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Einschraenkung der Einsamkeit

Ernst liebte seine Mutter sehr. Schon immer. Auf jeden so lange sein Erinnerungsvermoegen zurueckreicht. Manches Mal war aus der Liebe sogar ein Begehren geworden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ernst hatte sich sehr frueh dafuer entschieden, seiner Mutter ein guter Sohn zu sein. Besonders anstrengen musste er sich dafuer nicht. Jede seiner Zellen schien ein Mama-ich-hab’-dich-lieb-und-ich-bin-immer-fuer-dich-da-Programm gespeichert zu haben. Das Programm lief gleichmaessig und stetig und ohne Stoerung ab. Einfach so. Ohne weiteres Dazutun. Ganz von alleine und in jeder Situation. Wenn er sich nicht ausgesprochen dagegen wehrte, funktionierte das.
Eigentlich erstaunlich: trotz dieser ungewoehnlich engen und oft stark erotisch aufgeladenen Bindung an die Mutter, grenzte er sich von ihr und dem Vater ab und begann, eigene Wuensche und Ziele zu formulieren und tat alles, sich diese zu erfuellen. Zeitlich fiel das mit dem zweiten Teil seines Studiums zusammen. Es verlangte ihn nach wechselnden intimen und intensiven Beziehungen zu gleichaltrigen und aelteren Frauen. An juengeren oder maedchenhaften Frauen hatte er wenig Interesse. Fuer ihn war es eine Phase des Ausprobierens, Vergleichens und Lernens. Und es war eine Zeit des Geniessens.
Als der Vater ueberraschend starb, fiel Ernst als einzigem Kind die Fuersorge fuer die Mutter zu. Er empfand das nicht als Last. Allerdings: nach dem Studium hatte er eine ausbaufaehige und gut bezahlte Stellung als Assistent der Geschaeftsleitung in einer auf nationaler Ebene operierenden Baustoff-Grosshandlung im Rheinland angenommen. Die Fahrten nach Augsburg zur Mutter waren lange und langweilig. Aber er hielt es sich an sein Versprechen und fuhr, so oft ihm das moeglich war, von Nordrhein-Westfalen ins schwaebische Bayern.
Dennoch bedrueckte Ernst das Gefuehl, seine Mutter mehr oder weniger alleine gelassen zu haben. Dazu kam, dass die Mutter, nicht sehr oft und auch nicht besonders nachdruecklich, tastende Bemerkungen anbrachte, die ein zunehmendes Gefuehl von Einsamkeit zum Thema hatten. Das schmerzte ihn mehr, als er nach aussen hin zeigen mochte. Er begann sich Gedanken zu machen, auf welche Weise er helfen koennte, die Einsamkeit seiner Mutter zu mildern.
Seine Kenntnise in Betriebs- und Volkswirtschaft waren weit besser als solche, die Tiere und Haustiere betrafen. Voegel eingeschlossen. Und doch fielen ihm ausgerechnet Papageien ein, als er wieder einmal darueber nachdachte, ob nicht ein Haustier die Einsamkeit der geliebten Mutter mildern helfen koennte. Wer weiss? Vielleicht wuerde ihr ein Haustier guttun? Wie er aber gerade auf Papageien kam, war im raetselhaft und wuerde ihm auch weiterhin ein Raetsel bleiben.
Wir wollen diesen Aspekt hier auch nicht weiter vertiefen.
Als sein spontaner Einfall mehr Form annahm und seine Idee an Ueberzeugungskraft gewann, fasste Ernst einen Entschluss: ja, er wuerde seine Mutter mit einem sprechenden Papagei ueberraschen, einem umgaenglichen, pflegeleichten Haustier, das helfen sollte, ihre Einsamkeit einzuschraenken.
Auf den Einfall war der Entschluss gefolgt, auf den Entschluss folgte die Tat. So soll es sein. Gehobenen Mutes betrat der gute Sohn eine Tierhandlung in Duesseldorf, ein Geschaeft, das sich auf zahme Papageien und Sittiche spezialisiert hatte. Er schilderte dem Zoohaendler sein Anliegen und – um den Verkaeufer mehr fuer die Sache zu interessieren – auch einiges von dem Hintergrund, fuer wen der Papagei bestimmt war und was zu seiner Kaufabsicht gefuehrt hatte. Eine gute Strategie. Der Verkaeufer erwaermte sich mehr und mehr fuer das Anliegen seines Kunden und machte dessen Angelegenheit fast zu seiner eigenen. Er bot an, einige seiner kostbaren Voegel vorzufuehren und deren Talente und Faehigkeiten gleich mit.
Der erste Papagei sah etwas aeltlich und reichlich gebraucht aus. Der Verkaeufer nannte ihn „Reich-Ranitzky“. Reich-Ranitzky konnte seinen Wolfgang Koeppen – wirklich mit ‚oe’ und nicht mit dem deutschen Umlaut „ö“ – auswendig aufsagen, von vorne bis hinten, von links bis rechts. Was aber so eine grosses Kunststueck auch nicht war, weil doch die literarische Produktion des Wolfgang Koeppen eher mager als umfangreich ausgefallen war. Dafuer trug Reich-Ranitzky noch einiges aus den Werken Martin Walsers vor, aber eher lueckenhaft, auf jeden Fall lieblos. Ernst bemerke sofort, dass Walser nicht zu Reich-Ranitzkys Lieblingsschriftstellern zaehlte. Ungeachtet dessen war er tief beeindruckt. „Der koennte Mutter gefallen“, sagte er zu sich und zu dem Zoohaendler. (Den Verkaeufer in einer Zoohandlung nennt man naemlich einen Zoohaendler, auch wenn er nur Einzeltiere und keine kompletten Zoos verkauft. So ist das nun einmal mit den Eigenheiten der deutschen Sprache.)
Als naechstes wurde „Buonarotti“ praesentiert. Da hielt Ernst erst einmal die Luft an: Buonarottis ohnehin schon farbiges Federkleid war ueber und ueber mit Farbe beschmiert. Eingeklemmt unter seinem rechten Fluegel hielt er einen Pinsel, den er abwechselnd in verschiedene kleine Farbtoepfe tauchte und damit eine vor ihm aufgebaute, weiss grundierte Hartfaserpappe im Format von etwa 60 x 80 Zentimeter traktierte. Mit kraftvollen, entschlossenen Pinselstrichen trug er die Farben auf den Malgrund auf, schlug mit einem zweiten Pinsel auf die Flaechen, hieb mit den Fluegeln dazwischen, rollte mit dem ganzen Koerper darueber, setzte hier und da einen ueberraschenden Farbakzent. Das war Aktions- und Koerpermalerei pur. Pollok, de Koenung und Klein in Reinkultur und spannungsreich vereint auf Buonarottis Malpappe. Ernst blieb die Spucke weg. So etwas hatte er noch nie gesehen, ja, er hatte nie einmal im Traum daran gedacht, dass es so etwas ueberhaupt geben koennte. „Signiert er seine Bilder auch?“ „Klar doch! Hier, sehen Sie genau hin!“ Tatsaechlich, deutlich in dunkelblau auf einem helleren Untergrund stand ‚BUANAROTTI’ zu lesen, und darunter ‚SCHILDERMALER’. „Buonarotti ist kein Italiener, wie man annehmen moechte. Nein, er ist ein hollaendischer Ara aus Indonesien. Er lebte viele Jahre auf Bali. Einige davon zusammen mit dem beruehmten Theo Zandman, der von sich steif und fest behauptet, einmal, der van Gogh Balis zu sein, und zum anderen, im Jahr nicht mehr als zehn abstrakte Bilder malen zu koennen - das wuerde ihn sonst mental und psychisch ueberfordern und demzufolge krank machen. Unser Buonarotti schafft zwischen 200 und dreihundert ‚Abstrakrte’ im Jahr, ohne ins Schwitzen zu kommen. Und zwar nach den streng ausgelegten Kriterien fuer gute Kunst, naemlich: gute Kunst muss einmalig sein, authentisch, ausdrucksstark und beruehrend, im Sinn von den Verstand und das Herz oeffnen. Buonarotti erfuellt all diese Kriterien mit Links und er raeumt Auszeichnungen ab wie Nichts und erzielt Spitzenpreise. Wir verkaufen seine Bilder wie geschnitten Brot. Entweder hat der Buonarotti mehr Hirn und mehr Seele als der Theo oder aber weniger. Aber wer weiss das schon?“ „Fabelhaft ... Wahnsinn ... unglaublich ...“, fluesterte Ernst, „aber vielleicht ist ein abstrakt malender Ara aus Bali doch etwas zu aufregend und zu anstrengend fuer meine alte Mutter? Und als Kuenstler, dessen Bilder sich, wie Sie sagen, so gut verkaufen lassen, wird er wahrscheinlich unerschwinglich teuer sein, oder?“ Der Zoohaendler liess die Frage unbeantwortet.
Im Hintergrund – fast unbemerkt von Ernst – war noch ein dritter Papagei untergebracht. Ein unscheinbares Geschoepf mit farblosem Federkleid und haengenden Fluegeln. „Und der – was hat der drauf? Welche Kunstsstuecke haben Sie dem beigebracht?“ „Ach, wissen Sie, das ist eigenartig mit dem Vogel. Wir haben ihn erst vor wenigen Tagen hereinbekommen. Er wirkt ausgesprochen lustlos und hat keine erkennbaren Interessen oder Talente. Ich glaube, mit dem haben wir kraeftig danebengegegriffen.“ „Aber warum behalten sie ihn dann?“ „Weil Reich-Ranitzky und Buonarotti ehrfurchtsvoll’Grosser Meister’ zu ihm sagen. Deshalb.“



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Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011

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