Der alte Mann und das (Sand)Meer
Christas Bericht von ihrer Saharatour hatte ihn von der ersten bis zur letzten Zeile gefesselt und seither nie mehr ganz losgelassen. Wüste. Es war ein kleines, aber einfühlsam geschriebenes, informatives Buch. Die enthaltenen Fakten betreffend, erinnerte er sich allerdings nur noch an zwei Dinge: einmal, dass sie auf dieser Tour das Blecheln gelernt hätte, zum anderen, dass dabei ihre Partnerschaft in die Brüche gegangen sei. "In der Wüste lernst du den Charakter deines Partners erst richtig kennen. Da trennt sich die Spreu vom Weizen." So hatte sie den Vorgang kommentiert. Was wirklich passierte, darüber schwieg sie sich aus. Wie das mit dem Blecheln vor sich ging aber, erzählte sie beredt und anschaulich.
Daniela lebte vier Jahre am Rande der Sahara-Wüste. Zu Beginn dieser Jahre in Kairo, wo die Wüste im Osten hinter den Muqattam-Bergen beginnt und im Westen bei Giza. Dann rückte sie der Wüste näher, in Luxor, und dann ganz nahe, eigentlich war sie da schon mittendrin, in einem oeden Dorf, ebenfalls am Westufer des Nils. Wüste. Sie war verrückt nach Wueste.
Feste Schuhe, ein Tuch um den Kopf, ein paar Datteln und eine volle Wasserflasche - das reichte ihr. So zog sie los, noch ehe die Sonne hinter Luxor aufging, und noch ehe ihre rosa Strahlen die Palmen und Zuckerrohrfelder, die Betonskelette und die rohen Ziegelsteinmauern und den Schlammverputz an den wie mit grossen Händen geformten Häusern in ihr warmes Licht tauchten, die mächtige Tempelanlage des Amenophis III. in Medinet Habu und die hoch aufragenden Thebaner Berge. Oft noch vor dem Scheppern und Quäken der Lautsprecher mit ihren schrillen Rufen zum ersten Gebet ging sie hinüber nach Medinet Habu, ging vorbei an der geschlossenen Ticket Box, überquerte den steinigen Platz an der Kreuzung der Strassen, die zum Valley of the Queens und zum Valley of the Kings führen, nach Qurna und nach El Gezira zur Nilfähre, auf der die Menschen nach Luxor fahren oder von daher kommen. Sie ging hinauf mit festen und sicheren Schritten. Sie war verrückt nach Wueste. Und sie war verrueckt nach Gehen. Nach Wandern. Nach Radfahren. Nach Schwimmen. Nach Bewegung jeder Art. Einmal lief sie vom Kurfürstendamm in Berlin nach Potsdam, überquerte dabei die Autobahn, lief durch den nächtlichen Grunewald, von elf Uhr abends bis vier Uhr morgens, fünf lange Stunden durch die Nacht. Ja, sie war verrückt auf Gehen.
Sie ging die gepflasterten Stufen hinauf, dann den schmalen, kalksteinweiss gepuderten Weg, an den beiden Polizeistationen vorbei. Hinauf, bis sie den Grat der Hügelkette erreichte, hoch über dem Fruchtland westlich des Nils. Und dann weiter nach Westen, erst steil und dann flach abfallend, zum zerklüfteten Gegenhang hin, dann, ruhiger und sanfter werdend, zur unermesslich weiten Ebene der Libyschen Wüste, dem östlichen Teil der Sahara. Wüste.
Sie kam gerne hierher. Alleine. Sie hatte scharfe Augen. Registrierte aufmerksam. Eine gute Beobachterin. Eine gute Zuhörerin. Mit einem bewundernswerten Gedächtnis für Einzelheiten, Namen, Begebenheiten. Aber nicht fuer Dinge, die sie unmittelbar selbst betrafen: ihr Inneres, ihr Herz, ihre Seele - daran erinnerte sie sich nur ungerne und oft nur unter Schmerzen. Da schienen die Zugaenge und Verbindungen gestoert zu sein.
Sie sass da und dachte nach. Dachte nach über seinen Vorschlag, seine Bitte, seine mit Nachdruck vorgebrachte Forderung. Nein, in Wirklichkeit war es keine Forderung, was ohnehin schon heftig genug gewesen wäre. Nein, in Wirklichkeit war es eine Erpressung, ein „Wenn nicht, dann ...“.
Sie dachte nach über seine Forderung, ihn nach Griechenland zu begleiten, nach Paros. Dort lebte und arbeitete er. Dort hatte er zumindest voruebergehend einen Platz gefunden, an dem er es aushielt. Seit über drei Jahren schon. Dorthin sollte sie ihm folgen. Die Frau folge dem Manne nach. Er konnte zwischendurch so absurd altmodisch sein und erschreckend alttestamentarisch. Aber er hatte ihr versprochen, dann mit ihr nach Ägypten zu kommen. Sich mit ihr in Aegypten niederzulassen. Miteinander ein Haus zu bauen, miteinander zu arbeiten, Familie, Freunde und Bekannte um sich zu haben, gemeinsame Vorhaben zu verwirklichen. Noch einmal beruflichen Erfolg anstreben, andererseits etwas für die Kinder und Jugendlichen aus der Gegend zu tun, die dort, wie in vielen der laendlichen, unterentwickelten Gebiete in Aegypten so unertraeglich benachteiligt waren. Vor der ptolemäischen Thot-Kapelle bei Medinet Habu wollten sie ein Drama aufführen, zusammen mit den Dorfbewohnern, mit Jung und Alt. Spass beim Drama. Er wollte den Buben Handwerk beibringen, sie den Maedchen Sprachunterricht geben. Das alles hatten sie hundertmal miteinander besprochen, durchgekaut, abgeschaetzt, abgewogen, verworfen, fest eingeplant. Ein spannender Prozess war das, waehrend dessen sie sich in ihren unterschiedlichen Denkweisen kennenlernten, sich aber auch oft in die Haare kriegten und lautstark miteinander stritten.
Mit ihm zusammen zu sein, machte Spass. Auf jeden Fall war es mit ihm bis jetzt keine Minute langweilig gewesen. Er sprudelte über von Geschichten, Einfällen und Vorschlägen. Und er hörte sich auch gerne ihre Geschichten an, ihre Einfälle und Vorschläge.
Dann machte er ihr einen Heiratsantrag. Das klingt romantischer als es sich in Wirklichkeit abspielte. Sie kannten sich noch keine Woche. Sie sassen an einem Januarabend eher frierend als wohlig entspannt in einem lärmenden Coffeshop am Rande der Hauptstrasse von El Gezira, ganz in der Nähe der Fähranlegestelle. Sie plauderten. Unvermittelt und ohne jede Vorwarnung sagte er zu ihr: "Daniela, ich möchte dich heiraten." Wusch. Peng. Sie war erschrocken. Das kam zu rasch. Das kam zu unvermittelt. Sie war Mitte vierzig. War einmal verheiratet gewesen. War geschieden. Kannte viele Männer. Hatte aber nur wenige Liebhaber gehabt in ihrem Leben. Hatte auch nie ein grosses Verlangen danach verspuert. Freunde ja. Liebhaber selten. Eine zweite Ehe: eher nicht.
Sie hatte ihm nicht gleich abgesagt. Harry, ihr englischer Freund, hatte ihr vor zwei Jahren ebenfalls einen Heiratsantrag gemacht. Viel formaler. Viel englischer. Mit einem kleinen Geschenk und einer roten Rose hatte er sie bei einem Abendessen in einem der airconditionierten, kalten und teuren Hotelrestaurants in Luxor überrascht. Damals hatte sie gelacht: "Komm, Harry, lass uns doch einfach Freunde bleiben. Gute Freunde. Das ist besser so. Für jeden von uns. Oder?" Er war gekränkt gewesen und es dauerte eine Weile, bis sich ihr Miteinander wieder entspannt hatte. Jetzt waren sie tatsächlich gute Freunde. Sie ritten wieder miteinander aus. Vertrauten einander und mochten einander. Aber sonst?
Beim Ausreiten hatte er sie kennengelernt. Nein. Stimmt nicht. Nach einem ihrer Ausritte begegneten sie sich das erste Mal. So muss es heissen. Sie war mit Harry hinausgeritten in die Wüste. Harry hatte ihr das Reiten beigebracht, und Harry war derjenige, mit dem sie am liebsten ausritt. Er war sicher und erfahren, geduldig und umsichtig. Doch an diesem Tag war ihr die Stute durchgegangen. Es dauerte lange, bis sie das temperamentvolle Tier wieder unter Kontrolle hatte. Unter Kontrolle. Ja, Kontrolle spielte eine grosse Rolle in ihrem Leben. Sie war noch immer aufgeregt und verärgert gewesen, als sie in Habu ankamen. Verschwitzt und ausser Atem. Mit hochrotem Kopf schwang sie sich aus dem Sattel, stellte sich neben das Pferd, nahm die Reitkappe ab und schüttelte ihre langen schwarzen Haare. Und sah ihn sitzen.
Er hatte sie kommen sehen und beobachtet. Er sass mit dem dicken Ahmed vor dessen Alabasterladen. Sie hatten miteinander Tee getrunken, geschwätzt, gewitzelt, gelacht. Er mochte den Anblick der beiden auf ihren Pferden. Er war frueher auch gerne geritten. Früher. Zusammen mit seiner Frau. Oder mit seiner jüngeren Tochter. Sie hatten zwei eigene Pferde besessen. Wie als Skifahrer, war er auch als Reiter nur mittelmässig. Aber er war mutig und er hatte viel Spass am Ausreiten: über die Felder in der Umgebung, durch dichten Wald, über nur schwer zu passierende Wege, entlang tief eingeschnittener Bachläufe. Eine kurze Wehmut ueberkam ihn. Ein nettes Paar, dachte er. Ein älterer Mann und eine jüngere Frau. Etwas ungewöhnlich. Häufiger sah man in diesem Teil Ägyptens ältere Europäerinnen mit jungen Ägyptern. Oder ältere Europäer mit jungen Ägyptern. Hier waren erkennbar beide aus Europa. Jedenfalls Westler und auf jeden Fall Weisse.
Als sie so dastand und ihre langen schwarzen Haare schüttelte, dachte er: schade, dass sie verheiratet ist. Und: Sieht echt gut aus, die Frau. Und interessant. Sogar aufregend. Sie war gross und schlank. Hatte ein scharf und klar geschnittenes Gesicht. Na ja, was solls: eine verheiratete Frau. Trotzdem sprach er sie an. Auf Englisch. Das Englisch ihrer Antwort hatte einen Akzent, den er nicht gleich zuordnen konnte. Er fragte: "Woher kommen Sie?“ „Aus welchem Land kommen Sie?" Sie lachte: "Das sind eigentlich die typisch ägyptischen Fragen: ‚Wie heisst du?’ ‚Woher kommst du?’ ‚Was ist dein Beruf?’" Aber sie beantwortete seine Fragen. Auch die, die er ihr gar nicht gestellt hatte.
Das war der Anfang eines Gespräches, das munter weiterfuehrte. Sie liess sich auch von Harry nicht unterbrechen, als der ihr zurief, endlich zum Tee zu kommen. Ihm wurde das peinlich. Schliesslich ging sie. Er hatte herausgefunden, dass sie mit Harry befreundet war, nicht verheiratet. Das freute ihn. Mit einer verheirateten Frau hätte er keinen Flirt angefangen. Damals nicht mehr.
Tage später trafen sie sich an der Stelle, wo die neue Strasse nach Medinet Habu von der Hauptstrasse abzweigt. Er hatte sie nicht kommen sehen. Gedankenverloren ging er unter der hellen, stechenden Mittagssonne zur Kreuzung. Er wollte ein Sammeltaxi zur Nilfähre erwischen. Jemand rief seinen Namen. Verwundert blieb er stehen, schaute sich um und erkannte sie dann. Sie sah gut aus in den engen schwarzen Hosen und der langen weissen Bluse. Das Haar hatte sie zu einem lustigen Pferdeschwanz hochgesteckt. Reiterin. Erst jetzt bemerkte er, dass sie einen ziemlich kleinen Busen hatte. Sie gingen aufeinander zu, begruessten sich und blieben in der Mitte der Strasse stehen. Und redeten. Und redeten. Und redeten. Ohne Ende. Passanten musterten sie. Manche blieben stehen und beobachteten sie. Laechelten. Er lud sie ein, am nächsten Tag mit ihm auszugehen. Um seinen Geburtstag zu feiern. Einundsechzig. Sie sagte ab. Sie habe den Abend bereits verplant. Leider. Seine kleine Enttaeuschung liess es sich nicht anmerken.
Sie trafen sich ein zweites Mal. Dieses Mal in Luxor. Wieder zufällig. Und wieder war sie es, die ihn ansprach. Seinen Namen rief. Dieses Mal setzten sie sich auf eine Hotelterrasse. Tranken Tee. Und plauderten. Stunden vergingen. Sie verabschiedeten sich voneinander. Und sahen sich wochenlang nicht mehr. Er hatte sich von Ahmed ihre Telefonnummer besorgt. So konnte er ihr mehrere SMS schicken. Sie wurden nicht beantwortet.
Er bekam Besuch von einem Freund und einer Freundin aus Deutschland. Sie feierten gemeinsam Weihnachten und Silvester. Sie kamen gut miteinander aus und unternahmen Ausfluege in die Umgebung und eine abwechslungsreiche Reise ans Rote Meer. Die Zeit verging schnell. Fast hatte er Daniela vergessen. Er hatte aufgehört, ihr weitere Nachrichten zu schicken.
Anfang Januar schickte sie ihm einen Neujahrsgruss auf sein Handy, den er erwiderte. Keine Erklärung. Nichts weiter. Dann wollte sie sich auf einmal mit ihm treffen. Seine Freunde waren abgereist. Er hatte wieder Zeit an den späteren Nachmittagen oder an den Abenden. Sein Schreiben hatte er auf die Morgen-, Mittags- und die frühen Nachmittagsstunden gelegt. „Die Oedipus-Sache“ hiess der Titel des Manuskriptes, an dem er arbeitete. Knochenarbeit. Lesen. Schreiben. Redigieren. Korrigieren. Die Dateien auf CD kopieren. Zum Ausdrucken bringen. Viele Stunden alleine vor dem Bildschirm. Spannend. Ja. Aber auch ziemlich einsam. Und oft auch mühsam.
Nachmittags trafen sie sich jetzt öfter in einem Café in Luxors Innenstadt. Das Café hiess „Oasis“. Es wurde zu ihrem Hideaway, zu ihrer tatsächlichen Oase. Manchmal trafen sie sich in Luxor zum Abendessen. Einmal machten sie eine Wanderung hinauf in die Thebaner Berge. Hier küssten sie sich zum ersten Mal. Beide waren dabei so aufgeregt gewesen, dass sie mit den Zähnen aneinander gerieten. Klack. Knirsch. Verlegenes Lachen. Wenige Tage später machte er ihr dann den Heiratsantrag. Offenbar hatte ihn der Gebisskuss nicht davon abhalten koennen. Und dann fuhren sie für drei Tage nach Aswan.
Sie hatte ihn nicht ausgelacht. Sie hatte ihm nicht abgesagt. Sie war verrückt genug gewesen, diesen Antrag ernst zu nehmen, und sie hatte sogar angefangen, ihn zu bedenken. Sie war eine Frau, die gerne schnelle und spontane Entscheidungen traf - in kleinen, nachgeordneten Dingen. In wichtigen Angelegeheiten aber, in Dingen, die direkt ihr eigenes oder das Leben ihrer Lieben betrafen, war sie umsichtig, geduldig und gewissenhaft. Sie bedachte, wog ab, drehte und wendete die Möglichkeiten oftmals und liess sich Zeit, bevor sie sich entschied.
Jetzt sass sie nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie sich das erste Mal geküsst hatten. Sie schaute hinunter zum Ramesseum, einem der zahlreichen Tempel, die der bauwütige zweite Ramses in Theben hatte errichten lassen, erweitern oder instandsetzen. Der Aussenbereich des Ramesseums wurde inzwischen Jahr für Jahr archäologisch erkundet, kartiert und teilweise restauriert. Sehr zur Freude vieler Männer aus Qurna, die während der Grabungsperioden im Winterhalbjahr eine feste und nicht schlecht bezahlte Arbeit fanden. Der französische Archäologe und Leiter der Mission war kein Antreiber und Menschenschinder. Nie hätte er mit einem Stock auf sie eingeschlagen, so, wie sie selbst oft auf ihre zierlichen Esel oder auf ihre Frauen und ihre Kinder einschlugen.
Daniela genoss den Blick in die Tiefe und in die Weite und ihr Herz sprang ein wenig, als sie im Dunst des Morgens den Nil schimmern sah. Aber sein Erpressungsversuch ärgerte sie. Erstens hasste sie Nötigungen und Erpressungen. Zum anderen mochte sie es nicht, wenn jemand ihr sein Tempo und seine Richtung aufdrängen wollte. Nur das nicht. Sie war lange genug gegängelt worden. Von verschiedenen Seiten. Gängeleien würde sie niemandem mehr gestatten. Niemandem. Und nie wieder. Und jetzt das. Es ärgerte sie, dass seine Bitte gerade zu dem Zeitpunkt kam, als sie angefangen hatte zu überlegen, aus Oberägypten wegzugehen, vielleicht aus Ägypten überhaupt, um mehr aus ihren Begabungen, Kenntnissen und Fähigkeiten zu machen. Auch, um mehr Geld zu verdienen. Unter den gegebenen Umständen konnte sie an eine dauerhafte Rückkehr ins teure Europa nicht einmal denken - dazu reichten ihre Ersparnisse nicht aus. Auch eine längere Krankheit, ein Unfall oder auch nur eine kostspielige Zahnbehandlung würden sie schnell in finanzielle Schwierigkeiten bringen.
Sein Heiratsantrag und sein Wunsch, mit ihm nach Paros zu kommen, brachten ihre noch ungeordneten Überlegungen noch mehr durcheinander. Sie konfrontierten sie mehr als ihr lieb war mit der Notwendigkeit, ihre Lebenssituation ernsthaft zu überdenken und zu klären. Im Hintergrund konnte sie die sanft ermahnende Stimme ihrer älteren Schwester hören.
Andererseits: So ein Typ würde ihr so schnell nicht wieder über den Weg laufen. Etwas alt vielleicht. Doch was hiess das schon - sie war ja auch keine zwanzig mehr. Drei Mal geschieden. Sie war auch geschieden - wenn auch nur einmal. Der Kerl war stattlich, sah passabel aus, hatte - wenn er wollte - akzeptable Manieren. Redete wie ein Buch. War unterhaltsam. Konnte auch zuhören. Es erstaunte sie, wie viele Einzelheiten er sich aus ihren gemeinsamen Gesprächen gemerkt hatte. Das freute sie. Das konnten nicht viele Männer. Wie sie überhaupt nicht viele Männer kannte, die Geschichten so farbig erzählten wie er. Und die sich umgekehrt gerne ihre Geschichten anhörten. Und Fragen dazu stellten. Beides mochte sie.
Er war klug, dachte schnell und hatte viele originelle Gedanken und Einfälle. Nein ... sein Einfallsreichtum war manches Mal geradezu beängstigend und überwältigend. Ein Künstler. Und Autor. Die Kombination gefiel ihr. Künstler oder Autor hätte schon gereicht. Aber beides zusammen machten den Mann noch interessanter. Er hatte einiges gelesen und sich verschiedene Kenntnisse angeeignet, besonders in Geschichte, Kunst und Kunstgeschichte - Bereiche, die sie selbst auch interessierten. In Literatur war er schwächer. Und in Musik eine Niete. Was macht's: Das waren ihre besonders starken Gebiete. Von den fünfeinhalb Sprachen, die sie beherrschte, einmal abgesehen. Seine Skulpturen und Reliefs, die er ihr im Internet gezeigt hatte, gefielen ihr. Von einigen Textstellen in seinen Manuskripten, war sie angetan gewesen. Andere brachten sie zum Lachen. Gab's da noch mehr?
Er behauptete, treu sein zu können. Das wuerde er beweisen müssen. Sie war sehr eifersüchtig. Da hatte sie wenig Spielraum in ihren Empfindungen und in ihrem Handeln. Aber in vielen, auch in wichtigen Fragen, waren sie aehnlicher Meinung. Zumindest im Kaffeehaus. Und im Bett? Sie laechelte in sich hinein, als sie daran dachte ...
Seit sie sich kannten, hatte er ihr Geschenke gemacht. Nichts Grossartiges. Aber mit Aufmerksamkeit und Geschmack ausgewaehlt. Und er hatte angefangen, kleine Collagen und Applikationen für sie anzufertigen, mit Texten, die teilweise recht anzüglich waren. Oder witzig. Oder bedeutungsvoll. Er hatte sie in Luxor rahmen lassen ...
Aber ihn deshalb gleich heiraten?
Sie hatte mit ihrer aelteren Schwester darueber gesprochen. Per e-Mail, per SMS und am Telefon. Die Schwester legte die Entscheidung selbstverstaendlich in Danielas Haende, riet ihr aber, mit ihm nach Paros zu gehen und einen zeitlich befristeten Versuch zu riskieren. Und zu schauen. Und dann erst zu entscheiden. Kein schlechter Rat.
Daniela laechelte wieder in sich hinein. Sie laechelte, und ihr grosser Mund zog sich breit von links bis rechts. Genau diese Antwort, beziehungsweise diesen Ratschlag hatte sie von ihrer aelteren Schwester hoeren wollen. Natuerlich wollte die Schwester sie wieder verheiratet sehen. In sichereren Verhaeltnissen sozusagen. Und gluecklich natuerlich. Zusammen mit einem guten Typen. Daniela hatte ihr von ihm erzaehlt und davon, wie es ihr mit ihm erging. Haarklein. Wie man das unter vertrauten Schwestern manches Mal tut.
O.K. Sie wuerde mit ihm auf seine Insel gehen. Mit ihm in seinem Haus leben. Mit ihm all das tun, was eine Frau und ein Mann, die sich gerade erst kennenlernten, miteinander tun koennen, um sich besser kennenzulernen. Sie wuerde sehr genau darauf achten, ob er die Sache mit der Treue wirklich ernst meinte und ob er ihr gegenueber in seiner eigenen Umgebung noch genauso liebenswuerdig, aufmerksam und begehrend sein wuerde wie am Westufer des alten Nil. Aber sie wuerde nicht sofort mit ihm kommen. Sie konnte und wollte ihrem Chef nicht einfach die Brocken vor die Fuesse werfen und abhauen. Eines Mannes wegen. Eines unbekannten Mannes wegen. Eines Eheversprechens wegen, das vielleicht nur so dahingesagt war. Eine Vereinbarung war eine Vereinbarung. Wie sie unbedingte Treue einforderte, war sie selbst auch treu. Auch als Mitarbeiterin. Bis Mai wuerde er sich gedulden muessen. Den 10. Mai hatte sie sich im Kalender angestrichen. Natuerlich in rot. Rot, die Farbe der Liebe und der Leidenschaft, die Farbe der Revolution und des Blutes, die Signalfarbe für Achtung, für Stopp, für Warten. Der 10. Mai. Aber dann wirklich, und mit Haut und Haaren. Ohne Vorbehalte. Ohne eine versteckte Hintertuere. Das waere doch gelacht, diesen Stier nicht bei seinen Hoernern packen zu koennen. Sie wurde rot, als sie sich ertappte, dass sie dabei an ein ganz bestimmtes Horn dachte. Dann lachte sie laut.
Bevor sie ueber den Bergkamm hinüberging und dann hinabstieg zum Riesentempel der Hatschepsut, dem Haus der Millionen Jahre, schickte sie ihm eine SMS. „O.K.“, schrieb sie, „ich komme zu dir. Aber erst am 10. Mai. Daniela.“ Es war heraus. Sie hatte sich entschieden. Sie hatte sich bekannt. Deshalb lachte sie jetzt laut auf, so laut, dass sich die schlaefrig-faulen Polizisten in der Kontrollstation unter ihr ruckartig umdrehten und den steilen Hang hinaufschauten. Sie suchten danach, woher das schallende Gelächter kam. „Schaut nur her, schaut nur: ihr habt ja keine Ahnung, wie gut ich mich fühle. Wie gut es mir geht. Gut und frei und glücklich.“ Dass sie dabei auch etwas ängstlich war, musste sie diesen jungen Maennern da unten ja nicht auf die Nase binden..
Jetzt aber lag sie im Bett. In Siwa, der bekanntesten Oase in den beiden ägyptischen Wüsten. Sie lag im Bett eines kleinen Bungalows, unter alten und hohen Palmen, im Garten eines Hotels. Das Hotel hiess sinnigerweise „Palm Trees Hotel“. Klar. Sie hatten sich dort eingemietet, nachdem sie für einige Nächte ein Zimmer in einem sehr lauten Haus direkt am Dorfplatz bewohnt hatten. Das Palm Trees war romantischer und ruhiger. Und billiger.
Aber erst einmal lag sie flach. Schon in Kairo hatte sie sich heftig über den Lärm beklagt, ueber die vielen Menschen und die schlechte Luft. Obwohl sie frueher in Kairo gelebt und dort gearbeitet hatte und die Stadt viel besser kannte als er. Das Fayoum, in das sie anschliessend gefahren waren, fand sie enttäuschend. Wo sie doch ziemliche Hoffnungen in diese Halboase gesetzt hatten. Sie wollten eventuell ins Fayoum ziehen, wenn sie nach Ägypten übersiedeln würden. Aber fuer ihren Geschmack gab es da zu viel Zuckerrohr, zu viele Kamele, zu viele Traktoren, zu viele Bauern, zu viele Fundamentalisten, zu viele Männer mit langen Bärten. Und zu wenig Dinge von tatsaechlichem Interesse. Fand sie. Er gab ihr Recht.
Schon nach zwei Tagen in Siwa behauptete sie, die Oase sei wie ein Rothenburg ob der Tauber: ein Markenartikel; für eine bestimmte Zielgruppe entworfen und nicht ungeschickt beworben. Es fehle nur noch die grosse Zahl an Besuchern. Deshalb war ein neuer Flughafen geplant, der auch bald gebaut und in Betrieb genommen werden wuerde. Deshalb eine Herberge mit einhundert Chalets, mit Pools, Restaurants und Health Center - einfach so in den Sand gesetzt. Beide mochten diese Formulierung auf Anhieb und setzten fortan alles, was ihnen nicht passte, einfach in den Sand. Das sei aber nicht das Schlimmste, behauptete sie. Schlimmer sei es, dass die Bewohner Siwas angefangen hätten, an diese Marke zu glauben und sie mit ihrer Lebenswirklichkeit zu verwechseln. Jetzt hätten sie Schwierigkeiten mit dem Spagat.
Er hatte mehr Schwierigkeiten mit seiner Beobachtung, dass die Oasenbewohner eine fast geschlossene Gruppe bildeten und die Touristen eine zweite. Dass es zwischen den einheimischen Männern oft herzlich und heiter zuging, die Gäste aber von dieser Herzlichkeit und Heiterkeit ausgeschlossen waren. Er spürte die Distanz und die Reserviertheit. Er führte sie auf die spezielle Lebensart der Oasenbewohner zurück, die hier jahrhundertelang abgeschnitten von der Welt gelebt hatten. Und auf die sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten, selbstverstaendlich. Auch auf schlechte Erfahrungen, die Einheimische moeglicherweise mit Touristen gemacht hatten. Das alles waren Mutmassungen, mit denen er zu begründen versuchte, dass die mitunter harsche Unfreundlichkeit bestimmt nicht persönlich gemeint war.
Auch Daniela hatte ihre Schwierigkeiten. Überreizung, Übermüdung, Enttäuschung, ihre bevorstehende Periode - einiges war zusammengekommen. Sie war unleidlich geworden. Sie wollte alleine sein. Sie wollte im Bett bleiben. Sie wollte ausschlafen können. Sie wollte sich hängen lassen können. Die Wüste sollte warten. Sie hatten lange genug warten müssen: Die Wüste auf Daniela. Und Daniela auf die Wüste. Ein paar Tage mehr oder weniger - was kümmerte das ein Sandkorn?
Er war enttäuscht. Er hatte sich auf den gemeinsamen Ausflug gefreut. Auf die erste gemeinsame Wüstenwanderung. Daniela wollte, dass er alleine ging. Dass er sich nicht abhalten liess durch ihre Unleidlichkeit. Sie wollte gerade jetzt seine Gesellschaft nicht. Sonst schon. Immer. Und sehr gerne. „Das weisst du doch.“ „Oder?“ „Ja.“ „Wirklich?“ „Klar weiss ich das.“ „Ganz sicher?“ „Ganz sicher.“ „Dann geh doch endlich!“
Also hatte er am Abend noch seine Sachen für den nächsten Morgen herausgelegt. Zusammen mit dem Rucksack und den Wanderschuhen, den beiden Eineinhalbliter-Wasserflaschen und der Sonnenlotion, Schutzfaktor 40. Mit Vitamin E? Wieso Vitamin E? Er wollte das Zeug doch nicht essen. Auch den roten Sarong legte er dazu, den sie aus Bali mitgebracht hatten. Wenigsten dafür war die Reise auf die sogenannte Paradiesinsel gut gewesen. Schwamm darüber. Das Paradies ist woanders. Irgendwo. Das wusste er schon vorher. Irgendwie. Am Morgen stieg er vorsichtig aus dem Bett, ging kurz ins Bad, zog sich an und schlich hinüber auf ihre Seite des Bettes. Er küsste sie zum Abschied. Mit vielen kleinen Küssen. Konnte dann nicht widerstehen und öffnete mit seiner Zunge ihre Lippen. Vorsichtig. Suchte ihre Zunge. Fand sie. Daniela bewegte sich im Schlaf. Sie schmeckte gut. Er streichelte ihre Brüste. Besonders die linke, die ein wenig kleiner war als ihre Schwester. Die linke war seine Lieblingsbrust. Die Mitleidsbrust. Dann gab er ihr noch ein Bussi zwischen Unterbauch und Oberschenkel. Und auf ihr verstecktes Wäldchen. Endlich ging er. Daniela öffnete die Augen, lächelte entspannt, drehte sich zur Seite und sagte leise in ihr Kopfkissen: "Servus, mein Liebster". Und schlief weiter.
Es war noch dunkel, als er aus dem Haus ging. Die Lautsprecher hatten noch nicht zum Gebet gerufen. Einige Läden wurden eben aufgesperrt. Ein Obst- und Gemüseladen hatte bereits geoeffnet und eine gelbe Glühlampe beleuchtete Trauben und Orangen, Äpfel und Bananen, Paradiesäpfel und Birnen, Datteln und kleine Zitronen. Dazu Gemuese - manche Sorten kannte er, manche waren ihm fremd . Er kaufte Bananen und Orangen und, nachdem er eine davon gekostet hatte, ein halbes Kilo Trauben. Von einer hellhäutigen Sorte Datteln liess er sich ebenfalls ein halbes Kilo abwiegen. Für alles zusammen zahlte er sechzehn Aegyptische Pfund. Gut zwei Euro also. Nicht gerade billig, fand er. Touristenpreise. Er konnte das nicht einfach so hinnehmen und noergelte deshalb noch eine Weile halblaut vor sich hin.
Er ging zurück zum Palmtrees, packte einen Teil des Obstes in den Rucksack, den anderen Teil stellte er Daniela vor die Türe. Dazu einige Fladen von dem Brot, die er beim Bäcker gekauft hatte. Der andere Teil des Brotes kam in seinen Rucksack. Er holte das Fahrrad unter der Treppe hervor und schob es auf die Strasse. Dann stieg er auf, überquerte den Platz und bog an dessen Ende nach links ab - genau nach Süden. Inzwischen hatten die Lautsprecher die Gläubigen in die Moscheen gerufen. Männer gingen zum Beten. Köpfe und Schultern in karierte Tücher gehüllt. Frauen waren unterwegs. Schwarz und grau vermummt. Steifbeinige Esel trappelten und zogen klapprige einachsige Karren. Die Karren rollten auf Autoräder mit abgefahrenen Reifen. Er radelte nach Süden.
Langsam ging die Sonne auf. Hinter den Hügeln im Osten der Oase wurde es hell. Die zackige Hügelkette stand im vagen Gegenlicht. Dahinter ein Streifen Licht. Gelbliches Rosa. Darüber Graurosa. Darüber Grau mit einem sanften Übergang in ein helleres Blaugrau. Mittleres Blau. Kräftiges Blau. Und darüber das unendliche Blau des frühmorgendlichen Himmels. Unendlich weit. Unendlich schön. Er fuhr in die Richtung des grossen Sandsees. Das hatten Daniela und er sich ausgeguckt. Jetzt war er alleine unterwegs. Schade. Er wäre viel lieber mit ihr zusammen gegangen. Aber besser alleine, als gar nicht. Ein ganzes Stück hinter dem Hotel stellte er das Fahrrad ab. Er musste es nicht absperren. Niemand würde es wegnehmen. Niemand würde ein Fahrrad, einen Eselskarren oder ein Automobil stehlen. Niemals. Das war Siwa. Die Siwa-Oase. Seine Bewohner waren Siwan. Sie sprachen Siwi, einen Berberdialekt. Kein arabisch. Da wurde nicht gestohlen. Nicht betrogen. Nicht gebettelt. Da biederte man sich nicht an. Da tat einem niemand schön. Da prostituierte sich niemand. So hiess es. Und er wollte das gerne glauben.
Sie hatten sich eine Wanderung nach Süden ausgedacht. In die anderen Himmelsrichtungen haette es vergleichsweise lange gedauert, in die tatsächliche Wüste zu kommen. Wohnbezirke, Industriegelände und die vielen eingezäunten Plantagen lagen dazwischen. Also nach Süden. An diesen Plan hielt er sich. Er liess das Fahrrad stehen, ordnete Jacke und Rucksack und ging los.
Auf einmal war er mittendrin. Ohne Übergang war er in der Wüste. Ringsum Sand. Feiner gelber Sand. Dazwischen Geröll. Da und dort grössere Steinbrocken. Nur leichte Erhebungen und Senken. Sonst alles platt und glatt. Schaute er vor sich auf den Boden, konnte er Hufspuren sehen. Klein. Zierlich. Noch nicht verweht. Er kannte sich nicht aus mit Tieren und deren Spuren. Aber die Abdrücke gefielen ihm. Auch die diagonalen Schleifspuren. Kleine Schlangen wahrscheinlich. Er hatte keine Erfahrungen mit Schlangen. Deshalb hatte er auch keine Angst. Schaute er zum Himmel, sah er hinauf in ein unendliches Blau. Reines Blau. Transparent und opak gleichzeitig. Keine Trübung. Keine Wolke. Kein Rauch. Kein Smog. Nur wenn er sich umdrehte, im Norden - vom Mittelmeer her - zogen hohe dichte weisse Quellwolken auf. Bewölkt im Norden, wolkenfrei im Sueden, im Westen und im Osten.
Es war noch immer kalt. Obwohl er flott ging, war er froh, dass er sich entsprechend warm angezogen hatte. Es würde nicht lange dauern, dann würde es warm werden. Und wenig später heiss. Das Gehen im weichen Sand war angenehm. Freilich war es leichter, auf festem Grund zu laufen. Manchmal sank er tiefer ein. Manchmal rutschte er etwas ab. Nichts Beachtenswertes. Allmählich aber spürte er in den Beinen den Unterschied zwischen dem Gehen auf Sandboden und dem Gehen auf festen Wegen. Er spuerte die Anstrengung. Er blieb stehen. Sah sich um. Blickte hinauf zur Sonne. Blinzelte direkt in helles scharfes weisses Licht. Farbige Kreise bildeten sich auf der Netzhaut. Die Augen begannen zu tränen. Wie spät war es? Er suchte nach seinem Handy. Uhr trug er keine. Das Handy hatte er im Hotel liegen lassen. Macht nichts. Er war vielleicht zwei Stunden gegangen. Also mochte es gegen acht sein. Noch früh am Morgen. Sechs, sieben Kilometer hatte er zurückgelegt. Schätzte er. Er nahm die Brille ab und wischte sich die Tränen aus den Augen und von den Backen. Das Papiertaschentuch steckte er wieder ein. Er warf nichts in die Landschaft. Nichts. Kein Fitzelchen. Schon seit Jahren nicht mehr. Das war ein Tick von ihm. Er wollte seine Umgebung nicht mit seinen Abfällen verunstalten. Er wollte Spuren auf der Erde hinterlassen. Ja. Klar wollte er das. Aber keine Müllspuren. Er holte die Wasserflasche aus dem Rucksack. Nahm einen kleinen Schluck, spülte den Mund aus und spuckte das Wasser in den Sand. Dann nahm er einen tiefen Schluck. Er musste trinken. Zwei bis drei Liter am Tag. Das ausgespuckte Wasser färbte den Sand dunkel. Es verband sich mit ihm zu einem Relief. Wo erst Bläschen waren, waren jetzt viele kleine Löcher. Bald sah er nichts mehr davon. Das Wasser war versickert und verdunstet. Die Stelle hatte wieder dieselbe Farbe wie vorher. Er verstaute die Flasche. Und ging weiter. Noch eine Stunde vielleicht. Dann wollte er sich einen Platz suchen und frühstücken. Durst hatte er nicht mehr. Aber Hunger.
Der Schatten rechts von ihm wurde weicher. Er hatte den Schatten beobachtet. Hatte mit ihm gespielt. Schattenfangen, das sie als Buben manchmal gespielt hatten. Wenn sie an den Nachmittagen spät, müde, ausgeglüht und mit trockener Haut vom Schwimmbad heimtrotteten. Auf den Schatten des anderen steigen. Auf dessen Kopf. Dessen Schultern. Dessen Brust. Dessen Bauch. Und dahin, wo der Schwanz sein musste. Gezielt auf seinen eigenen Schatten zu steigen ist schwierig. Sich selbst zu jagen ist langweilig. Er hoerte schnell wieder auf. Zumal ihm das Rennen und Springen im Sand schnell den Atem nahm. Er hatte sein Herz gespürt. Sein Schatten war weicher geworden. Er schaute zum Himmel. Wolken hatten sich in das klare Blau geschoben. Die Wolken waren nicht mehr weiss. Es waren gräuliche Schlieren daraus geworden. Wie Weichzeichner schoben sie sich vor die Sonne. Das milderte die stechenden Strahlen. Nahm dem Tag aber auch etwas von seiner Reinheit und seiner Frische.
Inzwischen bildete das Geröll kleine Hügelketten. Manche nur einen halben Meter hoch. Andere einen oder zwei Meter aufragend. Dazwischen sah er grotesk geformte grössere Steinbrocken. Als hätte jemand die Steine mit Eisen und Schlegel bearbeitet. Er konnte nicht widerstehen. Mit der Digitalkamera notierte er die eine und andere besonders auffällige Form. Er hätte sie auch zeichnen können. Vielleicht von einem Rastplatz aus. Danach suchte er jetzt. Eine Mulde bot sich an. Sie war tief genug, um Schatten zu spenden. Der Boden war weich von dem eingewehten Sand. Er kuschelte sich in sie hinein.
Das erinnerte ihn an einen Ausflug. Zusammen mit Daniela. Sie hatten sich in Aswan von einem Buben von Elephantine aus über den linken Nilarm rudern lassen. Hinüber zum Ausläufer der Westlichen Wüste. Waren hinaufgegangen zum Grabmal des Aga Khan. Der weisse Marmorsarkophag soll tatsaechlich jeden Tag von jemandem mit einer roten Rose geschmückt werden. Wie romantisch. Und aesthetisch: rote Rose auf weissem Marmor. Das hätte er auch gerne einmal. Daniela lachte über seinen Wunsch. Das Monument war verschlossen gewesen. Sie genossen die Aussicht hinunter nach Elephantine. Zu den runden Felsen des Nilkatarakts und zum ochsenblutfarbenen Hotel „Old Katarakt“. Hier soll Agatha Christie ihr „Tod auf dem Nil“ geschrieben haben. Oder wenigstens Teile davon. Sie sahen hinüber nach Aswan. Konnten, wenn sie still waren, das Hupen der Autos hören. Das hohe Gebäude des Polizeipräsidiums störte die Skyline entlang der Corniche. Östlich von Aswan erhob sich die Hügelkette, die den Übergang zur Östlichen, zur Roten Wüste, markierte. Sie bewunderten die Aussicht. Gingen weiter zum Simeonkloster. Überquerten anschliessend eine weite flache Düne. Sonnengebleichte Reste zweier Eselsskelette lagen im Sand. Er wählte die beiden Beckenknochen aus und nahm sie mit. Wieder auf Paros, wollte er Skulpturen daraus machen. Dann fanden sie die weiche, warme Sandkuhle. Bequem wie ein Sofa. Dort packten sie ihr Essen aus. Und das Wasser. Pique nique im Wüstsand. Sie alberten. Schmusten. Waren gelöst und heiter. Er war für einen Moment glücklich . Ein halbe Stunde später stritten sie sich bis aufs Blut und überwarfen sich.
Ihr Zusammensein war anstrengend. Für beide. Die Liebe zur Kunst. Konzerte. Oper, Gespräche, Gespräche, Gespräche. Oft bis drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr morgens. Sex. Radeln. Schwimmen. Mit dem kleinen Tuckerboot das Ufer abfahren. Kochen. Familie, Freunde, Bekannte. Ausflüge. Reisen. Griechenland. Italien. Österreich. Deutschland. Frankreich - Paris, Chartres, Reims. Ägypten. Aber immer wieder Spannungen. Streit. Trennung
. Heftig. Leidenschaftlich. Wortreich. Wortgewaltig. Laut. Aggressiv. Meist ohne Vorankündigung. Wie die unvorhergesehene direkte Berührung der beiden blanken Pole eines Elektrokabels. Wusssch. Kurzschluss. Aus. Ende. Nichts geht mehr. Geh. Du machst mich krank. Sie war gegangen. Er wollte, dass sie geht. Oft. Er war ihr nachgelaufen. Oft. Bleib da. Ich bitte dich. Sie machten neue Versuche. Klammerten sich aneinander. Wollten nicht aufgeben und nicht zugeben, dass sie einfach nicht füreinander gemacht waren.
Ägypten. Ihre erste grosse gemeinsame Ägyptenreise. Sie mit herber Zärtlichkeit für das Land und seine Menschen. Er mit grossem Interesse für das Land und seine pharaonische Vergangenheit. Und deren Hinterlassenschaften. Die heutigen Ägypter konnten ihm gestohlen bleiben. Das ergab neue Reibungspunkte zwischen den beiden. Sie waren auf der Suche. Auf der Suche nach sich selbst und auf der Suche nach einem Lebensmittelpunkt. Nach einem Platz, an dem sie gemeinsam neu anfangen konnten. Einem Ort am Rand der Wüste. Aber so, wie es aussah, nach Kairo, dem Kurzbesuch in Alexandria, nach der Zeit im Fayoum und jetzt in Siwa, schien es sie doch wieder nilaufwärts zu treiben. Luxor. Luxor-Westbank. Aswan. Mehr Nubien. Weniger Ägypten. Mehr Land. Weniger Grossstadt. Wüste - ja. Aber keine Oase. Das aber würde bedeuten, weit weg zu sein von den kulturell interessanten Städten Kairo und Alexandria. Weg von den interessanten Menschen in diesen beiden Städten. Weg vom Ägyptischen Museum. Weg vom Sawi Center. Weg vom Markt hinter der Muaiyadmoschee. Keine Option, die ihm besondere Freude machte. Und ihr auch nicht.
Zwischendurch hatte er wieder häufiger Spitzen gegen ihr zukünftiges Gastgeberland gerichtet. Gegen Danielas geliebtes Ägypten. Und damit indirekt gegen sie selbst. Das autoritäre Regime der Plutokraten. Die Unterentwicklung. Die Antiliberalität. Der Fatalismus. Die schier unüberbrückbaren Gegensätze zwischen arm und reich. Die Macht der Polizei. Die Macht des Militärs. Die Macht des Islam in Politik und Gesellschaft. Die ägyptische Muslimbruderschaft. Das moslemische Konzept von einem Gottesstaat. Die zunehmende Militanz im Islam. Die Militarisierung des Alltags überhaupt. Der Antisemitismus. Die Unterdrückung der Sexualität. Die Verschiebung von Liebe und sich lieben auf unsägliche Kitschfilme und Softpornos in den Kinos und im Fernsehen. Die Stellung der Frau. Die Verstümmelung von Frauen durch die ueblichen Genitalbeschneidungen. Und. Und. Und.
"Dann darfst du nicht hierherkommen", sagte sie in solchen Situationen. Sie tat, als würde sie das alles nicht berühren. War aber in Wirklichkeit enttäuscht über sein Ausweichen, sein Lavieren, seine Unentschiedenheit. Sie war mehr als enttäuscht. Sie war empört. Sie war verletzt. Sie wollte und konnte sein Ringen mit sich selbst nicht einsehen. Sie wollte oder konnte es nicht anerkennen. Sie wollte sich seine Kritik nicht mehr länger anhören. Deshalb hielt sie auch nicht besonders viel von dieser gemeinsamen Reise. Sie hatte von Anfang an nicht viel davon gehalten. Er war dabei, ihr geliebtes Ägypten zu beschädigen. Ihre Wahlheimat zu entwerten. "Du bist eine Ägypterin", hatte er sie beschimpft, "eine engstirnige ignorante Ägypterin." Sie war anderer Meinung. Sie war keine engstirnige ignorante Ägypterin. Aber wenn sie hier leben wollten - und sie wollte hier leben - konnten sie sich nicht täglich mit den Unzulänglichkeiten in dem Land beschäftigen. Das würde sie - besonders sie selbst - wund werden lassen. Davor hatte sie Angst. Vor dem Wundwerden. Sie war lange genug wund gewesen. Sie hatte genug davon.
Gleichzeitig liebte sie ihn. Sehr. Mehr als sie ihm zu zeigen getraute. Sie respektierte ihn insgeheim gerade wegen seines ernsthaften Bemühens um eine richtige Entscheidung. Er tat ihr aber auch leid, weil er keinen festen Punkt fand, von dem aus er Eindeutigkeit und Klarheit hätte finden können. Er brauchte immer viele Optionen. Immer. Er musste immer mit vielen Bällen spielen. Immer. Ein gerader, direkter Weg mache ihn unruhig und unsicher. Er brauchte die Umwege. Das machte ihn interessant. Und stark. Aber das schwächte ihn auch. Sie wunderte sich, woher er die Kraft nahm, diese Art von Leben durchzustehen. Am meistens aber ärgerte es sie, dass er sie so oft in den Räumen von Unentschiedenheit und Unsicherheit stehen liess. Hängen liess. Sie jedenfalls brauchte für ihr Leben Klarheit und Sicherheit. Alles andere schwächte sie.
Mit diesen Gedanken war sie endgültig aus dem Raum zwischen Halbschlaf und Wachsein getreten. Ging ins Bad. Kam zurück ins Zimmer. Sie schaute auf die Uhr. Gleich zehn. Er würde jetzt irgendwo sitzen und frühstücken. Sie freute sich, den Tag für sich alleine zu haben. Und darüber, dass er entschlossen genug gewesen war, auch ohne sie hinauszugehen in den Sand. Seine Entschlossenheit bewunderte sie. Seine Unentschiedenheit machte sie hilflos. Und rasend. Und sie liebte ihn, wie noch keinen Mann vor ihm. Doch das musste sie ihm nicht jedes Mal auf die Nase binden. Sie stand auf. Sie hatte das Gefühl, dass sich etwas entscheiden würde. Entscheiden müsste. Hier in Siwa. Und zwar sehr bald. Darauf wollte sie sich einstellen.
Der Himmel hatte sich bezogen. Er hatte gelesen, dass es in der Wüste manches Mal Gewitter gäbe. Gewitter in der Sahara? Regen in der Wüste? Alle fünfundzwanzig Jahre einmal. Hatte er gelesen. Also müsste er fünfundzwanzig Jahre hier bleiben. Um überprüfen zu können, ob die Information zutraf. Fünfundzwanzig Jahre. Er lachte. Dann wäre er siebenundachtzig. Fast achtundachtzig. Ein Greis. Ein Methusalem. Wahrscheinlich schon mumifiziert. Im Lande der Mumien nichts besonderes. Oder von den grossen Ameisen abgenagt und von der Sonne gebleicht. Wie die beiden Skelette bei Aswan. Wer würde aus seinem Becken eine Skulptur machen wollen?
Er wollte lachen. Ein ueberraschend einsetzender heftiger Wind fegte ihm Sand in den offenen Mund. Plötzlich schmerzten ihn feine Nadelstiche auf der Haut. Im Gesicht. In Nase und Ohren. In den Augen vor allem. Trotz der Brille. Das brannte. Das tat weh. Er drehte sich um. Mit dem Rücken gegen den Wind. Er zerrte an den Gurten des Rucksacks. Wollte ihn näher an sich heranziehen. Er musste an den Sarong herankommen. Er brauchte den Sarong. Damit würde er den Sand von Augen, Ohren, Nase und Mund abhalten koennen. In wenigen Minuten war aus dem Wind ein Sturm geworden. Ein ausgewachsener Sandsturm. Mit Sandstürmen kannte er sich nicht aus. Er war an gemässigte Klimazonen gewöhnt. Paros eingeschlosssen. Nicht an Wüsten. Die plötzliche Hitze. Die Luft wie Schmirgelpapier. Er atmete schwer. Bekam kaum Luft. Seine Augen brannten. Dann die plötzliche Dunkelheit. Dunkel am hellichten Tag. Das gibt es doch nicht. This should not be! Er wurde aufgeregt. Nicht sehr. Aber doch.
Besonders der Sand in den Augen machte ihm zu schaffen. Mit einem Zeigefinger versuchte er, die Sandkörner zur Nase hin auszureiben. „Immer zur Nase hin, sonst reibst du dir den Dreck nur tiefer in die Augen. Immer zur Nase hin.“ Er hörte seinen Vater sprechen. Eigenartig. Warum hörte er gerade jetzt die Stimme seines Vaters?
Mit dem Finger stiess er an ein Brillenglas. Beide Bügel lagen nicht fest am Kopf an. Die Brille bewegte sich. Fiel herunter. Fiel in den Sand. Scheisse, rief er halblaut. Scheisse. Er bückte sich augenblicklich. Wenn nur die Gläser nicht verkratzen, dachte er. Ging auf die Knie und tastete vorsichtig mit den Händen. Er sah kaum etwas. In Deutschland war er am Grauen Star operiert worden. Am linken Auge. Dadurch erhielt er die Sehfähigkeit zurück. Fast einhundert Prozent. Das rechte Auge sollte im naechsten Jahr operiert werden. Die Operationen waren gut für eine bessere Sehfähigkeit auf groessere Entfernungen. Für nahe Distanzen aber brauchte er die Brille. Unbedingt. Ein neues Gestell und neu angepasste Gläser hatte er in Athen anfertigen lassen. Gut, schön, preiswert. Er hatte sich für Kunststoffgläser entschieden. Sie waren leichter. Und billiger. Blödes Wort: Kunststoffgläser. Entweder Kunststoff oder Glas. Hör auf rumzuwundern! Such lieber nach deiner Brille. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Auf keinen Fall drauftreten. Er bückte sich. Mit den Fingern beider Hände pflügte er vorsichtig durch den feinen Sand. Sie kann doch nicht weg sein. Nichts. Scheisse. Langsam. Mach langsam. Reg dich nicht auf. Du wirst sie gleich finden. Das Haus verliert nichts.
Die Wüste aber schon. Er suchte vergebens. Er hatte sich den Sarong fester um den Kopf gewickelt. Trotzdem stach der Sand auf ihn ein. Die Augen tränten. Rotz lief ihm aus der Nase. Und er regte sich auf. Von Minute zu Minute mehr. Er musste eine Pause einlegen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. In unregelmässigen Schlägen. Reg dich ab. Reg dich ab. Atme tief ein und aus. Atme gleichmässig. Verlangsame die Atmung. Er tat sich schwer, seine eigenen Anweisungen zu befolgen. Er konnte seinen Herzrhythmus nicht kontrollieren..
Gleich elf. Daniela sah zum Fenster hinaus. Sie ging nach draussen. Die Luft hatte sich verändert. Es war plötzlich schwül geworden. Als hätte es irgendwo geregnet. Unmöglich. Das kann nicht sein. Über dem Ort war nichts zu sehen. Der Himmel war bedeckt. Regenwolken sahen anders aus. Ein Gewitter. Sie hatte davon gehört. Aber doch nicht jetzt. Jetzt, wo er da draussen war. Alleine. Ohne Begleitung. Ohne Erfahrung. Sie ging vors Haus. Etwas entfernt sah sie eine schwarze Wolke. Eine einzelne schwarze Wolke. Sie hob sich deutlich von den anderen Wolken ab. Das war im Süden von Siwa. Ein Sandsturm vielleicht. Trotz der schwülen Wärme fröstelte sie. Sie zog den grünroten Schal fester um die Schultern. Und ging zurück ins Haus. Keine Sorgen. Mach dir keine Sorgen. Er ist kein Kind. Er wird sich eine Sandkuhle suchen. Oder eine buddeln. Er hatte grosse Hände. Und lange Finger. Sie lachte auf. Er wird eine Kuhle graben. Sich hineinlegen und den Sturm über sich hinwegziehen lassen. Und noch einmal trat sie ans Fenster. Wenn er bis drei nicht zurück ist, werde ich Waleed anrufen. Dann werden wir in dessen Jeep hinausfahren und nach ihm suchen. Und ihn zurückbringen. Zu mir zurück. Dann werde ich ihn duschen. Und abtrocknen. Und einölen. Einölen. Deinen ganzen Körper werde ich einölen. Das wirst du mögen. Das weiss ich. Mein Lieber. Mein Geliebter. Mein Mann.
Etwas packte sein Herz. Erst stach es. Dann zog es. Mit der Rechten griff er nach der Brust. Betastete und umfasste sie. Versuchte sie zu massieren. Drückte und schob daran. Es tat ihm höllisch weh. Aus der momentanen Irritation war schnell ein schriller Schmerz geworden. Ihm wurde übel. Die Berührungen brachten keine Besserung. Er wollte aufstehen und ein paar Schritte gehen. Sich bewegen. Laufen. Eine schwere Faust zwang ihn zurück. Zurück in den Sand. Unruhe packte ihn. Er spürte, wie sich der Schmerz ausbreitete. Er spürte den Schmerz im linken Oberarm. Er wusste, was das bedeutete. Er spuerte eine grosse Angst.
Seine Herzrhythmusstörungen und sein Bluthochdruck waren jahrelang mit Medikamenten behandelt worden. Mit Betablockern, die den Herzrhythmus verlangsamen und mit blutdrucksenkenden Tabletten. Er fühlte sich nicht schlecht damit. Aber auch nicht gut. Vor Monaten hatte er die Pillen eigenmächtig und auf eigene Verantwortung hin abgesetzt. Er wollte von den Medikamenten loskommen. Statt dessen ass er täglich vier rohe kleingeschnittene Knoblauchzehen. Knoblauch als blutdrucksenkendes und blutverdünnendes Mittel. Als Mittel, das Blutgerinseln vorbeugt und das die Blutfettwerte verbessern hilft. Und darüber hinaus noch antibakteriell wirkt. Abends trank er hin und wieder ein Glas Rotwein. Mit Weisswein hatte er ganz aufgehört. Er war Vegetarier geworden. Kein Tier sollte seiner Ernährung wegen das Leben lassen müssen. Aber auch, um seinen Körper zu entgiften. Und um ihn zu schonen. Kein Fleisch, kein Fisch, keine Eier, keine Butter. Käse schon noch - der letzte Rest an tierischem Eiweiss. Anstelle von Kartoffeln ass er Reis, Brot nur noch selten. Dafuer Obst und Gemüse in grossen Mengen. Die notwendigen Proteine holte er sich von Soyabohnen, Soyasprossen, von Tofu und Tempe. Sie waren fettfrei und leicht und lecker zuzubereiten. Innerhalb von kurzer Zeit hatte er acht Kilo abgenommen. Trotzdem: die Angst vor dem Infarkt war er nie wirklich losgeworden. Obwohl er sich in den zurückliegenden Jahren psychisch und physisch gesund fühlte. Wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und jetzt das.
Er spürte, wie immer grössere Bereiche seiner rechten Körperhälfte lahm wurden. „Lame duck“. Er spürte die Zunge dick und die Augen schwer werden. Er spürte wie der rechte Mundwinkel taub wurde und leicht herunterhing. Zwischendurch sah er das Verschwommene noch verschwommener. Und manches Mal doppelt. Er bekam schwer Luft. Immer wieder setzte der Herzschlag für einen Moment aus. Um anschliessend zu galoppieren. Er konnte sich kaum noch bewegen. Er lehnte sich zurück. Wenigstens bequem wollte er sterben. Dass er sterben würde, wusste er. Er wusste nur nicht, wann. In Stunden? In Minuten? In Sekunden?
Mühsam hatte er sich zurückgelegt. Beine, Rumpf und Arme waren fast vollständig von Sand bedeckt. Der Sandsturm hatte nicht nachgelassen. Der Sarong schützte seinen Kopf. Nach innen jedenfalls. Von aussen war er zugeweht wie alles andere auch. Es war ein Sandmann aus ihm geworden.
So lag er da. Es tobte über ihn hinweg. Er wartete auf sein Ende. Unvermittelt öffneten sich beide Augen ganz weit. Die Pupillen wurden riesig. Sie liessen die Dunkelheit unter dem Tuch und den kleinen Rest an Licht tief in ihn eindringen. Sein schiefer Mund verzog sich zu einem verzerrten Lächeln. Er hatte es nicht wissen können. Er hatte es aber gewollt. Er hatte es erhofft. Jetzt freute er sich darüber: keinen Schacht sah er. Keine Röhre, an deren Ende ein strahlend helles weisses Licht leuchtete. Keine Engel sah er. Keinen leuchtend farbigen Regenbogen. Keinen Hieronymus Bosch. Keinen Stanislav Groff. Keine Elisabeth Kübler-Ross. Nein. Statt dessen tauchten Frauen auf. Bilder von Frauen. Bewegte Bilder von Frauen. Eine Slideshow in Überblendtechnik. Bewegung vortäuschend. Frauen. Dazwischen Videoclips mit Frauen. Frauen. Frauen. Bilder von Freundinnen, Ehefrauen, Geliebten. Es waren viele gewesen. Und es waren viele, die jetzt an ihm vorbeizogen. Er wollte ihnen zuwinken. Er wollte ihnen zurufen. Er wollte sie zu sich herwinken. Er wollte, das sie sich zu ihm setzten. Zu ihm legten. Ihm Gesellschaft leisteten. Er wollte mit ihnen sprechen. Doch die Lähmung war schon zu weit fortgeschritten. Nichts konnte er mehr bewegen. Den Mund nicht. Die Lippen nicht. Arme und Hände nicht. Die Beine waren ohne Gefühl. Er lag ruhig da und liess die Bilder an sich vorüberziehen. Wie bunte Papierschiffchen auf einem munteren Bach. Lebendig. Heiter. Verspielt
Sylvi kam ins Bild. Daniela drängte sich vor. Aus dem Hintergrund tauchte Regina auf. Schon war sie weg und Michaela war an ihre Stelle getreten. Claudia erschien, dann Sabine, dann Esther. Die rotblonde Erika konnte so wunderbar ordinär reden, wenn sie sich liebten. Dorle blickte ihn an. Auch Marga war gekommen. Paros. Paros. Immer wieder Paros. Seine Schicksalsinsel? Dort hatte er auch Hildegard kennengelernt. In einer Osternacht. Als die Burschen im Dorf den riesigen Holzstoss entzündet hatten. Das Feuer prasselte. Feuerwerkskörper krachten. Dörfler und Touristen tranken, assen und lärmten auf der Terrasse vor Vangelis Kafeneon. Die Stimmung war ausgelassen. Hildegard war zum Verlieben gewesen. Frisch. Lustig. Schlagfertig. Übermütig. Sie hatte Lust auf Flirten. Sie spielten sich ein paar Bälle zu. Ping. Pong. Beide bissen an. Mehr zum Spass rief er Hildegard irgendwann einmal zu: "Dann könnten wir ja gleich heiraten." Und sie antwortete mit einem "Ja!" Er war gerade erst geschieden worden. In seiner Abwesenheit, im Namen des Volkes. Nur wenige Tage vorher. In Deutschland. Sie lebte getrennt von ihrem Mann. Seit fast einem Jahr. So benutzten sie sich gegenseitig, um besser über ihren Verlustschmerz hinwegzukommen. Fuer fast drei Jahre wurden sie ein Paar. Manchmal mehr. Manchmal weniger. Dann trennten sie sich endgültig. Hielten aber Kontakt. Und jetzt war sie gekommen, um Abschied zu nehmen. Viel Tod gab es jetzt in ihrem Leben. Erst die Mutter. Dann der Vater. Jetzt er. Nachdenklich winkte ihm Hildegard zu. Tränen liefen über ihr Gesicht. Dann war sie weg.
Mit Simone war er bis zum Schluss eng befreundet gewesen. Auf Simone folgte Sabine. Auf Sabine Karola. Auf Karola Elke. Dann Ella. Dann Claudia. Dann Miriam. Perlen einer Kette. Einer aufregend schönen Kette. Einer langen Kette. Jede Perle eine Besonderheit. Jede Perle ein Unikat. Unverwechselbar. Perlen ähneln sich. Von aussen gesehen. Mit Abstand gesehen. Aus der Nähe betrachtet erkennt man die Schönheit jeder einzelnen, ihre Eigenheiten, ihre Besonderheiten. So war es ihm mit den Frauen gegangen. Er war ein Sammler gewesen. Nicht, weil er das sein wollte. Es war nicht das, was er angestrebt hatte. Aber Frauen zogen ihn an. Dieser Magnetismus war kraftvoll. Fast magisch. Er nutzte sich nicht ab. Nicht jede Frau, aber ganz viele interessierten ihn. Und viele reizten ihn. Auf unterschiedliche Weise. Immer auch sexuell. Ohne Sex keine tiefe Beziehung. Was sich anzieht, möchte miteinander verschmelzen. Möchte eins werden im Sex. Durch den Sex. Sexuelle Energie ist Lebensenergie. Und Lebensenergie ist sexuelle Energie. Behauptete er. Allen Sublimierungskonzepten zum Trotz.
Neurotisch? Krank? Mochte sein. War wahrscheinlich so. Armana, seine dritte Frau, war da mehr prosaisch: "Du fickst jedes Loch, das sich bewegt", schrie sie ihn an. Armana und er hatten Visionen, die bis zum Himmel reichten. Und das Herz dazu, die Liebe, die Leidenschaft, den Verstand, den Mut, die Kraft. Sie taten sich zusammen, um die Welt besser zu machen. Sie taten sich zusammen, waren verliebt ineinander über viele Jahre. Und hielten zusammen wie Zwillinge. Wie Lieblingsgeschwister. Und es kam, wie es kam: das Risiko jeder grossen Liebe besteht darin, dass sie kleiner wird. Banal? Ja. Aber wahr. Dass sie sich abnutzt. Dass die Liebenden es zulassen, dass die Quellen ihrer Liebe kraftloser werden. Versanden. Versiegen. Dass die Liebe zu einer Hülle wird, deren lebendiger Inhalt abhanden kommt. Und irgendwann bekommt die Hülle Risse und wird Müll. „Der Hamster Radl“ hiess ein Lieblingsbuch der Kinder. Mehr und mehr ähnelte er dem Hamster. Fand er. Er sehnte sich nach Freiheit. Nach Unabhängigkeit.
Jetzt lag er im Sand. Starb langsam vor sich hin. Hielt Rückschau. Blickte zurück auf die Frauen, mit denen er glücklich werden wollte. Manches Mal auch glücklich war. Minuten. Stunden. Tage. Jahre. Armanas Blick auf ihn war eindringlich und ernst. Voll Mitgefühl. Kein Mitleid. Nein. Mitgefühl. Sie fühlte mit ihm. Das spürte er. Mitleid hätte er nicht ertragen können. Auch jetzt noch nicht. Es waren gute Gefühle, die sie für ihn hatte. Letztlich doch noch. Dafür war er dankbar. Er wünschte, sie würde das spüren können.
Samanta tauchte auf. Auch Anna-Katherina und Beate kamen zum Abschied. Die spröde abweisende Beate, die nach Innen so weich war. Abschied. Showdown. Finale. Concours. Parade.
Die Pharaonen und Noblen im Alten Ägypten liessen ihre Gräber mit wunderschönen Flachreliefs schmücken. Oft mit Darstellungen, die ein geschäftiges und heiteres Leben auf dem Lande zeigten. Er schmückte die Sekunden vor seinem Tod aus mit Bildern geschäftiger, heiterer und ernster Frauen. Mit Bildern von Frauen und mit Erinnerungen an Frauen, mit denen er ein Stück des Weges gegangen war.
Auch Henriette war dabei, aber Emma stahl ihr die Schau: sie kam total nackt ins Bild. Ganz nackt und dicht behaart. Er entdeckte Simonetta - die schöne und Geheimnisvolle, der rothaarige Engel, die fremdartige Geliebte, die verständnisvolle Freundin und Ehefrau, die wundervolle Gefährtin, die engagierte Partnerin, die verlässliche Kollegin. Bis zum Schluss gab es Verhalten und Denkweisen an ihr, die er nicht verstand. Die ihm fremd blieben. Und umgekehrt. Und dennoch hielten sie Kontakt zueinander bis zum Schluss.
Auch Kathy war gekommen. Das war verrückt. Vor drei Tagen noch hatte er mit einer Engländerin gesprochen, die ihm ein Buch eines portugiesischen Autors zeigte. Einem ihrer Lieblingsautoren. Klar, dass man in Siwa, einer ägyptischen Oase in der Libyschen Wüste, von einem portugiesischen Autor sprach, der von einer Englaenderin vom Portugiesischen ins Englische übertragen worden war. Klar. Überraschend war nur gewesen, dass die Übersetzerin niemand anderes war als seine Kathy, seine englisch-spanische Eroberung aus den 1970er Jahren.
Keine seiner Ehefrauen, Geliebten und Freundinnen war in all den Jahren gealtert. In ihm, in seinem Innersten, musste es einen geheimen Raum geben, einem gut geordneten Bildarchiv nicht unähnlich, wo all die erinnerungswerten, all die ausdrucksstarken und charaktervollen Fotos, Filme und Videos fein säuberlich aufbewahrt worden waren. Eine geheime Schaltstelle rief sie jetzt ab. So strahlten sie. Strahlten wie vor Jahren. Wie vor Jahrzehnten. Ohne den Mehltau der Zeit. Ohne die Minderung durch Misserfolg. Durch Kummer oder Krankheit. Durch schwierige Zeiten oder Zukunftsängste. Jugend. Schöne Jugend. Keine Spur von Depression - höchstens die von milder Melancholie:
Die Jungen
lagern bei den Löwen.
Hibiskusblüten in den Haaren.
Leicht berauscht vom Duft
der frischgemähten Wiesen
und perlendem Champagner
gelb in Kelchen.
Silbrige Flugzeuge
gleiten geräuschlos glatt
durch blaue Universen.
Und Glocken naher Kirchen
schlagen Zeiten an.
Und zeigen sie auf Uhren
ohne Zeiger.
In einer solchen Zeit passierte es, dass er und Marlies ineinander und aufeinander prallten. Zwei erwachsene verheiratete Menschen. Verspielt wie die Kinder. Süchtig aufeinander wie Junkies. Erst heimlich. Dann öffentlich. Einmal liefen sie davon. Hinterliessen Chaos und Ratlosigkeit. Kamen zurück. Lebten ihre Liebe. Lebten ihre Abhängigkeiten. So gut es eben ging.
Es war nach zwei Uhr. Daniela hatte gefrühstückt. Las beim Frühstück. Ass mit Genuss. Las mit Genuss. Duschte anschliessend. Viel länger als sonst. Viel Wasser in der Wüste. Heisses Wasser. Beides genoss sie. Zeigte keine Eile. Cremte sich ein und verbrachte eine lange Zeit vor dem Spiegel. Ein die Seele-baumeln-lassen-Tag. Ein eine-Frau-pflegt-sich-Tag. Nicht oft gönnte sie sich das. Warum eigentlich? Sie hatte keine Antwort darauf. Und wollte jetzt auch nicht weiter darüber nachdenken. Statt dessen schaute sie aus dem Fenster. Noch immer hing die schwarze Wolke im Süden über der Landschaft. Das fing an, sie zu beunruhigen. Es ist bereits nach zwei. Langsam könnte er zurückkommen. Was macht er denn noch da draussen. Inmitten des Sturms. Sie war sich jetzt sicher: das war ein Sandsturm. Nicht gerade gemütlich, dachte sie. Ich werde Waleed gleich anrufen. Und nicht erst bis drei Uhr warten.
Waleed öffnete die Motorhaube seines Toyota 4x4 Pick up und verstellte den Luftfilter. Er wollte nicht im Sturm liegen bleiben, weil der Sand die Lamellen verstopfte. Auf der Ladepritsche lagen vier Lochbleche und zwei Schaufeln. Wenn man häufiger mit Touristen in die Wüste fuhr, musste man ausgerüstet sein. Bleche und Schaufeln gehörten dazu. Ebenso zwei Reserveräder und der 20-Liter-Reservekanister, der schwere Wagenheber und einige Kanthölzer zum Unterlegen. Er ärgerte sich. Daniela hätte ihm früher Bescheid geben müssen, dass der Alte draussen war, in der Wüste. Alleine. Während eines Sandsturms. Eigentlich hätte sie ihn gar nicht gehen lassen dürfen. Mit seinen Herzproblemen. Er mochte den Deutschen. Er respektierte ihn. Vielleicht liebte er ihn sogar ein wenig. Der Alte hatte ihm das „Du“ angeboten. Er war nicht fähig gewesen, es anzunehmen. Er blieb bei dem „Sir“ und „Mister“. Der Mann war zweiundsechzig. Er selbst siebenundzwanzig. Fünfunddreissig Jahre lagen dazwischen. Er hätte leicht der Sohn dieses Alten sein können. Er wäre gerne sein Sohn gewesen. Waleed war der älteste Mann in seiner Familie.
Seine Mutter war noch jung. Noch keine fünfundvierzig. Sie war noch jung und schön. Sanft und lieb. Und geschickt in allem, was sie tat. Waleed liebte seine Mutter. Und tat alles, um ihr keine Schwierigkeiten zu machen. Als Ältester hatte er für die Mutter und die Geschwister zu sorgen. Für die beiden Brüder, von denen einer noch zur Schule ging. Nach Marsa Matruh. In eine Internatsschule. Der andere arbeitete im kleinen Familiengarten und gegen Lohn in den Gärten reicherer Grundbesitzer. Die ältere der beiden Schwestern würde bald heiraten. Einen Mann aus Siwa. Aus einer guten Familie. Sie würde mit ihrem Mann zusammen im Haus der Schwiegereltern leben. Dann müsste Waleed nicht mehr für sie sorgen. Die jüngste, das hübscheste und klügste der fünf Kinder, ging in Siwa auf die Mittelschule. Wie gerne wäre sie nach Matruh aufs Gymnasium gegangen. Dafür reichte aber das Geld nicht aus. Beim besten Willen nicht.
Die Brüder seines verstorbenen Vaters waren fair. Sie hatten ihm Geld vorgestreckt. Zinslos. Geld für einen gebrauchten Pick up. Damit fuhr er Touristen in die Wüste. Nicht die grossen Touren hinüber nach Baharia und weiter nach Farafra. Dazu war er nicht ausgerüstet. Dafür hatte er auch keine Lizenz. Dieser Markt war hart umkämpft. Da floss viel schwarzes Geld. Für Genehmigungen. Für Lizenzen. Fuer Zertifikate. Für alles. Nein, er fuhr die Gäste in die nähere Umgebung. Dazu brauchte er weder Lizenzen noch Genehmigungen. Nahe einer heissen Quelle hatte er zusammen mit seinen Brüdern ein Zelt nach Art der Beduinenzelte aufgestellt. Die Touristen waren scharf auf Sonnenauf- und Sonnenuntergänge in der Wüste. Auf Nachtlager auf dem harten und kalten Sand. Und er verstand sie auch: der Blick hinauf zu den Sternen, durch die klare reine Luft über der Wüste - dieser Blick nahm einem den Atem. So schön. Fast heilig. Nie kam er Gott näher als in solchen Momenten. Trotzdem: er hätte es gern gehabt, wenn der Alte seine Mutter zur Frau genommen hätte. Er wäre dann sein Sohn geworden. Sie hatten Spass darüber gemacht und gelacht, als der Alte und Daniela bei ihnen zum Essen waren. Auch die Mutter hatte gelacht. Gelöst und irgendwie erregt. Hinter ihrem dunklen Schleier. Nur Daniela fand die Situation offenbar nicht so lustig. Sie hatte keine Miene verzogen. Erst später, als sie mit der Mutter arabisch sprach und mit ihr zusammen in dem Karton mit alten Erinnerungsstücken wühlte, entspannte sie sich wieder. Währenddessen redete er mit dem Alten über Landwirtschaft, Tourismus, Touristen, den Islam und die Armut in Siwa. Männersachen eben.
Waleed hatte den Pick up soweit fertig. Fuhr hinüber. Hupte vor Danielas Haus. Stieg dann aber doch aus und rannte zur Türe. Sie war schon fertig. Sie brachen auf.
Das Licht wurde schwächer. Oder wurden seine Augen trüber? Restlicht?
Irene erkannte er. Ihr schönes breites Gesicht. Die glatten schwarzen Haare, deren Fransen ihr über die Augen hingen. Sie sah wunderbar aus. Aufgeweckt und träge. Herausfordernd und mädchenhaft. Er konnte nachfühlen, dass er sie damals so begehrte. Den Abschluss bildete Sonja. Seine erste Frau. Zusammen wollten sie die Welt erobern. Sie aus den Angeln heben. Sie hatten sich gefunden. Noch ganz jung. Sie war seine erste Frau. Er ihr erster Mann. Sonja bildete den Abschluss im langen Zug der Frauen. Er hatte ihre Auftritte genossen. Er war dankbar dafür. Es fühlte sich warm an. War er zufrieden? Glücklich? Er war selten wirklich glücklich gewesen in seinem Leben. Ihm reichte schon die Zufriedenheit. Ja. Er war zufrieden.
Was jetzt noch folgte war anders: das auffordernde Gesicht und der lockende Körper der Mangano in „Bitterer Reis“. Die wilde Weiberwut der Taylor in „Wer hat Angst vor Virginia Wolff?“ Madame Ruby aus dem kleinen „Circus Roma“ in Portugal auf dem Hochseil. Drall. Im hautengen Trikot. Schwarze Augen. Hohe Brust. Stark vorgewölbter Venushügel. Die Traumfrau mit aufgelöstem Haar: die Indianerin in Trance und Ekstase. Den Blick nach innen gerichtet. Das indische Pornomodell aus dem Internet mit der herrlichen Rückenansicht. Und der schmalen, gebogenen Nase. Nicht mehr jung. Graue Strähnen im Haar. Dichten Busch zwischen den schlanken Beinen. Machte es mit einem ganz jungen Mann. Dann seine Mutter. Füllig. Schwarz. Grosse schwere Brüste. Grosse dunkle Warzenhöfe. Harte Nippel. Fleischige Oberarme. Dichte Haarbüschel in den Achselhöhlen. Er drang tief in sie ein. Tief. Tiefer. Wurde kleiner. Noch kleiner. Verschwand in ihr. Ganz. Er fühlte ihre Wärme. Die Stille. Die Geborgenheit. Er wusste: Er war angekommen. Das war sein zu Hause. Das war sein Paradies. Er war glücklich. Das erste Mal in seinem Leben wirklich glücklich. Dann spürte er nichts mehr.
Ein kleines Zebra
rannte durch den Sandsturm.
Blieb stehen.
Blickte hinab auf einen toten Alten.
Blickte hinab und grinste.
Bleckte seine Zähne. Und rannte weg.
Grosse Zähne hat ein Zebra.
Gross und gelb.
Sie fanden ihn zwei Tage später. Fast ganz bedeckt vom gelben Sand der Sahara. Sie salbte ihn und legte Stein auf Stein auf seinen Leichnam. Als ihr die Pyramide hoch genug erschien, beendete sie das Werk.
Sie wusch sich gründlich. Kein Sandkorn blieb an ihrem Körper. Sie packte beide Koffer und die Tasche. Verlies Oase, Wüste, Niltal und das Land am Nil.
Nie wieder kehrte sie dorthin zurück. Nie wieder hörte jemand sie von Wüste sprechen, von Oasen, Palmen, Quellen. Sie hoerte einfach auf, daran zu denken.
Sie hörte auf zu lachen in einem Alter,in dem andere Frauen heiter werden
und sich an Erinnerungen waermen.
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011
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