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Mein Freund Sisyphus



Der Stein entrollt dem Sisyphus.
Die Danaiden Tonne
wird nie gefüllt,
und den Erdenball
beleuchtet vergeblich die Sonne!
Fühlen Sie sich manchmal
wie Sisyphus? - Heinrich Heine –



An der dem Fenster gegenueberliegenden Wand im Badezimmer haengt ein dreidimesionales Bild, eine Collage aus Versatzstuecken, die ich 2004 aus Aegypten mitbrachte. "Nubisches Dorf" nannte ich die Arbeit damals, in Erinnerung an die Insel Elephantine im Nil, auf der Hoehe von Aswan, die seit Jahrhunderten von nubischen Familien bewohnt wird.
Am linken unteren Rand der Collage hatten zwei Insekten angefangen, an einem Nest zu bauen. Ich sage absichtlich Insekten zu dieser Mischung aus grosser Wespe und schlanker Hornisse, denn ihre tatsaechliche Bezeichnung kenne ich nicht. Gepraegt von zwei schmerzhaften und gefaehrlichen Erfahrungen im Umgang mit Wespen und Hornissen waehrend meiner Zeit in Oberbayern, - einmal hatte ich nach Stichen ein viele Minuten andauerndes, beaengstigendes Herzrasen, ein anderes Mal eine eigentlich gar nicht moegliche Mischung aus Schuettelfrost und Laehmung -, eingedenk dieser Erfahrungen wollte ich die beiden Neuen im Bad nicht dulden.
Ich nahm eine kleine Papproehre zu Hilfe - genauer: den Pappkern einer Toilettenpapierrolle - stopfte das eine Ende mit Toilettenpapier zu - stuelpte die Roehre ueber beide Insekten und ihr Nest und drueckte das andere Ende mit Daumen und Zeigefinger so zu, dass ich die beiden mitsamt dem Nest in der Papproehre gefangen hatte. In der Roehre summte es aufgeregt. Ich aber trug den Behaelter ganz unaufgeregt auf den Balkon und schuettelte die Tiere und ihre Wohnstatt hinaus in die Freiheit. Toeten wollte ich sie nicht. Ich wollte nur nicht mit ihnen zusammenleben. Schon gar nicht im Bad, in dem man sich ja hin und wieder seiner Kleider ganz entledigt.
Die Reste des kunstvoll gefertigten Nestes, das uebrigens an einem sehr festen, aber flexiblen Faden noch immer an dem Bilderrahmen hing, kratzte ich sorgfaeltig ab und reinigte die Stelle mit warmem Wasser und einem Putzmittel. Nur ein kleiner dunkler Fleck blieb uebrig.
So weit, so gut: Wenige Tage spaeter flogen beide Insekten durch das offene Fenster wieder zurueck in unser Bad und machten sich an dem Bilderrahmen zu schaffen. Genau neben der alten Stelle fingen sie an, sich ein neues Nest zu bauen. Jetzt war ich aber wirklich verbluefft! Ich war davon ausgegangen, dass ich die Wespenhornissen bzw. Hornissenwespen nie wieder sehen wuerde. Wenn doch, haette ich eher vermutet, dass die beiden, die ich um das Ergebnis ihrer muehevollen und geduldigen Arbeit gebracht hatte, an anderer Stelle, einen zweiten Nestbauversuch starten wuerden. Nein. Etwas zwang sie dazu, exakt denselben Platz fuer ihr zukuenftiges Heim und die Brutstaette ihres Nachwuchses auszusuchen. Wahlfreiheit? Freiheit des Willens? Optimierung durch Erfahrung? Versuch und Irrtum?
Ich wusste inzwischen, wie ich das Nest samt der Insekten entfernen konnte, ohne selbst Schaden zu erleiden. Also wiederholte ich das bereits bechriebene Verfahren. Was soll ich sagen: nur einen Tag spaeter - wo sie den verbracht haben, weiss ich nicht - kamen sie zurueck in unser Badezimmer und zum Naturholzrahmen meines "Nubisches Dorfes" und starteten ihren dritten Versuch. Nur wenige Zentimeter rechts neben dem zweiten, der wiederum nur wenige Zentimeter rechts von der ersten Baustelle liegt. Ist es nachvollziehbar, dass ich an dieser Stelle den beiden Insekten nun ihren Willen liess?
Ihren Willen? Jetzt versucht man uns einzureden, dass Fruchtfliegen ueber einen freien Willen verfuegen - meine beiden bislang nicht klassifizierten Insekten wahrscheinlich ohnehin -, um davon abzuleiten, dass auch wir Menschen mit einem solchen ausgestattet seien. Auf jeden Fall kann ich nur sagen: Pfeifendeckel. Ich sah mich auf einmal in der gleichen Situation wie die beiden Rueckkehrer. Es haette sicher viele Alternativen gegeben, sich an einem anderen Ort ein einigermassen sicheres Nest zu bauen. Aber nein, genau im groesstmoeglichen Gefaehrdungsbereich begannen sie mit dem Wiederaufbau. Genau da, wo ihr Rohbau schon zweimal vernichtet worden war und sie selbst nur knapp mit dem Leben davongekamen. Auf einmal kam mir ihre Haltung vertraut vor und deshalb sympatisch. Und als ich dann beobachtete und erlebte, dass beide Insekten ausgesprochen friedfertig waren, gab ich bei und gestattete ihnen - quasi informell - unser Badezimmer mit uns zu teilen. Komang Sarining, meine Frau, benutzt seither ein Badezimmer im Ostteil des Hauses.
Ich fing an, die beiden Insekten zu beobachten und Fotos von ihnen zu machen. Wie sie vertraut und in Harmonie miteinander an ihrer Heimstatt arbeiteten: aktiv am Tag und ruhig waehrend der Nachtstunden. Ob, und wenn ja, wann sie Sex hatten, weiss ich nicht. Vielleicht gibt es da eine Adoleszenzzeit, bis ihr Nest fertiggestellt ist. Waere ja grundsaetzlich nicht unvernuenftig. Oder?
Auf jeden Fall: willkommen im Absurden, in Absurdistan, bei Sisyphus und dem daraus abgeleiteten Sisyphismus. Willkommen in der griechischen Mythologie, bei Albert Camus und dem Existenzialismus an sich und ueberhaupt.
Uebrigens: Einer der beiden Insekte ist inzwischen verschwunden. Ich nehme an, der maennliche. Unfall? Infarkt? Neue Beziehung? Bestehende Beziehung gescheitert? Burn out? Midlife crisis? ... Ich weiss es nicht. Der verbliebene Insekt baut weiter an dem Haus. Anscheinend unverdrossen. Ich nehme an, der weibliche. Brutinstinkt? Der Zwang, eine angefangene Sache zu Ende zu bringen? Trotzhaltung? Dem Kerl zeig' ich's? Ich weiss auch das nicht.

Sisyphus in der griechischen Mythologie


Es gibt Schlaue und es gibt ganz Schlaue. Der Schlaueste seiner Zeit aber war Sisyphus, der Sohn des Aiolos, dem Beherrscher der Winde. Ueber die Mutter ist nichts bekannt. Sisyphus war der leibliche Vater des Odysseus. Der fuersorgliche Stiefvater des Odysseus war Laertes, der in Antikleia, die Mutter des Odysseus, bis zur Blindheit verliebt war. Sisyphus lebte zur Zeit der Urmenschen, von denen es nur verhaeltnismaessig wenige gab. Das heisst, es war damals nicht sooo schwer, der Schlaueste von allen zu sein.
Sisyphus hatte sich ganz in der Naehe davon niedergelassen, wo spaeter das beruehmte Korinth entstehen sollte, von ihm selbst gegruendet und dessen erster Koenig er angeblich war. Hoch ueber der Ebene, auf einem den maechtigen Bergen vorgelagerten Felskegel gelegen, der noch heute Akrokorinth heisst. Ein Nachteil seines luftigen Wohnsitzes war es, dass es dort oben kein Wasser gab. Jeder Tropfen musste muehsam zur Burg hochgeschafft werden. Aber kein Nachteil ohne Vorteil: die exponierten Lage ermoeglichte einen ungehinderten Rundblick auf die umschliessende Kette hoher Berge und hinaus auf den Saronischen Meerbusen. Ein Spaehernest erster Guete also. Und Sisyphus nuetzte das: Wenn er seinen Beobachterposten einnahm, konnte niemand, der von der Kueste ueber Passwege ins Hinterland oder aus den Bergen zum Meer gelangen wollte, das unbemerkt von ihm tun. Und auf dem Posten war er fast immer. Dafuer war er bekannt und wenig beliebt.
Die Urmenschen lebten in einer Zeit, als es noch Gelegenheiten gab, das Handeln oder Nichthandeln der Goetter, ihre Fehler und Ungereimtheiten gewissermassen aus naechster Naehe zu beobachten und zu belauschen. Selbst Zeus, der Erste unter den Goettern, konnte daran nichts aendern. So geschah es, dass Zeuss, der Frauenverfuehrer und Samenspender, eine gute Gelegenheit wahrnehmen wollte und die bildschoene Aigina aus Phlius entfuehrte. Aigina war die Tochter des Flussgottes Asopos und sie war es, die der im Saronischen Meerbusen, Piraeus und Athen vorgelagerten Insel Aigina, ihren Namen gab. Mit dieser Aigina also versuchte sich Zeus in die Abgeschiedenheit hinter den Bergen um Akrokorinth zurueckzuziehen. Um das zu tun, was er am Liebsten tat ... Wie wir gleich sehen werden, war das ziemlich dumm und kurzsichtig von ihm: Sisyphus naemlich beobachtete Zeus, wie er des Weges kam, unterhalb von Akrokorinth vorbeischritt und schliesslich aus dem Blickfeld seines Beobachters entschwand. Warum sich Zeus – wie seinerzeit bei der Entfuehrung von Europe aus Phoenikien – nicht in einen Adler verwandelt und sich nicht mit der reizenden Aigina auf dem Ruecken durch die Luefte geschwungen hatte, ist uns nicht ueberliefert..
Wie dem auch sei: Sisyphus rieb sich noch immer verwundert die Augen, als auch schon Asopos daherkam, Flussgott und Vater der Aigina. Er suchte nach ihr, und er war auf der richtigen Spur. Als er an der Burg von Akrokorinth vorbeikam, entdeckte er den spaehenden Sisyphus und befragte ihn, ob er seine Tochter gesehen oder von ihr gehoert habe. Wie wir wissen, wusste Sisyphus Bescheid. Aber er schwieg sich aus, schlau wie er war. Er blieb solange stumm und verweigerte solange jede Auskunft, bis ihm der Flussgott, ein Spezialist in Suesswasserfragen sozusagen, oben auf der Burg aus einem knochentrockenen Stueck Fels eine reichlich sprudelnde Quelle entspringen liess. Ja, ja – die Goetter. Uebrigens kann man bei einem Besuch der Mauerreste der ehemaligen Burg von Akrokorinth noch die antike Einfassung des Brunnens sehen, der ueber lange Zeit von eben dieser Quelle gespeist worden war.
Das also war die Leistung, die Asopos erbringen musste, ehe ihm Sisyphus seine Beobachtung von Zeus und Aigina verriet. Ja, Zeus fuehlte sich verraten von dem siebenschlauen Sisyphus. Verraten zum Preis einer Quelle. Der Erste unter den Goettern, der Goetterkoenig, der Frauenverfuehrer und Samenspender, war nicht nur zornig auf den Verraeter, nein, er war ausser sich. Deshalb fiel die ueber Sisyphus verhaengte Strafe recht hart aus: Zeus schickte niemanden Geringeren als Thanatos, den Tod mit dem eisernen Herz und dem ehernen, erbarmungslosen Sinn, zu Sisyphus, um diesem das noch recht junge Leben zu nehmen. Offenbar naeherte sich auch Thanatos der Felsenburg in einer ueberschaubaren Geschwindigkeit – ob zu Fuss, auf einem Reittier oder in einem Gefaehrt, egal, er wurde von Sisyphus entdeckt. Das Ueberraschungsmoment entfiel. Sisyphus hatte Thanatos erkannt, und er, der Schlaueste von allen, nutzte die Gelegenheit, sich etwas ganz besonderes schlaues auszudenken, um den Tod zu ueberlisten.
Was das genau war, ist in dem grossen See des Vergessens von alten Kenntnissen und Weisheiten untergegangen. Sehr schade, dass es nicht an uns gewoehnlich Sterbliche weitergereicht wurde, werden viele Menschen seither gedacht haben, Menschen, die zeitlebens mit ihrer Endlichkeit und ihrer Todesangst haderten und noch immer hadern Und wer tut das nicht? Sehr schade also, wie wir bald sehen werden. Das Ueberlisten des Todes endete damit, dass Sisyphus den Thanatos zu Boden warf und ihn mit starken Stricken fesselte (!). Das Ende des Liedes: a) Sisyphus war dem Tod entkommen, und b) musste von diesem Moment an auf der ganzen Erde niemand mehr sterben. Was fuer eine dramatische Aenderung in der so gut gefuegten Geschichte der Menschheit. Sehr gut fuer die einen, und sehr schlecht fuer die anderen: die Erbschleicher und Sargschreiner, Leichenbestatter und Klageweiber, Priester und Blumenhaendler. Ja, so ist das Leben: es kommt immer auf den Standpunkt an.
Aber wieder gab der zorninge, nachtragende und allmaechtige Zeus Weisung: er schickte Ares, den gutaussehenden, aber dummen und von den Goettern und Menschen gleichermassen verachteten und verhassten Kriegsgott, der dem rechtschaffenen, aber leider verkrueppelten Hephaistos Hoerner aufsetzte, indem er es mit dessen Gattin Aphrodite trieb. Und nicht zu knapp. Diesen Ares also schickte er, um Thanatos zu befreien und Sisyphus endgueltig sterben zu lassen. Thanatos wollte den Widerspenstigen auch gleich mitnehmen, hinunter in die Unterwelt, in das Reich der Toten, den Hades. Jetzt kommt etwas, das uns Bayern sofort „Die G’schicht’ von’ Brandner-Kasper“ von Franz von Kobell ins Gedaechtnis ruft. Der Mineraloge und Schriftsteller Franz von Kobell hatte eine humanistische Schulbildung am aeltesten Gymnasiums Bayerns, dem Wilhelmgymnasium in Muenchen erworben. Deshalb duerfte ihm die griechische Mythologie, unter anderem die Geschichte von Sisyphus, bekannt gewesen sein, die er dann auch in seinen „Brandner-Kasper“ mit eingearbeitet haben duerfte.
Auf eigentlich verlorenem Posten und mit einem Bein bereits im Totenreich, begann Sisyphus mit Thanatos zu feilschen und zu argumentieren und schaffte es schliesslich, mit Merope, seiner zweiten Frau, einige ungestoerte Minuten verbringen zu duerfen. Waehrend dieser kurzen Unterredung beauftragte er sie, Hades und Persephone, dem Herrscherpaar ueber das Totenreich, ab sofort keine Opfer mehr zu bringen. Keine. Ueberhaupt keine. Kein Fitzelchen Fleisch mehr und kein Troepfelchen Blut. Dann musste er sich wohl oder uebel in sein Schicksal ergeben und den letzten Gang eines jeden von uns antreten – den Gang ins Reich der Toten.
Dort fing man bald an, sich zu wundern: der Strom der schon ueber unendlich lange Zeit fliessenden Fleisch- und Blutopfer von schwarzen Schafen und Widdern versiegte nach und nach und versiegte eines Tages ganz. War Sisyphus nicht nur, wie bereits erwaehnt, einer der wenigen Urmenschen, sondern sogar ein Urkoenig und damit Beherrscher der damals bekannten Welt, der Oekumene? Diese Frage stellt sich, hatte doch seine Anweisung an Merope solch eine starke Wirkung, dass das Paar auf dem Thron der Unterwelt verunsichert wurde und an ihrer Macht zu zweifeln begann. Besonders die empfindsame Persephone, die Gemahlin des Hades. Und genau an diese wandte sich Sisyphus. Er redete gewandt und einfuehlsam mit ihr und verbarg seine schlauen Hintergedanken. Er bot sich als Problemloeser an, der dafuer sorgen wollte und konnte, dass der ausgetrocknete Strom an Fleisch- und Blutopfern ganz schnell wieder ins Fliessen kaeme. Und zwar gewaltig. Persephone ueberwand ihr angeborenes Misstrauen, das so vielen Empfindsamen innenwohnt – gleich ob Goettern oder Menschen -, und gestattete dem Sisyphus, den Hades zu verlassen und in der Oberwelt nach dem Rechten zu sehen. Es muss Sisyphus wie ein Traum erschienen sein, als er sich von Persephone und dem Haus des Hades samt seinen dunklen Geheimnissen verabschiedete und allen miteinander ein aus der Tiefe seines Herzens kommendes Aufnimmerwiedersehen zurief. Sein Coup gegen die Goetter war so grotesk, dass er vom grossen Aischylos in einem Satyrspiel verarbeitet wurde, in „Sisyphus Drapete“ naemlich.
Zweimal war er dem entronnen, was am Ende alle Menschen gleich werden laesst, der Sterblichkeit. Aber nicht nur seiner Sterblichkeit wollte er entgehen, sondern auch der Bestrafung durch durch Zeus, den Chef aller Goetter. Sisyphus hatte ihn an Asopos verraten, und Zeus’ Rachsucht, wenn einmal in Gang gesetzt, war fuerchterlich und einfallsreich. Da stand er seiner Schwestergattin Hera in nichts nach. Sisyphus, der es gewagt hatte, das Los aller Sterblichen von sich abzuwaelzen, wurde durch eine geradezu abartige Form des Waelzens bestraft: die Last des Todes und die Kraenkung durch das Sterbenmuessen drueckte der gewaltige Stein aus, den Sisyphus nun auf einen Gipfel hinaufzuwaelzen hatte. Hinauf zu dessen Scheitelpunkt, damit er auf der dahinterliegenden Seite von alleine herunterrollen konnte. Mit allem was Sisyphus an Kraft, Willen und Zaehigkeit hatte, stemmte er den Stein jedesmal hinauf. Hinauf und noch weiter hinauf. Stueckchen um Stueckchen. Und jedes Mal, wenn er, erschoepft und zitternd vor Anstrengung und Wut, den Stein bis an den hoechsten Punkt des Gipfels geschafft hatte, verliessen ihn Kraft, Wille und Zaehigkeit und – tausend Mal schneller als er nach oben gelangt war – donnerte das Sinnbild der menschlichen Endlichkeit und der Vergeblichkeit menschlichen Bemuehens wieder den Berg hinunter. Nur um dort kurz zu verweilen und darauf zu warten, bis Sisyphus erneut versuchen musste, ihn hinaufzuwaelzen und ueber den Gipfel zu wuchten. Immer wieder. Immer wieder. Er erschoepfte sich. Er verzweifelte. Er gab auf. Er starb. Abgearbeitet. Ausgelaugt. Alt und verbittert.
„Sisyphusarbeit“ nennen wir seither eine Taetigkeit, die ausser Muehsal nichts einbringt: keine Freude, kein Erfolgserlebnis, keinen Wachstumschritt, ja nicht einmal einen finanziellen Gewinn.

Mein Freund Sisyphus


In sechs unterschiedlichen Phasen waelzt in meiner Skulpturenfolge „Mein Freud Sisyphus“ Sisyphus keinen Stein, sondern eine Kugel eine Steigung hinauf. Die Kugel symbolisiert die Erde: sie liegt in den Haenden des Sisyphus, in meinen, in Ihren, in unseren. Das Schicksal der Erde liegt in unseren Haenden. Die Angst vor dem Sterben und dem Tod haben wir zwar nicht ueberwunden, aber sie ist kleiner geworden. Drohungen eines Andread Gryphius koennen uns nicht mehr erschrecken: dazu sind wir zu aufgeklaert, zu unabhaengig, zu unglaeubig, zu modern geworden. Das Naturwissenschaftlich-Technische hat das Geistige und das Spirituelle zur Seite gedraengt. Wir glauben nur noch das, was wir mit unseren Sinnen erfassen und wir nachrechnen koennen und was der wissenschaftlichen Ueberpruefung standhaelt. Anstelle von Assoziationen und Gedanken sind die Zahlen getreten. Und anstelle der Religion trat die Macht des Geldes und die Macht der Macht.
Unsere Todesangst hat sich auf eine andere Ebene verschoben. Sie konzentriert sich nun auf ein anderes Objekt und auf ein anderes Sterben: auf unsere Umwelt, auf unser Trinkwasser, auf unsere Nahrungsmittel, auf unsere Bodenschaetze, auf unser Klima – auf unser Ueberleben und das Ueberleben als Spezies der wir angehoeren, der Spezies homo sapiens sapiems.
Dass gestorben werden muss, dass jeder Mensch stirbt, scheinen wir nicht ganz verdraengen zu koennen. Auch wenn ich mich bemuehe, moeglichst schnell jedes welke Blatt wegzunehmen und ausser Sichtweite zu bringen: das welke Blatt erinnerte mich and diesen gewaltigen Prozess, diesen Mahlstrom von Werden und Vergehen. Auch die zahlreichen Feuerbestattungen, an denen ich seit meinem Leben auf Bali teilgenommen habe, lassen mich das nicht vergessen, und auch die Motorradunfall-Statistik des grossen Sanglah-Krankenhauses in Denpasar nicht. Ganz schoen neurotisch. Ich weiss. Aber das sind Erfahrungen und Informationen, die sich in einem sehr engen, sehr persoenlichen Raum abspielen.
Das Sterben unseres Planeten aber und die Vernichtung des Lebensraums fuer die allermeisten Wirbel- und Saeugetierarten - den Menschen eingeschlossen – als Moeglichkeit, ist inzwischen zu uns allen durchgedrungen und scheint vielen ernsthafte Sorgen zu bereiten. Die Zeit, Faunenchnitten mit Apfelbaeumchenpflanzen zu begegnen, gehoert wohl endgueltig der Vergangenheit an.
Ob diese Sorgen schon immer ein Teil der nur auf sich selbst bezogenen menschlichen Todesangst waren, weiss ich nicht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Meine Skuplturenserie zum Thema Sisyphus endet uebrigens mit nur der runden Kugel. Der Erdkugel. Einen Sisyphus gibt es da nicht mehr.
Dem Einzeller ist es wahrscheinlich gleichgueltig, wie unwirtlich die Erde werden wird. Die Erde selbst wird auch kein grosses Gewese darum machen, wenn die sieben, acht oder fuenzehn Milliarden Menschen auf Dauer von ihr verschwunden sein werden und mit ihnen eine grosse Zahl anderer Lebewesen. Das Universum mit seinen ernshaft nicht zaehlbaren Sonnensystemen wird eine solche Veraenderung gar nicht erst wahrnehmen. Stelle ich mir vor.
Und Gott, wie viele Menschen noch immer glauben, der angebliche Kreator des Ganzen? Da ich einen solchen Schoepfergott ohnehin fuer eine blosse Projektion der Menschen halte, wird er mit diesen von der Erde verschwinden. Denke ich mir.

Was sagt uns nun diese Sisyphus-Erzaehlung?
Sisyphus gehoerte offenbar zu den Urmenschen. Sisyphus koennte Koenig oder sogar der Koenig aller Menschen gewesen sein. Sisyphus war schlau. Sisyphus war berechnend: heimlich schwaengerte er Antikleia, die Tochter des Autolykos, der einzige, der Sisyphus an Schlauheit ebenbuertig war. War Antikleia so schlau wie ihr Vater? Wollte Sisyphus mit Vorbedacht mit ihr den allerschlauesten Menschen der Welt zeugen? Der Knabe, der auf diese Weise gezeugt wurde, war - wie wir wissen - der Prototyp des schlauen, einfallsreichen und gewitzten Menschen, naemlich Odysseus.
Sisyphus verriet das Geheimnis um die Entfuehrung der Aigina erst dann an Asopos, als dieser ihm als Gegenleistung eine sprudelnde Quelle aus dem Feld geschlagen hatte. Sisyphus wies, ehe er die Reise in den Hades antrat, seine Frau an, den Herrschern dort ab sofoert keine Opfer mehr zu bringen. Er rechnete also mit deren Irritation und rechnete sich daraus einen Vorteil aus.
Sisyphus war den Goettern nahe und kannte einige ihrer Geheimnisse. Sisyphus verriet Zeus als den Entfuehrer der Aigina. Sisyphus ueberlistete zwei Mal den Tod: beim ersten Mal tat ihm sogar Gewalt an, fesselte ihn und unterband dadurch nicht nur sein eigenes, sondern jegliches Sterben auf der ganzen Erde. Beim zweiten Mal verabschiedete sich Sisyphus - nachdem seine List die gewuenschte Wirkung gezeigt hatte - Aufnimmerwiedersehen von Persephone und den anderen und entkam dem Hades.
Aber Sisyphus kann - bei all seiner Schlauheit - den Strafen des Zeus nicht entkommen. Zeus verfuegte, dass Sisyphus schliesslich dem naturgegebenen Alterungsprozess ausgeliefert wurde und erfand fuer ihn das, was spaeter als Sisyphusarbeit bezeichnet wurde: die sinnlose und erfolglose Arbeit ohne Ende, die den Menschen auszehrt und krank werden und verzweifeln laesst.
Sisyphus lehnte sich einerseits gegen den Allmachtsanspruch der Goetter auf und andererseits gegen ihre allzumenschlichen Gelueste und Handlungen: Zeus entfuehrte das Maedchen, mit dem er Sex haben wollte und bestrafte denjenigen, der ihn als Maedchenraeuber und Verfuehrer blosstellte, Und Asopos, der Flussgott, beging sozusagen Amtsmissbrauch, als er Sisyphus zu der geforderten Quelle verhalf.
Was ein Mensch konnte, Urmensch hin oder her, das konnten auch andere Menschen - viele vielleicht, oder sogar alle. Es knackte im System, es wurde fragwuerdig. Die den Menschen innewohnende Moeglichkeit, sich gegen die Goetter aufzulehnen, sie zu ueberlisten und zu besiegen, wird als der Versuch beschrieben, sich von ihnen zu befreien.

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Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011

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