Ein Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt
Ploetzlich lag da ein Rasiermesser
Manche Menschen machen einen Fahrradausflug oder eine Fahrradtour, um koerperlich und seelisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen oder in einem solchen zu verweilen. Nicht Spazierengehen, nicht Fast Walking, Jogging, Marathonlaufen oder Schwimmen in den kalten Fluten eines Sees schon in den Monaten Maerz oder April tut ihnen gut. Weder Tennis, Fussball oder Golf, noch andere attraktive Ballsportarten sind es, worauf diese Menschen aus sind. Nein, sie wollen auf ihrem eigenen Fahrrad sitzen, nicht auf irgendeinem; sie wollen treten und kurbeln, bergauf, bergab und auf ebener Strasse. Das brauchen sie, um sich rundherum gut zu fuehlen.
Zu diesen Menschen gehoere ich.
Vielleicht wurde ich durch meinen Vater gepraegt, der als junger Mann ein aeusserst aktiver Radsportler war und in den 1920er Jahren zur Spitzengruppe der oberbayerischen Amateur-Radrennfahrer gehoerte. Wohl aus Trotz zum Vater wollte ich – weder als Pupertierender und auch nicht danach - mit dem Radsport ueberhaupt etwas zu tun haben. Durch die konsequente Nichtbeachtung velozipedische Grossereignisse wie Rund um den Henninger Turm, Tour de Suisse, Giro d'Italia, Tour de France und die Friedensfahrten in der ehemaligen DDR bestrafte ich sowohl den Vater als auch den Radsport. Lieber ging ich Schwimmen oder trieb mich auf Bolz- und Fussballplaetzen herum. Auch heute noch bin ich ein zwar kritischer, aber doch in der Wolle gefaerbter Anhaenger des FC Bayern Muenchen. Trotzdem hat sich insgeheim die Lust am Radfahren eingeschlichen: sie hat sich in mir verkapselt, hat mich wie ein Virus infiziert und ist seit einigen Jahren mit aller Kraft ausgebrochen.
Und so passiert es, dass ich dieser Tage mit dem Rad im huegeligen bis bergigen Hinterland des Gardasees herumkurve, auf schmalen, wenig befahrenen Ortsverbindungsstrassen, aber auch, meist versehentlich oder weil es gar nicht anders geht, auf uebernutzten Fernstrassen - in Konkurrenz mit Lastwagen, Fernlastern, Personenwagen, Motorraedern, Motorrollern, Mopeds und Tricicolos, den in Italien beliebten motorisierten Dreiraedern. Zur koerperlichen Anstrengung kommt auf solchen Strassen dann noch eine Konzentrationsleistung hinzu, die ich aufbringen muss, um nicht vom richtigen Weg abzukommen beziehungsweise unter die Raeder eines Automobiles.
Eines Tages fuhr ich nach Salo und weiter auf der stark befahrenen Strasse nach Tormoni und Vaborno. In Vaborno bog ich nach Norden ab und radelte an der Agna entlang und hoch hinauf nach San Martino und Eno. Das ist eine wunderbare Fahrt auf einer sehr schmalen und kurvenreichen Strasse, an der keine zwei Autos ohne groessere Muehe aneinander vorbeikommen koennen. Entsprechend wenig Fahrzeuge nutzen diese Verbindung. Bei Ena verlaesst die Strasse das Agnatal, fuehrt nach Westen und immer weiter hinauf bis zum Passo del Cavellino. Dort gibt es ein gemuetliches Gasthaus. Hier kann man sich erfrischen und staerken und auf die Abfahrt vorbereiten. Das Gasthaus liegt auf immerhin 1100 Meter Seehoehe - Vobano, der Ausgangspunkt der Tour, bei etwa 600 Meter. Die Strasse hinunter fuehrt durch eine stark bewaldetes Gelaende mit malerischen Ausblicken in immer neue Taeler und weiter hinunter nach Capovalle und dem langgezogenen Stausee Lago de Valvestino entlang nach Navazzo - nicht wie Lavazzo, die international beruehmte Espressomarke - und schliesslich wieder zurueck an den Gardasee, nach Gargagno.
Fuer den, der es selbst noch nicht erlebt hat, mag es eigenartig klingen: das Bergabfahren ist oft anstrengender - und selbstverstaendlich gefaehrlicher - als der Aufstieg. Natuerlich moechte sich jede Zelle und jede Faser des Koerpers uebermuetig und jubelnd auf die Talfahrt stuerzen und das rasende Bergab auskosten, als Lohn fuer die anstrengende und manches Mal bis an die Grenzen der Belastbarkeit gehende Schinderei beim Bergauffahren. Das Adrenalin im Blut spueren, das Blut in den Adern rauschen hoeren und den Koerper in dieser Form von Ekstase erleben.
Als erfahrener Fahrer, der durch einen wirklich schweren und mehrere leichte Stuerze eines Besseren belehrt wurde, kann ich nur warnend Wort und Zeigefinger erheben: vergessen Sie Uebermut und Jubel, fahren Sie Gefaellstrecken vorsichtig und konzentriert, kontrollieren Sie Ihre Geschwindigkeit und achten Sie auf jede Kleinigkeit, die auf der Strasse liegt.
Zum Thema Kleinigkeit: Nur Fussgaenger oder Radfahrer koennen wirklich abschaetzen, welcher Unrat und Schrott von vielen Fahrern waehrend einer Fahrt aus dem Auto geworfen wird. Und in welchen Mengen. Viel von dem Muell landet nicht im Strassengraben, sondern auf der Strasse selbst. Zahllose Scherben, scharfkantige Metallteile, aber auch harte Kunststoffstuecke koennen Ihre Reifen zerstoeren. Und zwar in einem winzigen Augenblick. Und vom Knall eines geplatzten Reifens begleitet fliegen Sie dann in hohem Bogen vom Rad und wahrscheinlich genau dorthin, wo Sie nie aufzukommen wuenschten.
Meine eigenen Ratschlaege ausnahmsweise beherzigend, fuhr ich die lange Gefaellstrecke vom Passo del Cavellino hinunter nach San Rocca. Die Haende an den Bremsen, die Augen auf die Strasse gerichtet und ein weiteres auf die Landschaft - unerklaerlichesweise gibt es tatsaechlich so etwas wie ein drittes Auge - entdeckte ich es: ploetzlich lag da ein Rasiermesser. Ein dunkler, leicht geborgener Griff und das verchromte Messer mit dem nippeligen Ende zum Aufklappen. Das Messer war halb geoeffnet. So lag es auf dem rauhen und grauen Asphalt - bedrohlich, beaengstigend, geheimnsivoll. Ich weiss nicht, warum ich so stark auf den Anblick des Rasiermessers reagierte, aber es war wie in dem Moment, als ich nahe daran war zu ertrinken, auf Sizilien, in der Naehe von Partinoco: als ich mich mit dem nahen Tod abgefunden und aufgehoert hatte, um mein Ueberleben zu kaempfen, im Anblick des Todes, schaute ich noch einmal auf die Berge, die hinter dem nahen Ufer aufragten, und in Sekunden lief vor meinen Augen mein Lebensfilm ab. Im Zeitraffertempo. Schnell und intensiv und nur die vermeintlich wirklich wichtigen Dingen meines Lebens ausleuchtend. Das war spannend, und ich mutmasse heute, dass dieses Lebensfilm-Phaenomen im Grunde nur dazu dient, dem Sterbenden den Uebergang vom Leben zum Tod unterhaltsamer zu gestalten.
Ich ertrank dann doch nicht, sondern zog statt dessen einen Italiener aus dem Meer und rettete ihn vor dem Ertrinken. Frei nach dem Motto: Fast Ertrunkener rettet Ertrinkenden.
Jetzt erging es mir noch einmal so: mit dem Blick, den ich auf das Rasiermesser erhaschte, tauchten all meine Rasiermessergeschichten aus den unzugaenglichen Schichten meines Unbewusstseins auf. Ich hatte bis dahin tatsaechlich keine Ahnung, dass ich ueber einen solchen Vorrat an Rasiermessergeschichten verfuege. Weil ich von Natur aus gerne teile, moechte ich meinen Lesern diese Geschichten nicht vorenthalten. Hier sind sie:
Die Initiation
Der Gang zum Friseur hatte fuer uns Buben etwas in einem gewissen Sinn Weihevolles - jenseits der Unannehmlichkeit, dass einem die gewohnte und manchmal schuetzende Haarpracht vom Kopf geschoren wurde. Ohne grosse Bedenken und Ruecksichtnahme, zum Beispiel dann, wenn einem der Friseur kraeftig das Ohr in eine anatomisch nicht gemaesse Richtung zog, um mit seiner Maschine besser ueber und hinter dasselbe gelangen zu koennen. Der Gang zum Friseur hatte also fuer uns Buben etwas in einem gewissen Sinn Weihevolles: durften wir doch, waehrend wir auf unseren Haarschnitt warteten, dabeisitzen und zuhoeren, wie sich die maennlichen Erwachsenen miteinander unterhielten. Nicht, dass wir sonst keine Gelegenheit gehabt haetten, unsere Vaeter und andere Maenner aus der Naehe zu erleben. Aber in den Jahren nach dem Krieg und bis weit in die 1950er bis 1960er Jahre hinein waren die Strukturen noch so autoritaer gepraegt, dass sich die Beziehungen zwischen Maennern und Knaben in der Oeffentlichkeit nicht durch eine besondere Innigkeit auszeichneten. Uebrigens zu Hause in den eigenen vier Waenden in aller Regel auch nicht.
Meist sassen zwei der Kunden bereits in den fuer diese Zeit typischen, mit rotbraunem Kunstleder bezogenen Stuehlen; die Nackenstuetzen waren mit Krepppapier ueberzogen und mittels eines einfachen Mechanismus in der Hoehe verstellbar. Beide hatte der Friseur in Umhaenge aus grauem Baumwollstoff gehuellt und versuchte nun, ihnen in einer Art Synchronbehandlung seine Dienste gleichermassen aufmerksam angedeihen zu lassen. Waehrend der eine eingeseift wurde, rasierte er bereits den anderen, erst schnitt er dem anderen die Haare, dann dem einen - abwechselnd ging das und in schnell aufeineinander folgenden Arbeitsschritten. Waehrenddessen warteten zwei, drei oder vier weitere Kunden darauf, an die Reihe zu kommen. Ja, der Friseursalon des Heimerl war das, was man gemeinhin eine „Goldgrube“ nannte.
Uns Buben hatte man zu Hause ein Markstueck in die Hand gedrueckt und auf den Weg geschickt, begleitet von fast immer den gleichen Anweisungen: "Du gehst heute noch zum Haarschneiden. Du kannst ja schon gar nicht mehr durchschauen durch deinen Urwald. Und sag dem Heimerl, dass er sie dir huebsch kurz schneiden soll, damit du ihm nicht gleich wieder eine Mark hintragen musst. "
Der Friseurmeister hiess Heimerl, genauer, Eduard Heimerl, und war Inhaber des Damen- und Herrensalons Heimerl. Man munkelte, dass er es gerne mit den Damen hatte und auch etwas mit dem Faschingsvereins unseres Stadtviertels - vielleicht war er einmal sogar ein leibhaftiger Schwabinger Faschingsprinz gewesen. Ich haette ihm das zugetraut: gross war er, schlank und jugendlich, gutaussehend ein eher mediterraner Typ, wie man sie in Deutschland suedlich des ehemaligen Limes auch heute noch haeufig antrifft. Und meistens gut aufgelegt war er und immer hatte er einem aufmunternden Spruch fuer uns Buben, die wir in dem Alter waren, wo wir noch nicht genau wussten, wo vorne oder hinten, wo oben oder unten war.
So gingen wir also mit unserem heissen Markstueck in der schweissfeuchten Faust die Strasse hinauf, betraten den meist gut besuchten Salon, in dem sich der Geruch verschwitzter Maenner mit den Dueften, die aus dem Damensalon herueberwehten, zu einem eigenartigen und einzigartigen Parfum vermischten. Der Damensalon wurde uebrigens von Frau Heimerl geleitet. Die Heimerls wirtschafteten also in eine gemeinsame Kasse. Eine Goldgrube, wie gesagt. Wir Knaben setzten uns auf die ebenfalls mit rotbraunem Kunstleder bezogene Bank, spitzten die Ohren - und warteten.
Die Maenner unterhielten sich. Es ging um Begebenheiten aus der Nachbarschaft, um Ereignisse, die sich in der Stadt zugetragen hatten und von denen sie gehoert oder in der Zeitung gelesen hatten - in der Stadt sagte man, wenn etwas ausserhalb des eigenen Viertels passierte -, und selbstverstaendlich um Themen aus der grossen Politik der Nachkriegsjahre, des Wiederaufbaus und des beginnenden Wirtschaftswunders. Es wurden auch Witze erzaehlt, und manches Mal warf der Heimerl einen abschaetzenden, nicht abschaetzigen, Blick auf uns Buben, ehe er anfing, seinen erwachsenen Kunden einen seiner schaerferen zu erzaehlen.
Die Reihen lichteten sich. Der Heimerl hatte sein Pensum fast abgearbeitet. Jetzt kam ich an die Reihe. Er legte mir den grossen grauen Umhang um, pumpte den Stuhl auf die entsprechende Hoehe und begann sein Werk. Die schnarrende Haarschneidemaschine hatte einen schwarzbraun marmorierten Griff aus Bakelit. Wurde der kleine Motor und das Bakelit warm, roch es suesslich. Ich spuerte bereits das Fehlen des schuetzenden Haares auf meiner Kopfhaut. Es wurde merklich kuehler dort oben, und ich kam mir fremd vor, wenn ich einen kurzen Blick in den grossen Spiegel vor mir warf. Meine abstehenden Ohren waren wieder deutlicher zu sehen und wirkten noch auffaelliger als vorher, was wiederum auf meine Stim-mung drueckte.
Da ueberraschte mich der Heimerl: "Weisst du", sagte er und laechelte, "ich glaube, du bist jetzt wirklich alt genug, dass wir bei dir mit dem Rasieren anfangen koennen. Meinst du nicht auch?" Ich riss die Augen auf, ein dicker Frosch sass mir im Hals. Der machte es unmoeglich, auch nur ein Wort herauszubringen. Stolz, Freude und Furcht zusammengenommen hatten mir tatsaechlich die Sprache verschlagen. Mit hochrotem Kopf brachte ich nur ein gestammeltes "Hnn" zustande. Dann aber nickte ich heftig.
In einer dicken Porzellanschuessel begann er mit dem Pinsel die Seife zu schlagen, ueberpruefte mehrmals ihre Steifheit und seifte mich schliesslich sorgfaeltig ein. "Das muss jetzt einwirken, damit deine Barthaare weich werden und umso besser zu rasieren sind." Ich nickte wieder. Inzwischen nahm er ein Rasiermesser von der Marmorplatte, ging zu dem Lederriemen, der am Tuerstock zwischen Herren- und Damensalon hing und zog das Messer sorgfaeltig ab, genau so, wie ich es frueher schon haeufig beobachtet hatte, wenn er daran ging, einen Erwachsenen zu rasieren. "So - dann gehn wirs einmal an", sagte er mehr zu sich selbst, grinste dabei und machte sich mit seinen extrascharfen Messer ueber den Schaum auf meinem Bubengesicht her. Er leistete ganze Arbeit. Nur einmal, als er meine Nasenspitze mit Daumen und Zeigefinger packte und damit beide Nasenloecher zudrueckte und mir fuer einen Moment nicht nur die Luft zum Atmen nahm, sondern auch den kitzligen Schaum in meiner Nase zerdrueckte, da glaubte ich, es nicht mehr aushalten zu koennen. Aber auch das ging vorueber. Mit einem feuchtwarmen Tuch wischte er mir die Schaumreste aus Gesicht, Ohren und Nasenloechern und massierte mir zum Schluss eine Menge wohlriechenden Rasierwassers in die Haut und sagte: "So, mein Herr, das wars dann wohl. Vielen Dank." Er hatte sich bei mir bedankt, wo er doch mir ...
Von diesem Tag an ging ich nie mehr mit einem heissen Markstueck in meiner schwitzenden Hand zum Haarschneiden. Ich nahm jetzt immer einen Geldbeutel mit und zusaetzlich zu der Mark hatte ich zwei Zehnerl Trinkgeld dabei. Auch setzte ich mich nicht mehr auf die schmale Bank fuer wartende Kinder, sondern gleich in einen der viel bequemeren Stuehle fuer Maenner.
Auf die erste richtige Rasur allerdings musste ich dann noch sieben Jahre warten.
Der Schatz der Sierra Madre
Wolfgang liess uns an fast all seinen Kenntnissen, Erfahrungen und Geschichten teilhaben. Und so wuchs eine kleine Gruppe junger Frauen und Maenner heran - die meisten davon sind heute laengst Grosseltern -, die Italien, Spanien oder die Tuerkei bereits kannten, ehe sie das erste Mal einen eigenen Fuss in eines dieser Laender setzten. Sie waren bewandert in Sitten und Gebraeuchen, Speisen und Getraenken, Treibstoff- und Uebernachtungspreisen, Museen, Baudenkmaelern, Ausgrabungsstaetten und anderen sehenswerten Kleinodien abseits touristischer Trampelpfade. Sie wurden aber auch belehrt ueber die verschiedenen Blaus in den Himmeln von Paul Cezannes Landschaftsbildern und darueber, wie afrikanische Masken die Kunst Pablo Picassos beinflussten. Die Geschichte des Jazz, insbesondere die des Swing und der Big-Bands unter Benny Goodman oder Count Basie, die Kultur der langen Haare als Ausdruck jugendlicher Opposition waehrend der Nazizeit, Sigmund Freuds Traumsymbole, Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und James Joyce's „Ulysses“ waren andere Ecksteine von Wolfgangs enzyklopaedischem Wissen, mit denen er uns bekannt machte. Und mit dem amerikanische Film natuerlich. Er konnte Einstellungen nachspielen, Dialoge widergeben, so genau und so ausdruckstark, dass der Streifen, den man vielleicht Jahre spaeter in einem der Muenchner Filmkunststudios zu sehen bekam, manchmal wie ein matter Abklatsch von Wolfgangs Vorstellungen wirkte. Wolfgang redete viel. Schweigens mochte er nicht gerne. Vielleicht liebte er genau deshalb Filme, in denen wenig geredet wurde, die mit knappen Dialogen auskamen. Nur die Kamera, das Licht, ein Schnitt, eine angedeutetete, aber zutreffende Geste - und das alles entweder in weichem und tonigem Schwarzweiss oder - ebenfalls in Schwarzweiss - in ueberbelichteten und knueppelharten Kopien. Existenzialismus als Lebensphilosophie und Vergeblichkeit als Lebenszweck: das war seine Filmwelt. Und vielleicht nicht nur die im Film.
Kein Wunder also, dass Humphrey Bogart einer seiner unangefochtenen Stars war - der eigentlich etwas kurz geratene Darsteller desillusionierter maennlicher Charaktere, die unter ihrer rauhen und unnahbaren Schale oft ein weiches Herz trugen. Bogart, Legende inzwischen und noch immer Kultfigur - der gebuertige New Yorker, der in einer unsentimentalen, heute wuerde man wahrscheinlich sagen „coolen“ Art auch in den heikelsten Situationen mit einer angedeuteten ironischen Ueberlegenheit auftrat. In „Spur des Falken“ zum Beispiel, in „Casablanca“, „African Queen“, „Die Caine war sein Schicksal“, „An einem Tag wie jeder andere“, „Tote schlafen fest“ und eben „Der Schatz der Sierra Madre“. Humphrey Bogart war Wolfgangs Vor- und Leitbild.
Ich sehe ihn vor mir stehen und die Bilder ueberblenden sich: wie uns Wolfgang einige Szenen vorspielt und erklaert - und die Szenen aus dem eigentlichen Film: wie Bogy - ganz unheroisch - Probleme mit seinem stoerrischen Maultier hat, das den talabwaerts fuehrenden Pfad nicht weiter gehen will, wie er mit ihm ringt, verbissen mit ihm kaempft und den ungleichen Kampf schliesslich gewinnt. Ringsherum eine fast unbelebte Natur, die Hitze, die Duerre, die menschenfeindlichen Berge. Hartes Licht. Tiefe Schatten. Beide - Mensch und Tier - erreichen voellig erschoepft den heissen, staubigen Standrand von Tampico, der mexikanischen Hafenstadt. Tampico ist voll von enttaeuschten, verarmten, verwahrlosten Maennern; ein Auffanglager fuer all diejenigen, die in den Bergen waren und dort als Goldgraeber erfolglos versucht hatten, ihr Glueck zu machen. Uebrigens: die Geschichte spielt im Jahr 1925, verfilmt wurde eine Romanvorlage des geheimnisumwitterten und bis heute nicht identifizierten Autors B. Traven, der angeblich bei den Filmaufnahmen beratend mitgewirkt haben soll.
Von vielen Augenpaaren verfolgt, schleichen Mann und Maultier die vor Hitze flirrende Mainstreet entlang. Vor einem Barbershop bindet Fred C. Dobbs, US-Amerikaner, alias Humphrey Bogart, das Maultier fest, geht die Holzstufen hoch und betritt den Salon. Erst jetzt, als er den breitkrempigen Hut abnimmt, sieht man den Kontrast: ein schmaler Streifen weisser Haut unter dem fast schwarzen Haar, dann das wettergegerbte und sonnenverbrannte Gesicht bis zum Hals, genauer bis zu dem Schweisstuch, das er um den Hals gebunden hat. Das Gesicht ist von einem verfilzten, dunklen Bart bedeckt. Die Zaehne blecken weiss aus der Dunkelheit.
Der Barbier macht sich an die Arbeit. Erst schneidet er die Haare. Dann schlaegt er Schaum. Das scharfe Rasiermesser wird an einem breiten Lederriemen immer und immer wieder abgezogen. Die Geraeusche der schabenden Klinge auf der Haut hoeren sich kratzig und gefaehrlich an. Wieder Seife. Wieder nachschaerfen. Wieder rasieren. Schliesslich ist die Arbeit getan. Fred C. Dobbs, alias Bogart, setzt sich den Hut auf. Der Hut scheint nach Haarschnitt und Rasur etwas lockerer auf dem Schaedel zu sitzen als vorher - er wackelt ein wenig.
Fred C. Dobbs, alias Bogart, tritt hinaus in die pralle Sonne. Er kneift die Augen zusammen; es sind kaum mehr als Schlitze zu sehen. Dann verzieht er dem Mund zu einer Art von Grinsen, die Lippen weit nach oben gezogen, ganz gespannt und so, als waere ihm ploetzlich das Zahnfleisch geschwunden. Auf verblueffende Weise aehnelt er seinem zaehnefletschenden Maultier. Da, wo vor kurzer Zeit noch Kopfhaare und Bart waren, ist jetzt weisse, camembertweisse Haut. Kahl, nackt, gespannt. Ein zweifarbiger Held in Schwarzweiss und eine eindrucksvolle Parabel zum Grossthemenkreis Reichtum, Gier und Besitz.
"Weisst du", sagte Wolfgang manchmal, "wenn du am Morgen ganz schnell wach werden willst, dann musst du dich mit so einem scharfen Messer rasieren. Das hilft."
Poona
Poona - heute Pune - ist ein geschaeftige, wohlhabende Stadt im indischen Maharashtra - mit Universitaet, Bischofssitz, Militaerakademie und vielen Industriebetrieben und Handelsunternehmen, mit freundlichen Menschen und ertraeglichen Temperaturen. Trotz alledem haetten mich keine zehn Pferde dorthin gebracht, wenn nicht ...
Ja, immer mehr Freunde und Freundinnen hatten sich in diesen Jahren dem Kreis um Bhagwan Shri Rajneesh angeschlossen, der erst in Bombay (heute Mumbai) und dann, ab 1974 in Poona, eine stetig wachsende Zahl von Juengern, Schuelern, Anhaengern um sich scharte. Diesen unterwerfungsbereiten und spendierfreudigen Leuten aus vor allen Dingen westlichen Industrielaendern mit den Schwerpunkten USA, Grossbritannien und Bundesrepublik Deutschland war er ein witziger, kluger, belesener, kreativer, schwer durchschaubarer, oft auch ironischer, rhetorisch und in seiner Selbstinszenierung perfekter und vielleicht sogar glaeubiger Meister.
Wie dem auch sei: der Bhagwan-Film, der damals im Isabella-Kino in Muenchens westlichem Schwabing gezeigt wurde, entwickelte sich schnell zu einem Dauerbrenner - allerdings nicht zu vergleichen mit einem anderen Kultfilm, „The Rocky Horror Picture Show“, der im Muenchner Tuerkendolch lief. Es gab zu der Zeit nicht allzuviele, die update sein wollten, die den Bhagwan-Film nicht gesehen hatten - auch wenn sie ihn vielleicht heimlich anschauten. Muenchen hatte ganz schnell eine neue Subkultur; Muenchen hatte ein Dauergespraechsthema und Muenchen hatte neue Farben - zusaetzlich zum althergebrachten Schwarz-gelb und Weiss-Blau. Der damals bereits etwas plueschig gewordene Flower-Power-Look erlebte froehliche Urstaende von gelb ueber orange und rot bis ins tiefe violett. Hatte ich schon aus meinem direkten Umfeld einige Informationen und einigen Druck bekommen und reduzierte sich mein subjektiver Farbkreis bereits auf diese warmen Orange-, Rot- und Violettoene, so war es tatsaechlich der Film, der fuer mich den Ausschlag gab, den Meister persoenlich - also nicht nur auf der Leinwand im Isabella-Kino -, sondern „in echt“ in seinem Ashram in Poona erleben zu wollen. ‚Stell dir vor’, sagte ich zu mir selbst, ‚dieser freundliche, gescheite, sympathisch wirkende aeltere Herr ist tatsaechlich so etwas wie ein wiedergeborener Jesus. Sitzt da Indien - und du faehrst nicht hin. Ein Leben lang wuerdest du dir Vorwuerfe machen.’ Das klingt jetzt salopper, als ich es damals tatsaechlich empfand. Also gab ich dem Draengen meiner Neugierde und meinem den Sachen-auf-den-Grund-gehen-Wollen nach, regelte meine Angelegenheiten und flog via Damaskus nach Bombay. Und von Bombay mit dem Taxi nach Poona. So ganz nach dem Motto: Bhagwan, ich komme!
Sie werden es mir sicher nachsehen, wenn ich hier an dieser Stelle unter der Rubrik Rasieren/Rasiermesser nicht von den vielen kleineren und vielen groesseren, inneren und aeusseren Begebenheiten, Bewegungen und Veraenderungen berichte, die sich waehrend meines fuenfwoechigen Aufenthaltes in Poona ereigneten. Nur soviel: der angehende Sanyasin (Schueler, Juenger) Swamy Dyan Adi lebte nicht von Meditationen, Lectures, Kontemplation, Selbsterfahrungsgruppen, Samadhitank-Sitzungen (Samadhi = hoechste Stufe der geistigen Sammlung; Samadhitank = stockfinsterer, schallgedaemmter Meditations-Tank, mit stark salzhaltigem Wasser gefuellt, sodass der Koerper auf dem Wasser liegt und von ihm getragen wird = Toter-See-Effekt bei Nacht - ohne Palaestineneser-Angriff und ohne Strandparty) und Therapiesitzungen alleine. Nein, dieser angehende (Schein)Heilige war auch noch immer eine essendes und trinkendes Wesen, ein Mensch, der auch weiterhin seinen Koerper pflegte, sich hin und wieder am Pool des Blue Diamond einen Longdrink reinzog und den attraktiveren unter den Sanyasinfrauen beim Schwimmen zuschaute und die Moeglichkeit nicht aus den Augen verlor, vielleicht die eine oder andere auf sich aufmerksam machen zu koennen.
Auch ein Rest diesseitsgewandten-touristischen Begehrens war durch das Leben im und um den Ashram nicht ganz verlorengegangen. Auch der Drang, mich den Forderungen Bhagwans und seiner Entourage entsprechend in rotes, orangefarbenes und violettes Tuch zu kleiden, wollte zufriedengestellt werden. So trieb ich mich in meiner freien Zeit haeufiger auf verschiedenen Maerkten herum, liess mir zwei Seidenanzuege und mehrere bodenlange Kleider anmessen und naehen, kaufte Mitbringsel fuer mich und die Lieben zu Hause ein und einen schwarzlackierten, leichten Blechkoffer, den ich schick fand, und in den ich meinen Indienkram leicht verstauen konnte. Manchmal besuchte ich aeusserst geheimnisvoll anmutende hinduistische Zeremonien, in denen fremdartige Rituale ausgefuehrt wurden. Hin und wieder goennte ich mir einen Mango-, Orangen- oder Bananenpulp oder suessen, in vielen schrillen Farben gefaerbten Puffreis. Von den von fliegenden Haendlern angepriesenen Fleischgerichten sah ich ab.
Und da sind wir auch schon beim Thema: Was gehoert zu eines Europaeers Wohlbefinden in der indischen Fremde? Eine Nassrasur natuerlich! Eine elegante und vom Fachmann durchgefuehrte Rasur mit prickelndem Schaum und einem gut scharfen Messer.
Der Frisoersalon entsprach eher einer Jahrmarktsbude, und die wertvolleren Gegenstaende des Etablissements waren durch ein Vordach aus Zeltleinwand vor Regen und direktem Sonnenlicht geschuetzt: ein fast blinder Spiegel mit Facettenschliff, eine wackelige Kommode mit mehreren Aufsaetzen und einer Platte aus Marmor, ein Gestell aus Bandeisen, das eine emaillierte Wasserschuessel trug. Dazu - nach einem nicht durchschaubaren Muster arrangiert - Dosen, Doeschen, Gummiflaschen, Puderquaste, Seifenschalen und Pinsel in verschiedenen Groessen und mit unterschiedlich vielen Haaren. eine Sammlung verschieden grosser Rasiermesser, die Griffe mit mancherlei Farben und Dekoren verziert - und ein Handtuch. Das Handtuch war ein feuchter Lappen, urspruenglich wohl weiss, inzwischen aber mehrfarbig, mit einer starken Tendenz zu grau. Er lag, etwas achtlos drapiert, ueber der halbvollen Wasserschuessel. Das Ganze sah dem Schminkraum eines Wanderzirkus' aehnlicher als dem Frisoersalon in einer Millionenstadt. Dafuer aber war die Aufforderung, Platz zu nehmen, umso freundlicher. Die Kunden sassen im Freien.
Der Rest ist schnell erzaehlt: Kaum sass ich in dem etwas wackeligen Sessel aus Rattangeflecht, da wurde ich bereits in ein grosses, leidlich weisses Laken eingewickelt. Ja, eingewickelt. Am Kragen wurde zwischen Hals und Laken ein weiteres Stueck Stoff placiert.
Dazwischen immer wieder der Lappen: Zum Abwischen des Randes der Emailleschuessel, zum Befeuchten meiner Stirne und meines Gesichts, zum Entfernen der feinen Schweissperlen auf denselben. Zum Befeuchten der Stirne des Frisoers. Zum Abwischen meiner Haende. Zum Abwischen der Marmorplatte auf der Kommode. Zum Auswischen der Seifenschale. Zum Auswischen des restlichen Schaums aus meinen Ohren und Nasenloechern. Was haetten der Frisoer und sein Betrieb ohne diesen Lappen gemacht?
Dann das Auftragen des Schaums: Sorgfaeltig. Partie um Partie. Eine feste, steife, weisse, unangenehm riechende Masse aus Millionen von Hohlraeumen mit etwas darumherum - etwas, das die Inder Seife nennen. Oder nannte es nur mein Barbier so? Auf jeden Fall knisterte es so intensiv um mich herum, dass ich annehmen musste, dass irgendetwas in meiner Nase bald platzen oder brechen wuerde. Mich schauderte.
Ueber das Schaumgebirge in meinem Gesicht hinweg sah ich den Meister, wie er mit Bedacht eines unter den Rasiermessern auswaehlte – das Messer fuer Kunden aus dem fernen Deutschland vielleicht -, und an einem - ja, was wohl? - breiten Lederriemen abzog. Also auch in Poona, Indien, der Heimat meines neuen Gurus, dem Schmelztiegel westlicher Erloesungssehnsuechte und oestlich-hinduistisch-buddhistischer Erloesungsgewissheit - auch in Poona, Indien, ziehen die Bader ihre Rasiermesser an Lederriemen ab. Wer haette das gedacht?
‚Jetzt Augen zu und durch’, sagte ich zu mir selbst und schloss die Augen. Das in seinem Gesicht festgefrorene Grinsen des Meisters, von dem ich nicht wusste, ob es Freundlichkeit ausdrueckte oder partielles Irresein - ich konnte es mir nicht mehr laenger ansehen. Sonst waere ich womoeglich in Panik verfallen und schreiend aufgesprungen und davongelaufen, eingehuellt in das Leichentuch von Umhang, hinter mir der Barbier und all seine Barbierkollegen, die Wasserverkaeufer, Puffreisanbieter, die Raeucherstaebchenhaendler ... und ueberhaupt. Und alles. Nein, mit einem "Haltet den Dieb" wollte ich meinen Aufenthalt in der Naehe von Bhagwan Shree Rajneesh nicht beenden. Also - und jetzt endgueltig: Augen zu und durch.
Und damit sind wir auch schon fertig. Noch einige Male die Prozedur mit dem uns inzwischen hinlaenglich bekannten Lappen, abgebuerstet und trockengerieben, mit einem grossen Quast viel suesslich-orientalisch Duftendes auf Wangen, Kinn und Haupthaar aufgetragen - da steht er auch schon wieder und strahlt glattrasiert in die Welt des Spirituellen: Swami Dyan Adi, der Freund aller grossen Meister.
Uebrigens: Die Rasur war blitzsauber ausgefuehrt worden und kostete etwas mehr als zwanzig Deutsche Pfennige.
Learning by Doing
Der Lehrling Martin war alleine im Salon. Sein Chef hatte auf der Post und der Bank zu tun, und Elvira, die Frisoese, machte in diesen Tagen Urlaub auf Mallorca. Der Lehrling Martin hielt sozusagen die Stellung in dieser kundenarmen Zeit am fruehen Vormittag.
Unversehends wurde die Tuere geoeffnet und ein Mann trat ein: gross, breit, freundlich laechelnd und - ganz schwarz. ‚Oh je’, ueberfiel es Martin blitzartig, ‚ein Ami wahrscheinlich, oder vielleicht sogar ein richtiger Neger.’ Trotzdem half er dem Mann geschickt aus dem Trenchcoat. Auch das Jackett wollte der ausgezogen haben. Martin haengte die beiden Kleidungsstuecke ordentlich auf Buegel und in die Garderobe. "Bitte Platz zu nehmen", sagte Martin zuvorkommend und so, wie man es ihm beigebracht hatte. Er machte eine einladende Geste hin zu einem der leerstehenden Stuehle. "Was darf's denn sein?" - "Rasieren, bitte." Martin zuckte zusammen und wurde bleich. Noch nie im Leben hatte er jemanden rasiert. Oft genug zugeschaut, dem Meister und auch der Elvira, ja, und auch assistiert, gewissermassen - Schaum geschlagen, eingeseift, das Messer am Riemen abgezogen, ja - das schon. Aber selbst rasiert?
Nach der ersten Unsicherheit hatte sich Martin wieder unter Kontrolle. Und er hatte eine Entscheidung getroffen: Er wuerde an diesem freundlichen Herren - egal ob weiss oder schwarz - seine erste komplette Rasur ohne Unterstuetzung durch den Chef oder durch Elvira ausfuehren, in eigener Verantwortung sozusagen. Das war er sich und dem Salon schuldig.
Er legte dem Kunden einen Kreppapierstreifen um den Hals: nicht zu eng, nicht zu weit, gerade richtig musste sich das Papier um den Hals schmiegen, dann deckte er den Mann mit einem Schutzcape aus beigefarbigem Plastikmaterial zu, das mit einer nichtssagenden Frisoerwerbung bedruckt war. Er holte Seifenschale und Messer hervor, schlug einen dichten, saemigen Schaum und trug diesen - ganz wie sein Chef oder die Elvira es getan haetten - mit einem mittleren Pinsel gleichmaessig auf. Waehrend er den Seifenschaum einwirken liess, zog er das Messer an dem Lederriemen an der Wand sorgfaeltig ab - ganz wie sein Chef oder die Elvira es getan haetten. ‚Ein gutes Werkzeug, also scharfe Messer und Scheren, sind die halbe Arbeit’, hoerte er seinen Chef in seinem Inneren sprechen, und er pruefte die Schaerfe der Schneide, indem er mit ihr ganz flach und ohne Druck ueber einen Daumennagel fuhr. Ja, wie locker sich das Horn abschaben liess - so scharf war das Messer. Zufrieden mit seinem bisherigen Tun und gestaerkt in seinem Selbstbewusstsein, wandte er sich wieder seinem Kunden zu und seifte hier und da noch ein wenig nach.
Martin stellte sich jetzt so, wie er das viele Male beobachtet hatte, schraeg hinter den Mann, suchte ueber den Spiegel Blickkontakt mit seinem Kunden und zwinkerte ihm zu, was gleichzeitig beruhigend und aufmunternd wirken sollte: "Pack mas", sagte er mehr zu sich, wo er doch gar nicht wissen konnte, ob ihn der schwarze Mann ueberhaupt richtig verstand. "Pack ma's", sagte er also , fasste den erwartungsfroh in seinem Stuhl sitzenden Kunden an dessen linkem Ohr, zog es leicht schraeg nach oben, setzte das Messer an und ... ratsch machte es. Mit einem Ruck schnitt er dem Mann unterhalb des Ohres in Haut und Fleisch. Nicht allzu tief zwar, aber dennoch schmerzhaft. Der Mann war zusammengezuckt. Der Schnitt tat ihm weh. Aber er nahm sich zusammen und unterdrueckte heldenhaft jeden Laut. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass ihm einige Traenen ueber die Wangen liefen und im weissen Rasierschaum versickerten. Martin war so gefesselt von seinem Tun, dass er den Zwischenfall gar nicht bemerkte. Er arbeitete weiter, systematisch, konzentriert - ganz so, wie sein Chef oder die Elvira es getan haetten.
Dann kam er zum rechten Ohr, und wieder ... ratsch, schnitt er seinem Kunden kraeftig in die Backe. Jetzt aber stoehnte dieser auf und Traenen stroemten ihm ueber das Gesicht. Martin erwachte jaeh aus seinem tranceaehnlichen Zustand, schaute auf die kullernden Traenen des schwarzen Mannes und fragte voller Mitgefuehl: "Sie haben Heimweh, gell?"
Machen wir es tuerkisch
Einmal hatten wir die Idee, einen Sonnenuntergang auf dem Nemrut Daghi mitzuerleben, dem beruehmten Berg in der Kommagene in Anatolien, Tuerkei, auf dessen bis heute nicht restlos erforschtem Schottergipfel man nicht nur die Ueberreste von Kolossalstatuen sehen, sondern auch hinunter- und hinausblicken auf die weit entfernten, silbrig flimmernden Taelern von Euphrat und Tigris. Legt Anatolien mit seinen hethitischen und kolonialgriechischen Ausgrabungsstaetten ohnehin Zeugnis von einer der sogenannten Wiegen der Menschheit ab, so fuehlt man sich auf dem Numrut Dag dieser Wiege besonders nahe.
Wir flogen also nach Istanbul und weiter nach Kayseri. Von dort aus ging es mit mehreren Sammeltaxis und Autobussen zu Besichtigungen nach Goereme und Uerguep, und dann weiter tief in den Osten, nach Malatya. Von Malatya aus gelangten wir in suedoestlicher Richtung nach Kahta am Fuss des beruehmten Nemrut Daghi. Ein Landrover brachte uns hinauf, bis unterhalb des Gipfels. Wir warteten, bis die meisten Besucher bereits mit dem Abstieg begonnen hatten, genossen den erhofften meditativ-malerisch-dramatischen Sonnenuntergang in releativer Einsamkeit, verliessen den Berg wieder und die Gegend und kamen nach Tagen bei Mersin ans Mittelmeer. Nach einer wunderschoenen und abwechslungs- und kurvenreichen Busfahrt entlang der Kueste erreichten wir Alanya, wo wir fuer einige Tage ein Zimmer in Strandnaehe mieteten, um uns den Staub und die Strapazen der Reise aus den Koerpern zu baden und um uns etwas zu erholen und zu pflegen. Das alles ereignete sich 1983, und meine Frau war schwanger mit einem Knaben.
Auf der Weiterfahrt hatten wir in Antalya einen mehrstuendigen Aufenthalt. Wir mussten den Bus wechseln, wenn wir weiter an der Kueste entlangfahren wollten - ueber Finike, Kas, Izmir und Side nach Bursa, und dann zurueck nach Istanbul, dem Ausgangspunkt unserer Tuerkeireise. Und das wollten wir. Wir spazierten ein wenig herum, entdeckten ein tuerkisches Bad - einen Hammam - wo wir uns einseifen, waschen, durchwalken und durchkneten liessen und uns danach noch eine Weile in den Wasserbecken tummelten. Gereinigt und erfrischt verliessen wir die Oase islamischer Zivilisation und gingen zurueck zum belebten Busbahnhof. Wir hatten noch immer Zeit, und deshalb entschloss ich mich, mir eine gepflegte Rasur mit dem Messer zu goennen.
Entschlossen und durchgefuehrt: der tuerkische Barbier und seine Freunde, die ihm die Langeweile des Tages verkuerzen halfen, hatten erkennbar Freude daran, einem Menschen aus dem Maerchen- und Sagenreich Deutschland buchstaeblich an den Bart gehen zu koennen. Wir hatten viel Spass miteinander, wie es manchmal passieren kann, wenn der eine den anderen nicht genau versteht. Da blitzte Zahngold auf, Augenweiss funkelte und Lachfalten erschienen so tief und so schwarz, als haette sie jemand mit einem Schminkstift nachgezeichnet. Es ist tatsaechlich so: nirgendwo auf der Welt traf ich Maenner, die so herzlich lachen, sich so kraftvoll auf Schultern und Schenkel klopfen und so unbekuemmert und jungenhaft sein konnten, wie in der Tuerkei. Wie fade und verklemmt erscheinen da im Vergleich die koerperlichen Beruehrungen unter uns deutschen Maennern.
Wie dem auch sei: der Barbier war mit seiner Arbeit offensichtlich fast am Ende. Mitten in das Gelaechter hinein fragte er mich etwas, das ich nicht verstand. Aber noch animiert von dem Spass, den wir miteinander hatten, nickte ich zustimmend und lachte abermals. Das haette ich nicht tun sollen.
Im naechsten Moment verging mir das Lachen. Fast unbemerkt war mein tuerkischer Frisoer hinter mich getreten, umfasste meinen Kopf am Uebergang zum Hals mit einem eigenartigen, jedoch professionell wirkenden Doppelgriff – einem Doppel-Nelson vergleichbar - und ... ich erstarrte.
Blitzartig wusste ich, was als Naechstes und was als Uebernaechstes geschehen wuerde: er wuerde einen chiropraktischen Griff an mir anwenden und meine Halswirbelsaeule wuerde diesem maennlich-kraeftigen Griff nicht standhalten koennen. Wie sollte sie das auch. Wenn ich mich an all die kraeftigen tuerkischen Haelse und Nacken erinnerte, die ich auf unserer Reise gesehen hatte ... Irgend etwas wuerde brechen, reissen oder gequetscht werden. Ich wuerde gelaehmt im Stuhl sitzen muessen und kein Wort mehr hervorbringen koennen. Nie mehr.
‚Toll’, hoere ich jetzt manchen schadenfroh sagen.
Und da war alles schon vorbei. In einem winzigen Moment hatte er meinen Kopf hochgezogen und ihn auf der Halswirbelsaeule kurz erst nach rechts und dann nach links gedreht. Zwei kurze, ruckartige Bewegungen nur. Ohne Schmerz. Und ohne spuerbare, negative Folgen.
Jetzt umstanden sie mich und grinsten mich an aus schiefen Muendern voll schlechter Zaehne. Langsam loeste sich meine Starre. Schockstarre sagt man dazu, wenn eine Fussballmannschaft ein fruehes oder spaetes, auf jeden Fall ein unerwartetes Tor kassiert und dann wie gelaehmt ist und so spielt, als wuesste sie nicht mehr, wo vorne und wo hinten ist. Ja: ich lebte noch. Ja: ich konnte meinen Kopf noch in alle Richtungen und alle Winkel bewegen. Ja: auf einmal spuerte ich, um wieviel leichter sich mein Kopf anfuehlte und wieviel Spannung aus meinen Schultern gewichen war. Das alles fuehlte sich recht gut an. Und als ich feststellte, dass ich auch den Oberkoerper, die Arme, Beine und Fuesse in gewohnter Weise bewegen konnte - da fing auch ich an. Ich grinste erst, dann laechelte ich. Erst zoegernd, dann immer mehr. Dann heftig. Erleichtert stimmte ich in das Lachen ein. Immer lauter wurde es und immer unbeherrschter. Allen Schreck, der mir in die Glieder gefahren war, lachte ich mir aus dem Leib. Und die Maenner um mich herum tanzten, groelten, klatschten sich auf Schultern und Schenkel und hielten sich die Baeuche.
Es ist tatsaechlich so: nirgendwo auf der Welt traf ich Maenner, die so herzlich lachen, sich so kraftvoll auf Schultern und Schenkel klopfen konnten und so unbekuemmert und jungenhaft sein konnten, wie in der Tuerkei.
Der finale Schnitt
1993 hatte ich einen schweren Unfall, bei dem meine beiden Beifahrer ums Leben kamen. Der Unfall ereignete sich in der Naehe von Alesd, einer rumaenischen Kleinstadt, gut fuenfzig Kilometer oestlich von Oradea. Oradea ist die an der ungarisch-rumaenisch gelegenen Hauptstadt der Provinz Bihor. Wir waren auf dem Weg von Altoetting in die Bukovina.
Am Mittwoch, den 24. Februar fuhren wir um sechs Uhr morgens von unserem Hotel in Oradea los. Unser Ziel war Sasca Mica, ein Dorf in der Provinz Suceava, Bukovina, im Nordosten Rumaeniens gelegen. Dort betreute unsere Hilfsinitiative die Patienten eines Hospitals fuer chronisch Kranke - im Klartext: fuer behinderte und mehrfachbehinderte Erwachsene und Kinder. Wir hatten uns fuer den Nachmittag angekuendigt. Zwischen fuenf und sechs Uhr wollten wir da sein.
Meine Beifahrer waren ein Ehepaar im Rentenalter. Beide lebten im Landkreis Altoetting und waren dort engagierte ehrenamtliche Mitarbeiter des Bayerischen Roten Kreuzes. Beide waren besonders in der Alten- und Krankenpflege erfahren. Das stand mit dem Zweck der Fahrt im direkten Zusammenhang: die beiden, Hildegard und Erich Raab, hatten sich freiwillig angeboten, eine ausgewaehlte Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Sasca Mica in der Pflege von Alten und Langzeitkranken aus- und fortzubilden. Ich war eines der Gruendungsmitglieder des Vereins und gehoerte dem Vorstand an, und es war eine Selbstverstaendlichkeit und eine Ehre, das Ehepaar nach Sasca Mica zu chaffieren und dort mit den wichtigsten Leuten bekanntzumachen. Ich empfand das als eine persoenliche Geste und einen Ausdruck von Dankbarkeit und Anerkennung.
In der Nacht hatte es leicht geschneit. Aber wir hatten gute, fast neue Winterreifen auf den Felgen unseres Mitsubishi-Bus’ und es gab keinen Grund, uns wegen des bisschen Schnees Sorgen zu machen. Als wir das noch verschlafene Oradea bei Dunkelheit verliessen, war kaum Verkehr auf den Strassen. Langsam schlich sich der Schein der Morgendaemmerung in das nachtschwarze Dunkel. Wir unterschieden bereits die Silhouetten von Kirchen und anderen groesseren Gebaeuden links und rechts der Landstrasse. Ich kannte die Strecke gut und konnte Hildegard, sie sass neben mir, das das eine und andere erklaeren. Es war keine aufregende Unterhaltung, die wir fuehrten, aber es war angenehmer so, als schweigernd durch den heraufdaemmernden grauen Morgen zu fahren. Erich sass hinten auf der Sitzbank und schwieg, so, wie es seine Art war. Es war gemuetlich im Auto. Aber wir waren wach und aufmerksam.
Entsprechend der winterlichen Strassenverhaeltnisse, fuhr ich langsam die kurvenreichen Strecke nach Osten. Fuer die gut fuenfzig Kilometer von Oradea nach Alesd brauchten wir etwas mehr als eine Stunde.
Ploetzlich - und ich weiss bis heute nicht, wie das geschah - schreckte ich auf. Ich muss also doch und trotz der Unterhaltung, eingenickt sein. Wir fuhren diagional ueber die Strasse auf die Gegenfahrbahn und auf einen Graben zu. "Haltet euch fest!", schrie ich aus Leibeskraeften. "Haltet euch fest! Wir fahren in den Graben!" – ‚Scheisse, jetzt wird uns in dem Scheissgraben die Scheissachse rausreissen. Da werden wir heute nie und nimmer nach Sasca kommen’, dachte ich noch. Ich schrie wieder und stemmte das rechte Bein weiter auf die bereits bis zum Anschlag durchgedrueckte Bremse. Der Minibus reagierte nicht mehr. Er wurde nicht wirklich langsamer. Wie auf Schienen blieb er in der Spur, und wie an einer Schnur gezogen fuhr er diagonal ueber die Strasse, ueber den Graben hinweg und direkt auf einen Strommasten zu. Der Masten war aus Beton.
Ich hoerte einen harten Schlag. Das Geraeusch von splitterndem Glas. Dann nichts mehr.
Mit kaum ertraeglichen Schmerzen wachte ich auf. Es fuehlte sich an, als sei mein Brustkorb vollgefuellt mit Splittern aus Glas und Knochen. Ich schaute zu Hildegard hinueber. Sie sass ruhig auf ihrem Sitz. Ich sprach sie an. Ich rief ihr etwas zu. Ich schrie ihren Namen. Wieder und wieder. Aber da wusste ich bereits, dass sie tot war. Tot. Tot. Tot.
Erich konnte ich nicht sehen. Ich konnte mich kaum umdrehen. Die Schmerzen. Der Sicherheitsgurt. Ich sah ihn nicht. Ich rief seinen Namen. "Erich". "Erich". Keine Antwort. Kein Laut. Ich zwaengte mich aus dem Fahrzeug. Und wimmerte "Erich". "Erich". Alles tat so weh. Ich stuetzte mich an der Karosserie entlang und schlurfte langsam zur Beifahrerseite hinueber. Und dann weiter zur Schiebetuere. Sie war offen. Auf einmal sah ich sie. Zwei Beine in festen Winterstiefeln ragten unter dem Auto hervor - in den dicken und warmen Uniformhosen fuer Rot-Kreuz-Helfer. Dazwischen das Weiss langer Baumwollunterhosen. Erichs Beine.
Dann kamen Maenner. Ploetzlich war die vorher unbelebte Strasse voll von Menschen. Sie hoben und zogen. Riefen sich Informationen und Kommandos zu. Mich fuehrten sie zur Seite und schoben mich in einen alten Dacia, dessen Motor lief und in dem es warm war. Durch die offene Tuere sah ich, wie mehrere Maenner den Mitsubishi-Bus hinten anhoben und zwei von ihnen Erich an den Beinen unter dem Auto hervorzogen. Auch er war tot. Ich fragte : "Mort? Mort?" - "Da, da", sagte einer. Und schaute an mir vorbei.
Ein altersschwacher Krankenwagen kam und brachte mich von der Unfallstelle weg. Er brachte mich in das kleine Hospital von Alesd. Dort wurde mir erste Hilfe geleistet und dann eine Blutprobe entnommen. Die Aerztin und der Arzt versiegelten die Bluprobe sofort nach der Entnahme und gab sie an ein Labor weiter. Noch heute bin ich dankbar dafuer, dass es sich bei den beiden Aerzten um ein ungarisch-deutsches Ehepaar handelte, mit dem ich sprechen konnte und das sich meiner annahm. Ich stand massiv unter Schock und hatte das Ausmass und die moeglichen Folgen des Unfalls zu dem Zeitpunkt nicht einmal ansatzweise begriffen. Umso dankbarer war ich fuer ihre Erklaerungen und ihren Zuspruch in deutscher Sprache.
Mit einem etwas moderneren und bequemeren Krankenwagen wurde ich zurueck nach Oradea gebracht und im dortigen grossen und modernen Kreiskrankenhaus auf ein Zimmer der orthopaedischen Abteilung gelegt. In ein Vorzugszimmer fuer (Partei)Prominenz - ein Einzelzimmer mit Dusche und WC. Allerdings in einem Zustand, den man in Deutschland niemandem zumuten wuerde. Mit dieser Vorzugsbehandlung wollte man den guten Namen und die erfolgreichen Arbeit unserer Rumanien-Hilfsinitiative anerkennen. Die Umstaende hatten mich zum Privilegierten werden lassen.
Mein Weg fuehrte mich also von Alesd ins Kreiskrankenhaus von Oradea. Der Weg von Hildegard und Erich fuehrte sie ebenfalls in Oradea. In die Pathologie. Es war gegeben - nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon - dass uns unsere Wege noch einmal zusammenbringen wuerden.
Vorerst aber hatte ich schwierige Tage und Wochen durchzustehen: polizeiliche Einvernahmen, polizeiliche Untersuchungen, den Unfall, aber auch das Reisegepaeck betreffend - auf moeglicherweise mitgefuehrte Waffen, Drogen oder pornographisches Material -, Unfallforschung, Gutachten, Verhoere im Gebaeude und in den Raemen der Verkehrspolizei, erkennungsdienstliche Behandlung, Anklageerhebung und Verteidigung innerhalb eines undurchschaubaren, kafkaesken und fuer Geld unter der Hand empfaenglichen Justizsystems. Dazu eine aus Mangel an Moeglichkeiten voellig unzureichende medizinische Versorgung. Dazu - ebenfalls aus Mangel an Moeglichkeiten -, eine voellig unzureichende Versorgung mit Nahrung. Dazu staendig und ohne Unterbrechung die erdrueckenden Gefuehle von Schuld und Unzulaenglichkeit: haette ich nur .. haette ich nur nicht ... warum hast du nicht ... warum hast du ...
Auf der anderen Seite wurde ich von einer Fuelle von Unterstuetzern getragen: von Hildegards und Erichs Sohn und Schwiegertochter und deren Familie, von meiner eigene Familie, meiner Frau vor allem und meinen Kindern, von vielen, auch ihrem christlichen Glauben verpflichteten Menschen in Oradea und in meinem heimatlichen Landkreis, von haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen karitativer Vereinigungen, von Freunden und Bekannten in Deutschland und Rumaenien, von Mitarbeitern und Kunden, aber auch von Entscheidungstraegern auf kommunaler- und sogar bundesdeutscher Ebene - das Aussenministerium, damals noch in Bonn, und die deutsche Botschaft in Bukarest mit eingeschlossen: es war eine gigantische Welle der Fuersorge und Hilfsbereitschaft, die mich trug und von der ich mich tragen lassen durfte.
Noch immer aber stand die eine letzte Begegnung mit Hildegard und Erich aus. Andeutungen hatte ich entnommen, dass es meine Pflichten war, die beiden Leichname zu identifizieren und dass dies in den Raeumen der Pathologie von Oradea zu geschehen haette. Man hatte allerdings soviel Mitgefuehl und Verstaendnis aufgebracht und mir erlaubt, die Ankunft meiner Frau aus Deutschland abzuwarten. Wenig spaeter, nachdem sie gekommen war, fuhren wir an einem nebligtrueben Wintermorgen im Februar gemeinsam mit einem Taxi vom Krankenhaus zu der angegebenen Adresse, wurden dort ueberaus freundlich empfangen und ohne weitere Umstaende in einen grossen feuchtkuehlen Raum gefuehrt. Von wegen schimmernde Kachelwaende und Kuehlschrankschublaeden aus Nirosta: das Licht in dem Saal war trueb wie der Himmel draussen. Drei graue Steintische standen da. Auf jedem lag ein Leichnahm. Ueber zwei der Koerper waren gelblichweisse Leintuecher gebreitet, Leintuecher die so bruechig aussahen, als haetten sie ueber viele Jahre schon viele Leichname bedeckt.
Der Beamte, der uns auf unserem Gang begleitete, wies mit dem Arm auf einen der Tische. Mit den Haenden vor dem Bauch gefaltet - eine Haltung, wie ich sie ganz automatisch beim Besuch einer Kirche einnehme -, ging ich auf den Tisch zu. Der Beamte hob das Laken an. Es war Hildegard, die darunter lag. Sie wirkte friedlich. Sie war nicht entstellt. Ich nickte mit dem Kopf und nahm an, dass das zur Identifikation ausreichte. Ich blieb noch einige Minuten stehen. Wie im Gebet. Dann bedeckte er ihre Bloesse und wir gingen zu dem zweiten Tisch hinueber. Auch hier fasste der Beamte eine Ecke des Lakens, hob es an und enthuellte Erichs nackten Koerper. Hier fiel mir zum ersten Mal das unglaubliche Weiss der Haut auf, wenn sie nicht mehr durchblutet wird. Auch Erich hatte keine Zeichen aeusserer Verletzungen. Ich nickte wieder, blieb wieder einen Moment stehen, drehte mich um und ging auf den dritten Steintisch zu.
Darauf lag ein Mann Ende dreissig, Anfang vierzig. Hemd, Hose und Jacke sahen billig aus, waren zerschlissen und schmutzig. Der Mann war sehr hager, unterernaehrt und ungepflegt. Arme und Beine standen verrenkt vom Koerper ab, die Haende waren verkrampft. Die Finger wie Krallen. Ein Eindruck, der durch seine langen Naegel noch verstaerkt wurde. Am eindrucksvollsten aber war sein Mund: weit aufgerissen, zu einem Schrei geoeffnet. Dazu eine vogelartige Hakennase und schreckhaft geweitete Augen, die ins Leere starrten. ;In Frieden ist dieser Mann bestimmt nicht gestorben’, kam mir in den Sinn, und: ‚Woran er wohl gestorben ist?’ Ein Sturz, ein Schlag, ein Schuss, ein Stich? Dann sah ich sie, die feine rote Linie am Hals, von einem Ohr zum anderen. So eine Linie kann man nur mit einer Reissfeder ziehen. Oder mit einem Rasiermesser. Und ein Rasiermesser wird es wohl gewesen sein.
Der Kreis schliesst sich.
Ich muss oft an das Rasiermesser denken. Ich haette abbremsen und anhalten koennen. Das Fahrrad abstellen und zurueckgehen. Das Messer auf Spuren untersuchen, die Umgebung nach etwas Auffaelligem absuchen koennen. Vielleicht nach einem Schwerverletzten oder einer Leiche - oder auch nur nach einem Tierkadaver. Aber ich tat nichts dergleichen. Ich war viel zu sehr mit meinem "Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt" beschaeftigt, als mit der Wirklichkeit auf der Strasse nach Navazzo. Also fuhr ich weiter.
Da ich keine italienische Zeitungen lese und Radio- und Fernsehnachrichten nicht verstehe, ausser den Weltnachrichten vielleicht, die ich aber vorher schon in deutscher Sprache gehoert oder gelesen haben muss, um sie mir dann gerade einigermassen zusammenreimen zu koennen - beides, weil ich des Italienischen bis heute nicht maechtig bin - und weil ich keine Kenntnis von den Dingen habe, die sich in meiner unmittelbaren Umgebung zutragen und ueber die nur in den lokalen Medien berichtet wird, habe ich also von dem Messer nichts mehr gehoert. Rein gar nichts.
Fragen wollte ich auch niemanden. Wahrscheinlich haette man meine Verstuemmelungen italienischer Woerter und Satzfragmente nicht verstanden beziehungsweise falsch interpretiert: „Ist auf das Tal fuehrenden Gefaelle in das Brescia Berg nicht erlaubt, sich eine Messer zu ueberfahren zu rasieren?“
So, oder so aehnlich.
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2011
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