Ein Bayer in Rom -
Wie der Hinterbichler Wiggerl nach Italien fuhr, um dort den Heiligen Vater aufzusuchen
Das Dorf, in dem ich fast fuenfundzwanzig Jahren lebte - zuerst nur an den Wochenenden und kurzen Urlauben, dann sechzehn Jahren lang als meinem einzigen Wohnsitz -, liegt haarscharf an der Grenze zwischen Ober- und Niederbayern. Tatsache ist, und das wissen die meisten heute nicht mehr, dass Altoetting - und auch mein Dorf - bis zu der grossen Gemeindegebietsreform von 1924 zu Niederbayern gehoerte. Zu jenem Niederbayern also, dessen Maenner im Hosensack immer ein feststehendes Messer und einen Rosenkranz mit sich tragen, so behaupten es die Geruechte, und deren Autokennzeichen mit der eigentlich unverdaechtigen Buchstabenkombination PAN von verleumderischen Menschen, von denen es ja noch immer so viele gibt, mit „Pass Auf, Niederbayer“ uebersetzt wird.
Also, wie gesagt, seit 1924 gehoert das Dorf zu Oberbayern, dem - wie der Name schon sagt - oberwertigen Bayern. Der Ober sticht den Unter, heisst die eherne Regel - nicht nur beim Kartenspiel. Dieser Aufwertung begegnet man auch heute noch in diesem Dorf - fuenfundsiebzig Jahre spaeter - auf Schritt und Tritt: gibt es im Niederbayerischen vieles gar nicht, gibt es in diesem Dorf manches gleich dreimal und vieles bestimmt zweimal. Nur selten gibt es etwas nur einmal - zum Beispiel gibt es in dem Dorf nur eine Apotheke. Auf diesem Gebiet herrschen dann - folgt man obenstehender Behauptung - schon wieder, oder immer noch, niederbayerische Verhaeltnisse. Koennte man so sagen. Oder?
Also: es gibt zwei Baeckereien - eine mit einfaeltigeren, die andere mit vielfaeltigeren Back- und Konditoreiwaren; zwei Haushaltswarengeschaefte, deren Besitzer verwandt und bereits in zweiter Generation miteinander zerstritten sind; zwei Tankstellen, von denen eine der Raiffeisenbank gehoert und in der auch der neumodische Biosprit gezapft werden kann und die der anderen, von einer Familie betriebenen, langsam aber sicher die Luft abdrueckt; eine Raiffeisenbank mit einem angegliederten Lagerhaus und - neuerdings - einem Getraenkemarkt und der eben schon beschriebenen Tankstelle und eine kleine Filiale der Kreissparkasse Altoetting; eine Anmerkung zu den real extistierenden Machtverhaeltnissen zwischen den beiden Geldinstituten im Dorf eruebrigt sich.
Es gibt fuenf Wirtshaeuser: eines mit Metzgerei, Saal und Fremdenzimmern; eines mit einer angeschlossenen kleinen Privatbrauerei; eine Fussballerwirtschaft, fuer die im dichten Zigarettenrauch geselchten Schluckspechte (geselcht steht fuer "geraeuchert", und "gselchte Wuidsau" ist ein Schimpfwort und bedeutet "geraeuchertes Wildschwein". Altgewordene Stenz'n gehen in ein Pilspub mit dem anheimelnden Namen "G'woelberl", und im sogenannten "Babylon" praktizieren spaerlich bekleidete Go-go-Girls das seit Generationen mit dem bayerischen Brauchtum verwachsene "Table-Dancing". Besonders dann, wenn das Auge des Gesetzes einmal nicht besonders wachsam ist oder einfach in die verkehrte Richtung schaut, lassen die Girls so manche Huellen fallen - heisst es, ja, die Leute tratschen. Vom Babylon aus werden besonders stark alkoholisierte Gaeste mit einem Privat-Taxi nach Hause chauffiert. Und dann gibt es noch "den Klaus", der in seiner bayerisch-italienischen Pizzeria "Calimero" mit grossen, deftig gewuerzten Portionen den etwas exotischeren Hunger zu durchaus reellen Preisen stillt. Ja, auch die Menschen an der Grenze zwischen Ober- und Niederbayern haben zwischendurch Gelueste nach etwas Exotischem.
Es gibt den Papierladen "Kunterbunt", der gleichzeitig Postagentur ist. Die Postagentur hat eigenartige, kundenfeindliche Oeffnungszeiten, dafuer werden staendig die Preise fuer die Dienstleistungen der Post angehoben. Drei Aerzte hat das Dorf, von denen der eine schon laengst seine Zulassung haette zurueckgeben sollen - aus Altersgruenden. Aber der Geldbedarf seiner Familie sei eben so gross, sagen die Leute ...
Eine spaetgotische Kirche ist dem heiliggesprochenen Sankt Martin geweiht. Der Namenspatron gibt den Anlass, dass jaehrlich am 11. November, dem Martinstag, in aeusserst dramatischer Form an das Gutmenschliche im Heiligen gedacht wird. Mit einem echten Ross und einen ueberaus naturalistisch wirkenden Bettler, den der alte Baeckermeister Gassner solange spielte, bis ihn seine Krankheit endgueltig ans Bett fesselte, und einem strammen Polizisten, Frauenfreund und Mitglied des doerflichen Tennisclubs und der regionalen Reitervereinigung, der jedes Jahr ueberzeugend - wenn auch sehr vom hohen Ross herab - in christlicher Naechstenliebe seinen wertvollen Umhang mit dem frierenden Bettler teilt. Unser Martin gibt mehr den Sohn eines roemischen Tribuns, den Soldaten seiner jungen Jahre, als den asketischen und spaeter heiliggesprochene Moench und Bischof Martin von Tours.
Das Pfarramt ist ueber die Martinskirche hinaus fuer den Erhalt und die Pflege von sage und schreibe fuenf kleineren Filialkirchen verantwortlich; das strapaziert mitunter heftig die Geldbeutel der Dioezese, des Pfarramts, der Gemeindeverwaltung, der Dorfgemeinschaft, der Pfarrgemeindemitglieder und mancher privater Geldgeber.
Zwei Kfz-Mechaniker legen Hand an unterschiedlich reparaturduerftige Fahrzeuge, ein Indianerladen sorgt fuer kulturellen Transfer aus dem Westen, ein von Japanern eingerichtetes Zenkloster in nur wenigen Kilometern Entfernung fuer desgleichen aus dem Osten, und die dem roemisch-katholischen Pfarramt unterstehende Gemeindebuecherei wiederum sorgt fuer kulturelle Ausgeglichenheit. Der doerfliche Kindergarten in dem neu erbauten, modernen Gebaeude ist dafuer verantwortlich, dass die Maedchen und Buben aus dem Dorf - "unsere Zukunft", wie sie bei oeffentlichen Ansprachen haeufig genannt werden - andersartigen kulturellen Lockungen und Verlockungen, als denen aus der christlich-sozialen Mitte, nicht zu haeufig unterliegen.
Es gaebe noch manch anderes ueber das Dorf zu berichten, ueber die Karrersaege, die Pferdeanhaenger-Vertriebsfirma, den jungen Sattlermeister, der sich erst kuerzlich mit einer Werkstatt und einem Ladengeschaeft selbstaendig machte, ueber die Schwester des Braumeisters, die ein florierendes Kurzwarengeschaeft betreibt, ueber Bierflaschen mit Schnappverschluessen aus verzinktem Draht, die sogenannten "Maurerflaschl", ueber die Frau des Elektromeisters, die ein kleines, aber wohlsortiertes Elektrofachgeschaeft unterhaelt und gleichzeitig Anlaufstelle fuer ungeduldige Kunden ist - denn bei aller Liebe zur Technik: ein Funkgeraet oder ein neumodernes Haendy hat sich besagter Elektromeister bis heute nicht zulegen moegen. Er scheut aus guten Gruenden das, was fuer andere heutzutage so wichtig geworden ist: die lueckenlose Erreichbarkeit. Ueber den Edeka-Markt waere noch zu sprechen, der in ein entkerntes Jugendstil-Gasthaus hinein erweitert wurde, damit er seine Kundschaft jetzt mit einem "Vollsortiment" begluecken kann - was auch immer das bedeuten mag, oder ueber die Stoiber-Resi, bei der man ausserhalb der gesetzlich genehmigten Ladenoeffnungszeiten noch geschwind das eine oder andere einkaufen und nach Hause tragen kann. Ueber all das liesse sich - wie gesagt – noch vieles genau berichten. Aber ...
So - das war jetzt die etwas langatmige Hinfuehrung auf die beiden bislang noch nicht erwaehnten Dienstleister am Ort, von denen der eine im weiteren Verlauf der Geschichte eine nicht unerhebliche Rolle spielen wird.
In mehr staedtisch anmutenden Siedlungsgebieten wuerden diese beiden Dienstleister vielleicht "Silvia's Beauty Shop", Cleo's Hair Styling" oder "Harry's Mastercut" heissen. In dem Dorf gehen sie noch schlicht als Friseursalons durch. "Friseursalon Marlene" heisst der eine und "Kratzner - Ihr Friseursalon" der andere. Zu Marlene gehen vorwiegend Frauen vor einer Hochzeit, einer Taufe oder Firmung, oder wenn sie als Fahnenjungfrauen oder Fahnenmuetter unter die Augen einer vermeintlich bedeutenden und kritischen Oeffentlichkeit zu treten haben. Oder einfach so, um sich mit "gemachten Haaren" wieder einmal besser zu fuehlen. Zum Kratzner, dem alteingesesseneren Etablissement von beiden, gehen die Frauen wohl aus den gleichen Gruenden. Aber hier geben sich auch die Herren der Schoepfung die Ehre. Diese werden nicht nur fachmaennisch rasiert, und es wird ihnen nicht nur das Haupthaar geschnitten und die Haare in den Ohren und den Nasenloechern, nein, es werden waehrend des Haarschnitts oder der Rasur - beziehungsweise waehrend des Wartens auf diese maennlich-intimen Dienstleistungen - wichtige Informationen und Meinungen ausgetauscht. Wie beim Stammtisch auch. Und wie beim Stammtisch kann es auch beim Kratzner manches Mal recht hoch hergehen. Der Kratzner Hermann ist naemlich nicht nur Friseur und - zusammen mit Maria, seiner Frau - Inhaber des Salons, nein, er ist auch Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr am Ort und somit eine wichtige Persoenlichkeit des oeffentlichen Lebens. Deshalb ist er kompetenter Ansprechpartner und Ratgeber in vielerlei Angelegenheiten, und deshalb gehen die Maenner im Dorf gern zum Kratzner.
So. Um die Geschichte allmaehlich in die Gaenge zu bekommen, muss jetzt, langsam aber sicher, der Wiggerl die Buehne unserer altbayerisch-doeflichen Inszenierung betreten. Der Wiggerl ist ein gewichtiges Mitglied eines der grossen Familienklans, die seit Menschengedenken das Leben im Dorf und um das Dorf herum bestimmen und mitbestimmen. Ein Bauer ist er, ein Landwirt - wie man heutzutage sagt - der stattlich, stolz, kraeftig, geschickt, intelligent, zaeh, gottesfuerchtig, schlau, erzkonservativ und politisch tiefschwarz ist und in seinem Einoedhof auf einem Moraenenhuegel hoch ueber dem Dorf drohnt. Ein Bauer, der aus Biomasse Prozesswaerme erzeugt, der mit Hilfe eines selbstkonstruierten und selbstgebauten grossen Windrades elektrische Energie gewinnt und den Ueberschuss gewinnbringend ins Netz des regionalen Stromversorgers einspeist, ein Mensch, der zum Schutz seiner engeren Familie und dem seiner weitschichtigeren Verwandtschaft einen Atomschutzbunker gebaut hat und diesen - wenn auch nicht besonders geschmackvoll - ueberaus funktionell und komfortabel eingerichtet hat und der sich neben seinem tiefverankerten roemisch-katholischen Glauben noch den Glauben an die geheimnisvollen Weissagungen des „Muehlhiasl“, des „Irlmeier“ und des „Nostradamus“ und anderer regional und international bekannter Hellseher bewahrt hat.
Dieser besagte Mensch, der Steinberger Wiggerl - Steinberg ist der Hofname und zugleich der Name der Einoede - begibt sich von Zeit zu Zeit hinunter ins Dorf und laesst sich die Haare schneiden. Nicht bei der Marlene - selbstverstaendlich nicht - sondern beim Kratzner. Rasieren tut er sich zu Hause. Das kann er alleine. Beim Kratzner wird ueber dies und das geredet und und gefachsimpelt. Wie man das halt so tut. Das kann er nicht alleine. Dazu braucht er Gesellschaft. Maennliche Gesellschaft. Die Gesellschaft gestandener Maenner.
Eines Tages macht sich der Wiggerl wieder auf den Weg hinunter ins Dorf zum Haareschneiden. Heute hat er ein besonderes Anliegen an den Kratzner. Kaum sitzt er im Friseurstuhl und bekommt das etwas steife und leise raschelnde Kreppapier um den Hals gelegt und wie eine Capa - mit dem gekonnten Schwung eines geuebten Torreros - das grosse, schuetzende Stueck Tuch ueber Rumpf und Arme geworfen, beginnt er auch schon. "Hermann", so heisst der Kratzner mit Vornamen und so nennen ihn auch die meisten Einheimischen, "Hermann, du musst mir helfen." Der Kratzner gibt einen Laut von sich, den der Wiggerl als Zustimmung auffasst, und er faehrt fort: "Ich hab es mir nun lang genug ueberlegt und hin- und hergedreht - aber inzwischen bin ich felsenfest entschlossen, dass ich nach Rom fahren und den Papst besuchen moecht! Ich weiss, dass du dich in der Welt auskennst und ich weiss ausserdem, dass du schon einmal in Rom warst und mit dem Papst beieinander warst. Kannst du mir helfen und mir sagen, wie das geht und was ich alles tun muss, damit ich tatsaechlich nach Rom komm und den Heiligen Vater sehn kann?" - "Ja", sagt der Kratzner bedaechtig, "so einfach ist das nicht, wie du dir das vielleicht vorstellst. Es ist uebrigens schon einige Jahre her, dass ich selber da war. Da musst du mir schon ein paar Tage Zeit lassen, damit ich alle Einzelheiten wieder richtig zusammenbringe. Aber, ganz grundsaetzlich gesagt, kann ich dir da schon weiterhelfen. Wenn du das naechste Mal wieder zum Haarschneiden kommst, reden wir weiter. Gell!?" Dem Wiggerl ist das recht so, sehr recht sogar, und so macht er sich zufrieden auf den Heimweg. Nein, er geht nicht - wie die meisten anderen Maenner - nach dem Friseur zum Wirt. Nicht dass er das Bier nicht moegen wuerde - aber er ist halt doch auch in manchen Dingen ein wenig anders als die anderen. So auch in diesem. Und waehrend er seinen Daimler langsam nach Hause faehrt, freut er sich schon auf das naechste Mal beim Kratzner.
Das naechste Mal kommt frueher als gewoehnlich. Der Wiggerl ist die ganze Zeit ueber auffaellig unruhig und ungeduldig gewesen - zwei Eigenschaften, die ihn sonst eher nicht auszeichnen. Aber jetzt zieht es ihn schon wieder hinunter ins Dorf, hinein in den Friseursalon und hin zum Hermann. Der Kratzner hat sich, Freund, der er ist, richtiggehend vorbereitet und kann dem Wiggerl jetzt alles - Friseur, der er ist - haarklein auseinandersetzen und gut verstaendlich erklaeren.
"Also Wiggerl, das geht also so ... Wie du schon gehoert hast, fuehren viele Wege nach Rom. Sagt man. Aber am besten nimmst du den, den ich dir jetzt sage: erst einmal faehrst du nach Trostberg und Altenmarkt, biegst dann hinter Matzing nach rechts ab, nach Chieming, und faehrst dann bei Grabenstaett auf die Autobahn, auf die A8 in Richtung Salzburg. Du faehrst weiter bis zum Inntaldreieck - das kennst du ja alles. Am Inntaldreieck biegst du ab und weiter gehts in Richtung Kufstein. In Kufstein, an der Grenz, werden sie dich durchwinken und du faehrst dann einfach weiter auf Innsbruck zu. Vor Innsbruck passt du ein bisserl auf, dass du linker Hand die richtige Spure erwischt, die zum Brenner hinaufgeht. Zwischen Innsbruck und Brenner ist die Mautstelle; da musst du sechzehn Mark fuer die Brenner-Autobahn zahlen. Die Sauhammeln, die oesterreichischen - einfach eine so teure Mautgebuehr einkassieren. Die nehmens wirklich von den Lebendigen. Du zahlst also deine Mautgebuehr und faehrst - in aller Gemuetsruhe - hinauf zum Brenner. Diese Schnapper koennen dich doch gar nicht aufregen. Da stehen sie dann schon, die Italiener, in ihren feschen Uniformen. Wer weiss, vielleicht machen sie eine Passkontrolle - oder auch nicht. Und vielleicht machen sie eine Gepaeckkontrolle - oder auch nicht. Und vielleicht fragen sie dich, wo du hin willst, und dann sagst du halt: 'Nach Rom. Zum Papst.' Das wars dann schon mit der Grenz.
Dann gehts runter im Karacho, hinunter nach Sterzing. Da kriegst du ein Billet fuer die italienische Autobahngebuehr. Ja, kassieren wollen sie alle, geschenkt wird dir nichts. Und weiter faehrst du ueber Brixen, die Italiener sagen Bressanone, nach Bozen. Bolzano sagen sie dazu. Die Italiener."
Hier hielt der Kratzer ploetzlich inne. Er hatte seine Konzentration doch ein wenig zu sehr auf die Reisebeschreibung gelenkt und dabei dem Wiggerl mit der Schere hinten am rechten Ohr heftig in die Kopfhaut gezwickt. Genau da, wo die Haut - auch bei einem Bauernschaedel wie dem des Wiggerls - recht duenn und deshalb besonders empfindlich ist. Der Wiggerl zuckt geschmerzt zusammen. Aber das war es dann auch schon. Viel zu begierig ist er auf die Fortfuehrung der Beschreibung, als dass er ein grosses Aufhebens um die schmerzende Stelle hinter dem Ohr machen wuerde.
"Also weiter im Text", uebergeht auch der Kratzner ohne ein Wort der Entschuldigung den Zwischenfall und schafft damit eine gelungene Ablenkung von seinem Missgeschick und den Einstieg in die nun folgenden Erlaeuterungen. "In Bozen-Nord faehrst du von der Autobahn runter, zahlst an der Maustelle was du zu zahlen hast und faehrst ueber die Eisack-Bruecke. Die Eisack ist uebrigens der linke Nebenarm der Etsch; die Italiener sagen Isarco dazu - da schaust, gell. Du haeltst dich also in Richtung Bahnhof und faehrst jetzt links am Busbahnhof vorbei zum Piazza Walter, zum Walter Platz halt. Dort steht der Gasthof ‚Zum Goldenen Hirsch’, unuebersehbar. Da haeltst du an und fragst nach einem Zimmer. Die haben einen Parkplatz im Hof, da kannst du deinen Benz beruhigt abstellen - da passiert ihm nichts. Du wirst sehen: Im Goldenen Hirsch isst du gut, trinkst du gut, schlaefst du gut, du wirst gut bedient und die Preise sind so, dass du dich nicht aergern musst."
Der Kratzner haelt fuer einen Moment inne und schneidet mit einer kleineren Schere vorsichtig einige ueberstehende Haare aus Wiggerls grossem rechten Ohr. "Ja", nimmt er den Faden wieder auf, "am anderen Tag geht es dann wieder auf die Autobahn und weiter nach Trento, Verona, Modena, Bologna und ueber den Apennin nach Florenz. Florenz laesst du links liegen, Arezzo auch, dann kommt Orvieto und dann - dann kommt schon Rom. Rom, die Ewige Stadt. Weisst du ueberhaupt, warum die Leute sagen: 'Rom, die Ewige Stadt'? Nein? Ja, weil du ewig nicht reinkommst und ewig nicht wieder raus!" Der Kratzner lacht ueber seinen eigenen Witz und fixiert den Wiggerl, ob der ihn auch verstanden hat und darueber lachen muss. "Ja, ja", kichert der Wiggerl, "ewig net rein und ewig net raus. Ja, ja. Des kenn i doch von irgendwoher." - "Du und nicht reinkommen", lacht der Friseur, "aber Spass muss sein: so wie ich dich einschaetze, faehrst du ganze Strecke von Bozen bis Rom in einem Rutsch durch. Zum Austreten kannst du ja gehen, wenn du zum Tanken ohnehin von der Autostrada herunterfahren musst. Autostrada sagen die zur Autobahn, die Italiener. Aber pass auf, dass du ein Kleingeld einstecken hast. Das Pisln kostet naemlich etwas. Mit einem Fufzigerl musst du schon rechnen, so in etwa. Und wenn du an so einer Bar in einer Autobahnraststaette einen Kaffee bestellst und der Barmensch merkt, dass du ein Deutscher bist, kann es schon sein, dass er dich ein wenig frozzln will. Sagst du: 'Einen Kaffee!', fragt er 'Un espresso?'. Sagst du: 'Einen espresso!", fragt er: 'Un caffe?'. So sind sie halt, die Italiener."
"Aber noch einmal zurueck zu Rom. Du faehrst auf der A1, das ist die Autostrada von Florenz nach Rom, praktisch ins Stadtzentrum hinein. Orientieren tust du dich an den Schildern, wo draufsteht ‚Piazza San Pietro’; das ist der Petersplatz. Da bist du dann schon mitten drin im Geschehen. Jetzt musst du halt die Augen aufmachen: rundherum - am Piazza Cavour, am Piazza Risorgimento, am Piazza Mazzini, am Piazza del Popolo, am Piazza Navona und wie sie alle heissen, in allen Seitenstrassen bis hinunter nach Trastevere, am Tiberfluss entlang - ist praktisch ein Hotel am anderen und eine Pension nach der vorherigen. Da musst halt schauen, dass du etwas Gscheites findest. Vor allem aber eine Unterkunft, wo dein Benz einigermassen sicher aufgehoben ist. Du kennst sie ja, die Italiener: das geht zappzarapp - und weg ist er, der Kuebel."
Dem Wiggerl ist schon ganz schwarz vor Augen. Das Ganze hatte er sich einfacher vorgestellt, weniger gespickt mit Einzelheiten und etwas ... ja, einfach einfacher halt. Aber der Wiggerl ist ein willensstarkes Mannsbild, das sich von einem einmal ins Auge gefassten Entschluss nicht so leicht abbringen laesst, und zum anderen denkt er bei sich: 'Was so ein Baderwaschl fertig gebracht hat, des schaff ich doch allemal.' Er wuerde sich natuerlich nie beim Denken eines solchen Gedanken erwischen lassen wollen. Der Wiggerl. Er ist ja nicht dumm.
"Also weiter", draengt der Kratzner wieder auf's Tempo. "Wenn du ein Quartier gefunden und dein Auto sicher geparkt hast, gehst du halt in der Gegend anstaendig zum Essen, trinkst zwei oder drei Schoppen Wein natuerlich. Dann gehst zu deinem Hotel zurueck, schaust nach dem Benz, legst dich nieder und schlaefst gut. Am naechsten Morgen, nach dem italienischen Fruehstueck - du, das ist eigentlich nur ein besseres Magentratzerl, du weisst schon -, gehst du zum Petersplatz, bleibst stehen und schaust. Wenn du alles so recht auf dich hast einwirken lassn, schaust du bei der stirnseitigen Mauer vorn ganz nach links, also linker Hand vom Haupteingang zum Petersdom - da siehst du ein relativ kleines Tor mit einem oder zwei Wachmenschen davor. Noch weiter links steht dann ein Bau mit einer grossen Aula.
Der eine Posten, oder alle zwei, haben ein buntes Kasperlgwand an, einen eisernen Helm auf dem Kopf und einen langen Spiess in der Hand - eine Hellebarde. Und ob du es glaubst oder nicht: sie tragen weisse Handschuhe. Die Farben von denen ihrem Gwand sind blau, gelb und rot; sie stammen noch aus dem Mittelalter - beides, die Uniformtracht und die Farben. Nicht die Maenner. Die sind aus der Schweiz - alle miteinader, und sie gehoeren zu der beruehmten Schweizergarde, die auf den Papst aufpasst.
Da gehst du hin - zu dem Tor und zu den Maennern -, stellst dich vor und fragst nach dem Offizier Jaeggli. Das ist ein weitschichtiger Verwandter von meiner Frau - die kommt ja zum Teil aus der Schweiz, aus der Gegend von Zuerich. Das weisst du wahrscheinlich gar nicht, oder? Der Jaeggli jedenfalls hat eine Fuehrungsposition bei der Schweizergarde. Nach ihm fragst du, und wenn du ihm vorgestellt worden bist, dann richtest du ihm einen schoenen Gruss von uns Kratzners aus und bittest ihn, hoeflich halt, wie es sich gehoert, dass er fuer dich eine Privataudienz beim Papst arrangschieren soll. So wie ich ihn einschaetze, macht er das auch - wenn er kann.
Nur, damit du Bescheid weisst: von der Halle neben dem Tor geht es schraeg hinueber, an der Sakristei und der Schatzkammer vorbei, bei der Saeulenkapelle hinein in den grossmaechtigen Petersdom, hinter dem Papstaltar quer durch die ganze Kirche und drueben beim Altar des Erzengel Michael wieder raus. Da kommt ihr zum Vatikanischen Palast. Da wohnt der Heilige Vater und dort gibt er auch seine Privataudienzen. Da wirst du schaun. Da wirst du Augen machn. Da sind die Stanzen, die Sixtinische Kapelle, die zum Teil der Michelangelo ausgemalt hat, die Loggien von dem Raffael, die beruehmte Bibliothek und all die Sammlungen mit der Kunst, die sich im Lauf der Zeit halt so zsammenkommen sind. Aber du schaust vor allen Dingen, dass du hinter dem Jaeggli bleibst - denn der kennt den Weg. Und du nicht. Am Ende kommt ihr in einen feinen quadratischen Raum mit einem wunderbaren Parkettfussboden, mit einer schoenen Holzverkleidung an den Waenden und mit Holzbaenken, die ueber und ueber mit Schnitzereinen verziert sind. Und einer gemalten Decke - Wiggerl, ich schwoer dirs: so etwas Schoenes hast du deiner Lebtag noch nicht gesehen. Das ist wie ein Blick in den Himmel. Eine wahre Pracht ist das."
Die Stimme des Kratzner zittert noch immer in zurueckerinnerter Ergriffenheit. "Auf diesen Baenken", faehrt er fort, "sitzt wahrscheinlich ein Haufen Leut, die alle etwas mit dem Papst zu bereden haettn. Aber der Jaeggli ist ja bei dir - und das verschafft dir einen Vortritt. Und sollte zufaellig der Kardinal Ratzinger umeinander sein, du weisst schon, der Ratzinger Sepp aus Marktl, dann hast du ohnehin kein Problem: denn fuer die Holzlandler hat sich der Ratzinger beim Heiligen Vater schon immer eingsetzt. Also, ihr geht dann zu dem Sekretaer vom Papst, dem Monsignore ..., ah, jetzt faellt mir sein Name nicht ein, is ja im Moment auch egal, dem wird dich der Jaeggli vorstelln. Du sagst ihm, dass du gut katholisch bist und aus dem Grenzland zwischen Ober- und Niederbayern kommst, der Kardinal Ratzinger quasi dein Nachbar war und dass den Heiligen Vater um eine Privataudienz bittest. Von dem Muehlhiasl oder dem Irlmeier sagst du besser nichts.
Der Monsignore wird dich zuerst ein bisserl hinhalten - das macht er immer, dass er seine Macht ein wenig raushaengen laesst, wegen dem Respekt, weisst schon - und dann wird er dich auffordern, ihm zu folgen. Der Jaeggli wird hinter dir hergehen. Er ist schliesslich fuer die Sicherheit des Heiligen Vaters verantwortlich.
Der Sekretaer geht voraus. Er geht auf die Tuere zum Audienzzimmer zu, macht sie auf, geht auf dem weinroten Laeufer voraus, du hinterher. Mit gebeugtem Kopf. Um den Jaeggli brauchst du dich nicht zu kuemmern. Der weiss, was er zu tun hat. Du bleibst stehn, wo der Monsignore stehen bleibt. Er macht einen, zwei Schritte zur Seite - und da siehst du ihn schon: vor dir, auf einem kleinen Podest steht ein vergoldeter Stuhl, so eine Art Thronstuhl. Kein Thronsessel. Darauf sitzt der Heilige Vater. Leibhaftig sitzt er da. Wie er leibt und lebt. Du beugst dein Knie, der Heilige Vater streckt dir seine Hand mit dem Bischofsring entgegen - ja, der Papst ist ja nicht nur der Papst, sondern auch der Bischof von Rom. Du kuesst den Ring. Aber nicht zu nass, das mag er naemlich nicht. Ja, und dann, dann sagst du halt, was du ihm sagen moechtest."
Der Wiggerl schwitzt vor Aufregung. Er befindet sich in einem Zustand von Rausch. Oder Trance, wenn man seinen Zustand etwas spiritueller beschreiben moechte. Blau, gelb, rot, weiss, gold, weinrot - alle Farben verschwimmen vor seinen Augen. Eisenhelme, Hellebarden, Handschuhe, Kunstschaetze, der Ratzinger, der Michelangelo, der Raffael, der Heilige Sankt Michael, der Jaeggli, der Monsignore Sekretaer, dessen Name dem Kratzner entfallen war - alles dreht sich, alles bewegt sich. Und mittendrin er, der Wiggerl, zusammen mit dem Papst, dem Heiligen Vater der roemisch-katholischen Christenheit! Was fuer ein Bild! Was fuer ein Erlebnis. - Noch lange verharrt er in diesem Zustand, bis er langsam zurueckfindet in die Wirklichkeit des doerflichen Friseursalons.
Der Kratzner beendet sein Werk. Er hat das Rasiermesser noch einige Male an dem breiten Lederriemen abgezogen und rasiert mit der groesstmoeglichen Schaerfe des Materials und ruhiger, geuebter und sicherer Hand die borstigen Haare des Wiggerls aus - an den Koteletten und dem Haaransatz im Nacken. Dann nimmt er den grossen Pinsel und fegt gewissermassen den gesamten Schaedel frei von Haarfizzelchen, die nach einem Haarschnitt oft so unangenehm jucken. Noch ein bisschen Talkumpuder auf die ausrasierten Hautstellen, mit einem gekonnten Schwung das schuetzende Tuch weggezogen und mit einem kurzen Griff die papierene Halsmanschette entfernt - und schon hat der Kratzner den ovalen Spiegel mit den eingearbeiteten Griffen links und rechts in den Haenden und haelt ihn dem Wiggerl hinter den Kopf. Der Wiggerl kann in der Spiegelung des Spiegels vor ihm gut seinen Hinterkopf und Nacken sehen. Er dreht und wendet sich ein bisschen, damit er auch begutachten kann, wie es mit der Facon um seine beiden Ohren herum bestellt ist. "Ist es recht so?" fragt der Friseur und bewegt den ovalen Spiegel noch ein paar Mal hinter dem auf Form geschnittenen Kopf des Wiggerl. "Passt scho'", lobt dieser das Werk des Kratzner.
Er steht auf, streckt sich, zieht seinen Geldbeutel aus der rechten Gesaesstasche, holt Schein und Muenzen heraus und zaehlt dem Kratzner den ueblichen Betrag genau in den Teller neben der Kasse. Dann aber nimmt er ein ganzes Fuenf-Mark-Stueck und wirft es in das ebenfalls dort aufgestellte Sparschwein. "Und des is fuer die Reiseleitung. Dank dir schee, gell." Sagts, holt seinen Hut vom Haken und setzt ihn auf. Unter den Partien, wo sonst die Haare den Wind, die Sonne und das Wetter abhalten, wirkt Wiggerls Haut jetzt seltsam waechsern und steht in argem Kontrast zu der sonst graubraun gefaerbten Haut. "Wirst as no dalebn. Eines Tages schick i dir a Ansichtskartn vom Papst!", sagt er und geht mit beschwingten Schritten zu seinem parkenden Automobil.
Ja, und was soll man sagen? Verborgen vor den neugierigen Augen einer groesseren Oeffentlichkeit trifft der Steinberger Wiggerl seine Reisevorbereitungen: den Benz in die Werkstatt zum Kundendienst, einen Schutzbrief fuers Auto, einen Auslandskrankenschein von der Landwirtschaftlichen Krankenkasse Oberbayern, von der Raiffeisenbank ein schoenes Buendel dieser eigenartigen, fremdlaendischen Liras. Die kleine Umrechnungstabelle, die man ihm zusammen mit den Geldscheinen ausgehaendigt hat, steckt er in den Geldbeutel. Frau und Sohn legt er noch einmal ans Herz, was in seiner Abwesenheit unter allen Umstaenden gemacht werden muss und das, was unter keinen Umstaenden vergessen werden darf. Aus der Buch handlung in der nahen Kreisstadt besorgt er sich ein kleines Woerterbuch Deutsch / Italienisch - Italienisch / Deutsch und einen Staedtefuehrer ‚Rom fuer Anfaenger’. "Des is ja wia in da Schul" ereifert sich der Wiggerl. Doch insgeheim ist er stolz und freut sich wie ein Kind auf die bevorstehende Reise.
Und eines Tages ist es dann soweit: den Benz bis zum oberen Ende des Einfuellstutzens vollgetankt - selbstverstaendlich nicht bei der Raiffeisen-Tankstelle -, in einer Plastikbox dick mit Wurst, Fleisch und Kaese belegte Brote und Semmeln, mehrere Flaschen Wasser und Bier, dazu einige Aepfel, einige Tafeln Schokolade und mehrere Tueten mit sauren Drops, und versehen mit den Segenswuenschen seiner Familie und dem zurueckhaltend geaeusserten Wunsch der Steinbergerin: "Rufst halt einmal an, gell!?", ist der Wiggerl fertig zur Abfahrt. "Des wern ma scho kriagn", schnauft er. Seltsam geruehrt streicht er dem Hund noch einmal durchs Fell, schiebt sich in den Wagen, startet, gibt mehr Gas als noetig - und faehrt geschwind hinaus aus dem Hof und davon.
"Des wern ma scho kriagn", sagt er noch einmal, als er aus dem Dorf hinausfaehrt, der Kreisstadt entgegen, diese links liegenlaesst, nach Trostberg kommt, nach Altenmarkt, hinter Matzing nach rechts abbiegt und ueber Chieming, bei Grabenstaett, auf die Autobahn faehrt, auf die A8 in Richtung Salzburg.
"Des wern ma scho kriagn", brummelt er noch einmal, als sie ihn in Kufstein an der Grenze durchwinken und er auf der Inntalautobahn in Richtung Innsbruck dahinbraust. Ganz so, wie es ihm der Kratzner vorausgesagt hat - der siebenschlaue Baderwaschl. Ohne Probleme erwischt der Wiggerl vor Innsbruck die linke Spur, die ihn zum Brenner hinauffuehrt. An der Mautstelle der Brennerautobahn zahlt er die sechzehn Mark Gebuehr und schimpft in sich hinein: ‚Die Sauhammeln, die oesterreichischen - einfach eine so teure Mautgebuehr einkassieren. Die nehms wirklich von den Lebendigen.’ Ansonsten geniesst er die Fahrt durch die grossartige Alpenlandschaft. ‚De Aussicht is die sechszehn Mark fast scho wert’, denkt sich der Wiggerl und faehrt beim Brennersee herunter von der Autobahn auf einen Parkplatz, packt in aller Ruhe seine belegten Brote und Semmeln aus und ein Flasche Bier, ein Maurerflaschl mit einem Schnappverschluss. Er verzehrt seinen Proviant mit grossem Appetit in dem beseligenden Bewusstsein, dass er in einer Wirtschaft viel Geld haette bezahlen muessen, um zu so einem Genuss zu kommen. Die Brotreste spuelt er mit grossen Schlucken des nicht mehr ganz kuehlen Bieres hinunter, stoesst einige Male kraeftig auf, geniesst das, und wischt sich jedes Mal mit breitem Handruecken den Mund ab. ‚Mei’, macht er genuesslich, ‚is des guad. Des lasst se ja sauber o.’ Er schiebt sich noch ein paar Stuecke von der Schokolade in den Mund und macht sich wieder auf den Weg. Hinauf zum Brenner und zum Grenzuebergang nach Italien.
Und da stehen sie - wie es der Kratzner vorausgesagt hat: in ihren feschen Uniformen geben sie dem Wiggerl ein Zeichen anzuhalten. "Buon giorno, Signore Hinterbichler", sagt einer der Grenzbeamten, wobei er sich bei der Buchstabenkombination b-i-c-h fast seine italienische Zunge abbricht. "Wir haben sie schon erwartet." Er schuettelt dem Wiggerl tatsaechlich die Hand, wirft nur einen beilaeufigen Blick auf den entgegengestreckten Reisepass und bedeutet ihm, einfach hineinzufahren in sein Bella Italia. "Buon Viaggio!", ruft er ihm noch nach, und weiter: "Gruessen Sie den Heiligen Vater recht herzlich von mir!" – ‚Na servus’, denkt sich da der Wiggerl, als er unter dem grossen Schild ‚Benvenuti in Italia’ hindurchfaehrt, ‚damit hab i jetz aba wirklich ned g'rechnet. So an Empfang.’ Keine Passkontrolle und keine Gepaeckkontrolle. So einfach geht das offenbar, wenn man den Kratzner Hermann zum Freund hat.
Und hinunter gehts. Er laesst den Benz laufen, dass es eine wahre Freude ist. In Sterzing zieht er eine Mautkarte, Brixen laesst er links liegen und in weniger als einer Stunde biegt er bei Bolzano-Nord von der Brennerautobahn ab und faehrt genauso weiter, wie es ihm der Kratzner Hermann beschrieben hat: ueber die Eisackbruecke hinueber und hinein in die Stadt. Den Walterplatz findet er auf Anhieb und auch den Gasthof "Zum Goldenen Hirsch". Kaum kommt das Auto am Gehsteig zum Stehen, wird auch schon der Schlag aufgerissen und der Hausdiener fragt mit kraeftiger Stimme: "Gruess Gott, der Herr. Sind Sie vielleicht der Herr Ludwig Steinberger?" Dem Wiggerl verschlaegt es jetzt fast die Sprache. "Ja, scho, aber wia ..." - "Wir habn schon ein Zimmer fuer Sie reserviert. Im ersten Stock. Das Jaegerzimmer. Das liegt schoen ruhig nach hinten raus. Und einen Parkplatz fuer ihr Auto haben wir auch. Lassen Sie mich bitte erst Ihr Gepaeck herausnehmen, dann zeige ich Ihnen, wo der Parkplatz ist."
Jetzt weiss der Wiggerl wirklich nicht mehr, was er sagen soll. Und ein bisschen geniert er sich wegen der mitgebrachten Brotzeit, die das Auto mit ihrem intensiven Geruch erfuellt hat und wegen der Staniolpapierl, die ueberall herumliegen. "Ja, ja - das Fahren macht Appetit, das kenn ich auch: kaum sitzt man im Auto, dann gehts schon los mit der Knabberei und der Schleckerei. Stimmts, Herr Steinberger?" - "Hinterbichler. Hinterbichler schreib i mi. Und komma tu i aus Steinberg. Steinberger - des is da Hausnam und Hinterbichler da Familiennam, sozusagn. Und mit dem Knabbern und Schlecka, wia Sie sagn, is net a so wuid. A bissl beherrschn konn i mi scho no." - "Ja, ja, die Fahrerei ..." wiegelt der Hausdiener ab und nimmt den Koffer und die Reisetasche aus dem Auto. "Und wenn Sie dann die naechste links und dann wieder links fahrn, dann kommen Sie direkt auf unseren Privatparkplatz. Da passiert Ihrem Mercedes bestimmt nichts. Wir sind ja hier in Bozen und nicht in Neapel. Oder?" Der Wiggerl kann dazu nichts sagen. Also schweigt er lieber.
Er parkt das Auto ein. An der Rezeption wird er wie ein langjaehriger Freund des Hauses begruesst. Man zeigt ihm sein Zimmer, er macht sich ein wenig frisch, zieht sich bequemere Schuhe an, steigt die breite, geschwungene Treppe hinunter, tritt durch das Portal auf den Buergersteig und atmet tief die eigentuemliche Luft Bozens ein: ein wenig Sommerfrische, ein wenig Industriegebiet, ein wenig suedtiroler Dickschaedel und ein wenig italienische Leichtigkeit. ‚Hmmm’, macht der Wiggerl und seine Augen blinzeln zufrieden in die bereits tiefstehende Sonne in Richtung Meran.
Er will vor dem Nachtmahl einmal um den Stock gehen und sich die Fuesse vertreten, woraus dann aber ein umfaenglicher Spaziergang wird. Er geht am Dom vorbei, hinueber zur Piazza Sernesi, weiter zur Piazza Erbe und zur Piazza Municipio, dem Rathausplatz. Von da aus geht er ueber die Via Rena wieder zurueck zum "Hirschn". Er sucht sich einen Platz im Restaurant, bestellt eine Jaegerpfanne und einen halben Liter Roten, der in einem Steingutkrug serviert wird. Das Essen und der Wein schmecken ihm ausgezeichnet und die Bedienung ist zuvorkommend. So geniesst er sein erstes Essen in Italien, wobei er sich schon im Klaren darueber ist, dass er in Suedtirol und noch nicht ganz im richtigen Italien ist. Schwer und muede geht er auf sein Zimmer, und als er sich ausgezogen und satt und zufrieden aufs Bett gelegt hat, seufzt er noch einmal: ‚Des wern ma scho kriagn’. Dann fallen ihm die Augen zu, und mit lauten Schnarchen verkuendet er moeglichen Zimmernachbarn und dem Rest der Welt: jetzt is beim Wiggerl eine Ruh.
Anderntags wird er wunschgemaess frueh geweckt, er fruehstueckt kraeftig, aber nicht zuviel. Von den Wirtsleuten wird er herzlich verabschiedet, und als er dem Hausdiener ein angemessenes Trinkgeld zustecken will, weigert der sich, es anzunehmen; fast verschaemt wirkt er dabei: "Aber von Ihnen doch nicht, Herr Hinterbichler. Nein, nein. Von Ihnen doch nicht." Dann gruesst er noch einmal, dreht sich um und geht zurueck in den Gasthof. Er hinterlaesst einen etwas ratlosen Wiggerl, dem es schon am Abend vorher nicht gelungen war herauszufinden, warum man ihm im Goldenen Hirschen von Bozen eine solche Vorzugsbehandlung hat zukommen lassen.
Aber dem Wiggerl ist so gar nicht nach laengerem Gruebeln zumute. Er sucht und findet schnurstracks den Weg zur Autobahn, nimmt die richtige Auffahrt in Richtung Verona und Modena und schon geht es dahin, so, als haette der Wiggerl seiner Lebtag nicht anderes gemacht, als mit dem Benz auf italienischen Autobahnen herumzukutschieren. Bei Trento faehrt er durch den langen Tunnel, und bei Verona-Sued entschliesst er sich, zum Tanken, Pinkeln und Kaffeetrinken auf die naechste Autobahnraststaette zu fahren. Er versteht den Tankwart zwar nicht, macht aber ein Zeichen, das bedeuten soll: Volltanken. Der Tankwart kennt und versteht die Geste, tankt voll und der Wiggerl faehrt anschliessend in eine der Parkluecken vor dem Bau mit einer Bar und einem WC. Kein Problem. Er wirft mit Schwung ein 500-Lire-Stueck in den dafuer bereitgestellen Teller und auf das freundliche "Grazie" des alten Mannes, der daneben sitzt, sagt er mehr zu sich: "Is scho recht." Es ist gut, wenn alles so klappt, denkt er. Also betritt er den Barraum, der zu seiner Uebrraschung aussieht wie ein farbenfroher Supermarkt mit Kaffeeausschank. Er stellt sich an den langen Tresen aus rostfreiem Stahl, blickt dem Barmenschen herausfordernd in die Augen und sagt: "An Expresso-Kaffee haet i gern und so a Hoerndl", und deutet auf das Blaetterteiggebaeck, das zu einer Pyramide aufgeschichtet so appetitlich daliegt. Verbluefft mustert ihn der Mann hinter dem Tresen und wiederholt: "Un cafe e un brioche?" - "Ja freili", sagt der Wiggerl, fast schon ein wenig unwirsch, "hab i do gsagt." – ‚Mir’, denkt er bei sich und schmunzelt selbstzufrieden, ‚mir Holzlandler lassn uns do vo dene Itaka net dablaeka!’
Mit vollem Tank, persoenlich entleert, gestaerkt und erfrischt, setzt der Hinterbichler die Fahrt fort. Er kommt ueber Modena nach Bologna, biegt dort auf der Autobahn nach halbrechts ab, hinueber zur Autostrada del Sole und hinauf zum Apennin. Das sind vielleicht Kurven. Da macht das Fahren Spass. Und auf der anderen, der suedlichen, Seite geht es hinunter in das weite Arnotal, nach Florenz. Jetzt liesst er auf den Hinweisschildern erstmalig: ROMA. Irgendwie wird dem Wiggerl ganz anders dabei, und er rauscht durch die Toskana, an den Ausfahrten von Siena und Arezzo vorbei und hinein ins Latium. Orvieto, die mittelalterlich Stadt auf einem Berg, direkt neben der Autobahn, kann er nicht sehen, weil er es nicht kennt. Was er aber sieht, ist ein Schild, auf dem steht: ROMA 85 km.
Da schlaegt ihm auf einmal das Herz bis zum Hals. Jetzt, so nah vor dem Ziel, bekommt er ein wenig Angst vor der eigenen Courage. Er wirft einen Blick auf die Tankanzeige und beschliesst, bei der naechsten Autobahntankstelle noch einmal vollzutanken. Denn da kennt er sich schon aus. Und sicher ist sicher: er will nicht auf einmal mitten in Rom ohne Benzin dastehen. Er bestellt sich wieder einen Expresso-Kaffee und geniesst die Verblueffung des Barmanns, der in diesem Fall eine Frau ist.
Rom - die Ewige Stadt! Wie vom Kratzner empfohlen, faehrt der Wiggerl auf der A1 in Richtung Rom, zieht bei Fiano Romano nach rechts heraus auf die E35, die direkt auf den Autobahnring fuehrt, der rings um Rom herumgeht. Irgendwie kommt er dann auf die Superstrada - eine dreispurig ausgebaute Schnellstrasse - die ihn mehr oder weniger direkt in die Stadtmitte bringt. Als ob der Kratzner ein Hellseher waere: kaum kommt er ein wenig zum Verschnaufen und zum Schauen, entdeckt der Wiggerl auch schon ein Schild mit der Aufschrift ‚Piazza San Pietro’. ‚Da muas i hi’, denkt er sich, ‚da gibts Hotels und Unterkuenft grad gnua, hat da Hermann gsagt, der Badawaschl, der siebnschlaue, der Hellseha, der.’
Er freut sich, dass bislang alles so glatt ging und haut mit seiner grossen rechten Hand begeistert auf das Lenkrad und trifft aus Versehen die Hupe, die mit einem langgezogenen, fast beleidigten Ton reagiet. Der Wiggerl erschrickt ueber das Geraeusch, das er gemacht hat und schaut sich schuldbewusst um. Aber die Menschen in den anderen Autos um ihn herum laecheln nur - einer winkt ihm sogar zu. Und auch die Passanten auf der Strasse und den Gehsteigen nehmen so gut wie keine Notiz von ihm und gehen ihrer Wege. "Na, so was", murmelt er, "des gabs jetz bei uns ned, a so a Freindlichkeit." Noch immer verwundert, faedelt er sich in den Verkehrsstrom ein, der ihn zum Petersplatz bringen soll.
Ganz so glatt geht es dann halt doch nicht. Schwitzend und manchmal auch schimpfend muss sich der Wiggerl durch den dichten und zaehen Feierabendverkehr quaelen. Er bekommt immer wieder Probleme mit dem vertrackten Einbahnstrassensystem und der Tatsache, dass es die Roemer mit den Verkehrsampeln nicht immer so genau nehmen. Da ist Rot nicht immer Rot, und es passiert ihm mehrmals, dass ihn jemand anhupt, wenn er - wie sich das gehoert - bei Rot stehen bleibt.
Aber schliesslich findet er in Trastevere, in der Naehe des Gianicolo, ein ordentlich aussehendes kleines Hotel. Daneben gibt es ein eingezaeuntes Grundstueck, auf dem er seinen Benz parkieren kann. Das Hotel gehoert einer netten und freundlichen Familie, die es auch selbst betreibt: Vater, Mutter, zwei Toechter und ein Sohn. Und als sie hoeren, dass der Wiggerl zu einer Privataudienez beim Pabst gehen will, ist die Familie noch freundlicher und hilfsbereiter als vorher schon - ja, sie ueberschlaegt sich beinahe vor Aufmerksamkeit.
Am anderen Tag - er laesst sein Auto da, wo es sicher steht; das hat ihm der Kratzner zwar nicht geraten, aber er ist schliesslich auch nicht auf den Kopf gefallen, der Wiggerl - am anderen Tag also geht er zum Tiber hinunter und biegt dann nach links ab, in Richtung Nordwesten. Immer die beruehmte Engelsburg vor Augen, geht er auf die Via de Conciliazione zu, in die er dann auch einbiegt und schliesslich direkt auf den Petersplatz und den Petersdom zugeht.
Es ist so, als haette ihm jemand mit Kraft ein Kantholz auf seinen harten Bauernschaedel geschlagen: ein solches Erlebnis, eine solche Wucht, eine solche Groesse, eine solche Pracht - noch nie in seinem ganzen Leben hat es so etwas Gewaltiges, so etwas Beeindruckendes gesehen, ja nicht einmal daran gedacht, dass es so etwas - von Menschenhand Gemachtes - ueberhaupt geben koennte. Und jetzt steht davor und ist fast schon mittendrin: bei dem Obelisken, den sie seinerzeit aus Aegypten haben mitgehen lassen, die Roemer, und nahe der schwarz und rot lackierten Pferdedroschken, wo die Kutscher zusammen mit ihren Pferden auf Fahrgaeste warten. Die Droschken nehmen dem Platz etwas von seiner Heiligkeit - erstens durch die kraeftigen Farben und zweitens durch das, was die Pferde von Zeit zu Zeit hinten fallen lassen, unbeeindruckt von der Grossartigkeit und der Heiligkeit des Platzes.
Der wuerzige, natuerliche Duft ist es dann auch, der den Wiggerl sich aus seiner Erstarrung loesen laesst. Sein Blick wandert zum wiederholten Mal vor zum Petersdom und zu der maechtigen, mit Saeulen bewehrten Vorhalle, dem grossen Eingangsportal mit dem Giebel darauf und zu dem hohen Fries darueber, auf dem riesige Heiligenfiguren stehen. Und hinauf zu der gigantischen Kuppel, die seinerzeit dieser Michelangelo aus Florenz entworfen haben soll; auch um die Bauausfuehrung hat er sich anscheinend gekuemmert. ‚Nicht schlecht, Herr Specht. Da taet a aba schaun, der Otto, wenn a des seng dad’, sagt sich der Wiggerl. Der Otto ist der Inhaber einer Baufirma in Wiggerls heimatlichem Landkreis, von der die meisten Neubauten errichtet werden und die manchmal bis an die achtzig Leute beschaeftigt.
Jetzt schaut der Wiggerl hinueber nach links, ganz nach links - und was sieht er da? Ja, da ist es, so, wie es der Kratzner beschrieben hat: da ist das Tor, gar nicht so gross und keinesfalls besonders herausgeputzt. Links und rechts von dem Tor stehen zwei von diesen Schweizergardisten in ihren altmodischen Uniformen. Bunt wie die Kasperl schaun sie aus. Gestreifte Pluderhosen haben sie an und einen blechernen Brustpanzer tragen sie, einen Harnisch, mit einem weissen Spitzenkragen und einen blankgeputzten schneidigen Blechhelm mit einem roten Federbusch haben sie obendrauf auf dem Kopf. Und, was dem Wiggerl ganz besonders auffaellt: weisse Handschuhe tragen die Herren Papstsoldaten. Sie stehn steifleinern und unbeweglich wie die Zinnsoldaten und starren Loecher in die Luft. Er geht auf sie zu, ohne seinen beobachtenden Blick von ihnen abzuwenden.
Und wie er so unverbluemt auf die beiden Wachsoldaten starrt, dreht sich einer der beiden ihm zu und fragt den Steinberger, der ja auch der Hinterbichler ist, auf Deutsch, aber mit einem stark schweizerisch gefaerbten Akzent: "Sind sie vielleicht der Herr Ludwig Hinterbichler?" Auf Schweizerdeutsch fragt er das, wie gesagt. Dem Wiggerl hat es erst einmal die Sprache verschlagen. Es dauert eine Weile, bis er sich aus dem Schock loest und er sagen kann: "Ja, des bin i." - "Der Offizier Jaeggli wartet schon auf Sie. Ich habe Auftrag, ihm zu melden, dass sie gerade eben eingetroffen sind. Bitte warten Sie hier." Er dreht sich auf dem Absatz seiner halbhohen Stulpenstiefels um und verschwindet in dem Tor.
Nach kurzer Zeit kommt er mit einem ebenfalls papageienhaft bunt gekleideten Menschen zurueck, dessen Helmbusch allerdings weiss ist und der eine ganz natuerliche Autoritaet ausstrahlt. Sein Schweizer Dialekt ist weniger stark als der des Gardisten, den Wiggerl bereits kennenlernte. "Gott zum Grusse", sagt er und streckt dem Wiggerl die weiss behandschuhte Hand entgegen. "Ich bin der Max Jaeggli, Offizier der Schweizergarde des Papstes und verwandt mit den Kratzners." ‚Und ein sehr angenehmes Mannsbild’, denkt sich der Hinterbichler, denn der Jaeggli ist ihm auf Anhieb sympathisch. Er stellt sich vor und sagt: "Ja, i soll auch einen ganz schoenen Gruss ausrichtn. Und dass i halt beim Heilign Vata gern a Privataudjenz kriegn taet - wenn des ging."
Was ihm bisher auf seiner Fahrt nach Rom noch kein einziges Mal passiert ist: der Wiggerl beginnt leicht zu schwitzen. Den ganzen weiten Weg ist er gefahren. Er hat weder Geld, noch Zeit, noch Muehen gescheut, hierher nach Rom zu kommen um den Papst zu besuchen. Und jetzt liegt es im Ermessen eines einzigen Menschen, ob sich sein Plan und sein Wunsch erfuellen lassen. Der Hermann hat zwar gesagt, dass die Kratzners mit dem Jaeggli weitschichtig verwandt sind und der Jaeggli hat das gerade auch noch von sich aus bestaetigt. Aber was heisst das schon? Allerdings: er wurde ja ganz offensichtlich erwartet. Das war ein gutes Zeichen. Oder vielleicht doch nicht? Er weiss es nicht.
Der Jaeggli schmunzelt breit, zeigt dem Wiggerl an, ihm zu folgen und stiefelt durch das Tor voraus und sagt: "Dann wollen wir doch einmal sehen, ob der Heilige Vater Zeit fuer Sie hat. Wo Sie schon einmal da sind und einen so weiten Weg zurueckgelegt haben." Gleichen neben dem Tor, in einem huebschen Gebaeude, befinden sich mehrere Bueros und die Aufenthaltsraeume fuer die Schweizergarde. Jaeggli geht hinein in einen der Bueroraeume und zu einem der Schreibtische, greift sich einen Apparat und telefoniert von dort aus. Er spricht knapp und eindringlich. Militaerisch halt. Wiggerl kann durch die geschlossenen Fenster zwar nichts wirklich verstehen, aber sehen kann er den Jaeggli, und da weiss er auch, dass er bei diesem Mann in guten Haenden ist. "Der Sekretaer des Heiligen Vaters war nicht gerade begeistert von Ihrem Wunsch, Herr Hinterbichler. Wir muessen uns beeilen. Aber ansonsten geht das schon in Ordnung. Also bitte, folgen Sie mir."
Aus tiefster Tiefe stoesst der Wiggerl eine Seufzer der Erleichterung aus - so erleichtert, dass ihn der Jaeggli noch einmal eindringlich mustert: "Nur keine Aufregung mehr. Das geht schon in Ordnung. Jetzt los, lassen Sie uns gehen." Und es geht so, wie es der Kratzner daheim beschrieben hat: Von dem Wachgebaeude geht es an der Sakristei und der Schatzkammer vorbei; hinten bei der Saeulenkapelle von Sankt Peter betreten sie sie Kirche - den groessten Raum, in dem sich der Wiggerl jemals aufgehalten hat. Groesser noch als die alte Schalterhalle des Hauptbahnhofs in Muenchen, bevor sie im Krieg bombardiert und zerstoert worden ist. Er erinnert sich in diesem Augenblick noch an die Eisenbahnfahrt, die er als junger Mann zum Oktoberfest unternommen hat.
Sie durchqueren die Kirche schraeg hinter dem Papstaltar und verlassen sie wieder in der Naehe des Erzengel-Michael-Altars. Durch eine schmale, fast nicht sichtbare Tuere betreten sie den eigentlichen Vatikanischen Palast. Sie durcheilen die Stanzen und die Loggien. Jaeggli macht - trotz der Eile - den Wiggerl auf die sich in unmittelbarer Naehe befindliche Sixtinische Kapelle aufmerksam, in der bei Bedarf ein neuer Papst gewaehlt wird, und auf die ebenfalls weltberuehmte Vatikanische Bibliothek mit ihrer mythen- und legendenumwobenen Geheimbibliothek. Dort sollen auch all die grausigen und frevlerischen Taten dokumentiert sein, die der Heiligen Kirche nicht wuerdig sind. Sie seien seit Jahrhunderten von Geheimnissen umwittert, die von den paepstlichen Bibliothekaren fest unter Verschluss gehalten werden - wie der leibhaftige selbst. Obwohl der Wiggerl aus Unkenntnis und auch wegen der Eile nur einen Teil versteht, laeuft es ihm in merkwuerdig kalten Schauern seinen breiten Ruecken hinunter. Zu sich selbst er sagt einen Satz, den er kuerzlich in einem Kriminalhoerspiel aufgeschnappt hat: ‚Das ist eine Situation, wo einem selbst die Achselhaare zu Berge stehen.’ Ja, ja, die Spueche im Radio ...
Der Jaeggli draengt wieder mehr zur Eile, und so gelangen sie schliesslich in den von Hermann Kratzner schon so eindrucksvoll geschilderten Wartesaal, in das Vorzimmer zum Audienzzimmer des Heiligen Vaters, sozusagen. Da muss der Wiggerl wieder wirklich staunen. Er hat ja selbst einige Erfahrungen mit der Holzbearbeitung gemacht - aber das ... so einmalig schoene Holzarbeiten ... aus verschiedenfarbigen Hoelzern eingelegt. Ja, so eine Arbeit. Wie die Handwerker frueher das alles nur gekonnt und gemacht haben - ohne elektrischen Strom und ganz ohne Maschinen. Der Wiggerl schaut sich weiter um und ist voller Anerkennung. Und das Deckengemaelde erst! Eine Himmelfahrt, ‚wie gemalt ...’, denkt er, und ‚wie aus dem Bilderbuch ...’
Ploetzlich erschrickt der Wiggerl. Jaeggli hat die Absaetze seiner Stiefel zusammengeknallt, so fest, dass die Fensterscheiben im Raum hoerbar scheppern. Er gruesst militaerisch. Der Sekretaer des Papstes hat den Raum betreten, zusammen mit Joseph Kardinal Ratzinger, dem Ratzinger Sepp aus Marktl. Der Kardinal geht laechelnd auf den Wiggerl zu und fragt ihn: „Sie sind also der bereits erwartete Ludwig Hinterbichler aus dem Holzland? " Der Wiggerl nickt aufgeregt: "Sag', mein Sohn, wie gehts daheim? Steht Marktl noch? Fliesst der Inn noch immer in Richtung Passau? Ist euch der Kollege Heribert Unterhuber, ich meine, der Geistliche Rat Unterhuber, noch immer ein guter Hirte?" Wieder nickt der Wiggerl und schluckt. Und der Kardinal Ratzinger reicht ihm die Hand und verabschiedet sich laechelnd: "Ja, ja, die Holzlandler ... die lassen nicht aus!", sagt er noch und verschwindet durch eine der vielen Tueren.
Jetzt schwitzt er aber wirklich, der Hinterbichler, und als ihm der Sekretaer des Papstes die letzten Anweisungen gibt, kann er ihn kaum noch hoeren. Aber die wichtigsten Instruktionen hat er ohnehin schon vom Kratzner erhalten. Also gibt es eigentlich keinen Grund mehr zur Aufregung. Und trotzdem: wenige Minuten vor der Begegnung mit dem Heiligen Vater ist es dem Wiggerl ganz zweierlei. Am liebsten wuerde er auf und und davonlaufen. Aber da bedeutet ihm der Sekretaer auch schon, ihm zu folgen. Die Tuere zum Audienzsaal wird geoeffnet, der Sekretaer geht voraus, der Wiggerl folgt mit gebeugtem Kopf und der Jaeggli bildet den Abschluss.
Den vom Kratzner angekuendigten und beschriebenen weinroten Laeufer kann Wiggerl mit seinem gebeugten Haupt gut erkennen. Nach einigen Metern riskiert er einen Blick nach vorne und sieht das Podest, den vergoldeten Thronstuhl und darauf sitzend - den Papst, den Heiligen Vater. ‚Eigentlich schaut a gar net so aus wia a Polnischer’, denkt er, ‚sondern vielleicht eha wia a Schwed oda oana vo dene Hollaenda, mit enane blaue Augn und da rosafaerbign Haut, ja, oder wia a Preiss’.
Fast hat er die aufgeregten Gesten des Sekretaers uebersehen. Er weiss, was er zu tun hat: er kniet sich nieder vor dem Papst. Aber so ergriffen und durcheinander ist er - ohne dass er das selbst so richtig merkt -, dass er sich fast der ganzen Laenge nach vor dem Heiligen Vater hinwirft. Auf den roten Teppich. Als waere es zwischen den beiden verabredet worden, streckt ihm der Papst die Hand mit dem Bischofsring entgegen - wir wissen ja, dass der Papst nicht nur Papst ist, sondern auch der Bischof von Rom - und der Wiggerl haucht einen zarten Kuss darauf. Oder das, was er dafuer haelt. ‚Nur net z nass, nur net z nass! Des mog a net, da Heilige Vata’, ermahnt er sich mehrmals und instaendig.
Etwas vorgebeugt wendet sich Johannes Paul II, der Pole auf dem Stuhl des Oberhaupts der roemisch-katholischen Kirche, der Nachfolger Petri, auf dem der Jesus von Nazareth seine Kirche gruendete, der in religioesen Dingen unfehlbare Chef eben dieser Institution, der, der von den katholischen Glaeubigen als Heiliger Vater verehrt wird - eben dieser sogenannte Heilige Vater beugt sich jetzt nach vorne und fragt: "Du bist also der Ludwig Hinterbichler? Der sogenannte Steinberger Wiggerl?" - Ja, Heiliga Vata, des bin i, ja ..." - "Schoen, das du nach Rom gekommen bist, mein Sohn, und schoen, dass du zu mir gekommen bist, um mit mir zu sprechen. Mir ist schon einiges Bemerkenswerte ueber dich berichtet worden." Dem Wiggerl wird noch heisser, er schwitzt noch mehr und er geht noch tiefer in die Knie - vor allem aber deshalb, weil es ihm recht peinlich ist, dass ihn der Papst so sehr herausstellt. Vor all den Leuten, die im Zimmer sind und von denen er die meisten gar nicht kennt. ‚Des dat mi jetz scho narrisch interessiern, wer da wida amoi sei Mundwerk net hat haltn kenna’, sinniert er.
Der Heilige Vater aber, der von dem lautlos gefuehrten Selbstgespraech des Wiggerl nichts mitbekommt, streicht ihm ueber dessen graumeliertes, struppiges Haar, vor und zurueck, hin und her. Dann laechelt er versonnen, beugt sich noch mehr vor zu dem Wiggerl und fragt: "Jetzt sage mir doch einmal ganz aufrichtig ...", er bueckt sich noch weiter vor, sodass sich sein Mund ganz in die Naehe von Wiggerls Ohr befindet. Noch einmal streichelt er ueber den Kopf und fluestert vertraulich:" Wer um alles in der Welt hat dir die Haare so geschnitten?"
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011
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