenspiel zu gewinnen, einem grosszuegigen Touristen eine Spende fuer die Familienkasse abzuluchsen, irgendwie geht schon was. Seit Jahrhunderten geht das schon so. Frueher allerdings ohne Mopeds und ohne Touristen.
Ein Berufskuenstler ist in der Regel Akademiker. Viele haben in Bandung oder Jogyakarta, in Solo, in Surabaya, Denpasar oder Singaraja studiert und von dort aus ihre ersten Ausstellungen organisiert. Und ein Akademiker kann unmoeglich einen Taxifahrer geben, da bleibt er lieber der maessig erfolgreiche Kuenstler, der davon traeumt, im Gaya oder T-Art Space, bei Tony Raka, in der Komaneka- oder Sika- oder in der Kendra-Gallery, in der Ganesha Gallery im Four Season Resort oder zumindest im Cafe des Artistes, im Cafe Three Monkeys oder in Adi’s Gallery auszustellen und mit einem Schlag 12, 15 oder 25 bemalte Leinwaende an einen Superreichen oder einen wirklich kunstinteressierten Sammler zu verkaufen. Ein Traum. In solchen Faellen koennte man selbstverstaendlich ganz offen ueber Preisabschlaege und Zahlungsmodalitaeten verhandeln. Armer Kollege. Oft genug wird er ausgenutzt und uebervorteilt, belogen, bestohlen und betrogen, mit mafiosen Mittel als Kuenstler aufgebaut und populaer gemacht und in den Markt gedrueckt. Und dann wie ein Stueck stinkigen Exkrements fallengelassen, um das gleiche Spiel mit einem anderen ‚jungen Maler mit grosser Zukunft’ von vorne anzufangen.
Im vorletzten Jahr gab es auf Java eine richtiggehende Selbstmordwelle unter Malern, die der ueber Nacht eingesetzte Geldstrom dazu verleitete, in einen viel hoeheren Lebensstandard zu investieren und die sich dann hinausschlichen, als der Geldstrom genauso ploetzlich abriss wie er gekommen war, die Kredite aber weiterhin zu bedienen waren.
Ja, Komang, es gibt speziell unter den indonesischen Kuenstlern erschreckend viele Verrueckte und abgehobene Typen. Aber nicht alle, nein, nicht alle Kuenstler sind verrueckt. Schau doch einfach mich an ...



Kuta, 12.10.2002

‚Die Bombe zerfetzte ihre Koerper’, hiess es dann. So las man es in den Zeitungen. So hoerte man es in den Nachrichten. So zeigte es das Fernsehen. Aber tatsaechlich lief es anders ab.
Zuerst hoerte er die Detonation. Sein Koerper reagierte sofort: er wurde starr. Dann schaute er verwundert auf seine linke Hand hinunter. Die Finger schwollen an. Sie bekamen die Form und die Farbe tiefroter, aufgeblasener Kondome. Nur die Nippel fehlten. Dann platzten sie. Nicht der Reihe nach – plopp, plopp, plopp, plopp, plopp – fuenf Mal. Sondern auf einmal. Mit einem lauten Plopp.
Haut- und Muskelpartikel flogen umher. Blut spitzte. Dann lagen die feinen Knochen und Gelenke frei.
Wie die Schale einer Banane zog es Haut und Muskeln vom Skelett. Pellte gewissermassen ab. Von den Haenden ueber die Unterarme, die knochigen Ellenbogengelenke und die kraeftigen, muskuloesen Oberarme hinauf zur Schulter.
‚Der Mensch besteht aus Hefteteig, gefuellt mit roter Tinte ...’,
schoss es ihm durch den Kopf. Ein absurder Reim aus seinen Kindertagen. Wie oft hatten sie sich das Gedicht gegenseitig vorgesagt? Karl, sein Vetter und er, wenn sie muede und und von der Sonne verbrannt am Ende eines langen Ferientages nach Hause trotteten.
‚... der Nabel ist Zweipfennig breit, darunter haengt die Flinte ...’
Nein. Es waren nicht die Schuesse einer Flinte, die ihm in dieser Sekunde den Koerper zerfetzten. Es war die Sprengkraft einer oder mehrerer Bomben.
‚Bin ich deshalb nach Bali gekommen’, schoss es ihm durch den Kopf, ‚um mich hier in die Luft sprengen zu lassen? Das ist doch scheisse’.
Dann hatte er ausgedacht.
Nichts bekam er mit von dem tatsaechlichen Umfang des Anschlags. Von seinen Urhebern und von der Zahl der Opfer. Nichts von den Massnahmen der Behoerden, die Taeter zu identifizieren, sie ausfindig zu machen und schlieslich festzunehmen. Nichts von der Tatsache, dass sich einer der Taeter in seinem Haus selbst in die Luft sprengte. Nichts von den beiden Gerichtsverfahren, den verhaengten Strafen. Und nichts von den Todesurteilen gegen die beiden Brueder Amrozi Nurhasyim und Ali Ghufon und einem weiteren Terroristen, Imam Samudra. Und nichts von dem Gewuerge und Gezerre und juristische Winkelzuegen, bis die Todesurteile gegen die drei tatsaechlich vollstreckt worden waren. Nichts bekam er mit von dem massiven Einbruch in die Entwicklung Tourismusindustrie auf Bali in darauf folgenden Jahren.
Er war eines der sechs Opfer aus Deutschland. Insgesamt starben bei dem Bomenanschlag 202 Menschen aus vielen Laendern. Vor allem aus Australien. Hunderte Menschen erlitten zum Teil schwerste Verbrennungen.
Nichts bekam er mit von der Angst. Einer von den Balinesen ganz weit nach hinten gedraengten Angst, dass sich so ein radikal-islamisch motivierter Anschlag wiederholen koennte. In ihrem Paradies. Das Reservoir an Selbstmord-Attentaetern scheint schliesslich unerschoepflich zu sein.
‚Fuck the Terrorists’, druckten die Balinesen beschwoerend auf T-shirts. Es half nicht viel: am fruehen Abend des 1. Oktober 2005 explodierten drei weitere Bomben. In Jimberan und wieder in Kuta. 23 Menschen starben, 100 wurden verletzt.
Wieder war der ‚Jemaah Islamiyah’ fuer das Attentat verantwortlich.



Langeweile

Wie besiegen diese die Langeweile? Wie schlagen jene die Zeit tot? Was stellen andere mit ihrer permanenten Unterforderung an? Was passiert mit den Menschen, deren Leben vor allem aus vielen langweiligen Tagen besteht? Und diese Tage wiederum aus vielen langweiligen Stunden und Minuten? Ja, was eigentlich?



Little Richard

Seit dem Fruehjahr 2011 ist unser kleines Austragshaus in Kalibukbuk fertig, und wir verbringen hin und wieder ein Wochenende darin, besuchen die Schwiegereltern und einige von Komangs Bruedern und Schwestern und deren Familien.
Unsere neue Nachbarschaft in Kalibukbuk ist klar und uebersichtlich gegliedert. Westlich von uns leben Komangs Eltern, einer ihrer Brueder mit seiner Familie, dann Komang, der Elektriker, ein Vetter, und zwei von Komangs Onkel vaeterlicherseits. Noerdlich von uns wohnen zwei Familien, mit denen wir nicht verwandt sind. Suedlich von uns, das heisst: suedlich der neuen Strasse, befinden sich einige einfache Haeuser, deren Bewohner ebenfalls nicht mit uns verwandt sind, und dahinter steht seit kurzem das neugebaute kleine Haus einer von Komangs Schwestern und das eines Bruders. So weit, so gut.
Oestlich von uns, also auf der Seite, auf der jeden Morgen die Sonne aufgeht, hat sich eine Familie aus dem Kreis Gianyar ein Grundstueck gekauft, mit einem Haus bebaut und sich niedergelassen. Kalibukbuk liegt etwa drei Motorradstunden von Gianyar entfernt – also zogen sie weit weg von ihrer alten Heimat. Vielleicht ist das ein Grund, warum sich die Familie bisher schwer tut, sich in ihre neue Nachbarschaft zu integrieren. Ein anderer Grund duerfte sein, dass das Oberhaupt des Familie, der Ehemann und Vater also, auf einem Kreuzfahrschiff arbeitet, das mit einem internationalen Publikum ueber die Ozeane schwimmt. Aus Gruenden die mir nicht bekannt sind, heuern Reedereien, besonders solche, die sich auf amerikanische Kunden spezialieren, gerne Mannschaften aus Bali an. Die angebotene Zeitarbeits-Vertraege beschraenken die Mitarbeit auf neun bis zehn Monate, dann gibt es einen drei- oder zweimonatigen unbezahlten Urlaub. Ein solcher Vertrag kann – wenn die Vertragsparteien zufrieden waren – verlaengert werden. Die Arbeit auf den Kreuzfahrschiffen wird fuer indonesische Verhaeltnisse gut bezahlt und Balinesen lassen sich gerne dafuer anheuern. Das Vermittel der Vertrage laeuft ueber Agenturen.
So ist das auch bei unserem Nachbarn: waehrend seiner Abwesenheit verdient er das Geld fuer seine junge Familie und den Hausbau, waehrend seiner Anwesenheit geniesst er die Untaetigkeit, besucht seine Eltern, Geschwister und Freunde und zeugt ein Kind. Vier sind es inzwischen. Dass ihm die jeweils zweimonatige Anwesenheit nur wenig Moeglichkeit laesst, sich in seine neue Umgebung einzuleben, liegt auf der Hand.
Ob es mit seiner jeweils vielmonatigen Abwesenheit zu tun hat, weiss ich nicht, aber seine Frau und seine vier Kinder sind ungewoehnlich laut: Radio, Fernseher, Kinder, Hund ... und das kraeftige Organ der Frau im Haus, die das alles alleine zusammenzuhalten hat.
Konkret heisst das, dass wir jedesmal davon irritiert sind, wie uneingeschraenkt sich unsere Nachbarin und ihre Kinder breit machen. Laermmaessig. Da sie sich aber darin nicht grundsaetzlich von anderen Balinesen unterscheiden und wir ohnehin nichts dagegen unternehmen koennen, haben wir angefangen, uns daran zu gewoehnen ...
Im Dorf wurde ein neu gebauter Tempel eingeweiht, und wir nahmen das Ereignis zum Anlass, zwei Tage in Kalibukbuk zu verbringen. An einem der beiden Vormittage sassen wir vor dem Haus, assen von dem Gebaeck, das uns die Schwiegermutter gebracht hatte und plauderten ueber dies und das. Der Kreuzschiffer befand sich auf hoher See. Seine Familie auf einem ueblich hohen Laermpegel.
Der aber stieg. Er schwoll an. Er wurde lauter. Und lauter. Und schriller. Und kreischender. Er bohrte sich ins Gehirn und er ging unter die Haut. Nur allmaehlich konnten wir hoeren, dass es eine Name war, der geschrien wurde: Richard ... Richard ... Richard. Erst ein Kind. Dann zwei Kinder. Dann die Mutter. Dann alle. Das Rufen und Schreien wurde noch lauter. Noch verzweifelter. Noch hysterischer. Die Familie schrie sich in Panik. Immerzu Richard ... Richard ... Richard.
In mir entstand ein schrecklicher Verdacht: das juengste der vier Kinder, ein Bub, ein Saeugling noch, war gerade dabei zu sterben. Ich sah ihn foermlich vor mir, sah, wie er sich im Todeskampf wand. Umringt von seinen Geschwistern und seiner Mutter. Immer schlimmere Bilder tauchten vor mir auf. Verstaerkt durch die Hysterie der sich ueberschlagenden Stimmen Richard ... Richard ... Richard.
Nach Moeglichkeit meide ich die Zeugenschaft an Unfaellen, Schlaegereien, Selbstmorden. Ich bin nicht sensationsluestern, und ich bin kein Gaffer, der sich am Schicksal anderer weidet. Im Gegenteil. Ich habe Angst vor der gefuehlsmaessigen Herausforderung, die ein Unglueck mit sich bringen kann. Bezogen auf meine Fantasien von Richard ... Richard ... Richard: ich spreche weder balinesisch der indonesisch. Deshalb bat ich Komang, hinueberzugehen zu den Nachbarn und nach dem Grund fuer das Geschrei zu schauen.
Mit zoegernden Schritten ging Komang hinueber zu den Nachbarn. Dann ging sie schneller. Schliesslich lief sie. Auch andere Nachbarn kamen angerannt. Das Schreien brach nicht ab. Manchmal wurde es lauter. Dann etwas leiser. Dann wieder lauter. Es verlief in Wellen. Richard ... Richard ... Richard. Es war kaum noch auszuhalten.
Komang kam zurueck. Sie guckte etwas betreten. Sie zog die Schultern hoch und liess sie wieder fallen. So, als wurde sie sich entschuldigen. „Die hatten einen kleinen Hund. Und der ist gerade gestorben. Deshalb schreien sie alle.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ein kleiner Hund – und so ein Geschrei.
Die Kinder und ihre Mutter schrien weiter. Ohne Unterbrechung. Noch mehr Nachbarn kamen. Zum Schluss muessen es an die vierzig gewesen sein. Mit zoegernden Schritten kamen sie zuerst. Dann gingen sie schneller. Schliesslich liefen sie. Und kamen bald darauf achselzuckend zurueck. „Ihr Hund ist gestorben. Ein kleiner Hund.“ Sie wirkten verwirrt. Manche belustigt. Alle verstaendnislos.
Wir setzten uns aufs Motarrad und fuehren hinunter ins Dorf. An den Strand. Das Geschrei war uns zuviel geworden. Auch deshalb, weil wir Ursache und Wirkung nicht miteinder zusammenbringen konnten.
Nach Stunden kamen wir wieder zurueck. Und noch immer rief eine Kinderstimme jammernd „Richard ... Richard ... Richard“.



Problemloesungen?

Bevor der Verkehrslaerm fuer die Anwohner unertraeglich und nachgewiesenermassen gesundheitsschaedlich wird, werden mancherorts Laermschutzfenster eingebaut. Sonst waeren solche Wohn- und Geschaeftsraeme kaum noch zu vermieten und der Wert der Immobilien wuerde fallen, vielleicht sogar abstuerzen. Steigender Verkehrslaerm hat eine Laermschutz-Industrie entstehen lassen: ohne Laerm kein Laermschutz. Logisch.
Selten wird versucht, die Ursachen eines Problems zu ergruenden und sie anschliessend zu beseitigen. Statt dessen versucht man mit technischen und administrativen Mitteln, die Folgen eines Problems zu mildern. Das heisst, Probleme werden mit ‚industriell-administrativen Methoden’ so bekaempft, so, dass neue Industrien entstehen, die wiederum neue Probleme hervorbringen, beziehungsweise bereits bestehende Probleme verschaerfen. Daher der Begriff ‚Industriegesellschaft’. Es ist eine beaengstigende Schraube ohne Ende.
Zwei Nachrichten haben diesen vorangestellten Gedanken, der von linken Oekonomen in den 1970er Jahren erstmals publiziert wurde, wieder lebendig werden lassen:
Nachricht Nummer 1: in der Volksrepublik China operiert man, vorerst allerdings nur konzeptionell mit Hilfe von Computer-Simulationen, mit einem Tunnel-Bus, der bis zu 1400 Fahrgaeste befoerdern koennen soll. Und durch den, wie durch einen Tunnel eben, andere Fahrzeuge fast ungehindert hindurchfahren koennen. Ein solches Vehikel – einem rasenden Brueckenbauwerk aehnlich, soll umweltfreundlich, weil abgasfrei, mit Atomstrom betrieben werden. Eine revolutionaere, moderne, angemessene technisch-industrielle Loesung also? Den aus allen Fugen geratenen Verkehr in chinesischen Gosstaedten einzuschraenken, also an die Wurzel des Problems zu gehen, wagt heute offenbar niemand mehr zu denken. Der persoenliche Wunsch nach Auto-Mobilitatet und die globale Automobil-Lobby und sind uebermaechtig geworden, und unser Denken ist laengst unumkehrbar auto-mobilisiert.
Nachricht Nummer 2: im Zusammenhang mit dem seit 2006 noch immer heftig sprudelnden Schlammvulkan in der Naehe der indonesischen Industrie- und Hafenstadt Surabaya, Ostjava, wird ueber eine besondere Variante der Vorteilnahme, Korruption, berichtet: Der Ortsbuergermeister, der sich fuer eine schnelle Abwicklung von Entschaedigungszahlungen an die Betroffenen einsetzt, fordert und bekommt von diesen Betroffenen 25% der von ihm ausgehandelten Entschaedigungs-Summe. Anzumerken ist, dass diejenigen, die mangels eigener Ruecklagen besonders auf eine schnelle Abwicklung des Schadensersatz-Verfahrenss angewiesen sind, somit ein Viertel weniger ausgezahlt bekommen als diejenigen, die soviel Geld haben, sich moeglicherweise durch mehrere Instanzen klagen zu koennen.
Eine staatliche Anti-Korruptionsstelle wurde in Indonesien schon unter dem oberkorrupten Praesidenten Suharto eingerichtet. Ein flaechendeckendes administratives Netz aus Beobachtern und Berichterstattern entstand – eine Anti-Korruptions-Industrie. Aber die Korruption waechst und gedeiht in Indonesien weiterhin. Von ganz oben bis ganz unten.
Wie gesagt: Probleme in den Industriegesellschaften werden mit industriell-administrativen Methoden bekaempft, die wiederum neue Probleme hervorbringen, beziehungsweise bereits bestehende Probleme verschaerfen.
Das ist eine Schraube ohne Ende ...



Rauchender Fussball

Worueber man mit indonesischen Maennern fast immer reden kann, sind der Fussball und das Rauchen.
Ein Glueck, dass ich aufrichtig und deshalb ueberzeugend sagen kann, dass ich in Muenchen zur Welt kam und dort aufgewachsen bin und bereits als Zwoelfjaehriger ein in der Wolle gefaerbter Anhaenger des FC Bayern wurde. Anhaenger sagte man damals noch und nicht Fan. Der Begriff ‚hooligan’ war nicht nur in Muenchen gaenzlich unbekannt. Franz Beckenbauer und der FC Bayern haben noch immer, und der junge Thomas Mueller jetzt schon, einen aussergewoehnlich grossen Bekanntheitsgrad, und zusammen geniessen sie ein hohes Ansehen. Indonesienweit. Oliver Kahn wird inzwischen ueberigens als Auslaufmodell gehandelt, waehrend Michael Ballack, der noch immer als ein Spieler des FCB gilt, hoch gelobt wird. So uebertraegt sich das positive Image der Vorgenannten ungeprueft auf mich. So schnell, leicht und billig kann man sein Image sonst nicht aufpolieren. Das ist zwar nicht wirklich angemessen, aber dennoch angenehm.
Das Fernsehen und die umfangreiche und intensive Berichterstattung in den Zeitungen hat eine globale Fussballgemeinde entstehen lassen, an deren Mitgliedschaft sich die Menschen erkennbar viel mehr erfreuen als zum Beispiel an ihrer unfreiwilligen Teilhabe an einer globalisierten Wirtschaft. Ja, jeder waehlt gerne aus, aber nur wenige lassen sich gerne zu etwas zwingen. So ist der Mensch nun einmal.
Dass das Rauchen nach Aussage der in grossen Lettern auf jeder Zigarettenpackung aufgedruckten Hinweise auch impotent machen kann, ist manches Mal Anlass zu eindeutigen Witzen, muss es aber nicht sein. Die meisten Indonesier tun so, als bewunderten sie die Tatsache, dass ich seit fast fuenfundzwanzig Jahren nicht mehr rauche. Ich behaupte dann mit groesstmoeglicher Ueberzeugungskraft, dass dies die Ursache fuer meinen Wohlstand und meine gleichbleibend hohe Libido sei. Sie koennen nicht wirklich einschaetzen, ob ich es so meine, wie ich es sage. Aber es amuesiert sie und sie lachen – und rauchen weiter wie die Schlote.
In einkommensschwachen Familien verrauchen die maennlichen sogenannten Haushaltungsvorstaende etwas mehr als zehn Prozent der Haushaltskasse. Und fuer viele schlimme Krankheiten ist auch in Indonesien das Rauchen die Ursache. Las ich im Internet.
Da ist das Fussballschauen im Fernsehen nicht nur billiger, sondern auch gesuender.



Rechthaben

Zwei Transvestiten, die einen arg gebrauchten Eindruck machten, sangen in einem Restaurant ein Duett. Sie waren grell geschminkt. Die Bedienungen zogen sie auf, lachten sie aus und scherzten mit ihnen. Eine(r) der beiden trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: THE END IS NEAR. Grell hin, grell her – damit hatte sie (oder er) meiner Meinung nach ganz einfach Recht.


Sex und Rebirthing

Wie das Ende eines anstrengenden Geburtsvorgangs. Harte Arbeit – Koerpersensationen – am Ende die grosse Entspannung – endlich befreit – endlich gekommen – endlich angekommen – das Gesicht noch verkrampft von Anstrengung und innerer Erschuetterung – dann das befreite Laecheln – das Strahlen des Neugeborenen – die fuehlbare, fast sichtbare Aura des Menschen, der eins ist mit sich und einem anderen Menschen so nahe.


Spitzenspitzname

Jetzt endlich, nach den vielen Jahren, weiss ich, was mich nach Bali gebracht hat: Es waren nicht der Max und nicht die Andrea, nicht die ueppige Vegetation auf dem Weg hinauf zum ‚Holy Hot Spring’ in Banyar, nicht die samthaeutige Komang mit ihren lustigen und ihren traurigen Augen. Nein. Die Antwort ist eine andere, und sie ist einfach: mein abgekuerzter Vornamen war es und ist es, mein Spitznamen – das Adi fuer Adolf. Nicht Ade, Ado oder Addi – nein: Adi. Mein Vater hiess Adolf – Ade nannten ihn seine Freunde und Kollegen, Addolf die Verwandten. Auch mein Grossvater hiess Adolf, geboren 1869 in Ettringen, gestorben 1933 in Muenchen. Wie er von seinen Freunde und seiner Familie genannt wurde, weiss ich nicht.
Im dritten Drittel des 19. Jahrhunderts war Adolf der haeufigste maennliche Vorname im Deutschen Kaiserreich. Und das, obwohl beide Kaiser ‚Wilhelm’ hiessen und Bismark ‚Otto’.
Adolf bedeutet, unter anderem,‚der wehrhafte Wolf (Wotan’). Diese Namensbedeutung gefiel mir als Heranwachsender sehr: ‚The lonely Wolf ‚. Der Spitzname ‚Adi’ aber war mir lieber, verschleierte er doch meinen durch Hitler und den Hitlerismus schwer belasteten Vornamen Adolf.
Adi also geht nach Bali und erlebt dort – neben vielen anderen Unbillen – wie sein Spitznamen von den Balinesen falsch gehoert und deshalb falsch verstanden und deshalb falsch interpretiert wird. Wenn du ‚Adi’ sagst, hoeren und verstehen sie ‚Adik’. Weil der Balinese,aus Gruenden, auf die ich hier nicht eingehen moechte, das k von Adik nicht mitspricht, hoert er es auch nicht. Also sagt er Adi, meint aber in Wirklichkeit Adik.
Adi aber, das echte und reine Adi ohne k, bedeutet im Balinesischen soviel wie kleiner Bruder, kleine Schwester, kleiner Cousin bzw. Cousine. Jetzt bin ich tatsaechlich der juengere Bruder meiner um viereinhalb Jahre aelteren Schwester, und ich bin der juengste von uns drei Cousins – Karl ist zwei, Werner fuenf Jahre aelter als ich. Also folgte ich zwangslaeufig der balinesischen Interpretation meines im Grunde sehr deutschen Spitznamens.
Aber es kam, wie es kommen muss: die Wahrheit kam ans Licht. Waehrend einer Ausstellungseroeffnung in Ubud musste ich einem Kunstmaler als Zentraljava meinen deutschen Spitznamen Adi erklaeren – den Spitznamen von Adolf, den kleinen Bruder eben.
Im Indonesischen bedeuted Adi etwas voellig anderes, naemlich ‚superior’, wie es im Englischen heisst. Superior im Deutschen wiederum bedeutet hoeher, hoeher stehend, vorgesetzt, besser, hochwertiger, ueberlegen, hervorragend. Mir schwoll bereits der Kamm. Aber es wurde langsam peinlich. Langenscheidts ‚Euro-Woerterbuch Englisch’, mein Helfer in vielen Faellen sprachlicher Unsicherheiten – bot gluecklicherweise keine weiteren Beutungen mehr zu superior an. Vielleicht gibt es im Webster’noch welche?
Aber mir reichten auch die bereits angefuehrten. Wie gesagt, den kleinen Bruder habe ich hingenommen. Aber jetzt habe ich die Moeglichkeit und die Aufgabe, mich mit dem superior anzufreunden und in diesen riesengrossen Schuh hineinzuwachsen und seinen innenwohnenden Anspruechen gerecht zu werden. Uebrigens ist Superior im katholischen Ordensrecht – laut Brockhaus – die Bezeichnung fuer den Leiter eines Klosters oder Ordens. Nein – so weit lasse ich es nicht kommen und die katholischen Orden wohl auch nicht.
Die Bedeutung des Wortbegriffes Adi wird im Indonesischen durch die folgenden Beispiele noch ausgebaut: adi daya = superpower; adi kawasi = major force; adi kodrati = the super-power of God; adi kuasa = superpower; adi marga = superior highway oder main highway.
An dieser Stelle hoere ich auf. Mir schwillt der Kamm noch immer – oder schon wieder.



Ueber das Reptilverhalten

Taeglich zwischen dreissig und sechzig verkehrstote Moped- und Motorradfahrer auf den Strassen Suedbalis.
Und jetzt dieser Beinahe-Unfall. Ein junger Mann hat mich fast gerammt. Fluchend wich ich aus. Halte Augenkontakt und beobachte, wie sein Gesicht blitzschnell versteinert. Sein Hautton wechselt in ein leichtes Grau. Er kneift die Augen zusammen. Ich sehe, wie sein Koerper ganz schmal wird und sich weit nach vorne streckt. Und weg ist er.
Ich erinnere mich an ein Seminar in Spanien. Das war im Fruehherbst 1980. Meine Freundin hatte einen Job als Dolmetscherin auf einer New-Age-Conference, und als der bis ueber beide Ohren verliebte Anfangs-Sannyasin der ich damals war, folgte ich ihr per Flieger und Eisenbahn in das Herzland Iberiens. Als waere es gestern gewesen, erinnere mich an die mehr als rasante Fahrt in einem aeltlichen Renault R12 vom Bahnhof von Catalajud zu dem Kloster, in dem die Konferenz stattfand. Meine Freundin und spaetere Ehefrau, war wohl ebenfalls etwas verliebt und drueckte diesen das Lebensgefuehl steigernden Zustand durch eine Art uebermuetigen Ralley-Fahrstil aus.
Wir beide ueberlebten die Fahrt und so hatte ich einige Tage spaeter Gelegenheit, an einer Uebung teilzunehmen: ‚Steps of Evolution’, hiess die Veranstaltung. Es ging darum, sich gefuehlsmaessig an verschiedene Stufen der Entwicklung vom Einzeller bis hin zum Menschen zurueckzuerinnern und diese Gefuehle zu beschreiben. Ich beteiligte mich intensiv an der Uebung und genoss jede Phase im Prozess meiner Menschwerdung. Besonders aber – und im Zusammenhang mit meiner Geschichte ist das wichtig – blieb mir die ‚Entwicklungsstufe Reptil’ in Erinnerung. Und dabei speziell die Eigenart, wie das Reptil im Konfliktfall quasi Scheuklappen anlegt, alle Energie auf eine Funktion konzentriert, die ein einzigen Ziel unterstuetzt: zu ueberleben.
Laut Tabellen zur Evolutionsgeschichte entstand die Spezies der Reptilien vor etwa 400 Millionen Jahren. Daraus entwickelten sich alle Formen der bekanntlich ausgestorbenen Saurier, aber auch die heute noch existierenden Schildkroeten, Krokodile, Brueckenechsen, Echsen und Schlangen. Reptilien lebten als erste Tiergruppe vollstaendig auf dem Festland, erstmals im Karbon-Zeitalter, gut 350 – 280 Millionen Jahre vuZ. in Kanada.
Heute schreiben wir Mittwoch, den 15. Juli 2009. Zwischen den ersten Reptilien und meinem so schnell entflohenen balinesichen Mopedfahrer liegt also ein ganz schoen grosser zeitlicher Abstand. Aber wie das halt so ist mit dem Werden, dem Sein und dem Vergehen: in einem ganzheitlichen System geht angeblich nichts verloren – und wir leben in einem. Nichts wird vollstaendig ersetzt durch etwas vollkommen Neues. Bestehendes wird uebernommen, weiterentwickelt, erweitert, integriert – ‚organisches Wachsen’ sagen manche dazu; ‚natuerliches Ausleseverfahren’ nannte es Charles R. Darwin,
In jedem von uns Menschen steckt also noch das Reptil. Viel davon ist meist nicht zu sehen – ausser in Faellen von besonderem emotionalen Stress. Das Gesicht versteinert blitzschnell. Der Hautton wechselt in ein leichtes Grau. Die Augen werden zu schmalen Schlitzen. Der Koerper wird ganz schmal und streckt sich weit nach vorne. Und weg ist er.
Da zeigte es sich wieder einmal, das Reptil. Fuer einen kurzen Moment jedenfalls.


Ueber Geldboersen und Visitenkarten

Das sind die Dinge, die ich immer bei mir habe, wenn ich das Haus verlasse: ein Taschentuch (wie es mir meine fuersorgliche und auf Sauberkeit bedachte Mutter beibrachte) und meine Geldboerse. Oder Geldbeutel, wie man in Sueddeutschland sagt. Obwohl das, was wir Maenner uns in der heutigen Zeit in aller Regel in die rechte Gesaesstasche unserer durch einen Guertel hochgehaltenen Hose stecken, weder eine Boerse noch eine Beutel ist. Uebrigens: Guertel und Hosentraeger zusammen seien ueberfluessig, stellte der ehemalige bayerische Ministerpraesident Edmund Stoiber kuerzlich fest. Eine weise Feststellung! Aber muss man dazu erst Ministerpraesident werden?
Das, was ich in die rechte Gesaesstasche stecke, ist mehr als eine Geldboerse. Es ist eine Minibrieftasche. Ich bekomme Briefe fast nur noch in elektronischer Form, und wenn echte Briefe in meinem Postfach liegen, dann sind das meist Kontoauszuege, die mir meine Raiffeisenbank aus Reischach nach Ubud schickt. Noch immer. Damit ich weiss, ob ich genug Geld zum Ueberleben habe. Was nach dem Absturz des Euro eine durchaus interessante Information ist: in den beiden letzten Jahren habe ich mehr als 20% meiner Ruecklagen verloren.
Freunde aus England und den USA leiden ebenfalls unter dem Kaufkraftverlust ihrer Waehrungen. Aber sie haben wenigstens kein Problem mit der Unterscheidung zwischen Geldboerse, Geldbeutel oder Minibrieftasche – sie nennen das Ding einfach Wallet. Punkt. In meinem Wallet befinden sich – neben Rupiah-Muenzen und -Scheinen – mein indonesischer Fuehrerschein, der mich zum Fahren eines Motorrads berechtigt, eine Fotokopie meines deutschen Reisepasses, eine Kennkarte, zwei ATM-Karten und eine Visa-Karte, eine klein gefaltete Liste mit nuetzlichen Adressen und eine gedruckte Notiz in der Groesse einer Bankkarte, auf der ich in Indonesisch und Englisch darum bitte, in einem Notfall meine Frau anzurufen; Komangs Handynummer steht gross und rot auf dem Zettel.
Zusaetzlich zu diesen Sachen befinden sich auch einige meiner Visitenkarten im Wallet. An diesem Punkt kommt zum Vorschein, was fuer eine Art von Schatz dieses kleine Stueck aus synthetischem Material im gefakten Versage-Design fuer mich bedeutet: Mein Wallet, mein Ueberleben!
Lassen Sie uns nun das Thema wechseln und ueber Visitenkarten reden: auf Bali sind Sie ein Niemand – auf jeden Fall ein Mensch ohne Eigenschaften – wenn Sie keine eigene Visitenkarten mit sich herumtragen. Visitenkarten auszutauschen hat hier fast die gleiche rituelle Bedeutung wie das Haendeschuetteln im Westen. In gewisser Weise ist es vergleichbar mit der streng regulierten Kultur des Visitenkartenaustausches im Mitteleuropa vergangener Jahrhunderte. Heissen sie heute auf Bali ‚name card’, bezeichnete man sie in Deutschland schon vor dreihundert Jahren als ‚Visitenkarten’; sie wurden in der Regel von Angehoerigen der Oberschicht benutzt oder von Menschen, die in diese Schicht aufsteigen wollten. Mit dem ebenfalls aufstrebenden Kapitalismus empfanden mehr und mehr Geschaeftsleute diese kleinen und mit ihrem eigenen Namen bedruckten Kaertchen aus Papier oder leichtem Karton als praktisch und nuetzlich; man nannte sie also immer haeufiger ‚Geschaeftskarten’ oder ‚Business cards’.
In unserer Zeit benutzen die Menschen Name cards, Visitenkarten oder Business cards als wohlfeile Instrumente des ‚networking’. Auf Deutsch: Beziehungen knuepfen, Beziehungen haben, in Beziehung sein, Teil eines Beziehungsgeflechtes (Netzwerkes). Das ist heute mehr denn je ein wichtiger Teil von Strategien, die Aufstieg, Erfolg oder zumindest ein Ueberleben ermoeglichen sollen.
Jetzt kommen wir allmaehlich in einen Bereich, wo die wirklichen Probleme beginnen: wenn jeder seine Visitenkarte verteilt und jeder hart daran arbeitet, sich ein eigenes und individuelles Profil zu schaffen, um sich von allen anderen positiv abzuheben – ja, dann muss auch seine Visitenkarte, Name card oder Business card etwas hermachen. Sie muss entsprechend gestylt sein. Der nach Erfolg trachtende Mensch muss neben Designer Jeans’, Designer Hemden, Designer Schuhen, einem Designer Haarschnitt, einem Designer Koerper auch ueber Designer Visitenkarten verfuegen. Manche Leute bemuehen sich um die Unterstuetzung eines professionellen Name card-Designers (die genauso vertrauenswuerdig sind wie die Mehrzahl der website-Designer) und erteilen kostspielige Auftraege. Andere sind naiv oder mutig genug und trauen sich zu, eigene Designs zu entwickeln. Hin und wieder hat man die Gelegenheit, die bemerkenswerten Ergebnisse solcher Bemuehungen einzusehen, oft verbunden mit der stolzen Hinzufuegung: „It’s my own design!“
Das alles stellt selbstvestaendlich kein Problem fuer mich dar und der Entwurf meiner eignen Visitenkarte machte mehr Spass als Arbeit und das Ergebnis halte ich fuer zufriedenstellend. Ich mag meine Karte, die Leute moegen sie – und sie bleibt im Gedaechtnis haften. Na, also.
Jetzt muessen sich nur noch Aufstieg und Erfolg einstellen.



Uebers Internet

Ich habe einen neuen Freund gefunden. Uebers Internet.
Er heisst Kurt Kister und ist Chefredakteur der Sueddeutschen Zeitung.
Seine Wochenendkolumnen ‚Deutscher Alltag’ helfen mir manchmal ueber die Trostlosigkeit der Alltagsnachrichten aus Deutschland, Europa und der Welt hinweg. Ueber seinen Beitrag ‚Meinung blubbert’ musste ich herzlich lachen.
Weil es mehr Spass macht, miteinander zu lachen und Komang Sarining darueber nicht lachen wuerde, auch wenn ich ihr den Text recht anschaulich ins Englische uebersetzen koennte, habe ich ihn kopiert und verschicke ihn – zum mitlachen.
Copy, paste & send.


Meinung blubbert
von Kurt Kister, SZ vom 05.03.2011

Die Pro-Guttenbergs werfen einem Hetzjagd vor, die Wutdoktoren glauben seit Dienstag, sie könnten mit Hilfe des Internets die Welt regieren. Und ständig muss man zu allem eine Meinung haben.
Immer soll man zu allem eine Meinung haben. Der Friseur fragt, wie es denn nun weitergehe da in Libyen. Der Mann von der Autowerkstatt will wissen, warum man eigentlich nicht mal schreibe, dass Shell oder Aral verstaatlicht gehören. Und natürlich lauern einem dauernd die Pro-Guttenbergs und die Anti-Guttenbergs auf.
Die einen werfen einem Hetzjagd, Missgunst und Hass vor. Bei der Lektüre ihrer Briefe hat man den Eindruck, mancher Briefschreiber wäre einer Kreuzigung des journalistischen Neidhammels nicht abgeneigt.
Die anderen wiederum, allen voran die Wutdoktoren, die seit Guttenberg ein viel engeres Verhältnis zu ihrer eigenen Dissertation gewonnen haben, feixen über den Rücktritt des Barons und glauben seit Dienstag, sie könnten mit Hilfe des Internets die Welt regieren. So viel Meinung jedenfalls, wie gegenwärtig gefragt ist, kann man gar nicht haben.
Oder vielleicht doch? Man stellt sich das ungefähr so vor wie mit der Braunkohle: Unter der Oberfläche liegen große Mengen Meinung. Meinung allerdings ist, anders als Braunkohle, vom Aggregatszustand her eher flüssig. Sie blubbert, und immer wieder bildet sie gelblich-grüne Blasen, die mit einem "Plopp" platzen und manchmal wie im Yellowstone-Park nach Schwefelwasserstoff riechen.
Andere Formen der Meinung sind zähflüssig als wären sie ein während des Flusses sich stark abkühlender Lavastrom. Gysi-Meinung oder Lauterbach-Meinung und natürlich Alexander-Dobrindt-Meinung erstarrt noch während sie die jeweiligen Meinungsproduzenten verlässt.
Es gibt Hinweise darauf, dass noch in diesem Jahr der Meinungstagebau professionalisiert werden wird. Weil es von Herbst an praktisch jeden Abend mindestens eine Talkshow in ARD und ZDF geben wird, wollen sich in der ARD die Zuständigen zusammenschließen und eine Talk-Show-Gäste-Datenbank einrichten. (Nein, das ist nicht erfunden.)
Darin soll festgehalten werden, wer wann mit wem zu welchem Thema spricht. Merkt der Redakteur zum Beispiel, dass der Gassenphilosoph Precht schon wieder mit dem Stör-Schweizer Köppel und dem Historiker als Hysteriker Baring verkuppelt wird, leuchtet ein rotes Licht auf dem Schreibtisch des ARD-Meinungsinspizienten (das ist jetzt erfunden).
Dann wird neu gewürfelt. Angeblich ist bereits ein Update der Datenbank in Entwicklung. Jedem Moderator werden dann 15 persönliche Gäste zugeordnet, die er (oder sie) wie Fußballbilder auch mit einem anderen Moderator tauschen darf. Jauch soll immer den ersten Zugriff haben, Plasberg beleidigt sein und Maischberger nur Gäste über 70 kriegen. Ist aber noch geheim.



Ursache und Wirkung

Einer der vielen Lebenshilfe-Ratschlaege, die seit einiger Zeit besonders zahlreich kursieren, geht so: ‚Versuchen Sie sich darueber klar zu werden, ob Ihre momantan problematische oder bedrueckende Situation auch in fuenf Jahren noch problematisch oder bedrueckend sein wird. Sie werden sehen, dass die Projektion eines im Moment riesengross erscheinenden Problems in die Zukunft Ihrem Problem viel von seiner Kraft und Schaerfe nehmen wird.’
Ich versuche das hin und wieder und stelle fest, dass sich tatsaechlich eine ganze Reihe von alltaeglichen Problemen auf diese Weise relativieren lassen. Allerdings bleiben da noch eine ganze Menge nichtalltaeglicher Probleme, die sich nicht so einfach hinwegzaubern lassen.
Hier habe ich so ein Problem: Es ist inzwischen selbstverstaendlich geworden festzustellen, dass es lineare und kausale Entwicklungen nicht gibt. Heute gehen wir davon aus, dass wirklich alles miteinander vernetzt und alles Eins ist, dass alle Prozesse in Wellenbewegungen verlaufen und dass simple Ursache-Wirkung-Zusammenhaenge nicht existieren.
Mein Problem? Es gibt Entwicklungen, die in ihrem Ablauf so folgerichtig erscheinen, bei denen eins so vorhersehbar aufs andere folgt, dass sie mir tatsaechlich linear und zwangslaeufig vorkommen. Das also ist mein Problem. Es laesst sich leider nicht dadurch aufloesen, dass ich es auf eine zeitliche Entfernung von fuenf Jahren hin betrachte. Also, ‚Ursache und Wirkung’, darum gehts mir.
Aufgeschreckt und betroffen gemacht hat mich die Katastrophe der Oelbohrinsel ‚Deep-water Horizon’ im Golf von Mexiko. Bis jetzt waren es die 1968er-Bewegung, die Berufsverbote, die RAF und der Deutsche Herbst, die mich aufgeschreckt und betroffen machten. Dann die Nachruestung, Tschernobyl, das Elend von Behinderten in Rumaenien, das Absacken des afrikanischen Kontinents und das Projekt Hungerhilfe, das Ozonloch, die Erderwaermung, die mehr oder weniger zyklischen globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen, die Globalisierung als Ganzes, der Verfall des Euro, die Verflachung von gestaltender Politik in Ankuendigungspolitik, zu Entertainment und Medienrummel, die Amerikanisierung von allem und jedem.
Die Oelkatastrophe im Golf von Mexiko – wie es glaubhaft heisst: eine der bislang groessten von Menschen verursachte Umweltkatastrophe – war wieder so ein Schlag auf den Kopf: Ursache, Wirkung und kein Lernen daraus! Es scheint in der Zivilisationsgeschichte keine nachhaltigen Veraenderungen zum Positiven gegeben zu haben, die nicht zeitnah von nachhaltig negativen und destruktiven Entwicklungen begleitet und relativiert worden waeren. Es scheint also tatsaechlich, und es scheint,bei aller Skepsis, ein Ursache-Wirkung-Prinzip zu geben. Allerdings viel breiter angelegt und viel unuebersichtlicher und vernetzter, als dass wir es tatsaechlich erfassen und beruecksichtigen koennen.



Vom Tod des Baeckermeisters K.

Baeckermeister K., ein umgaenglicher Mann in den Fuenfzigern und weit und breit bekannt und beliebt wegen seiner aussergewoehnlich grossen und wohlschmeckenden Kaisersemmeln, liebte es, so oft es das Muenchner Wetter zwischen April und September erlaubte, am fruehen Morgen, gleich nach getaner Arbeit, ins Ungererbad zu radeln und dort, in dem vom Wuermkanal befuellten ‚Herrenbecken’, ausgiebig und genussvoll zu schwimmen und sich anschliessend in der ‚Eishoehle’ gehoerig abzukuehlen.
Eines Tages, und das war bestimmt nicht sein Tag, wurde er beim Schwimmen vom Schlag getroffen, ging unter und ertrank.
Im Ungererbad jener Tage wimmelte es von Ratten, Wasserratten selbstverstaendlich, die in Wuermkanal, Herrenbecken und Eishoehle ihr Bad nahmen, sich rubbelten und putzten, umhertollten und plantschten und sich gegenseitig Wasser in die rosafarbenen Augen spritzten, oft in die Tiefen der Gewaesser tauchten, herumalberten und um die Wette schwammen.
Wie jeder lebende Organismus schieden sie etwas aus, auf das wir an dieser Stelle aber nicht naeher eingehen muessen. Nennen wir es wie manche Kinder kurz und buendig ‚Pippikacka’.
Noch viele Jahre nach dem Tod des allseits bekannten und beliebten Baeckermeisters erzaehlten sich die Menschen im Viertel, K. haette beim Schwimmen zuviel von dem durch die Ratten verseuchten Wasser des Wuermkanals geschluckt und sei daran gestorben.
Diese unwahre und unappetitliche Geschichte wurde immer wieder neu erzaehlt und am Leben gehalten. Auf diese Weise lebt auch Baeckermeister K. noch heute unter uns.



Von der Maus, dem Faden
und den Zaehnen der Analytikerin

Manche Menschen tun sich mit Veraenderungen, gleich welcher Art, grundsaetzlich schwer. Ich nicht. Manche Menschen sind von Natur aus eher geduldig. Ich nicht. Manche Menschen sind zufrieden und uebertragen das auf ihre Mitmenschen. Ich nicht.
So hat jeder das zu tragen, was in seinem persoenlichen Rucksack enthalten ist.
Da beisst die Maus keinen Faden ab, wie man so sagt. Oder die erfahrene Psychoanalytikerin sich ihre Zaehne aus.



Von Gluehbirnen und Leuchtmitteln

‚Leuchtmittel’ sagt man heute dazu. Ich sage weiter ‚Gluehbirne’: eine Birne, die man nicht essen kann, die aber glueht. Ein Wunder, das genau betrachtet, so nicht stimmt. Nicht der birnenfoermige Glaskoerper glueht naemlich, sondern der Metallfaden, der der durchstroemenden Elektrizitatet soviel Widerstand entgegensetzt, dass er nicht schwitzt, sondern glueht und damit Licht entstehen laesst. So einfach ist das und doch so wunderbar.
In Europa, lese ich, hat man den gluehenden Birnen den Garaus gemacht. Man sollte vielleicht besser den inkompetenten und ueberbezahlten Eliten den Garaus machen. Nicht physisch naterlich, aber unbedingt job-, auf jeden Fall bonusmaessig. Die unterbezahlten Universitaetsprofessoren selbstverstaendlich ausgenommen. Sie wuerden zuviel Energie verbrauchen, sie verschleudern, vernichten, nur des bisschen Leuchtens wegen, sagt man. Und meint die Gluehbirnen. Ja, die Umstellung von Strom aus Atomenergie in Strom aus sogenannten erneuerbaren Energiequellen bringt Veraenderungen mit sich. Und Veraenderungen kosten Geld. So auch die neumodischen Energiesparlampen.
Auf Bali, wie insgesamt in Indonesien, verwenden wir schon seit Jahren Energiesparlampen. Einfach deshalb, weil der Stromverbrauch viel schneller steigt als die Stromproduktion. Sogenannten Atomstrom gibt es in Indonesien noch nicht: zuviele Seebeben, zuviele Tsunamis, zuviele Erdbeben, zuviele Vulkanausbrueche sprechen dagegen. Deshalb ist Energiesparen angesagt, durch Stromsperren und durch den Dauereinsatz von Energiesparlampen. Neue, zusaetzliche Kraftwerke kosten mehr - man muss immer den Schwund durch Korruption hinzurechnen - und ihr Bau dauert laenger als woanders.
Leider haben viele Energiesparlampen eine wesentlich geringere Lebensdauer, als auf den Verpackungen versprochen wird, und die Anschaffungspreise sind wesentlich hoeher als bei den konventionellen Gluehbirnen. Trotzdem: nach einiger Erfahrung im Umgang mit verschiedenen angebotenen Marken habe ich mich festgelegt und behaupte, dass Philips* mit Tornado die Lampen mit der groessten Lebensdauer und der hoechsten Lichtausbeute verkauft. Sie sind teurer als indonesische oder chinesische Produkte, aber, bezogen auf die wichtigsten Vergleichsmerkmale, einfach besser.
Es fehlt nur noch, dass in den Obst- und Gemuesemaerkten Ubuds, Denpasars oder Singarajas schmackhaftere Tafelbirnen angeboten werden als bisher. Eine essbare Birne muss ja gar nicht leuchten oder erwaermen, sie soll nur knackig und fruchtig sein und unverwechselbar nach Birne schmecken. Aber es scheint einfacher zu sein, Gluehbirnen zu produzieren als Tafelbirnen, die ihren Namen verdienen.
Uebrigens: es gibt keine Birnen auf Bali. Birnen werden aus Australien oder Neuseeland importiert. Ja, dann.
*) Ich bekomme von Philips weder Preisnachlaesse noch einen Naturalrabatt oder andere geldwerte Verguenstigungen.



Von -or zu -or


Administrat-or
Ausbeut-or
Benefit-or
Besserwiss-or
Caes-or
Diktat-or
Dokt-or
Dominat-or
Emper-or
Entertain-or
Fakt-or
Fick-or
Fidl-or
Geldverleih-or
Generat-or
Geniess-or
Helikopt-or
Inhalat-or
Inspirat-or
Juni-or
Kommunikat-or
Kurat-or
Lernend-or
Lehr-or
Ment-or
Mot-or
Numm-or
Ob-or
Oktob-or
Organisat-or
Philosoph-or
Quael-or
Questionat-or
Radiohoer-or
Rasier-or
Ras-or
Rentn-or
Ritt-or
Sanitaet-or
Schauspiel-or
Schuel-or
Seni-or
Staunend-or
Support-or
Transpirat-or
Turn-or
Tueroeffn-or
Ueberflieg-or
Unteroffiz-or
Uebermutig-or
Unruhestift-or
Vegetari-or
Verfolg-or
Verteidig-or
Wachold-or
Waecht-or
Wallfahr-or
Weis-or
Xylophonspiel-or
Xav-or
Yogatrain-or
Yachtdesign-or
Zaehl-or
Zynik-or



Warum Rechthaben nicht immer schoen ist

Seit Jahrzehnten verdamme ich in Gespraechen, Diskussionen und Aktionen (unsere Tschernobyl-Aktion 1986 im Landkreis Altoetting), die global getroffene Grundschatzentscheidung pro Nutzung der Atomenergie zur Energiegewinnung. Egal ob militaerisch oder sogenannt friedlich. ‚Strahlende Zukunft?’ hiess einer unserer Slogans, der andere ‘Atomkraft – Nein danke’ und Wackerdorf war ein nur anscheinend ermutigender Zwischenschritt.
Aus zwei Gruenden war und bin ich gegen Atomenergie als Energietraeger: Zum einen kann eine umfassende Reaktorsicherheit nicht garantiert werden. In keinem Bereich – schon gar nicht im technisch-ingenieursmaessigen – gibt es tatsaechliche Sicherheit. Die lange Reihe kleiner, mittlerer, grosser und dramatischer Reaktorunfaelle dokumentiert das.
Zum anderen war und ist es eine der ruecksichtslosesten, duemmsten – im Sinne von unintelligent – und verantwortungslosesten Entscheidungen, die jemals getroffen wurden, naemlich, ohne die Moeglichkeit einer wenigstens einigermassen ‘sicheren Endlagerung’ aller Abfallstoffe auch nur annaeherend geloest zu haben.
Alles um die Nutzung der Atomenergie ist schmutzig, giftig, korrupt und kurzsichtig und nur dem Moment, dem Profit der Energiewirtschaft und dem eigenen Fortkommen in der Politik verpflichtet. Das waren und sind die falschen Entscheidungen und die falschen Commitments.
Erstaunlich find ich nur, dass jeder weiss, dass das so ist und dass radioaktive Wolken irgendwelche Grenzen, die Unterschiede zwischen politischen Systemen und Parteien und den Lebensplaenen, Hoffnungen und Wuenschenvon uns Menschen nicht unterscheiden. Radioaktive Wolken vergiften alles. Unterschiedslos. Einfach weil sie so wirken, wie sie sind.
Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) waren erwartbar. Viele andere Stoerfaelle, Gaus und Supergaus stehen an. Wir haben die 25 Jahre nach Tschernobyl nicht genutzt und nicht umgedacht, umentschieden und neu angefangen. Nein. Wir sind so keck geworden, AKW’s sogar in Erdbebengebieten zu betreiben. Nach uns die Tsunamies.
Das ist eine moegliche Bedeutung der Buechse der Pandora aus der griechischen Mythologie: die Atomenergie, die heller leuchtet als tausend Sonnen (R. Jungk), hoffnungsfroh empfangen und genutzt von kurzsichtigen, macht- und geldgeilen Deppen. Von uns allen.



Was habe ich bisher gelernt auf Bali?

Als ich im Maerz 2006 nach Bali uebersiedelte, kam ich mit einigen Wuenschen und Erwartungen des Weges: exotische Natur, farbenfrohe Zeremonien, spirituelle Weiterungen, anschmiegsame Frauen, erfuellendes Kunstschaffen, angenehme Temperaturen, niedrige Ausgaben, einfaches Leben. Nichts hat so erfuellt, wie ich mir das ausgedacht hatte.
Statt dessen hat sich etwas entwickelt, woran ich nie mehr gedacht hatte - es war mir kein Anliegen gewesen. Fernab von Deutschland, aber mit ihm durch intensive Zeitungslektuere und Briefwechsel weiterhin verbunden, aus einem anderen Blickwinkel gesehen und im Alltag nicht mehr direkt betroffen entwickelte sich eine kritisch-liebevoller Position Deutschland und den Deutschen gegenueber. Meine balinesische Frau regte mich zu Vergleichen an, wie die Dinge in Deutschland funktionieren, oder eben nicht, im Gegensatz zu Indonesien.
Nach und nach gab ich meine grundsaetzlich distanzierte, abschaetzige oder herabwuerdigende Haltung auf, die fuer uns 68er die Grundvoraussetzung unseres politischen und persoenlichen Selbstverstaendnisses war: lieber heimat- und sanitaetslos als deutsch. Eine Haltung, die uebrigens unter den grundsaetzlich nationalistisch-chauvinistisch-patriotischen Indonesiern auf kein Verstaendnis stoesst. Bei den Balinesen auf noch viel weniger.
Was soll ich sagen? Bei allen Maengeln, bei allen Ungerechtigkeiten, bei allen Vertuschungen und Verlogenheiten, bei allen strukturellen und kaum loesbaren Problemen, ist nach seiner Wiedervereinigung ein Deutschland entstanden, auf das ich heute stolz bin. Heute freue ich mich darueber und bin zufrieden damit, Deutscher zu sein. Und ich kann den Respekt und die Achtung annehmen, die man den Deutschen in entgegenbringt. Den deutschen Fussballer im Besonderen.
Das habe ich auf Bali gelernt.



Wer, wenn ich schriee ...

Ohne irgendwelche Erwartungen kramte ich in einem Karton, der sich in einem groesseren Karton befand. Der groessere der beiden war einer der Umzugskartons, in denen ich einen Grossteil meiner beweglichen Habe von Ferch am Schwielowsee im Landkreis Potsdam-Mittelmark auf die lange Seereise nach Jakarta/Java, Indonesien, geschickt hatte. Dort mussten sie eine tagelange Verschnaufpause einlegen, bis sich die raffgierigen Zoellner mit meiner - nicht minder raffgierigen - idonesischen Speditionsfirma darauf einigten, wie meine Habe als Ganzes zu betrachten und zu bewerten sei und wieviel Zoll dafuer faellig werden koennte und wie hoch ihre Anteile ausfallen koennten, die sie unter der Hand von meiner Zahlung abzweigen und in ihren persoenlichen Taschen verschwinden lassen koennten. Dabei war ich bereits der Empfehlung gefolgt, meinen Umzugscontainer nicht beim Zoll in Surabaya/Java, Indonesien, abfertigen zu lassen, weil dort die Zoellner – verwoehnt durch den massenhaften illegalen Umschlag illegal gefaellter Baumriesen aus Borneo und Sumatra – in ihrer Geldgeilheit fast grenzenlos seien.
Da ich jeden Karton umsichtig und gewissenhaft beschriftet und fuer den Zoll eine detaillierte Liste angefertigt – die dieser nachweislich keines Blickes gewuerdigt, geschweige denn ueberprueft – hatte, war es weniger muehsam als ich dachte, die ueber 90 Kartons wieder auszupacken und deren Inhalte, zusammen mit den vielen unverpackten Gegenstaenden auf alle Raeume meiner zukuenftigen Bleibe auf Bali, in Kalibukbuk, Lovina, zu verteilen.
Der Mensch waere kein solcher, wuerde nicht auch die hurtigst fliessende Energie und die groesstmoegliche Konzentration nach einigen Tagen dem Gefuehl einer Vorform zufriedener Erfuelltheit weichen; das heisst: Lust und Wille zum Auspacken und Einraeumen schwaechten sich deutlich ab und erlahmten eines Tages ganz. Der Toaster, der Quirrl zum Schlagen der Milch fuer den Cappuccino und der Holzblock mit den verschieden grossen und verschieden schweren Kuechenmessern standen da, wo sie in Zukunft immer stehen sollten, Computer und Laptop waren installiert, Hand- und Badetuecher lagen bzw. hingen, und in der vorlaeufigen Werkstatt waren Handkreis- und Stichsaege, verschiedene und verschieden grosse Haemmer, die Bohrmaschinen nebst Bohrer, die Winkelschleifer und Oberfraesen – also all die schoenen elektrischen Power Tools und alle Handwerkzeuge und Materialien – uebersichtlich untergebracht. Was fuer ein Genuss fuer mich, einem erst spaet in eine inzwischen geradezu zwanghafte Ordnungsliebe Hineingewachsenen.
Nur in einer merkwuerdigen Nische, die sich ergeben hatte, als die Hausbesitzer an das bestehende Wohnhaus einen Anbau eher flickten als fuegten, in dem sich nun die Kueche, ein zweites Badezimmer, ein Schlaf- und Aufenthaltsraum fuer das Personal und ein grosser T-foermiger Raum, der meine Werkstatt und mein „Studio“ sein wuerde, befanden. In diesem Bauherrenfurz von Nische stapelten sich noch mehrere unausgepackte Kunststoff- und Lederkoffer und eben der eingangs beschriebene vergessene, einsame Umzugskarton. Ausserdem eine komplette, fast noch neue, Campingausruestung, die wir noch vor wenigen Monaten fuer unsere gemeinsame grosse Reise nach Italien, Griechenland und Kreta angeschafft hatten.
Ich griff mir also den Umzugskarton – und ich bleibe dabei: ich hatte keinerlei Erwartungen und ich hatte keinerlei Vorstellungen, was ich in Ferch am Schwielowsee in den Karton in dem Karton gepackt hatte. Also machte ich keine grosses Gewese darum, als ich den Deckel des Kartons in dem Karton oeffnete und hineingriff um herauszuholen, was darin verpackt war. Es haette nichts Absonderlicheres sein koennen, besonders hier nicht, auf Bali. Unter vielen anderen gedruckten, gezeichneten, gemalten, fotografierten Erinnerungsstuecken waren sieben Drucke mit Gedichten von Rainer Maria Rilke. Was sage ich, Drucke. Es waren sieben aussergewoehnliche typographische Illustrationen in Verbindung mit sorgfaeltig, in traditionellem Handsatz gesetzten Gedichten, beides zusammen auf glatten oder strukturierten Papieren auf einer Handpresse gedruckt – ein weicheres Blatt von hoeherem Papiergewicht sogar gepraegt - und fein in einem Umschlag aus leichtem Karton zusammengetragen. Der Umschlag war und ist schwarz - einem elegant mattem Schwarz – und ist auf seiner Vorderseite mit Versalbuchstaben bedruckt: Futura schmalfett, linksbuendig angeordnet, Flattersatz; die ersten beiden Zeilen in rot, die dritte in weiss:

RAINER MARIA
RILKE
GEDICHTE

steht da. Weshalb ich die Mappe, ihr Aussehen und ihren Inhalt so genau beschreiben kann? Ganz einfach: die Blaetter sind die Drucke einer Arbeit, die ich mir als 18jaehriger Schriftsetzerlehrling im dritten Lehrjahr ausgedacht, gestaltet und ausgefuehrt habe. Es sind die einzigen Drucke, die ich noch besitze. – Daneben gibt’s noch einige Seiten zu Schillers ‚Wallensteins Lager’ und zu Saint-Exuperys ‚Nachtflug’.
Wer micht kennt, weiss, wie schnell ich angeruehrt werden kann, sentimental koennte man abschaetzig sagen – und manche sagen das auch. Sei’s darum: ich war einfach geruehrt und erfreut und ich war mir gleichzeitig sehr bewusst darueber, dass hier ein Stueck meiner Vergangenheit und meines Weges als Gestalter und Kuenstler vor mir lag. ‚Aussergewoehnliche typographische Illustrationen’ schrieb ich weiter oben. Aussergewoehnlich auch deshalb, weil es mein erster Versuch als Buchillustrator war. Buchumschlaggestalter war ich – wenn auch eher zufaellig – bereits mit fuenfzehn. Buchillustrationen - mit ganz anderen Mitteln erstellt als damals - reiche ich heute nach; 50 Jahre spaeter.
Die erste der ‚Duineser Elegien’ hat mich also bereits als 18jaehriger ergriffen – ein erstes Anzeichen fuer meine manisch-depressive Erkrankung? Auch heute noch beruehrt mich der Text. Auf meine aelteren Tage und als mehr oder weniger selbstbestimmter, auf jeden Fall au’sser Konkurrenz laufender l’art-pour-l’art-Kuenstler, noch dazu auf Bali, komme ich mit meinen manisch-depressiven Schwankungen gut zurecht – nunmehr ohne Psychotherapie und ohne Medikamente. Und nach 50 Jahren der Suche nach einem vaeterlichen Gott, einem starken Vater, einem Meister oder wenigstens einem grossen, weisen Bruder bin ich wieder beim Hausmacher-Atheismus angekommen und beim Existenzialismus fuer Anfaenger, beim Sisyphismus als Lebensaufhabe und Lebenszweck - zusammengefasst im ‚Wer, wenn ich schriee, hoerte mich denn ...’
Weil es so schoen ist, setze ich den Rilketext noch einmal ab: nicht aus der Weiss-Antiqua, nicht aus Einzelbuchstaben aus Blei, Antimon und Zinn, nicht in einem Winkelhaken wie 1961/62, ohne Spatien zum Ausgleichen der Versalbuchstaben in der Ueberschrift und ohne Regletten fuer die Abstaende zwischen den Zeilen und zwischen den Absaetzen. Nein, jetzt geht das ganz hurtig auf dem Laptop namens Acer Aspire 5315 - aus der 11./13. Times New Roman, Laufweite +./.0, verschmaelert auf 90%, allerdings ohne die Umlaute und ohne das deutsche scharfe S beziehungsweise Sz. Also:

DUINESER ELEGIEN
ERSTE ELEGIE

Wer, wenn ich schriee, hoerte mich denn aus der Engel
Ordnungen? Und gesetzt selbst, es naehme
einer mich ploetzlich ans Herz: ich verginge von seinem
staerkeren Dasein. Denn das Schoene ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmaeht,
uns zu zerstoeren. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermoegen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menchen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
dass wir nicht sehr verlaesslich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, dass wir ihn taeglich
wiedersaehen; es bleibt uns die Strasse von gestern
und das verzogenen Treusein einer Gewohnheit,
der er es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.
O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum
uns am Angesicht zehrt -, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,
sanft enttaeuschende, welche dem einzelnen Herzen
muehsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.
Weisst du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Raeumen hinzu, die wir atmen; vielleicht dass die Voegel
die erweiterte Luft fuehlen mit innigerem Flug.
Ja, die Fruehlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche
Sterne zu dir, dass du sie spuertest. Es hob
sich eine Woge heran im Vergangenen, oder
da du vorueberkamst am geoeffneten Fenster,
gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.
Und so weiter ...



Wo er Recht hat, hat er Recht

In ‚Totem und Tabu’ schreibt Sigmund Freud:
Weder die Angst noch die Daemonen koennen in der Psychologie als letzte Dinge gewertet werden, die jeder weiteren Zurueckfuehrung trotzen. Es waere anders, wenn die Daemonen wirklich existierten; aber wir wissen ja, sie sind selbst wie die Goetter Schoepfungen der Seelenkraefte des Menschen; sie sind von etwas und aus etwas geschaffen worden.


Wo geht’s denn hier zur deutschen Leitkultur?

Kultur ist etwas, was nur Menschen hervorbringen koennen. Kultur steht immer im Gegensatz zu Natur. Kultur beschreibt den Umgang mit der Natur, zum Beispiel in der Land- oder Forstwirtschaft. Kultur beschreibt die Pflege der Schaetze der Natur, aber auch die Koerperpflege. Kultur setzt die Existenz einer Sprache voraus, die innerhalb eines Siedlungsgebietes verstanden und gesprochen wird. Kultur ist der rituelle oder auch nur unterhaltungsmaessig-dekorative Selbstausdruck von Menschen in Architektur, Bildender Kunst, Theater, Film, Musik oder Tanz. Kultur kann auch beschreiben, was und wie man isst und trinkt oder wie man in der Politik, am Arbeitsplatz oder beim Sport miteinander umgeht. Kultur – und ist der Begriff auch noch so weit oder diffus gefasst – wirkt grundsaetzlich identitaetsstiftend: deutsche Kultur, Unternehmenskultur, politische Kultur, kulturell wertvoll, Kulturschaffende, Kulturgut.
Ob religioese Glaubenssysteme, die ja auch von Menschen hervorgebracht wurden, selbstverstaendliche Teile von Kulturen sind, ist nicht leicht zu beantworten. Allerdings hat die Verbreitung der sogenannten Weltreligionen in unterschiedlichen geographischen Regionen vorherrschende und praegende Verbindungen zwischen Land, Religion und Kultur entstehen lassen: Europa, Nord-, Mittel- und Suedamerika und Australien sind ueberwiegend christlich gepraegt; der Nahe Osten, Nordafrika und Teile Suedostasiens und Asiens sind islamisch; Indien ist mehrheitlich hinduistisch; China ist offiziell atheistisch, gleichzeitig aber auch taoistisch-konfuzianistisch; viele asiatische Laender sind buddhistisch oder es gibt darin groessere buddhistische Bevoelkerungsanteile.
Die meisten Gesellschaften, wie sich heute darstellen, sind ein Zwischenergebnis von unfreiwilligen, freiwilligen, geplanten oder chaotischen Wanderungen von Menschen. Klimatische Veraenderungen, Kriege und Eroberungszuege, Sklavenhandel, die Suche nach Ueberlebens- oder besseren Lebensbedingungen, geopolitische Veraenderungen, internationaler Handel, Wissens- und Technologieaustausch waren und sind in der Menschheitsgeschichte Anlass zu Wanderbewegungen jeder denkbaren Art und Weise. Auch in juengster Zeit spielen „grenzueberschreitende“ Armutswanderungen und Fluechtlingswanderungen aus Kriegs- und Krisengebieten eine grosse Rolle.
Und wie der Mensch einmal ist: er wandert nicht nur, nein, er setzt sich nieder, er laesst sich nieder, sucht und findet eine(n) PartnerIn, hat Sex und vermehrt sich. Er versucht, sich seiner Umgebung anzupassen ohne einige ihm ganz besonders wichtigen Dinge aus seinem alten Leben, aus seiner alten Heimat, aufzugeben. Er feiert zwar ein ‚Little Octoberfest’ in Fort Wayne, Indiana, und hat trotzdem das Gefuehl, in der neuen Heimat USA dazuzugehoeren. Nach zwei Generationen erinnern sich die Enkelkinder oft nicht mehr sehr deutlich, aus welcher Ecke der Welt der Grossvater einst eingewandert ist.
Mit seinem urspruenglich nur fuer (west)deutsche Buerger geschaffenem, fein ausbalanziertem und kostspieligem Netz sozialer Sicherheit, seiner leistungsfaehigen Wirtschaft, besonders der Exportindustrie, die auf guter Ausbildung, Effizienz, Erfahrung, Produktivitaet, Wettbewerbsfaehigkeit und im Wesentlichen noch immer auf einer einigermassen funktionierenden Sozialpartnerschaft beruht, ist etwas entstanden, was man als typisch deutsch bezeichnen koennte: der Stolz auf einen sozialen und materiellen Besitzstand, der auch heute noch fuer viele Menschen auf der Welt vorbildhaft und erstrebenswert ist.
Diesen Besitzstand zu teilen, machte schon nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Integration der durch und durch deutschen Fluechtlinge aus dem Osten Schwierigkeiten, dann wieder im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung der beiden Deutschland. Den Besitzstand zu teilen, erzeugt auch Widerstand bei den zu erbringenden Leistungen fuer deutsche Sozialhilfeempfaenger, noch mehr bei Empfaengern aus anderen Laendern, und faellt seit Jahren – und heute mehr denn je – bei deutschen Buergern auf wenig Gegenliebe. Aktuell zeigt sich das wieder bei der notwendigen Unterstuetzung von mehr oder weniger bankrotten Mitgliedslaendern der Europaeischen Gemeinschaft. Dass Deutschland ueber lange Zeitraeume in der Lage war, solche finanziellen Belastungen ueberhaupt zu verkraften – trotz der hohen Kosten des Wiederaufbaus nach 1945, trotz der Wiedervereinigung, trotz globaler Finanzkrisen, trotz fast schon zyklischer Rezessionen und zwischendurch hoher Arbeitslosigkeit, bis zu fuenf Millionen, hat bei den Deutschen einen Gewoehnungsprozess in Gang gesetzt, beziehungsweise vertieft, der letztlich auf den gemachten Erfahrungen basiert: ‚Wir Deutsche sind die Melkkuh fuer Viele und Vieles - aber wir schaffen das schon.’
Es ist wohl ein Teil des deutschen Selbstverstaendnisses, dass auch schlimmste Zusammenbrueche und haerteste Belastungen durchgestanden und ueberwunden werden koennen. Nicht so demuetig wie die Japaner, aber standfester als die Griechen. Eben auf deutsche Art und Weise.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die bestaendige Furcht der Deutschen vor Ueberfremdung und der Uebervorteilung durch schmarotzende Auslander und, seit 2001, besonders durch Menchen islamischen Glaubens. Das ist mit Sicherheit keine ausschliesslich deutsche Angst. Es gibt noch immer den Weg zu einem vereinten Europa. Und es gibt die zahlreichen ins Land geholten Arbeitskraefte, die sich von „Gaesten“ zu „Deutschen mit Migrationshintergrund“ entwickelten. Diese beiden Entwicklungen zwangen die demokratischen Parteien, ihre Positionen zumindest gegenueber den europaeischen Auslaendern zu ueberdenken und zu liberalisieren.
Dann kamen und kommen auch Menschen aus aussereuropaeischen Laendern als politische oder als Wirtschaftsfluechtlinge diffamiert, nach Europa und nach Deutschland. Und auf einmal gab es wieder das altbekannte Suendenbocksyndrom: die Angst vor Ueberfremdung und Uebervorteilung, vor hoher Arbeitslosigkeit, vor Defiziten bei den Renten- und Krankenkassen oder dem Ansteigen von kriminellen Delikten im Allgemeinen und von Jugendkriminalitaet im Besonderen, konnte auf einmal auf eine bevorzugte Bevoelkerungsgruppe bezogen werden: auf die Auslaender. „Die Auslaender“ wurde als diejenige Bevoelkerungsgruppe ausgemacht, die mehr oder weniger systematisch Deutschland und die Deutschen ausbeutet und schliesslich alles Deutsche zerstoert. Herr Sarazin hat sich in diesem Zusammenhang als besonders schlimmer Wortfuehrer und Rattenfaenger hervorgetan.
Aber geradezu reflexhaft wurde daraufhin – besonders in der rechten Mitte und rechts des politischen Spektrums – eine wenig ergiebige Grundsatzdebatte angestossen, im Fruehstuecksfernsehen und in den verschiedensten Talkshows vertieft: Was ist die deutsche Leitkultur? Oder: Was ist des Deutschen Leitkultur?
Weil sich andere, offenbar dringlichere Probleme in den Vordergrund schoben, versandelte diese Diskussion wieder, ohne die beiden Fragen abschliessend und ueberzeugend beantwortet zu haben. Wenn ich heute von Bali nach Deutschland schaue, sehe ich schon Dinge, die mir spezifisch deutsch vorkommen. Aber auch wieder nicht so ausschliesslich deutsch, dass sie nicht auch in Belgien, Tschechien, Polen, England oder Nordfrankreich vorkommen wuerden. Ein wesentlicher Unterschied scheint zu sein, dass Deutsche alles, was sie tun, mit mehr Ernst, oft sogar Verbissenheit tun, mehr auf Tempo und Effizienz ausgerichtet, denn auf Muse. Aber sonst?
Da ich weiss, dass eine solche Anwort nicht wirklich befriedigt, habe ich eine kleine Liste von Dingen zusammengestellt, die das Zusammenleben von Deutschen und Auslaendern in Deutschland weniger problematisch gestalten koennten.
Alle in Deutschland dauerhaft lebende Menschen sollten
- Deutsch als gemeinsame Hochsprache sprechen, auch verbunden mit unterschiedlichen
regionalen Dialekten;
- der demokratischen Ordnung zustimmen, wie sie im Grundgesetz verfasst ist;
- wissen und praktizieren, dass Regierungen gewaehlt und abgewaehlt werden koennen;
- wissen und praktizieren, dass fundamentale Menschen- und Buergerrechte
im deutschen Grundgesetz verankert sind;
- die Rechte und Pflichten, Moeglichkeiten und Unmoeglichkeiten in einer pluralistisch-
demokratischen Gesellschaft kennen und sich danach richten;
- das Fuersorgerecht und die Fuersorgepflicht des Staates kennen und anerkennen;
- Lern- und Entwicklungsmoeglichkeiten durch Schulen und Hochschulen oder durch eine
Qualifizierte Berufsausbildung nuetzen;
- wissen und anerkennen, dass Deutschland und Europa wesentlich durch das Christentum
gepraegt worden sind;
- wissen und anerkennen, dass in Deutschland niemand durch seine Religionszugehoerigkeit
Nachteile entstehen duerfen.
Der Begriff „Kultur“ taucht in dieser Liste nicht auf.


ZZweitausendzwoelf - der Mayakalender und
die voraussichtlichen Trinkwasserprobleme in Ubud

Eine Gruppe von vorwiegend weissen Auslaendern in Ubud beschaeftigte sich mit den katastrophalen Ereignissen, wie sie in einem Mayakalender angeblich prophezeiht werden. Die Gruppe nennt sich ‚Noosphere’ und basiert auf Gedanken des Teilhardt de Chardin und eines Maya-Kalender-Forschers namens Jose Arguelles (Galactic Resaerch Institute).
Nach meinen Erfahrungen aus den 1970er und 1980er Jahren stehe ich heute esoterischen Gruppen und Endzeit-Hysterien grundsaetzlich distanziert gegenueber. Aber man lud mich zu einer ersten Nosphere-Sitzung in Ubud persoenlich ein – was mein Ego pinselte – und ich wollte herausfinden, was das fuer Menschen waren, die sich zu so einem Treffen einfanden. Ich empfand die dort verbrachten Stunden eher anstrengend als unterhaltsam, allerdings lernte ich dadurch, dass es eine andere Gruppe gibt, die seit ueber dreissig Jahren damit beschaeftigt ist, insbesondere Java und Bali mit Bambus aufzuforsten. Das klang vernuenftig – aber das Programm kommt nicht voran, weil die indonesischen Behoerden den Bambus nicht den Baeumen, sondern den Graesern zuordnet und Graeser einfach keine foerderungswuerdigen Forstpflanzen sind. Ergebnis: es wird wenig aufgeforstet, weder mit behoerdlich als solche anerkannten Baemen noch mit behoerdlich nicht als Baeume anerkanntem Bambus.
Was ich ausserdem kennenlernte war der Umstand, dass eine Reihe von Gruppenteilnehmern in einem Katastrophenfall (siehe Maya-Kalender, 21. Dezember 2012) eine geordnete Wasserversorgung durch kommunale oder regionale Brunnen nicht mehr gewaehrleistet sieht. Um mehr Daten und Fakten zu diesem Thema zur Verfuegung zu haben, verpflichteten sich die Teilnehmer, Recherchen in ihrer Umgebung durchzufuehren, beispielsweise durch Befragungen in ihrem eigenen ‚Banjar’ undsoweiter, und Loesungsvorschlaege fuer eine individuelle beziehungsweise dezentrale Wasserversorgung im Katastrophenfall zu erarbeiten.
Ich hatte mich bereits waehrend dieses ersten Treffens entschieden, an weiteren Treffen nicht mehr teilzunehmen. Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass mich das Gruppen-, oder wie es jetzt heisst Community-Gehabe inzwischen fremd geworden ist und nicht mehr anzieht – war ich doch frueher ein ausgepraegter Gruppenmensch gewesen.
Allerdings wollte ich einen kleinen Betrag leisten und Hausaufgaben zum Thema Trinkwasser machen. Hier sind die knappen Informationen, die ich der Schriftleiterin von Noosphere zuschickte:
1. Als Auslaender kann ich kein Mitglied eines Banjars sein bzw. werden. Meine balinesische Frau Komang schon, aber nicht ausserhalb ihrer Heimatgemeinde. Das bedeutet, das wir im Bedarfsfall keine verpflichtete Unterstuetzung durch den Banjar Ubud-Kelod erwarten koennen.
2. Wir haben Zugang zu Wasser durch unseren Hausbrunnen. Mit einer Elektropumpe wird das Wasser bei Bedarf in einen Hochbehaelter gepumpt; der Behaelter ist im Speichergeschoss unseres Hauses untergebracht ist. Von dort wird das Wasser ueber ein entsprechendes Leitungssystem im Haus verteilt. Bei anhaltendem Stromausfall koennten wir die Wasserpumpe durch eine Handpumpe ersetzen. Wir nutzen dieses Wasser fuer alles – allerdings trinken wir es nicht. Trinkwasser kaufen wir in den handelsueblichen 19-Liter-Behaeltern. Eine Handpumpe und eine dazugehoerige Installation haben wir bislang nicht.
3. Meine balinesische Schwiegermutter im Weiler Winggin, Kalibukbuk, Lovina, bereitet taeglich die Menge an Trinkwasser vor, die von der Familie erfahrungsgemaess verbraucht wird. Dazu entnimmt sie das Wasser ihrem Hausbrunnen und kocht es ab. Sie kocht das Wasser auf einem Holzfeuer ab. Ich weiss im Moment nicht genau, wie lange sie das Wasser kocht. Soviel ich weiss, muss Wasser zwanzig Minuten gekocht werden (sprudeln), bis es tatsaechlich steril ist. Soweit mir bekannt ist, kam es im Haus meiner Schwiegereltern noch nie zu Krankheiten, die auf Bakterien im Wasser zurueckzufuehren waren.
4. Man muss Wasser nicht ueber einem Holzfeuer oder mit Hilfe von Gas oder elektrischem Strom abkochen, um es keimfrei zu machen. Es gibt inzwischen viele effiziente Solarkocher im Markt. Man kann aber leicht einen oder mehrere Solarkocher selbst bauen. Anleitungen dazu findet man im Internet. Damit kann man Trinkwasser mit sauberer und kostenloser Sonnenenergie sterilisieren. Was man zur Ausbewahrung des sterilen Wassers allerdings weiterhin braucht, sind die grossen 19-Liter-Plastikbehaelter, wie sie von den kommerziellen Wasserlieferanten angeboten werden.
Eine nicht-offizielle Stellungnahme sagt voraus, dass es auf Bali ab 2015 massive Probleme in der Versorgung mit Trinkwasser geben wird.



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Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011

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