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Der Besucher



In Brescia, zwischen der baumbestandenen Piazza Brusata und der Piazza del Duomo, in der Naehe der Ausgrabungsstaette des roemischen Capitols, gibt es ruhige Strassen mit gediegenen Wohnhaeusern aus den 1920er und 1930er Jahren, die zur Strasse hin eher abweisend wirken, sich nach hinten aber oft zu sehr lauschigen und ueppig begruenten Innenhoefen oeffnen. In manchen solcher Haeuser wurden in den 1980er und 1990er Jahren die Wohnungen aufwendig renoviert, Baeder und WCs erneuert, Gas-Etagenheizungen eingebaut und moderne Kuechenarchitektur verwirklicht. Natuerlich sind das keine Wohnungen fuer Menschen mit durchschnittlichen oder gar niedrigen Einkommen, sondern Domizile fuer Vertreter aus zwei sich in Italien immer mehr in den Vordergrund draengenden gesellschaftlichen Gruppen: den Yuppies (Young urban people) und den Dinks (Double income, no kids).
Zu den sechs Wohnungen in dem Haus, in dem sich die folgende Geschichte zutrug, gelangt man ueber ein grosszuegig bemessenes, repraesentatives Treppenhaus mit gepflegten Steinstufen, einem stark ornamentierten Gelaender aus Gusseisen mit einem eleganten Messinghandlauf. Grosse Fenster lassen viel Licht in den Treppenaufgang, und der Hausmeister hat erstaunlich ueppig gedeihende Gruenpflanzen auf die breiten Fensterbaenke gestellt.Es herrscht eine Atmosphaere der Ruhe, der Gediegenheit und des echten oder gespielten buergerlichen Wohlstandes. Der Treppenaufgang ist auch deshalb fuer das Haus und die Hausgemeinschaft von Bedeutung, weil sich hier manche Mieter - auf neutralem Boden sozusagen - mehr zufaellig als absichtlich treffen koennen, um Belanglosigkeiten auszutauschen, manches Mal aber auch Intimitaeten.
So auch die Signora Roberta Scalvini und die Signora Dottoressa Angela Molinari. Die Familie Molinari bewohnt eine Wohnung im zweiten Stock, das Ehepaar Scalvini eine im dritten. Beide Frauen sind Anfang dreissig. In ihrer Herkunft, Bildung und Ausbildung allerdings sind die beiden sehr unterschiedlich - die Einkommen ihrer beider Ehemaenner aber sind bestimmt ansehnlich und vergleichbar hoch.
Signore Scalvini ist der kaufmaennische Leiter eines grossen Einkaufszentrums von den Toren Brescias, an der Ausfallstrasse zur Autobahn Venedig - Mailand gelegen. Er hatte nach der Hochschulreife, der maturita, eine renommierte private Handelsakademie absolviert, eine Lehranstalt, die besonders in den norditalienischen Wirtschaftskreisen ein hohes Ansehen geniesst. Das war mit Sicherheit der ausschlaggebende Grund, dass man Luca Scalvini seinerzeit bei der Besetzung des exzellent dotierten Postens den vielen anderen Bewerbern vorzog. Ein guter Arbeitsplatz, eine attraktive und sinnliche junge Frau, gute und hilfsbereite Freunde, die Eltern und Schwiegereltern nicht weit entfernt vom eigenen Wohnort , ein schoenes Zuhause in einem vorzeigbaren Viertel in einer der aufstrebenden Staedte des Nor-dens - was wollte er mehr?
Etwas fehlte allerdings in seinem Leben: er haette gerne Kinder gehabt, je mehr, desto lieber. Seine Grosseltern und Eltern waren noch Bauern gewesen und er war mit vielen Geschwistern, Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten aufgewachsen. Aber seine Roberta war das einzige Kind eines Bankangestellten aus Lonato, und sie mochte Kinder ausschliesslich dann, wenn es welche von anderen Leuten waren. Da konnte sie hinreissend die gute und einfuehlsame Ersatzmutter geben, die fuersorgliche Nenn- oder die grosszuegige Patentante. Das schmerzte Luca. Aber er musste zugeben, dass das bislang der einzige Schmerz war, der ihm zu schaffen machte.
Die schmale, zierliche Angela Molinari kam urspruenglich aus Ostiglia bei Mantua, war also auch Norditalienerin. Sie studierte in Verona und Bologna englische Literatur und promovierte ueber einen bis dahin uebersehenen Aspekt in Shakespeares Romeo und Julia, einen Aspekt, der - was liegt naeher - die Verbannung Romeos nach Mantua betraf.
Noch als Studentin lernte sie Giuglio kennen. Sie debattierten naechtelang, tranken Rotwein, gingen auf Partys und verliebten sich ineinander. Dann wurde Angela schwanger. Angela und Gioglio nahmen die ungeplante Schwangerschaft zum Anlass und heirateten. Sie gebar eine gesunde Tochter, von der beide Eltern fanden, dass sie wunderschoen war. Das Toechterchen half Angela dabei, und hilft ihr gewissermassen noch immer, die Bitterkeit wegen der von Natur und Tradition abgebrochenen, auf jeden Fall unterbrochenen, beruflichen Karriere etwas zu versuessen. Heute leitet Angela manches kleine Symposion in der Stadt, organisiert Lesungen und die eine oder andere eintaegige Exkursion, schreibt kleine Aufsaetze fuer eine Fachzeitschrift und liest viel. "Um am Ball zu bleiben", wie sie bittersuess laechelnd anmerkt.
Giuglio hatte in Muenchen, Bologna und Verona politische Wissenschaften und Journalistik studiert. Als gutaussehender Mann mit einer verbindlichen Art und guten Umgangsformen und als der eigenstaendige Denker, der er ist und mit sehr guten Abschlusszeugnissen in der Tasche, schaffte er es in einer atemberaubend kurzen Zeit, sich in der Via Solferino beim „Giornale di Brescia“ vom ehrgeizigen Volontaer zum stellvertretenden Chefredakteur hochzuschreiben und hochzuarbeiten. Beneidet, behindert, gefoerdert, ausgelacht, ermutigt - die ganze Skala menschlicher und unmenschlicher, kollegialer und feindseliger Verhaltensweisen hat er auf diesem Weg erlebt und durchlebt. Obwohl noch keine Vierzig, fuehlt Giuglio manches Mal die Verhaertungen und Verpanzerungen, mit denen er sich anfangs vor den schlimmsten Angriffen schuetzte - Verhaertungen, die er heute nicht mehr so einfach abstreifen kann, jetzt, wo ihm durch seine Position die Macht zugewachsen ist, die er eigentlich an deren Stelle setzen koennte.
Waehrend also die beiden tuechtigen Maenner jeden Tag ihren zwar unterschiedlichen, aber vergleichbar fordernden Taetigkeiten nachgehen, kuemmert sich Angela Molinari um ihre kleine Tochter und ihre literarischen Ambitionen, waehrend die blonde und etwas ueppige Roberta in erster Linie sich selbst widmet, ihrem sinnlichen Koerper, ihrem Haar, ihren Naegeln, Dessous, ihren Outfits - und in zweiter Linie ihren Freundinnen - in langen, lauten, oft theatralischen Gespraechen am Telefon. Manchmal trifft es sich, dass sich die beiden Frauen im Treppenhaus begegnen, kurz stehenbleiben, wenn noetig ihre Einkaufstaschen und Tueten abstellen und ein wenig miteinander plaudern.
Eines Tages, als sich die beiden wieder einmal ueber den Weg laufen, ist Roberta aeusserst aufgeregt, und sie kann es kaum erwarten, bis sie Angelas volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. "Stellen Sie sich vor, Angela", platzt sie heraus - nach schicker angelsaechsischer Art nennen sich die Damen bei ihren Vornamen, bleiben aber beim Sie - "stellen Sie sich vor, was mir kuerzlich passierte: Ich sitze in der Kueche, rauche meine Morgenzigarette, trinke meine dritte Tasse Kaffee, lese ein bisschen in der Zeitung. Ich sitze also da, noch im Morgenmantel, und lasse den Tag langsam angehen. Da laeutet es an der Tuere. Ich lege die Zigarette ab, ziehe den Guertel meines Morgenmantels fester, schluepfe in meinen zweiten Pantoffel und gehe zur Wohnungstuere. Ich druecke den Knopf der Gegensprechanlage und rufe: 'Hallo, wer ist da?' Eine angenehme maennliche Stimme fragt zurueck: 'Madame Scalvini ...'" - "Ja, was - und ...", wirft Angela wird etwas ungeduldig ein. "Wieder die Stimme: 'Madame Scalvini, kann ich Ihren Gemahl sprechen, bitte?' - 'Das geht leider nicht. Mein Mann ist bereits im Buero'. - 'Schade', sagt er, und 'Kann ich dann bitte fuer einen Moment zu Ihnen in die Wohnung kommen?' Ich zoegere erst, dann sage ich: 'Ja bitte, kommen Sie doch herauf. Wir wohnen im dritten Stock."
"Ja, was - und dann?" Irgend etwas an Robertas Erzaehlung hat bei Angela einen Knopf gedrueckt und ihre Ungeduld waechst.
"Ja, dann. Nach kurzer Zeit klingelt es noch einmal. Ich hoere die Stimme an der Wohnungstuere: 'Madame Scalvini ...' - Riegel und Kette an der Tuere hatte ich vorgelegt, und ich oeffne die Tuere einen Spalt weit und schaue hinaus - und ..." Angela tut sich schwer, ihre Ungeduld zu beherrschen. "Ja und ... Draussen steht ein juengerer Mann, gross, schlank, blonde Maehne, braungebrannt, volle Lippen, blaue Augen, grauer Anzug, von Armani, dunkelgraues Hemd, gelbe Krawatte, Seide. Er strahlt mich an." - "Und dann?" - "'Madame Scalvini' - Madame sagt er zu mir, hoeren sie Angela, Madame sagt er, 'kann ich Ihren Gemahl sprechen, bitte?' - 'Nein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt, das geht leider nicht. Mein Mann ist bereits im Buero.' - 'Schade', sagt er, 'kann ich trotzdem fuer einen Moment zu Ihnen in die Wohnung kommen?' - Ich zoegere, dann sage ich: 'Also gut, bitte, kommen sie doch herein.' - Ich oeffne ihm die Wohnungstuere, er kommt herein, stellt seinen eleganten Lederkoffer ab, nimmt mich in seine Arme, traegt mich zu der Couch im Wohnzimmer, kommt ueber mich und macht mich gluecklich." - "Nein!" - "Doch! Gleich beim ersten Mal. Obwohl wir uns doch ueberhaupt noch nicht gekannt haben." - "Und dann?" - "Dann ging er." - "Nein!" - "Doch!"
"Passen Sie auf, meine Liebe. Es geht noch weiter. Am naechsten Tag: Ich sitze wieder in der Kueche, rauche meine Morgenzigarette, trinke die dritte Tasse Kaffee und lese ein wenig in der Zeitung. Ich sitze also da, noch im Morgenmantel, und lasse den Tag langsam angehen. Da laeutet es. Ich lege die Zigarette ab, ziehe meinen Morgenmantels fester, schluepfe in meine Pantoffel und gehe zur Tuere. Ich druecke den Knopf der Gegensprechanlage und rufe: 'Hallo, wer ist da?' Eine angenehme maennliche Stimme fragt zurueck: 'Madame Scalvini ...' - wieder die Stimme: 'Madame Scalvini, kann ich Ihren Gemahl sprechen, bitte?' - 'Das geht leider nicht. Mein Mann ist bereits im Buero'. - 'Schade', sagt er, und 'Kann ich dann bitte fuer einen Moment zu ihnen in die Wohnung kommen?' Ich zoegere erst, dann sage ich: 'Ja bitte, kommen Sie doch herauf. Wir wohnen noch immer im dritten Stock." Angela hoert ihr atemlos zu.
"Nach kurzer Zeit klingelt es noch einmal. Ich hoere die Stimme an der Wohnungstuere: 'Madame Scalvini ...' - Ich entriegele die Tuere und oeffne sie einen Spalt weit ... und ... da draussen steht wieder der junge Mann, gross, schlank, blonde Maehne, braungebrannt, volle Lippen, blaue Augen, grauer Anzug, von Armani, dunkelgraues Hemd, gelbe Krawatte, Seide. Er strahlt mich an." - "Und dann?" - "'Madame Scalvini,' - Madame sagt er zu mir - 'kann ich bitte Ihren Gemahl sprechen?' - 'Nein, das geht heute leider nicht. Mein Mann ist bereits im Buero.' - 'Schade', sagt er, 'kann ich trotzdem fuer einen Moment zu Ihnen in die Wohnung kommen?' - Ich zoegere, dann sage ich: 'Also gut, bitte, kommen sie doch herein.' - Ich oeffne ihm die Wohnungstuere, er kommt herein, stellt den Lederkoffer ab, nimmt mich in seine kraeftigen Arme, traegt mich zu der Couch, kommt ueber mich und macht mich gluecklich." - "Nein!" - "Doch! Wie beim ersten Mal. Obwohl wir uns doch erst seit Kurzem kennen." - "Und dann?" - "Dann ging er." - "Nein!" - "Doch!"
"Am dritten Morgen, das war gestern, wieder das Gleiche: Ich sitze in unserer Kueche, rauche meine Morgenzigarette, trinke eine dritte Tasse Kaffee und blaet-tere ein bisschen in der Zeitung. Ich sitze noch im Morgenmantel, ganz leger und lasse wie immer den Tag langsam angehen. Da laeutet es. Aha, denke ich und druecke die Zigarette aus. Ich ordne die Falten meines Morgenmantels, schluepfe in die Pantoffeln und gehe zur Tuere. Ich druecke den Knopf der Gegensprechanlage und rufe: 'Hallo, wer ist da?' Die angenehme maennliche Stimme fragt zurueck: 'Madame Scalvini, kann ich Ihren Gemahl sprechen?' - 'Das geht auch heute leider nicht. Mein Mann ist schon im Buero'. - 'Schade, schade', sagt er, und 'kann ich trotzdem fuer einen Moment zu ihnen in die Wohnung kommen?' Ich zoegere wieder, dann sage ich zu ihm: 'Ja bitte, kommen Sie doch herauf. Dritter Stock. Sie kennen ja den Weg." Robertas Bericht macht Angela inzwischen fast verrueckt.
"Ich hoere die Stimme direkt an der Wohnungstuere: 'Madame Scalvini ...' - Ich entriegele die Tuere und oeffne sie. Da steht der junge Mann, gross, schlank, blonde Maehne, braungebrannt, volle Lippen, blaue Augen, grauer Anzug, von Armani, dunkelgraues Hemd, gelbe Krawatte, Seide. In seiner Rechten haelt er den eleganten Lederkoffer. Er strahlt mich an." - 'Madame Scalvini, kann ich bitte Ihren Gemahl sprechen?' - 'Nein, das geht heute leider wieder nicht. Mein Mann ist bereits im Buero.' - 'Das ist schade, kann ich fuer einen Moment zu Ihnen in die Wohnung kommen, bitte?' - Ich zoegere nicht lange, dann sage ich: 'Gerne. Kommen sie doch bitte herein.' - Ich oeffne ihm die Wohnungstuere, er kommt herein, stellt den Koffer ab, nimmt mich in seine Arme, traegt mich zur Wohnzimmercouch, kommt ueber mich und macht mich wieder gluecklich." - "Nein!" - "Doch! Obwohl wir uns doch erst seit drei Tagen kennen." - "Und dann?" - "Dann ging er." - "Nein!" - "Doch!" - "Und jetzt?"
"Ja, das ist der Punkt, den ich nicht verstehe und der mir staendig durch den Kopf geht. Sagen Sie, Angela, helfen Sie mir und beantworten Sie bitte meine Frage: Was wollte dieser Mann von meinem Mann?"

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Tag der Veröffentlichung: 17.11.2011

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