Profaner oder
Da lacht die Fracht
Diese Geschichte spielt in der Hauptsache in Muenchens Stadtteil Obergiesing, am Alpenplatz. Ein Elefant, ein inzwischen verrenteter Trambahnfahrer der Muenchener Staedtischen Verkehrsbetriebe und ein Bauingenieur - Bruder des bereits erwaehnten Trambahners - gehoeren zu ihren hauptsaechlichen Akteuren.
Beginnen wir mit dem Alpenplatz: "Auf dem Berg, da wohnt die Freiheit - auf dem Berg, da ist es schoen", heisst eine alte Strophe. In dieser Textzeile steckt das Potential, das sich bis heute immer wieder einmal hervorlugt und, anstelle eines Grossdeutschlands etwa oder einer aufgeblasenen, nach Bruessel hin orientierte Europaeischen Union, die Sehnsucht nach einer ‚Alpenrepublik’ zum Ausdruck bringt. Die gar nicht so oberflaechliche Sehnsucht nach einem politisch-oekonomischen Konzept, das Oesterreich, Bayern, Oberitalien, die Schweiz und Liechtenstein unter einem gemeinsamen, alpinen Dach ertraeumt, mit Slowenien und Kroatien als assoziierte Mitglieder und dem Alpenhauptkamm als gemeinsames Rueckgrat, sozusagen.
Bodenstaendige Menschen, funkelnde Seen, fischreiche Fluesse, pittoreske Berge, saftige Wiesen, spritzige Weine, sueffige Biere, delikate Speisen - dazu die ganz besondere Schlaeue, um nicht zu sagen Intelligenz, den Fleiss und die Tuechtigkeit der Bewohner dieser Alpenlaender: ein liebenswerter, von Tradition und Kultur gepraegter, ans Paradieshafte grenzender Lebensraum. Dazu der unuebersehbare wirtschaftliche Erfolg, den die aufgefuehrten Laender und ihre Regionen heute haben und die besondere Staerke ihres Selbstbewusstseins.
Wir kommen zum Elefanten: Hier ist es noetig, etwas weiter auszuholen, die Geschichte zu bemuehen und kurz Hannibal zu erwaehnen, den karthagischen Strategen, Heerfuehrer und Staatsmann, der seine Truppen von Spanien aus ueber die Pyrinaeen erst nach Frankreich und dann, bei unvorstellbar miesen und selbstmoerderischen Bedingungen, ueber die Alpen in die Poebene fuehrte.
Durch Muenchen, geschweige denn am Alpenplatz vorbei, kam er nicht, da diese zu der Zeit einfach noch nicht existierten. Die Elefanten im Tierpark Hellabrunn aber koennte man bei einigem guten Willen als Erinnerungsstuecke an den grossen Hannibal und seinen Italienfeldzug bezeichnen.
Mit dem klaeglichen Rest seiner Elefantentruppe lieferte Hannibal den Roemern einige Schlachten im Italienischen und brachte ihnen, den Roemern, schliesslich die groesste Niederlage ihrer Geschichte bei: 216 vuZ. bei Cannae.
Von den in der damaligen mediterranen Welt erstmals waehrend eines Feldzuges eingesetzten Kampfelefanten gingen die allermeisten bereits auf dem Gewaltmarsch ueber die Alpen zugrunde. Viele verendeten waehrend der darauf folgenden kleineren Schlachten in Italien und fast der gesamte Rest kam waehrend der Schlacht bei Cannae ums Leben. Die Elefanten waren auf dem Landweg durch Persien aus Indien gekommen. Begleitet wurden die kolossalen Tiere von ihren indischen Trainern und Pflegern, die nicht nur die Verantwortung fuer die Fuetterung und die veterinaermedizinische Betreuung hatten, sondern die Kampfelefanten fuer die anstehenden Schlachten vorzubereiten und sie darin auch zu fuehren und zu lenken hatten.
Auf die maechtigen Tierruecken wurden grosse Weidenkoerbe gegurtet, in in denen sich drei oder vier mit Pfeilen und Bogen bewaffnete Scharfschuetzen befanden. Man kann die Installationen mit fest verankerten Rundum-Maschinengewehren vergleichen. Besonders feste Schabracken sollten die Wirkung gegnerischer Pfeil-, Speer- und Schwert-Attacken auf die Elefanten abwehren helfen. Uebers Ganze gesehen waren die Elefanten die Panzerwaffe des Altertums, deren sich schon Alexander am Ende seines Indienfeldzugs bedient hatte. Ihr Auftauchen versetzte die gegnerischen Truppen in helle Panik, in die gleiche, wie die beim Auftauchen der englischen Panzer auf den Kriegsschauplaetzen des Ersten Weltkrieges.
Genug der Elefantengeschichten. Kommen wir nun zu Max Profaner und damit zu den Menschen und ihren Rollen in der Geschichte.
Die Mutter des Max Profaner hiess Katharina. Sie kam aus der Gegend von Kaufbeuren, war eines von sieben Kindern und stammte aus einem kleinen Bauernsachl. Sie und ihre Geschwister wurden kaum einmal satt, aber alle mussten von fruehester Kindheit an in der kuemmerlichen Landwirtschaft der Eltern mitarbeiten. Bereits mit dreizehn Jahren, nach dem Besuch von sieben Klassen Volksschule, kam Katharina nach Muenchen in Stellung. Sie kam mit wenig mehr als dem festen Vorsatz in die Landeshauptstadt, etwas aus ihrem Leben zu machen und es zu etwas zu bringen. Und sollte sie selbst einmal Kinder haben, wuerde sie mit allen Mitteln darauf achten, dass diese eine bessere Schulbildung bekommen wuerden als sie selbst und dazu eine abgeschlossene Berufsausbildung. Ihre Kinder sollten mehr aus ihrem Leben machen koennen, als ihr das vergoennt war, ja, eine Trittleiter wollte sie ihren Kindern sein - eine Trittleiter hinauf zu einem erfolgreichen Leben, das ihnen Anerkennung und ein gutes Ein- und Auskommen bescheren sollte.
Deshalb nannte sie auch, die inzwischen verheiratete Katharina Profaner, ihren erstgeborenen Sohn Maximilian, nach dem Namen der Strasse im Zentrum Muenchens, in der sich viele feine Geschaefte befanden, das schoene Opernhaus, das weltberuehmte ‚Hotel Vierjahreszeiten’ und das Gebaeude der ehemals Koeniglichen Hauptpost.
Der Max Profaner aber fuehlte sich mit dem Maximilian, seinem Vornamen, unwohl. Er war ihm zu aufgeblasen und zu anspruchsvoll. Er hatte nie das Gefuehl, diesen stolzen und grossen Namen ausfuellen zu wollen oder gar ausfuellen zu koennen. Deshalb nannte er sich schon als Kind und noch mehr als Heranwachsender und dann als Erwachsener einfach Max. Das war klar und knapp und schoss nicht ueber das Ziel hinaus: ‚Max, pack's beim Hax!’ war einer seiner Leib- und Magensprueche, und nicht ein anderer, naemlich: ‚Maximilian, geh du voran!’
Auch mit seinem Familiennamen stand er auf Kriegsfuss. Er war nicht profan - ganz und gar nicht. Der sonntaegliche Kirchgang gehoerte zu seinem Leben genauso wie das woechentliche Schwimmen im Mueller'schen Volksbad an der Ludwigsbruecke, schraeg gegenueber vom Deutschen Museum. Und es kam ihm nie etwas anderes in den Sinn, als ein christliches, anstaendiges Leben zu fuehren. Und dafuer war ihm ‚profan’ dann doch etwas weit am Kern der Sache vorbei.
Aber letzten Endes nahm er seinen Vor- und Familiennamen so hin, wie ein Mensch die roten Haare hinnimmt, mit denen er auf die Welt gekommen ist und die, aller Wahrscheinlichkeit nach, immerwaehrender Anlass fuer Haenseleien und Sticheleien waren, sind und sein werden.
Der Vater von Max war Schlosser gewesen. Er hiess Leopold, was in der Familie eher als befremdlich, manches Mal auch als komisch aufgefasst wurde. Leopold war Jahrgang 1891, Muenchner in erster Generation - was heissen soll, dass Leopolds Vater kein Muenchner war. Vielmehr kam er aus dem Nuernberger Land in die Haupt- und Residenzstadt; dort wollte er sein Glueck zu versuchen.
Leopold, kaum vom Militaerdienst entlassen, folgte aber dann lieber den Lockungen eines Werbers einer Auswanderungsagentur und einer Schiffahrtslinie, die Auswanderer unbequem aber preisguenstig nach Uebersee brachten. Er schnuerte sein Buendel und wanderte nach Brasilien aus. 1911 war das. Knappe zwei Jahre arbeitete er schwer, aber gut bezahlt, beim Brueckenbau. Er fuehlte sich wohl in dem Land mit seinen freundlichen und lebenslustigen Menschen, dem warmen Klima und auch wegen der besonderen Stellung, die er als tuechtiger Schlossergeselle aus Deutschland innehatte. Er waere gerne geblieben - aber mit Ausbruch des Krieges, der bald zu einem Weltkrieg wurde, zog es ihn zurueck in die Heimat.
Er haette es nicht ausgehalten, hier in Brasilien ein arbeitsreiches, gut bezahltes, heiteres und sicheres Leben zu geniessen und dort die Freunde und Kameraden im Feld zu wissen. Gedient hatte er in der 1. Maschinengewehr-Kompanie bei der Koeniglich Bayerischen Infanterie unter Oberst Karl von Reck, und dort meldete er sich auch sofort, als er aus Brasilien zurueckkam.
Mit Glueck und Geschick kam Leopold ohne groessere Blessuren durch die Kriegsjahre, und waehrend der schier endlosen Tage und Naechte in den Schuetzengraeben dachte er ueber seine Zukunft nach, machte berufliche und private Plaene. Er entschloss sich - obwohl Brasilien immer wieder wie ein leuchtender Stern vor seinem inneren Auge auftauchte - nach dem Krieg in Deutschland, in Bayern, zu bleiben, wenn moeglich in seiner Vaterstadt Muenchen und sich dort eine gute Arbeit zu suchen und eine Familie zu gruenden.
Als waeren die Wuensche und Plaene des Leopold unter einem guten Stern entstanden, bekam er bald nach dem Krieg in seiner frueheren Lehrfirma einen respektablen und, wie es schien, sicheren Arbeitsplatz.
Und eines Tages lernte er die Katherina kennen. Er schob sein Fahrrad durch die Maximilianstrasse; auf dem Gepaecktraeger hatte er ein schweres Paket mit Feilen, die zum Nachhauen weggeschickt werden mussten. Leopold hatte sich angeboten, das Paket nach Feierabend auf der Hauptpost aufzugeben. Durch eine Unachtsamkeit fiel ihm das Paket vom Rad, die schweren, scharfkantigen Metallteile durchbohrten die Verpackung, und auf einmal lagen die Feilen weit und breit verstreut auf der Strasse. Da kam diese junge Frau mit ihrem Einkaufskorb daher, half ihm schon beim Einsammeln, waehrend er noch das Rad am Buergersteig abstellte. "Mit der Post wirds heut wahrscheinlich nichts mehr werdn, was?", sagte sie in ihrem unueberhoerbaren schwaebischen Dialekt, "aber Sie koennen sich ja gern den Korb bis morgn ausleihn."
So lernten sie sich kennen, dann verliebten sie sich ineinander, verlobten sich unter dem Weihnachtsbaum seiner Eltern und heirateten im Sommer. Im Lauf der Jahre bekamen sie drei Kinder, erst den Maximilian, dann die Liselotte und schliesslich den Matthias. Eine gute Zeit hatten die beiden miteinander, trotz der Inflation. Da hatten sie noch nicht viel zu verlieren. Und trotz der Arbeitslosigkeit und der politischen Unruhen, trotz der Hitlerregierung und den Grauenhaftigkeiten, die hinter vorgehaltenen Haenden ueber Dachau und andere Lager getuschelt wurden. Sie hielten sich moeglichst aus allem heraus und kuemmerten sich um sich selbst und um ihre drei Kinder, um deren Erziehung und Ausbildung.
Fast haetten sie Glueck gehabt. Aber halt nur fast. Schliesslich musste Leopold Profaner doch noch einruecken - der Veteran aus dem Ersten Weltkrieg. Nein, zu keinem Kampfverband mehr, gluecklicherweise, aber in ein Instandsetzungs- und Instandhaltungs-Bataillon in der jeweiligen Etappe. Er musste an die Balkanfront, wurde von Titos Partisanen gefangengenommen und von diesen der Roten Armee ueberstellt. Die schickte Leopold Profaner 1944 in ein Kriegsgefangenenlager. Nach Sibirien. Und hier verlor sich seine Spur.
Unzaehlige Male eilte Katharina Profaner mit einem der neueren Schwarzweissfotos ihres vermissten Mannes zum damals arg zerbombten Muenchner Hauptbahnhof, zu den schwer beschaedigten Bahnsteigen des Starnberger- und des Holzkirchner Bahnhofs oder hinaus zum Ostbahnhof. Wann immer ein Zug mit Entlassenenen aus russischer Kriegsgefangenenschaft angekuendigt worden war, hielt sie das Foto hoch und den ausgemergelten, bleichen Maennern entgegen, von denen viele den weit geoeffneten Armen ihrer gluecklichen Angehoerigen und Freunde entgegengingen.
Sie stellte immer wieder die gleichen Fragen: "Haben Sie Leopold Profaner gekannt?" ... "Erkennen Sie den Mann auf dem Foto hier?" ... "Hat jemand etwas von Leopold Profaner gehoert?" ... "Weiss jemand, wo sich Leopold Profaner aufgehalten hat?" "... Ist jemand da, der mit Leopold Profaner im Lager war?" Aber diese mueden, geschundenen Maenner schuettelten stumm den Kopf. Wohl blieb manch einer stehen und betrachtete die Fotografie genauer, um dann abzuwinken. Beschaemt irgendwie, weil er selbst davongekommen war und gleichzeitig hilflos, weil er der Frau keine bessere Auskunft geben konnte.
1955, nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR, unterzeichneten Bundeskanzler Adenauer und der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Bulganin eine Vereinbarung über die Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen. Und wieder und wieder versuchte Katharina bei diesen letzten sogenannten Spaetheimkehrern eine Information ueber ihren Leopold zu bekommen. Vergebens.
Ebenso ergebnislos waren ihre Versuche verlaufen, ueber den Suchdienst des Deutschen und das Internationalen Rote Kreuzes etwas ueber den Verbleib ihres vermissten Mannes zu erfahren. Beide Organisationen hatten gleich nach Kriegsende diesen speziellen Dienst eingerichtet und ueber die Jahre gute Arbeit beim Ausfindigmachen und bei der Heimfuehrung von Vermissten geleistet. Zu Leopold Profaner aber gab es keine aktuellen Unterlagen.
Schliesslich resignierte Katharina.
Die Kinder, die ihre Mutter oft auf einem ihrer schweren Gaenge zu den Bahnhoefen oder zum Buero des Suchdienstes des Roten Kreuzes begleiteten, bestaerkten sie in ihrem Entschluss, den Ehemann und Vater fuer tot erklaeren zu lassen. An der Witwenrente, die ihr nunmehr gesetzlich zustand, hatte sie keine Freude, im Gegenteil: sie trauerte mehr denn je um ihren Leopold. Dass das Auswirkungen auf das seit ihrer Jugend nicht ganz gesunde Herz haben wuerde, darueber war sie sich, und alle anderen um sie herum, im Klaren. Trotzdem waren dann doch alle ueberrascht und tief betroffen, als Katharina Profaner an einem trueben Novembertag des Jahres 1962 fuer immer ihre Augen schloss. Herzversagen schrieb Dr. Rettenbeck, ueber Jahrzehnte der Hausarzt der Profaners, auf den Totenschein. Gebrochenes Herz, dachte Max, als er die Kranzschleifen noch etwas zurechtzupfte, ehe die Trauerfeier in der Aussegnungshalle des Ostfriedhofs begann.
„Ihr Leben war Sorge, Arbeit und Liebe“, das wollte Max auf ihren Grabstein setzen lassen. Die Zustimmung seiner beiden Geschwister hatte er bereits eingeholt.
Katharina Profaner war in dem zufriedenmachenden Bewusstsein gestorben, drei gesunde und tuechtige Kinder auf die Welt gebracht und grossgezogen zu haben. Und dass sie zeitlebens den Mann geliebt und ihm treu geblieben war, der sie seinerseits geliebt und respektiert hatte. Mehr hatte sie vom Leben nicht erwarten koennen. Obwohl sie es dem Leopold zwischendurch immer wieder einmal ein wenig vorgeworfen hatte, dass er sich gefangennehmen und von den Russen nach Sibirien hat verschleppen lassen. Wo doch viele seiner Kriegskameraden mehr oder weniger unversehrt aus Krieg und Gefangenschaft nach Hause zurueckgekehrt waren.
So manches Mal war sie den Frauen neidig gewesen, die ihre Maenner wieder hatten, mit ihnen lebten und den Krieg nach einigen Jahren zwar als einen tiefen, dramatischen und alles veraendernden Einschnitt in ihr Leben betrachteten, aber einen, dessen Folgen man in gemeinsamer Anstrengung ueberwinden konnte. Und teilweise sogar vergessen. Um wieder hineinzugelangen in einen breiteren, ruhigeren und tragfaehigeren Strom von Leben. Das alles war ihr nicht vergoennt gewesen.
Auch an ihrer Tochter und den beiden Soehnen hatte sie ueber die Jahre das eine oder andere auszusetzen gehabt. Aber nie soviel, dass es zu ernsthaften Auseinandersetzungen oder sogar zu Zerwuerfnissen gekommen waere. Es war traurig fuer sie gewesen, dass Liselotte, die sich jetzt Lilo nannte, gleich bis nach Amerika heiraten musste und dass man sich deshalb so selten sah. Auch die beiden Enkelkinder waren weit weg. Dabei waere sie wirklich gerne auch ihre Oma gewesen.
Dass Maximilian seinen schoenen Vornamen in das so gewoehnliche Max veraendern musste, hat ihr nie gefallen; und dass er es nicht weiter gebracht hatte als zu einem Trambahner bei den Stadtwerken: ob sich dafuer die Muehen, die Sorgen und die Entbehrungen um seine Erziehung und Ausbildung gelohnt haben? Und erst seine Spinnerei mit den Tieren, dem Tierpark und besonders den Elefanten - also sie konnte dem Ganzen noch nie etwas abgewinnen - schon frueher nicht und spaeter schon gar nicht mehr. Und trotzdem war ein lebenstuechtiger und rundherum beliebter Mann aus ihm geworden.
Aber Matthias - der entsprach ganz ihrem Wunschbild: strebsam, tuechtig, erfolgreich, adrett, gut verheiratet, kluge und fleissige Kinder. Marietta, seine Frau, trug ihre Nase vielleicht ein wenig gar hoch, obwohl es doch eigentlich das Verdienst des Matthias war, dass die Familie ziemlich ueppig, auf jeden Fall sorgenfrei, leben konnte. Aber wie gesagt, im Grossen und Ganzen war sie mit ihren Kindern und Enkelkindern mehr als zufrieden.
Max war im Mai 1922 auf die Welt gekommen. Nach der Hauptschule und einer dreieinhalbjaehrigen Schlosserlehre kam er fuer zwei Jahre zu den Bayerischen Motorenwerken in Muenchen-Moosach. Dort arbeitete er als Dreher in einer Versuchsabteilung zur Bearbeitung spezieller Metalllegierungen, wie sie bei Raketen und duesengetriebenen Kampfflugzeugen zum Einsatz kommen sollten. Ein kriegswichtige Taetigkeit. Trotzdem wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Nach einer kurzen Grundausbildung ging es gleich an die Ostfront nach Russland.
Max hat den ganzen Irrsinn mitgemacht: erst nach Osten, dann Stillstand, dann Stellungskrieg, dann geordneter Rueckzug, sogenannte Frontbegradigungen, spaeter der mehr oder weniger ungeordnete Rueckzug nach Westen. Er hat viel gesehen, viel gehoert, viel mitgemacht und viel in sich hineingefressen. Nachdem man zufaellig seine Begabung als Scharfschuetze entdeckt hatte – ‚Schlosserauge und Schlosserhand’ nannte er das, wurde Max einem Sonderkommando ueberstellt. Noch heute wacht er manchmal nachts mit einem Schrei auf, verschwitzt und fuer einen Moment ohne Orientierung. Dann hat ihn wieder einer seiner Albtraeume heimgesucht.
Nach dem Krieg arbeitete Max einige Jahre in Muenchen-Freimann im RAW, was bis 1949 Reichbahn-Ausbesserungswerk hiess, und mit Gruendung der Bundesrepublik Deutschland in Deutsche Bahn Ausbesserungswerk umbenannt wurde.
Danach wurde er von den Verkehrsbetrieben der Stadtwerke Muenchen uebernommen. Es galt, das vom Krieg arg in Mitleidenschaft gezogenen Strassenbahnsystem wieder instand zu setzen: die Gleisanlagen und Weichen, die stromfuehrenden Oberleitungen, Fahrgestelle der Triebwagen und Anhaenger, die Aufbauten, Sitze und Baenke. Man musste zwar nicht direkt bei Null anfangen, aber sehr weit darueber war man nicht. Max hatte sich innerhalb kurzer Zeit als tuechtiger und faehiger Mitarbeiter hervorgetan, und als es darum ging, neue, und im Dauerbetrieb wirklich zuverlaessig funktionierende Triebwagen mit verantwortungsvollem Personal zu besetzen, trat man an Max heran und bot ihm eine solche Stellung an.
Max war das recht. Er war die dumpfe und dunkle Werkstattatmosphaere ohnehin leid und sehnte sich auch nach etwas Neuem, nach Abwechslung. So wurde Max Profaner wie selbstverstaendlich einer der Zugfuehrer auf der Muenchner Strassenbahnlinie 8, einer Linie, die es schon vor dem Krieg gab und die bereits in den dreissiger Jahren mit grossem Erfolg in einem Couplet von einem gewissen Ferdinand Weisshaeuptinger, genannt ‚Weiss Ferdl’, besungen wurde. Ein Wagen von der Linie Acht ...
Ein Wagen von der Linie Acht,
Weiss-blau fährt rasselnd durch die Stadt.
So fährt der Wagen schnell dahin,
Die Menschen, die im Wagen drin,
Die schaun gar grantig, niemand lacht,
Da drin, im Wagn der Linie Acht.
Schaffner: Nächste Haltestestelle Harras, Waldfriedhof umsteigen.
Nervöse Frau: Bitt schön, Herr Schaffner, Max Weberplatz, muss ich umsteigen?
Schaffner: Naa, erst am Stachus in die Linie 4 oder 19. - Aussteigen lassn!
Wagenführer: Aba Leut, lassts doch d' Leut naus!
Junger Mann: Geh halt weg alter Depp!
Alter Mann: Dir gib i nacha glei an alten Deppn, Rotzloeffl, rotziger. A so a schwind-süchtigs Zigarettenbürscherl! A scho 's Maul aufreissn. I bin a alter Münchner Bür-ger, der vierzig Jahr seine Steuern und Abgabn zahlt hat, dös merkst da, du Rotzlöffl!
Schaffner: Vorsicht, der Wagen ist besetzt!
undsoweiter ...
Die Strecke fuehrte durch die ganze Stadt: vom Koelner Platz zum Feilitzschplatz, durch die Hohenzollernstrasse zum Kurfuersten- und Elisabethplatz, durch die Nordend- und Barerstrasse, um den Obelisk am Karoloinenplatz herum, durch die enge Karlstrasse zum Stachus, nicht Karlsplatz, wie die Nichtmuenchner haeufig sagten, dann weiter durch die Sonnenstrasse zum Sendlinger-Tor-Platz, durch die Lindwurmstrasse zum Harras und zur Hofmannstrasse.
Eine grosse Tour, eine interessante Tour. Max liebte sie, und er wurde in kurzer Zeit ein Trambahner mit Leib und Seele: puenktlich, zuverlaessig, zurueckhaltend, umsichtig, hilfsbereit. Ein guter Kollege und ein angenehmer Mitmensch. Auch dann noch, als 1966 die Strecke erheblich verlaengert wurde: Hasenbergl - Scheidtplatz - Barerstrasse - Stachus - Sendlinger Tor - Am Harras - Ratzinger Platz - Fuerstenried West.
Wenn er nicht auf dem Bock stand, womit beschaeftigte sich der Max sonst noch?
Dazu ist vorauszuschicken, dass Max bald nach der Uebernahme durch die Verkehrsbetriebe eine recht guenstige, zweckmaessig geschnittene Zweizimmerwohnung angeboten bekam, fuer die er sich gleich bei einer ersten Besichtigung erwaermte. Seither wohnte er am Alpenplatz im Muenchner Stadtteil Obergiesing, zufriedener Mieter eines Wohn- und eines Schlafzimmers, einer hellen Wohnkueche, eines Bades mit einem Kohlebadeofen aus emailliertem Kupfer und einer ebenfalls emaillierten Gusseisenwanne sowie einer gar nicht so kleinen separaten Toilette mit Handwaschbecken und einem Fenster hinaus zu den Geleisen der Ringbahn. Die Wohnung lag im zweiten Stock, acht Parteien wohnten im Haus; er kam alle zwei Monate mit der Treppenreinigung an die Reihe.
Von seinen Gaengen zur Kirche und ins Hallenbad war schon die Rede. Gerne auch ging Max in seinem Stadtviertel spazieren. Entweder ueber die Edelweissstrasse oder die Untere- und Obere Grasstrasse zur Tegernseer Landstrasse, oder hinten ueber die Alpenveilchenstrasse und an der Bahnanlage entlang, oder hin und wieder hinueber zum Nockherberg auf eine Halbe Bier, oder oefter auch zum nahe gelegenen Ostfriedhof. Dort suchte er nach den Graebern prominenter Verstorbener, die auf dem grossen Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Manches Mal sinnierte er ueber eigenartige oder schwer zu entziffernde Grabinschriften nach und machte sich so seine Gedanken ueber die Vergaenglichkeit alles Irdischen und vor allem der des Menschen.
Besonders das ‚Fensterschaun’ liebte der Max. War das Wetter gut, nahm er ein speziell dafuer angeschafftes flaches Kissen, legte es bei geoeffnetem Fenster auf die Fensterbank und stuetzte sich darauf, die beiden Unterarme angewinkelt. Von diesem Platz aus hatte er einen weiten Blick hinein in die Edelweisstrasse, die Alpenveilchenstrasse, ein Stueck in die Untere Grasstrasse und selbstverstaendlich ueber den Alpenplatz hinweg, der lag ja direkt unter und vor ihm. Da waren keine dramatischen Aktionen zu beobachten, aber viele kleine, interessante und amuessante Szenen. Sachen zum Nachdenken eben. Manches Mal aber auch Sachen zum sich Aergern. Auf jeden Fall zog Max das Fensterschaun dem neumodischen Fernsehen vor, das jetzt ueberall aufkam und die Menschen fesselte.
Aber das Liebste von allem waren dem Max seine Besuche im Tierpark. Durch seinen Schichtdienst beguenstigt verging keine Woche, dass er nicht mindestens ein Mal nach Hellabrunn hinausfuhr - selbstverstaendlich mit der Strassenbahn. Er war Mitglied des ‚Foerdervereins des Muenchner Tierparks’ und Besitzer einer Jahreskarte. Der Krieg mit seinen Bombenangriffen hatte Hellabrunn nicht verschont, und es waren die Muenchner Buerger selbst, die mit grosser Leidenschaft und mit grosser Opferbereitschaft dazu beitrugen, den Muenchner Zoo wieder in seiner alten Schoenheit und beruehmten Vielfalt an Tieren auferstehen zu lassen. Es war auch immer ein schoener Spaziergang durch den Tierpark, der unterhalb des Isarhochufers lag. Max kannte eine ganze Reihe von Tierpflegern. Manche davon haette er sogar ohne weiteres als seine Freunde bezeichnet. Max nahm lebhaft Anteil an der Entwicklung und an dem Schicksal einzelner Tiere und ganzer Tierfamilien, vertiefte die in Gespraechen mit den Fachleuten aufgenommenen Informationen mit der Hilfe von Buechern und hatte sich im Lauf der Zeit ein umfangreiches zoologisches Wissen angeeignet, ja, man koennte sogar Fachwissen dazu sagen.
Wie bei seinen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen bei der Tram, war Max auch in Hellabrunn respektiert und wohlgelitten. Bis hinauf zum Direktor mochten ihn alle gut leiden und freuten sich ueber seine Besuche. Ganz besonders angetan war Max von den Elefanten. Das Elefantenhaus, damals nach Entwuerfen von Gabriel von Seidel als eine romantische Nachempfindung orientalischer Kuppeln gebaut, hatte besonders schlimm unter den Kriegsauswirkungen gelitten. Auch der Bestand an Tieren war dezimiert worden. Deshalb machte es sich Max zu seiner ganz persoenlichen Aufgabe, hier helfend mitzuwirken - wo und wie er nur konnte.
Uebrigens kannte er jeden Elefanten, egal ob Bulle, Kuh oder Jungtier: Name, Alter, Herkunft, Umstaende der Gefangenname und des Transports, Gesundheitszustand, Charakter, spezielle Gewohnheiten - all das war ihm gelaeufig. Richtig ans Herz gewachsen waren ihm die Tiere, die in Muenchen zur Welt gekommen waren. Es machte ihm Spass, mit den Elefantenwaertern zu fachsimpeln und diese schaetzten sein Interesse an ihrer Arbeit, und sie schaetzten ihn auch als einen kenntnisreichen und engagierten Elefantenliebhaber.
"Und was ist mit den Frauen?", hoere ich schon seit laengerem ungeduldig fragen. "Hat er denn nie geheiratet?" - "Hat er keine Freundinnen?" - "Ist der Max vielleicht homosexuell?" Nein, schwul war der Max nicht. Aber mit den Frauen hatte er es auch nicht so recht.
In seinem ganzen Leben hatte er insgesamt nur zwei, wie man andernorts dazu sagen wuerde, ernsthafte ‚Beziehungen’ mit Frauen. Seine erste Geliebte hielt es mit der Treue nicht so, wie Max sich das erwartet hatte. Als er an einem Nachmittag frueher als es sein Dienstplan vorsah nach Hause kam, lag sie mit einem anderen Mann in seinem Bett. Er warf einen Blick auf sie und sagte nur: "Geh!" Dann zog er die Tuere hinter sich zu und verschwand mit der Zeitung im Wohnzimmer. Nach etwa einer Stunde oeffnete er alle Fenster der Wohnung, lueftete ordentlich durch und sagte: "So." Er schloss die Fenster wieder und drehte das Radio an, um die Nachrichten zu hoeren.
Die zweite Frau war eine recht adrette und gesellige Person, die auch vom Alter her gut zu Max zu passen schien. Beide wirkten anfangs auch recht verliebt miteinander. Doch Max stellte nach und nach fest, das sie rauchte, fast ausschliesslich Interesse am Kino und an Tanzlokalen hatte und eine Leidenschaft fuer ausgedehnte Kaffeehausbesuche. Das zusammengenommen war dem Max aeusserst unangenehm, und es vertrug sich ueberhaupt nicht mit seiner Art zu leben. Also sprach er sich in aller Ruhe mit ihr aus, mit dem Ergebnis, dass er fortan die Wohnung wieder fuer sich alleine hatte und dem weiblichen Geschlecht konsequent aus dem Weg ging.
Wenn er nun hin und wieder, was tatsaechlich nur ganz selten vorkam, ueber sein Verhaeltnis zu den Frauen nachdachte, kam ihm nie der Gedanke, dass es ein Verlust fuer ihn sein koennte, so alleine und ganz ohne Frau zu leben.
Was er allerdings sehr bedauerte war die Sache, das Liselotte, Lilo, seine Schwester, so weit weggezogen war. Die beiden hatten sich immer gut verstanden, hatten so manchen Streich gemeinsam ausgeheckt und manches Geheimnis miteinander geteilt, das andere nicht wissen sollten oder durften. Freilich kam Liselotte jetzt alle zwei, drei Jahre auf Besuch nach Deutschland. Aber ihr Programm war immer so gedraengt, dass eine ruhige Innigkeit und geschwisterliche Naehe nicht mehr so leicht aufkommen konnte. Und das eine Mal, als er sie und ihre Familie in den Vereinigten Staaten besuchte, hatte keine rechte Begeisterung bei ihm ausgeloest. Zum einen war da seine nur schwer zu ueberwindende Flugangst, die ihm die Reise verleidete, und zum anderen all das, was ihn in Amerika, besser gesagt, in Fort Wayne in Indiana, erwartete Die Schwester war inzwischen ein drittes Mal Mutter geworden und hatten mit den drei Kindern alle Haende voll zu tun. ‚In Amerika laufen die Kinder offenbar nicht einfach so mit, wie das bei uns daheim der Fall war’, dachte Max, als er den taeglichen Trubel mit und um die Kinder beobachtete, ‚die scheinen hier wirklich im Mittelpunkt zu stehen und der einzige Lebenszweck ihrer Muetter zu sein.’
Sein Schwager Andy, der ein grosses Schuhgeschaeft betrieb, wurde von seinen beruflichen Plaenen ganz in Anspruch genommen. Sein Geschaeft ging gut, und weil es so gut ging, dachte er daran, einen Filialbetrieb zu eroeffnen und war jetzt fast ununterbrochen damit beschaeftigt, die Fragen nach der optimalen Lage, der Ausstattung, der Risiken, der Finanzierung, der Werbemassnahmen und so weiter, immer wieder aufs Neue zu durchdenken. Tat er das nicht, verzog er sich mit einer Batterie Dosenbier in seinen Seesel vor den Fernseher und schaute sich Baseball- und Footballspiele an. Dabei schlief er meistens ein.
Also nahm sich Max ein Fahrrad aus der Garage und erkundete Fort Wayne auf eigene Faust. Schon nach kurzer Zeit stellte er fest: Fort Wayne kann Muenchen nicht das Wasser reichen. Ueberhaupt nicht. Kein Schloss Nymphenburg, kein Marienplatz, keine Alte Pinakothek, keine Propylaeen, kein Nockherberg, kein Ostfriedhof und keine Trambahn. Nicht einmal etwas Vergleichbares. Dann ereilte ihn auch noch der Schock seines Lebens: als er an einem grossen Friedhof im Aussenbereich der Stadt entlangradelte, sah er, wie die Leute in ihren grossen, schwarzen Autos auf asphaltierten Strassen und Wegen kreuz und quer ueber das Friedhofsgelaende fuhren. Und dass die Graeber auch voellig anders aussahen und anders angeordnet waren als auf dem Ostfriedhof, aber auch anders als auf den anderen Friedhoefen daheim in Muenchen, dem Waldfriedhof zum Beispiel, dem Nordfriedhof oder dem Friedhof am Perlacher Forst. ‚Wie die Staedte auch, muessen offenbar die Friedhoefe in Amerika in erster Linie autogerecht sein’, dachte der Max.
Nein - seine Sache war dieses Fort Wayne und dieses Amerika nicht. Der Besuch war im Ganzen gesehen zwar kein totaler Reinfall, aber zu einer schnellen Wiederholung lud er auch nicht gerade ein. Und im Inneren tat ihm seine Schwester fast ein bisschen leid, dass sie es da aushalten musste.
Sehr eigen, um nicht zu sagen, ganz schwierig, war das Verhaeltnis zwischen den beiden Bruedern. Eigentlich von Anfang an. Matthias kam, fast schon ein Nachzuegler, 1932 zur Welt. Da war Max bereits zehn und etwas befremdet ueber den Nachwuchs in der Familie. Insbesondere, als er und Liselotte merkten, dass ihre Mutter sich intensiver und liebevoller um den kleinen Matthias kuemmerte, als sie das je mit Max oder Liselotte getan hatte. Natuerlich wollte Katharina Profaner zu ihren drei Kindern gleich aufmerksam und liebevoll sein - welche Mutter moechte das nicht? Aber sie hatte an Matthias einfach einen Narren gefressen. Und so hatte es mit einer gleichmaessigen Verteilung ihrer Liebe nicht allzuviel auf sich. Als dann bereits im Kindergarten und spaeter in der Grundschule herauskam, welche rasche Auffassungsgabe dieser Knirps hatte, wie leicht er lernte und wie er auch komplizierte Aufgaben schnell erfassen und richtig loesen konnte, bekam er die uneingeschraenkte Unterstuetzung seiner ehrgeizigen Mutter. Endlich schien ihr Plan aufzugehen, und eines ihrer Kinder wuerde etwas ganz Besonderes aus seinem Leben machen. Und tatsaechlich, Matthias war fleissig, konzentriert, lernte gut und war ehrgeizig und voller Antrieb.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges war er dreizehn, und von seinen schulischen Leistungen her konnte er problemlos an die Mittelschule ueberwechseln. Katharina hatte sich fest vorgenommen, den Buben trotz aller Not und ohne den Vater auf eine hoehere Schule gehen zu lassen.
Und Matthias dankte es ihr:1948 legte er als Jahrgangsbester die Mittlere Reife ab; von 1948 bis 1951 absolvierte in einer kleinen Baufirma eine Lehre als technischer Zeichner, die er, wen wunderts?, als bester Lehrling Oberbayerns abschloss. Damals bekam er, vor allen Mitarbeitern der Firma, von seinem Lehrherrn einen neuen 10-Mark-Schein und ein Anerkennungsschreiben ueberreicht.
In den darauf folgenden Jahren nuetzte Matthias seine Chance und belegte an der Technischen Hochschule an der Muenchner Luisenstrasse einen Abendstudiengang, der ihm die Ausbildung zum Bauingenieur ermoeglichen sollte. Obwohl er in dieser Zeit Marietta, seine zukuenftige Frau, kennenlernte und sich ueber beide Ohren in sie verliebte, was seine Zeitplanung mehr als einmal ueber den Haufen warf, schaffte er sein Studium mit Auszeichnung und baute 1957 seinen Ingenieur.
1958 wurde geheiratet. Matthias war jetzt sechsundzwanzig und Marietta dreiundzwanzig Jahre alt. Max erinnerte sich noch genau an die Hochzeit seines Bruders an diesen aussergewoehnlich heissen Tag im Fruehsommer, an dem der Teer zwischen dem Kopfsteinpflaster weich wurde und die Brauteltern in einem Nebenzimmer des renommierten ‚Franziskaner’ in Muenchens Innenstadt zu einer Feier eingeladen hatten. Eine fast mit den Haenden greifbare Spannung lag ueber der Festgesellschaft. Besonders ueber den Koepfen der Familie der Braut. Die Verspannung beeintraechtigte nicht nur den Genuss des guten und kostspieligen Hochzeitsmahls, sonders der Festivitaet insgesamt. Matthias hatte nach Oben geheiratet, in eine gutbuergerliche Familie hinein. Mariettas Eltern, Geschwister und manche ihrer Verwandten gaben sich nicht besonders viel Muehe, ihre Enttaeuschung darueber zu verbergen, dass Marietta nicht standesgemaess geheiratet hatte. Sie haetten sich eine bessere Partie fuer die Juengste der Familie gewuenscht. Mit dem Sohn einer Kriegerwitwe war kein besonderer Staat zu machen.
Dem Matthias aber war der gesellschaftliche Aufstieg wichtig, persoenlich, aber auch fuer seine beruflichen Ambitionen. Er war jetzt der Ehemann einer Anwaltstochter beziehungsweise der Schwiegersohn eines Rechtsanwalts und der Schwager eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes. Das erfuellte ihn mit Stolz. Er musste sich aber als Bauingenieur auch nicht schaemen, obwohl er, genau betrachtet, nur ein nichtakademischer Schmalspuringenieur war. Aber Matthias war guter Dinge. Er war fleissig, er hatte Spass am Beruf, er war tuechtig und zielstrebig und die Zukunft in der vom Wiederaufbaufieber gepackten Bundesrepublik lag vor ihm.
Als 1960 der Tobias auf die Welt kam und 1961 gleich auch noch die Beatrice, ja, da wurden aus seinen ihm gegenueber noch immer reservierten Schwiegereltern stolze und glueckliche Grosseltern. Da war das Eis gebrochen und eine andere, herzlichere Form der Beziehung zur Familie seiner Frau begann sich zu entwickeln und zu festigen.
Mit Hilfe seines Schwiegervaters gelang es Matthias, einen wichtigen, gutbezahlten Posten als Statiker in einer alteingesessenen, rundherum ausgelasteten Muenchner Baufirma zu bekommen. Das war 1963. Matthias war einunddreissig Jahre alt. Der Firmeninhaber war ein Duzfreund seines Schwiegervaters. Wie um allen das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, schaffte er fast fuer Zwei und erarbeitete sich schnell das Vertrauen und die Zuneigung des Firmeninhabers. Als eine besondere Form der Anerkennung fuer seine Leistungen und seine Loyalitaet der Firma gegenueber, bot ihm sein Chef 1978 eine Teilhaberschaft an der Firma an und gleich auch noch das Du. Matthias war von beidem begeistert - wobei ihn das ‚Du’ fast noch mehr freute als die angebotene Teilhaberschaft. Leopold, sein Vater, war frueh aus dem Leben des Buben verschwunden und er erinnerte sich noch gut daran, wie sehnsuechtig er immer wieder der Rueckkehr des Vaters aus Krieg und Gefangenschaft entgegengefiebert hatte. Und wie enttaeuscht er insgeheim war, als die Mutter den Vater schliesslich fuer tot erklaren liess. Sein Chef war ihm im Lauf der Jahre ein vaeterlicher Freund geworden, ein Ersatzvater gewissermassen.
Also griff Matthias mit beiden Haenden nach dem Angebot und wurde Duzfreund und Partner seines Chefs. Er war inzwischen sechsundvierzig Jahre alt und eigentlich ein gemachter Mann.
Eigentlich? Es gab drei Dinge in seinem Leben, mit denen er nicht zufrieden war: die Entwicklung seiner Frau, die Entwicklung seiner Kinder und die Entwicklung der Beziehung zu der Familie, aus der er stammte.
Marietta hatte sich in eine Richtung entwickelt, die ihm unverstaendlich war und deshalb mehr oder weniger verschlossen blieb. Nichts war ihr mehr gut genug, jedem neuen, auch noch so albernen Trend musste sie nachlaufen, und sie verbrauchte jede Menge Geld fuer allen moeglichen Firlefanz. Jetzt hatte sie mit ihren dreiundvierzig Jahren auch noch mit dem Reiten begonnen ... Aber sie musste offenbar mit ihren Freundinnen Schritt halten, allesamt unterbeschaeftigte, nicht ausgelastete und im Grunde gelangweilte und langweilige Arzt-, Architekten-, Anwalts- oder hoehere-Beamten-Gattinnen. Auf Matthias wirkte sie, trotz ihrer Beschaeftigungslosigkeit, immer mehr gehetzt, abwesend und oberflaechlich. Und ihm gegenueber ging sie mehr und mehr auf Distanz; auch war sie weniger fuersorglich und liebevoll geworden. Und im Bett? Na ja ...
Tobias und Beatrice, die beiden Kinder, gingen frueh ihre eigenen Wege. Nicht, dass sie nicht mehr im elterlichen Haus lebten - auf diese bequeme materielle Rundumversorgung haetten sie nur ungern verzichtet. Aber sie kamen und gingen, wann sie wollten und wie sie wollten, und sie brachten mit, wen sie wollten. Manchmal kam sich Matthias im eigenen Haus vor wie zu Besuch in einer Fruehstueckspension.
Tobias hatte mit Ach und Krach sein Abitur geschafft und sollte im Herbst zum Wehrdienst eingezogen werden. Obwohl er keine rechte Lust dazu hatte, tat er auch nichts in Richtung Wehrdienstverweigerung oder Zivildienst. Er hatte zu nichts rechte Lust und liess sich schon seit langer Zeit haengen und wartete offenbar darauf, dass andere seine Aufgaben und Probleme fuer ihn loesen wuerden.
Beatrice wollte Grafikerin werden, und sie studierte, wie sie das nannte, an einer teuren Privatschule in Schwabing. Sie hatte nach der Mittleren Reife das Gymnasium verlassen mit der Begruendung, einfach keine Lust mehr zum Pauken zu haben. Allerdings schien sich ihre Lust zu dem Design-Studium auch in engen Grenzen zu halten. Auf Partys und junge Maenner hatte sie offenbar mehr Lust.
Schon in frueheren Jahren waren sich Matthias und Marietta hin und wieder in die Haare geraten, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder ging. Er hielt vieles von dem, was Marietta da praktizierte, fuer zu lasch, fuer zu nachsichtig, fuer zu mittelstaendlerisch-scheinliberal. Und sie konterte dann regelmaessig, dass ihr seine pseudoproletarische Wertewelt gestohlen bleiben koenne und dass die Kinder schon ihren Weg gehen wuerden, kaemen sie doch, zumindest von ihrer Seite, aus einem guten Stall. Das waren dann die wenigen Momente im Leben des Matthias, in denen dieser kluge, freundliche, auf Harmonie und Ausgleich bedachte Mann handgreiflich haette werden koennen. Dann lief sein Gesicht tiefrot an, die Adern an Schlaefen und Stirn traten deutlich hervor und er bekam kaum noch Luft. Dann verliess er wortlos aber hastig den Raum und verschwand, ohne jedoch, wie das Mariettas Art war, die Tuere hinter sich ins Schloss zu werfen.
Das dritte, was ihn quaelte, war die unvollendete Beziehung zur toten Mutter, die schon 1962 gestorben war, zu seiner Schwester, die in Amerika verheiratet war und nur selten nach Muenchen kam und zu seinem Bruder. Zu seiner Familie eben. Wie schon gesagt, den Verlust des Vaters hatte er nie recht verwinden koennen. Dass das ein wesentlicher Grund dafuer war, warum er sich so stark zu seinem frueheren Chef und jetzigen Geschaeftspartner und Duzfreund hingezogen fuehlte, das war ihm klar. Die Mutter hatte versucht, die Luecke zu fuellen, die der vermisste Vater hinterlassen hatte. Sie hatte ihm jede Unterstuetzung gegeben, die sie zu geben in der Lage war. Aber sie konnte ihm den Vater nicht ersetzen. Und es tat ihm jedesmal weh, wenn er an sie dachte: ‚Ihr Leben war Sorge, Arbeit und Liebe’, hatte Max seinerzeit auf den Grabstein setzen lassen. Wie richtig und einfuehlsam sein aelterer Bruder das festgehalten hat. Schade, dass sie schon so frueh sterben musste. ‚Mein Gott, sechzehn Jahre ist das schon her. Die Zeit vergeht nicht, sie rennt’, sagte er zu sich selbst. Er haette sich gerne mehr um seine Mutter gekuemmert - jetzt wo er erfolgreich und auch ein wenig wohlhabend war und sich auch die Zeit ein bisschen freier einteilen konnte, als noch vor einigen Jahren ...
Das Verhaeltnis zu seinen beiden Geschwistern war nie einfach gewesen: immer hielten Max und Liselotte zusammen wie Pech und Schwefel, und fuer ihn, den Kleinen, das sogenannte Nesthaekchen, gab es wenige Moeglichkeiten, in diese verschworene Gemeinschaft einzudringen. Erst als Liselotte, oder Lilo, wie sie sich ja inzwischen nannte, Andrew, den Andy, heiratete und mit ihm nach Amerika ging, wurde das Verhaeltnis zwischen Max und ihm etwas intensiver und herzlicher. Offenbar hingen sie als Brueder doch mehr aneinander, als sie zugeben wollten.
Manchmal, wenn es die Seinen dem Matthias wieder einmal zu bunt trieben, fuhr er hinueber zum Alpenplatz, darauf hoffend, seinen Bruder daheim anzutreffen. Dort, in Max' Wohnung, atmete jedes Stueck die kleinbuergerliche Welt, aus der auch Matthias kam und in der er sich, ganz tief unten, noch immer wohler und geborgener fuehlte als auf der herausgeputzten und auf seiner mittelstaendischen Buehne zur Schau gestellten Existenz. Mit Max konnte er nicht nur gut ueber die alten Zeiten reden, ueber die Eltern, die Schwester, alte Freunde, Lehrer, Pfarrer und Bekannten, nein, mit Max konnte er ganz vernuenftig ueber viele Dinge in der Politik, der Wirtschaft, ueber die gemeinsame Vaterstadt und ueber Fussball reden. Ja, auch ueber Fussball.
Als 1963 die verschiedenen Oberligen vom Deutschen Fussballbund in eine erste und eine zweite Bundesliga zusammengefasst worden waren und sein TSV 1860 gleich von Anfang an in der ersten Liga mit dabei war und der zweite Muenchner Verein, der FC Bayern, sich erst im darauffolgenden Jahr qualifizieren konnte - ja, da fing der Max erstmals in seinem Leben an, sich Gedanken darueber zu machen, ob er sich einen Fernseher anschaffen wollte oder sollte - oder besser doch nicht.
Auch dem Max waren die Stunden mit dem Bruder wichtiger geworden, und was gab es Schoeneres, als unter Maennern gemeinsam ein rassiges Fussballpiel anzuschauen, ein oder zwei Flaschen Bier dazu zu trinken und hinterher, nach dem Spiel, noch eine Weile zu diskutieren und zu fachsimpeln? Aber die Sechziger des Max stiegen ab und versanken zeitweise in der Bedeutungslosigkeit - und wegen der arroganten Bayern einen Fernseher zu kaufen ... ?
Nach Jahren und nach vielerlei Ueberlegungen rang sich Max schliesslich doch zum Kauf eines Fernsehgeraetes durch. Etwas verlegen liess er es im Wohnzimmer aufstellen, das ihm dadurch gleich viel kleiner vorkam, und nach kurzzeitigen Problemen mit der schon etwas in die Jahre gekommenen Antenne auf dem Hausdach, lief der Kasten tadellos.
Fuer Matthias war damit das Thema Herkunftsfamilie mehr oder weniger auf der sonnigen Seite gelandet. Immer oefter besuchte er seinen Bruder, und immer herzlicher wurde deren Art, miteinander umzugehen.
Fuer den Max aber zogen diese haeufigeren Besuche ein gewaltiges Problem nach sich. In den Jahren ihres sehr lockeren Kontaktes hatte Max fast vergessen, was fuer ein Rechthaber sein Bruder Matthias war. Nicht sein konnte, sondern war. Und er war nicht nur ein unausstehlicher Rechthaber, sondern ein noch groesserer Alleswisser. Vielleicht kam es von seinem steilen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg, vielleicht wirkten sich die Ambitionen der gemeinsamen Mutter in Hinblick auf die Entwicklung ihrer Kinder bei ihrem Liebling Matthias mit dessen zunehmendem Alter immer drastischer aus. Wer weiss?
Oft war es so, dass Max seine Schwaegerin, seinen Neffen und seine Nichte verstehen konnte, wenn sie Ehemann und Vater moeglichst weitraeumig umgingen. Mit seinem ‚weiss ich schon’ war Matthias gnadenlos. Gnadenlos ueberheblich, gnadenlos beleidigend und gnadenlos im Abseits.
Egal, worueber man ihn informieren wollte, was man ihm mitzuteilen gedachte, sei es aus den Bereichen Sport, Politik, lokaler Politik, des Muenchner Vereins- und Gesellschaftslebens, sogar aus dem ureigensten Umfeld des Max, der Welt der Muenchner Trambahn, Matthias antwortete stets mit "weiss ich schon". Es war zum Auf- und Davonlaufen mit ihm.
Sprach ihn Max darauf an oder machte ihm Vorwuerfe deswegen, war Matthias beleidigt: "Ja, aber - wenn es doch so ist. Wenn ich das doch schon gewusst habe. Ich weiss halt manches ein wenig frueher und auch ein wenig besser. Ich tu auch einiges dafuer. Ich lese die Sueddeutsche, die ZEIT, den Spiegel, das Handelsblatt und hin und wieder den Kicker.Von meinen Fachzeitschriften gar nicht zu reden. Und wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, hoer ich keine Volks- oder Popmusik oder sonst einen Schwachsinn, sondern ich hoer mir Bayern 2 an mit seinen informativen Sendungen. Im Fernsehen schau ich mir auch nicht jeden Unterhaltungsschmarrn an, sondern in erster Linie die politischen Sendungen, die Magazine und die Informationssendungen. Und im Bett, vor dem Einschlafen, les ich noch ein paar Seiten, bis mir die Augen zufallen und ich das Licht ausschalte. Sonst ruehrt sich ohnehin nichts im Bett. Bei mir." - "Dann bist du ja wie ein Regenwurm. Ein Info-Regenwurm, sozusagen: vorn frisst du's rein und hinten scheisst du's wieder raus." Max konnte ueber diesen Vergleich herzlich lachen. Matthias weniger. "Aber ganz im Ernst", fuhr er fort, "mit deinem ‚Weiss ich schon’ bringst du jeden Menschen um den Verstand. Und wenn du so weiter machst, moecht ich nimmer, dass du so oft bei mir vorbeischaust. Ich halt das naemlich bald nicht mehr aus."
Das sass. Matthias war tief getroffen. Er gelobte Max und sich selbst eine schnelle und nachhaltende Besserung. War doch der Max inzwischen einer der wenigen Menschen geworden, mit dem er sich wirklich wohlfuehlen und bei dem er so richtig zu Hause sein konnte.
Aber gute Vorsaetze sind oft die Zeit nicht wert, die man benoetigt, um sie sich auszudenken und auszusprechen, beziehungsweise aufzuschreiben. So ging es auch mit dem Matthias. Der Weisheit folgend, dass man aus einem Spatzen keinen Adler machen kann und aus einem Huflattich keine Teerose und das englische Sprichwort bestaetigend: ‚Never teach new tricks to an old dog!’, lief die Katze bald auf den alten Fuessen, wie man in Muenchen sagt. Matthias war bald wieder besserwisserisch und rechthaberisch wie eh und je, vielleicht sogar noch etwas mehr. Und sein ‚Weiss ich schon’ blieb auch weiterhin sein Markenzeichen.
Max haette zwischendurch die Waende hochgehen koennen und sagte das eine und andere Mal: ‚Den kauf ich mir schon. Der wird schaun. Den krieg ich schon noch dran. Den ‚Weiss ich schon’, den arroganten.’
Weitere Jahre gingen ins Land. Max bereitete sich auf seine Rente vor. Er hatte zeitlebens alleine gelebt, hatte keine Unterhaltspflichten gehabt, keine teuren Laster oder Hobbys und seine Ausgaben hatte er stets aufmerksam kontrolliert. Nicht dass er kleinkraemerisch oder gar geizig gewesen waere - eher umsichtig und vorausschauend. So kam es, dass sich auf der Postbank an der Tegernseer Landstrasse und in der sich in unmittelbarer Naehe befindlichen Filiale der Staedtischen Sparkasse jeweils eine recht ansehnliche Summe angesammelt hatte. Beraten durch zwei aeltere Mitarbeiterinnen an den jeweiligen Geldinstituten, die der Max schon seit Jahrzehnten kannte, als sie noch als Lehrlinge hinter den Schaltern standen, hatte er die Betraege gewinnbringend angelegt.
Das war noch zu einer Zeit, als eine Sparkassenangestellte nie im Traum daran gedacht haette, einem Kunden ein sogenanntes, kaum zu durchschauendes ‚Produkt’ zu verkaufen, das dem Angestellten eine satte Provision, dem Kunden aber aller Wahrscheinlichkeit nach einen herben Verlust einbringen wuerde. Diese Geschaeftspraktiken setzten sich erst viel spaeter durch, zu einer Zeit, in der auch vieles Andere drunter und drueber ging. Zwar nicht ueberall, aber doch fast.
Spekulieren war nie Max' Sache gewesen. Einen guten Zins wollte er fuer sein Erspartes allerdings schon bekommen. ‚Geld karnickelt’, lachte er manches Mal in sich hinein, wenn er zwischendurch nachschauen war, wie sich seine Guthaben entwickelten.
Max konnte zufrieden sein. Seine Rechnung schien aufzugehen. Er hatte seit laengerem geplant, nicht wie ueblich, mit fuenfundsechzig in die Rente zu gehen, sondern bereits mit sechzig. Einerseits fuehlte er sich inzwischen ganz schoen alt fuer die anstrengende Arbeit auf den neuen Strassenbahnzuegen. Immer weniger Personal stand dafuer zur Verfuegung. Sogar die juengeren Kolleginnen und Kollegen hatten ihre Probleme mit den fordernden Anspruechen durch den Dienst.
Dazu kam eine weiterer Punkt: in Muenchen hatte man mit einer ungluecklichen, um nicht zu sagen unglueckseligen, Diskussion ueber das Fuer und Wider von Strassenbahnen als Massenverkehrsmittel begonnen. Eine heisse Sache und eine Diskussion, die Max fuer so ueberfluessig hielt wie einen Kropf. Natuerlich war er parteiisch, aber er hielt ein gut ausgebautes Strassenbahnsystem tatsaechlich fuer ein kostenguenstiges, flexibles, bequemes und umweltschonendes Massenverkehrsmittel und fuer ein sicheres dazu. Man musste sich nur einmal die Unfall- und Pannenstatistik vor Augen halten. Natuerlich konnte sich die Strassenbahn nicht mit der U-Bahn messen, aber da standen auch ganz andere Investitionssummen im Raum. Nein, diese Diskussion und das Gefuehl, das sich bei ihm in der Folge einstellte, von heute auf morgen aufs Abstellgeleise geschoben zu werden, nach der Formel: alte Technik + alte Mitarbeiter = Schrott, das alles gefiel Max nicht und das musste er auch nicht mehr mitmachen. Diese Entwicklung bestaerkte ihn in seinem Vorhaben.
Wenn er darueber nachdachte, wie jung seine Mutter und wahrscheinlich auch sein Vater gestorben waren und wie wenig sie letztlich vom Leben gehabt haben, war das fuer ihn ein Grund mehr, den Dienst moeglichst bald zu quittieren und sich noch ein paar schoene Jahre zu machen. Ein paar schoene Jahre noch ...
Je naeher sein Abschied rueckte, desto oefter wurde Max von einer eigenartigen Aktivitaet getrieben. Oefter als je vorher nahm er sich den einen oder anderen Tag frei, ein entsprechendes Ueberstundenpolster hatte er ja, tatsaechlich war es so dick, dass es fuer drei Kollegen gereicht haette. Oefter als je vorher fuhr er nach Hellabrunn hinaus, in den Tierpark. Einen Urlaubstag opfern wegen eines Zoobesuchs? Ja und nein. Vor jedem dieser Ausfluege hatte er sich telefonisch beim Direktor von Hellabrunn angemeldet, bei Herrn Dr. Wiesner. Der kannte den Max Profaner gut und empfing ihn gerne und herzlich. Nur das Anliegen des Max war fuer ihn so aus der Welt, dass Direktor Dr. Henning Wiesner erst einmal eine ganze Weile brauchte, bis er erkannte, dass ihn der Max Profaner nicht auf den Arm nehmen wollte. Es dauerte wirklich eine Weile, bis Herr Wiesner tatsaechlich verstand, dass es dem Max ernst war mit seinem Anliegen. Und das schuf dann tatsaechlich ein Problem.
Eine ganze Reihe von Gespraechen mit Max und eine ganze Reihe interner Sitzungen waren notwendig, bis Dr. Wiesner fuer das Projekt gewonnen war und bis Dr. Wiesner wiederum das Einverstaendnis und die Unterstuetzung seines Teams gewonnen hatte. Zum Schluss reichten sich Dr. Wiesner und Max die Haende.
Dr. Wiesner, der Tierparkdirektor, schuettelte hinterher noch immer leicht unglaeubig seinen Kopf. Max Profaner aber strahlte. Die Sache war vereinbart. Ausgemacht war sie. Die Vereinbarung stand. Und darauf konnte er bauen.
An einem der naechsten Tage besuchte Max eine kleine Baufirma im hinteren Obergiesing, nicht sehr weit vom Alpenplatz entfernt. Er verhandelte mit dem Inhaber. Die beiden Maenner waren ungefaehr gleich alt und waren sich auf Anhieb sympathisch. Technisch gesehen gaebe es da kein Problem, stellte der Bauunternehmer lakonisch fest. ‚Aber schon ueberhaupt keins. Das ist keine Herausforderung fuer unseren Betrieb. Ueberhaupt keine. Aber die Genehmigung, Herr Profaner. Die Genehmigung, Herr Profaner. Die Genehmigung muessen Sie mir schon besorgen. Vorher. Sonst geht da leider gar nichts.’
Der Termin bei der Hausverwaltung war der schwierigste von allen. Erst wollte man ihn gar nicht empfangen. Aber die Tatsache, dass Max Profaner seit Jahrzehnten dieselbe Wohnung bewohnte und sich nie, aber auch gar nie irgend etwas hat zuschulden kommen lassen, immer puenktlich und auf den Pfenning genau seine Miete und die entsprechenden Nebenkosten bezahlt hatte, dies zusammengenommen machte es schliesslich moeglich, dass Max mit dem Leiter der Hausverwaltung ein laengeres Gespraech fuehren konnte. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde sogar der Hausanwalt hinzugebeten. Der langen Rede kurzer Sinn: Zwischen der Hauswaltung, die unter anderem auch das infrage kommende Wohnhaus am Alpenplatz in Muenchen betreute, und Max Profaner wurde ein rechtsgueltiger Vertrag geschlossen. Alle Verpflichtungen, die Max zu erfuellen hatte, wurden darin aufgefuehrt. Gleichzeitig musste er sich mit seiner Unterschrift damit einverstanden erklaeren, eine Haftpflichtversicherung fuer eine moeglische Schadenssumme von einer Million D-Mark abzuschliessen. Dem Max wurde erst einmal schwarz vor den Augen. Dann aber unterschrieb er ohne Zoegern.
Einfach hingegen war das Gespraech im Buero der Firma Schmidbauer. Die Firma Schmidbauer ist ein nicht nur in Muenchen, sondern in ganz Deutschland bekanntes Unternehmen fuer Spezialmaschinen, vor allem Spezialkraene. Waehrend des Gespraechs kamen nur kurz einmal Bedenken auf wegen der schmalen Strassen und engen Kurven rund um den Alpenplatz. Man hatte einen Stadtplan in einem grossen Masstab vor sich liegen: "Da werden wir schon die Polizei brauchen. Zum Durchsetzen eines notwendigen Parkverbotes, zum Sperren der Zufahrt und zur allgemeinen Verkehrsregelung. Machen Sie das, Herr Profaner, oder sollen wir uns darum kuemmern?"- "Nein, das mach ich schon", antwortete der Max und hatte einen weiteren Termin am Hals.
Der Termin bei der Polizei war dann auch der letzte, dachte er, und den konnte er nach Feierabend erledigen, wo doch das Polizeirevier nicht weit von ihm zu Fuss gut zu erreichen war. ‚So’, sagte er danach zu sich selbst und rieb sich die Haende, ‚das haettn wir also geschafft. Und weiter gehts im Text.’
Aber er hatte die Rechnung ohne das Amt fuer Oeffentliche Ordnung gemacht. Dorthin schickte ihn naemlich der freundliche Polizist, zusammen mit einer Einverstaendniserklaerung durch die Polizei in Obergiesing, die man ihm auf dem Polizeirevier ausgestellt hatte. "Damit gehns jetzt zum Amt und lassn sich eine Genehminung ausschreiben. Das kost ein paar Mark, ist aber nicht weiter schlimm. Und damit kommens dann wieder zu uns und dann koennen wir den Antrag fertig machen und, wenns soweit is, taetig werden." Ja, so ist das: Gibt es ein Amt, dann will das auch beschaeftigt werden und auch mitreden koennen. Und kassieren.
Am Tag darauf bat er Monika, eine Kollegin, die wie er seit Jahrzehnten bei der Strassenbahn war, allerdings im Buero, in der Personalabteilung, auf einer modernen Schreibmaschine mit einem Kugelkopf ein paar Briefe zu tippen. Der Kugelkopf machte so ein schoenes, gestochen scharfes Schriftbild. Monika sagte ohne Zoegern zu. Anderntags ueberreichte sie ihm die sauber getippten Briefe. "Die Kuverts hab ich dir auch gleich geschrieben, das sieht dann besser aus." - "Sag mal, Max", fragte sie ihn dann von hinten heraus, "hast du denn auf deine alten Tage noch das Bauen vor? Tu dir doch ja das nicht an. Aber wenn du es partout nicht lassen kannst, und wenn du einmal fertig bist mit deinem Haeusl, dann sag mir bitte Bescheid: ich zieh gern bei dir ein." Monika lachte und Max schmunzelte. "M und M, Max und Monika: du meinst, das wuerd zsammgehn? Du weisst doch, Monika: die Frauen und ich und ich und die Frauen ... Und ausserdem: wegen einem Liter Milch kauft man doch nicht gleich eine ganze Kuh." - "Jetzt hoerst aber auf", lachte sie hinter ihm her, als er ganz schnell aus ihrem Buero verschwand. Und erst da entdeckte sie die huebsch verpackte Pralinenschachtel, die der Max als kleines Dankeschoen heimlich und ohne Aufhebens auf ihren Schreibtisch gelegt hatte.
Am 26. Mai 1982 war der grosse Tag. Die Fussballmanschaft des FC Bayern Muenchen unter ihrem Trainer Pal Csernai stand im Rotterdamer ‚De Kuip-Stadion’ im Endspiel um den Europapokal der Landesmeister. Vor 46.000 Zuschauern spielten bei den Bayern unter anderen Dremmler, Augenthaler, Breitner, Duernberger, Dieter Hoeness und Karl-Heinz Rummenige. Gegner war die Mannschaft von Aston Villa aus England. Schon vor der Weltmeisterschaft in England 1966, besonders aber danach, waren deutsch-englische Fussballspiele immer etwas Besonderes. Das Spiel wurde im Fernsehen uebertragen. Life, ab 20.15 Uhr, gleich nach der Tagesschau.
Und natuerlich hatte sich Matthias angesagt. Er als alter Bayern-Fan - rot bis in die Wolle gefaerbt. "Die Sechziger koennen einen inzwischen fast leid tun mit ihren Versuchen, wieder in die erste Bundesliga zu kommen", frozzelte er hin und wieder scheinheilig. Diese Life-Uebertragung, zusammen mit seinem Bruder, wollte er unter keinen Umstaenden verpassen. Am liebsten waere er nach Rotterdam geflogen, um sich das Spiel direkt im Stadion anzuschauen. Aber er steckte wieder einmal bis ueber beide Ohren in der Arbeit ...
Max Profaners grosser Tag hatte schon einen Tag vorher begonnen, am 25. Mai. Morgens, vor acht Uhr, tauchte bereits ein Streifenwagen der Polizei am Alpenplatz auf und sondierte das Gelaende. Max selbst war schon seit sechs Uhr auf den Beinen, war rasiert und hatte schon gefruehstueckt. Die Wettervorhersage im Radio haette nicht besser sein koennen: leicht bewoelkt, 19 Grad, so gut wie windstill. Ein angenehmer Tag im Mai. Bereits am Abend vorher hatte man weitraeumig auf der Strasse vor dem Haus Halteverbotsschilder aufgestellt, und er hatte schon in aller Fruehe ueberprueft, ob der Platz auch wirklich frei war von parkenden Autos. Das war der Fall gewesen.
Er begruesste die beiden Streifenbeamten, die ihm versicherten, dass alles bestens lief. Sie seien ueber Funk in staendigem Kontakt mit ihren Kollegen im zweiten Einsatzfahrzeug.
Dann kam der Kranwagen. Max erschrak. Ganz so riesig hatte er sich das Fahrzeug doch nicht vorgestellt. Aber wie manche dickleibige Menschen sich durchaus leichtfuessig bewegen koennen, so bewegte sich das Monstrum von Kran recht behende auf der schmalen Flaeche des Alpenplatzes mehrmals hin und her, rangierte ein paar Mal, bis es schlussendlich so in Stellung gebracht worden war, dass es problemlos seine Arbeit ausfuehren konnte.
Es handelte sich um einen Autokran, einen sogenannten Selbstfahrer, also um einen Kran, der einen eigenen Antrieb hat und der auf einer relativ geringen Grundflaeche seinen Arm hoch in den Himmel ausfahren konnte. Das war hier auch noetig, denn der Kran musste mit seinem Ausleger so weit ueber das Dach des vierstoeckigen Gebaeudes reichen, dass er seine Lasten zur Rueckseite des Hauses hin heben konnte.
Inzwischen hatte die Baufirma das Geruestmaterial geliefert und alles andere, was fuer die geplanten Arbeiten notwendig war. Das Geruest wurde mit Hilfe des Krans auf die andere Seite des Hauses gehoben und von flinken und geschickten Haenden abgenommen und sofort Stueck fuer Stueck aufgebaut. Das ging sehr schnell. ‚Die verstehn ihr Handwerk’, dachte sich der Max, ‚aber das ist auch notwendig.’ Dann hoerte man, wie an der rueckwaertigen Hausmauer mit einem Bosch-Hammer gearbeitet wurde, und man sah, wie eine groessere, eisenarmierte Betonplatte hochgehoben und ueber das Dach gehievt wurde. Sie war nicht besonders stark, aber ueberaus solide armiert, und sie war mit einigen auffaelligen kreisrunden und halbrunden Aussparungen versehen. Langsam lies der Kranfuehrer die Platte nach unten ab, bis er die richtige Hoehe erreicht hatte.
Selbstverstaendlich erregte dieses fast ueberfallartige Eintreffen des Streifenwagens, des schweren Krans, des LKW und der Handwerker die Aufmerksamkeit der Anwohner am Alpenplatz und den Nebenstrassen. Den Leuten in seinem Haus hatte der Max rechtzeitig eingesagt und sich gleichzeitig fuer die bevorstehende Stoerung entschuldigt. Die anderen aber, die dem Max meist nur vom Sehen kannten, wie er mit seiner abgewetzten Aktentasche und in seiner Trambahneruniform zur Haltestelle Ostfriedhof ging, um dort in die Strassenbahn einzusteigen, die ihn zum Dienst brachte, beziehungsweise wie er von diesem zurueckkam. Sie wunderten sich nicht wenig ueber den Max, wie er so herumrannte, Anweisungen gab und sich ziemlich wichtig machte.
Die Zeit verging wie im Flug und ehe man sichs versah, war es zwoelf Uhr geworden. Zeit zum Mittagessen. Max liess sicht nicht lumpen. Bei all den Ausgaben, die er mit der ganzen Angelegenheit ohnehin hatte und noch haben wuerde, kam es darauf auch nicht mehr an. Er lud alle Handwerker, den Kranfahrer und auch die Polizisten in eine gutbuergerliche Gastwirtschaft an der Edelweisstrasse zum Essen ein. Alle freuten sich ueber die grosszuegige Geste, langten tuechtig zu, tranken die eine und andere Halbe und stiessen oefter mit Max an, dem Bauherren.
Nach dem Essen ging es zurueck auf die Baustelle, gerade rechtzeitig, wie sich herausstellte. Denn inzwischen war ein weiteres Fahrzeug eingetroffen, ein LKW mit einem grossen, soliden Holzverschlag auf seiner Ladeflaeche. Dieser Holzverschlag hatte auf den vier Seiten Oeffnungen ausgesaegt, die mit dicken Eisenstaeben vergittert waren. Mit breiten, festen Gurten war der Verschlag auf der Ladepritsche festgezurrt. In dem Verschlag aber bewegte sich etwas. Man hoerte ein Scharren und ploetzlich einen grellen, trompetenaehnlichen Ton.
Max war auf einmal ganz aufgeregt. Erstmals seit Tagesanbruch hatte er schweissnasse Haende, die Stasi war angekommen. Stasi war eine verhaeltnismaessig junge Elefantenkuh, die er seit Jahren kannte und die er zusammen mit dem Herrn Dr. Wiesner fuer dieses Vorhaben ausgewaehlt hatte. Ausgewaehlt vor allem deshalb, weil sie geduldig und ueberhaupt nicht scheu war und einen grundsaetzlich menschenfreundlichen Charakter hatte. Ja, der Max kannte Stasis Charakter gut.
Jetzt aber begann die Stasi doch ein wenig unruhig zu werden und machte lautstark auf sich aufmerksam. Zwei Elefantenpfleger aus Hellabrunn waren mitgekommen, und Max begruesste sie wie alte Freunde per Handschlag. Den beiden ging es jetzt vor allem darum, Stasi schnell und sicher aus dem Verschlag zu befreien und ihr ein wenig Bewegung zu verschaffen. Es mussten nur einige kraeftige Schraubmuttern geloest werden und schon konnte man den Holzverschlag in seine Einzelteile zerlegen und abbauen. Endlich befreit, stand Stasi hinten auf dem Lastwagen, in voller Groesse und urtuemlicher Schoenheit. Wie ein Denkmal ihrer selbst trompetete sie begeistert in den Maienhimmel Obergiesings.
Was war das fuer eine Aufregung, als man die Stasi auf einer schiefen Ebene aus soliden Holzplanken vom Wagen herunter auf die Strasse fuehrte und sie anschliessend ein paar Mal gemaechlich um den Alpenplatz gehen liess. Kinder und Erwachsene, Fussgaenger, Radler und Autofahrer hielten an und rieben sich verdutzt die Augen, weil sie das, was sie sahen, nicht glauben konnten. Es bedurfte der ganzen Geduld, aber auch der Entschiedenheit der zusammengenommen vier Polizisten, einen Auflauf und ein Verkehrschaos zu verhindern und die Passanten zum Weitergehen, beziehungsweise die Rad- und Autofahrer zum Weiterfahren zu bewegen.
Zwischenzeitlich hatte der Kranfahrer ein spezielles Geschirr aus festem, sehr breitem Gurtmaterial und vielen kraeftigen Schliessen am Zugseil des Krans befestigt. Als man Stasi von ihren Rundgaengen wieder zurueckgefuehrt hatte, wurde ihr mit sachkundiger und geschickter Hilfe der beiden Elefantenpfleger dieses Geschirr angelegt. Das dauerte eine Weile.
Der Inhaber der Baufirma, der gerade angekommen war, stellte sich zu seinem Kunden, um mit ihm die Fortschritte bei den Arbeiten zu verfolgen. Nach einem kurzen Raeuspern wandte er sich an Max: "Herr Profaner, ich will ja nicht neugierig sein, das gehoert sich schliesslich nicht. Und wer zahlt, schafft an. Das gilt auch heute noch, oder heute vielleicht sogar mehr denn je. Aber jetzt sagen Sie mir doch einmal: Warum machen Sie das Ganze? Das kostet Sie doch bestimmt eine schoene Stange Geld. Und die ganzen Umstaende, die Sie damit haben ...?"
Der Max kratzte sich stumm am Schaedel, schaute den Bauunternehmer an und fragte ihn: "Kennen Sie meinen Bruder? Den Matthias Profaner? Bauingenieur und Statiker? Eine eigene Firma hat er, beziehungsweise Teilhaber ist er davon: Bergner & Profaner. Kennen Sie den?" Der Baumeister schuettelte den Kopf und sagte: "Nein. Ihr Bruder ist mir nicht bekannt. Lebt er hier in Muenchen?" - "Ja, der ist in Muenchen und seien Sie froh, dass Sie ihn bisher nicht kennengelernt haben. Wissen Sie, dieser Mensch kann manchmal wirklich unausstehlich sein. Einfach furchtbar. Passen Sie auf: jedesmal wenn ich etwas sage, sagt er: ‚Weiss ich schon.’ Jedesmal. Egal was es ist - er sagt: ‚Weiss ich schon.’ Einmal. zehnmal, hundertmal, tausendmal, unzaehlige Male. Das ist zum Auf- und Davonlaufen. Wirklich, glauben Sie mirs. Ich komme nicht an gegen diesen Menschen. Meinen leiblichen Bruder. Auch seine Frau und seine Kinder nicht. Immerzu sagt er: ‚Weiss ich schon.’ Es ist zum aus der Haut fahrn. Aber jetzt hab ich ihn, den ‚Weiss-ich-schon.’“
"Wissen Sie", fuhr Max fort, sein Gesicht vor Aufregung und Vorfreude rot gefleckt, "morgen ist doch das Fussballspiel der Bayern in Rotterdam. Gegen Aston Villa. Und er ist ja so Bayernnarrischer, der Matthias. Da kommt er dann immer zu mir und wir schaun Fussball miteinander. Im Fernsehen. Auch morgen. Aber jetzt ..." Max war unruhig geworden und unterbrach sich. Er deutete hinueber. "Und jetzt heben wir die Stasi in ihrem eigens fuer sie gemachten Geschirr hoch, ganz langsam, ueber das Dach hinweg, auf der rueckwaertigen Seite langsam wieder runter, bis zu dem Geruest im zweiten Stock. Bis vor meine Wohnung. Da warten schon die beiden Pfleger und Ihre Maurer. Ihre Maurer haben inzwischen schon die lastverteilende Betonplatte verlegt, die Sie geliefert haben. Ueber die Klo- und Abwasserrohre hinweg, damit da ja nichts passiert, wegen dem Durchbrechen oder so. Das Klo ist so geraeumig, dass die Stasi gut reinpasst. Herumlaufen kann sie freilich nicht drin. Aber fuer knappe zwei Tage geht das schon. Kaum haben wir die Stasi untergebracht, mauern Ihre Maurer wieder ein Stueck Wand auf, mit Moertel mit dem Schnellzement, den Sie empfohlen haben und zwar nur soweit, dass die Stasi gut Luft bekommt, aber nicht herausfallen kann.." Der Max machte eine Pause, schaute den Baumenschen kurz von der Seite an und konzentrierte sich wieder ganz auf die Aktion vor und ueber ihnen. Die Stasi wurde probehalber einen halben Meter hochgezogen. Sie schien nicht irritiert. Dann liess man sie wieder herunter und arbeitete noch ein wenig an ihrem Tragegeschirr herum.
"Ja, und dann?" - "Ja, und dann ..." fuhr der Profaner Max fort, "Jetzt steht also die Stasi gemuetlich und zufrieden in meinem Klo, friesst von dem Heu und den Ruebenschnitzeln, die ich ihr vorlegen werd und schaut vielleicht interessiert hinueber zum Nockherberg. Interessiert wird sie auf jeden Fall sein. Sie ist ja noch nie im Leben so hoch drobn gewesen. Ich selbst geh in der Zeit bei der Nachbarin aufs Klo. Die ist fuer ein paar Tage in Suedtirol, zusammen mit ihrer Freundin, und ich hab den Schluessel zu ihrer Wohnung. Wegen der Blumen und ueberhaupt. Sie wissen scho. So, jetzt kommt also morgen Abend der Matthias, der ‚Weiss ich schon.’ Wahrscheinlich so kurz nach sieben. Um viertel nach acht beginnt die Uebertragung im Fernsehen. Und dann schaun wir uns das Fussballspiel an. FC Bayern Muenchen gegen Aston Villa um den Europapokal der Landesmeister. In Rotterdam. Wir werden das Spiel ein bisserl kommentieren und unser Bier dazu trinken. Und jetzt aufgepasst - jetzt kommts: Wissen Sie, jedesmal, wenn mein Bruder eine Halbe getrunken hat, muss er raus zum Bisln. Der ‚Weiss ich schon’ hat naemlich ein rechtes Firmlings-Blaserl, so ein empfindliches. Hat er schon immer gehabt. Er wird also aufstehn, wird sich noch einmal zum Fernseher umdrehn und sagen: 'Hoffentlich faellt jetzt kein Tor, waehrend ich draussn bin.' Er wird zur Wohnzimmertuer gehen, sie aufmachen, das Licht im Flur anmachen und schraeg gegenueber aufs Klo gehen. Dann werd ich dasitzen und fuer eine Weile nichts hoeren. Dann wird die Tuer zum Wohnzimmer aufgehn, ganz langsam. Mein Bruder wird bleich und zitternd in der Tuer stehn und ganz leise stammeln: 'Du Max, bei dir im Klo - da steht ein Elefant!' Und ich werd mich zuruecklehnen, ihn anschauen und sagen: 'Ja, Matthias, das weiss ich schon!'"
In diesem Moment wurde die Stasi in ihrem Geschirr von dem Kranseil hoch gezogen. Sie schien sich dabei nicht unwohl zu fuehlen, und fuer einen Moment sah es so aus, als wuerde sie ueber ihr ganzes grosses und graues Gesicht grinsen. "Da lacht die Fracht!", rief der Bauunternehmer, deutete mit dem Kopf auf die schwebende Elefantenkuh und schlug dem Max mit seiner grossen schweren Maurerhand auf die Schulter: "Schauns nur. Jetzt lacht die Fracht!"
(Uebrigens: Das Endpiel um den Europapokal der Landesmeister am 26. Mai 1982 in Rotterdam verlor der FC Bayern gegen die Mannschaft von Aston Villa trotz klarer Ueberlegenheit mit 0:1. Das spielentscheidende Tor fiel in der 67. Minute, Torschuetze war Peter Withe.)
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2011
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