Cover


Die Oidipus-Sache Materialien


Theben, das siebentorige Theben



Drei Zugänge wählte ich aus, drei Zugänge zur Mythologie der Griechen und zu Oidipus, dessen Lebensdrama Sigmund Freud als Material für seinen Oedipus-Komplex deutete: ‚Die Mythologie der Griechen - Die Heroengeschichten’ von Karl Kerényi, den Mitschnitt einer Sendereihe im Österreichischen Rundfunk: ‚Die Sagen des klassischen Altertums’, von und mit Michael Köhlmeier und die Texte der drei Oidipusdramen von Sophokles, König Oidipus, Oidipus auf Kolonos und Antigone. Besonders Michael Köhlmeier bin ich sehr dankbar, dessen Texte und ihre Präsentation ich mir waehrend langer kretischer Winterabende wie nährende und stärkende und süsse Muttermilch reinzog.
Oidipal ... Oidipal.
Ich will mit diesem Text Oidipus als Figur der griechischen Mythologie und als tragischen Helden der sophokleischen Dramen herausarbeiten und darstellen, auf das Königtum Theben eingehen - Koenigreich in unserem heutigen Sinn wäre zu hoch gegriffen -, auf die Institution des Orakels, auf das in Delphi und solche an anderen berühmten Orakelstätten, auf die von Hera gesandte Sphinx, auf den von seinen Zeitgenossen gefeierten Dramatiker Sophokles und seine drei erfolgreichen Oidipusdramen und auf das Griechische Theater als Quelle, beziehungsweise Fabrikationsort von Furcht und Mitgefühl näher einzugehen. Mal sehn, ob mir das mit meinen laienhaften Voraussetzungen gelingt. Oft genuegt ja Mut alleine nicht.
Ach so: Warum Oidipus, und nicht Ödipus oder Oedipus oder Oedipe oder Oedipoes? Ganz einfach deshalb, weil mir Oidipus am besten gefällt. Weiter nichts.
Also: Jede auch nur im Ansatz erzählenswerte Geschichte hat einen Ort. Ohne Spielwiese kein Spiel. Ohne Ort keine Handlung. Ohne Handlung weder Heldinnen noch Helden. Unser Ort, eine Stadt das heisst Oidipus' Stadt – Oidipus selbst kommt allerdings im Verlauf der Geschichte erst später dazu - heisst Theben. Der Name ist abgeleitet vom ägyptischen Theben, der Stadt der Amunpriester, der alten Hauptstadt Oberägyptens und vieljährigen Hauptstadt des vereinten ägyptischen Königreiches am Nil, am Ostufer des Stroms, und durch die Tempelstädte Karnak und Luxor heute noch weltberühmt. Einmalig aber durch die Totenstadt Thebens, mit einer ehemals eigenständigen Verwaltung, auf dem Westufer des Nils gelegen - mit seinen Gräbertälern für Könige und Königinnen und der gewaltigen Tempel und Ewige-Leben-Monumente. Sprach man vom ägyptischen Theben als der Stadt mit den einhundert Toren, mussten dem griechisch-archaischen Theben sieben Tore genügen, um seine Vorrangstellung unter den wichtigen griechischen Städten zu beweisen. Vom siebentorigen Theben sprach Homer. Das wurde ein feststehender Begriff.
Im Gegensatz zu Mykene, der anderen bedeutenden Ansiedlung in griechisch-archaischer Zeit, liegt Theben recht unauffällig in der eher flachen Landschaft Böotiens und ist heute die Provinzhauptstadt eines Gebietes mit intensiver Landwirtschaft und zahlreichen kleineren Industrie- und Handwerksbetrieben. Nicht einmal kleinste Teilstuecke von Fundamenten der sieben Tore Thebens sind zu sehen. Die heute modern überbaute Akropolis, ein bescheidener Mauerrest und einige sehenswerte Ausstellungsstücke im Archäologischen Museum der Stadt sind die mageren Überreste aus alter und glanzvoller Zeit.


Der phoenikische Prinz und die Mondkuh



Und doch entstanden auf dem Boden dieser uralten Siedlung so viele Geschichten von Heroen wie sonst nirgendwo. Mit Ausnahme des bereits erwaehnten Mykene vielleicht. Und der Ober-Heroe aller thebanischen Heroen, der am meisten verehrte, war Kadmos. Kadmos? Ja, Kadmos, der Sohn von - ja, von wem eigentlich? Die einfachere Version lässt ihn der Sohn des phönikischen Königs Phoiniks und dessen Frau Thelepassa sein. Die zweite Version heben wir uns für etwas später auf. Also: Phoiniks und Thelepassa waren auch die Eltern von Europe, die bekanntlich von Zeus entführt und nach Kreta verschleppt worden war. Augenzeugen sagten allerdings aus, sie sei weniger verschleppt worden, sondern gerne mitgekommen. Auf Kreta gebar sie drei Söhne, die sie von Zeus empfangen hatte, nämlich Minos, Radamanthys und Sarpedon. Ihr Bruder Kadmos war durch diese Entführung und ihre Folgen ein Schwager des Zeus geworden und Onkel von Minos, Radamanthys und Sarpedon. König Phoiniks soll Kadmos beauftragt haben, nach der entführten Europe zu suchen. Auf seinen Wanderungen durch die griechischen Landschaften würde er auf eine Kuh treffen, die auf beiden Seiten mit der Darstellung eines Vollmondes markiert sei – einer kreisrunden Flaeche also. Dieser Kuh solle er folgen. Kadmos traf tatsächlich auf die solchermassen beschriebene Kuh, folgte ihr und gründete genau dort die Stadt Theben, wo sie sich - die Mondkuh - niederliess.
Nach einer anderen Genealogie, die wohl ehrgeizigen thebanischen Ursprungs ist - als ob die Verwandtschaft mit Göttervater und Frauenbeglücker Zeus nicht schon ausreichte -. gehörte er den Landes- und Stammesgründern, den sogenannten Urkönigen an, auf die die Gründung Thebens zurückgehen soll: Kadmeia hiess thebanisch die Burg - Kadmeia kommt von Kadmos. Man sagte, der Ururgrossvater von Kadmos sei Zeus gewesen, Poseidon sein Grossvater - wie, verstehe ich nicht, waren doch Zeus und Poseidon Brüder -, Ares und Aphrodite seine Schwiegereltern. Wieder Fragezeichen: Aphrodite war mit Hephaistos verheiratet, dem verkrüppelten Kunstschmied und betrog diesen zwar mit Ares, dem schönen, aber dummen Kriegsgott. Doch eine Familie gründeten die beiden nie. Weiter heisst es, die Tochter des Kadmos sei Selene gewesen - eine der zahlreichen Geliebten des Zeus: ‚Sexprotz beschläft Urururenkelin’. Was für ein Aufmacher für die Bildzeitung! Selene wiederum gebar Dionysos. Der Vater war natürlich ... Zeus. Also müsste die Schlagzeile der Bildzeitung richtig lauten: ‚Sexprotz schwängert Urururenkelin’. Oder ‚Tote bringt einen gesunden Sohn zur Welt’. Selene war naemlich von der eifersüchtigen Hera, der eifersuechtigen Frau des Zeus, ausgetrickst worden: Selene schaute Zeus ins Gesicht und verbrannte dabei. Es muss eine gewaltige Hitze gewesen sein, die von dem Blitzeschleuderer Zeus ausging. Hera hatte Selene zu der Unglueckshandlung ermutigt. Kadmos aber, Selenes Vater, entriss dem bereits verkohlten Leichnam der Tochter gerade noch rechtzeitig den lebenden Ungeborenen: Dionysos. Was sollte aus einem solchermassen in die Welt gebrachten Knaben einmal anderes werden als ein Sozialrevolutionär und ein Gott der Sinnlichkeit, der Trance und des Rausches?
Kadmos also, der Prinz aus dem fernen Phönikien - von dort soll er übrigens das spätere griechische Alphabet mitgebracht haben -, hatte auf der Insel Samothrake die Harmonia, die Tochter Elektras kennengelernt. Angeblich war auch sie von Zeus gezeugt worden, dem Samenspender in so vielen Fällen. Wie sein Schwager und Schwiegervater in spe es mit Europe gemacht hatte, verfuhr Kadmos mit Harmonia: er raubte und entführte sie.
In Böotien, dem Land der Mondkuh, stand Kadmos bereit, die Stadt mit den breiten Strassen zu gründen, genau da, wo sich die Mondkuh in orakelerfuellender Weise niedergelassen hatte. Von den Toren war noch keine Rede. Doch erst musste ein Opfer gebracht werden, und dazu benötigte Kadmos Wasser. Das gab es aus einer nahen Quelle, die allerdings von einem Schlangendrachen bewacht wurde. Das Ungeheuer hatte bereits alle Gefährten des Kadmos getötet, ehe er selbst nach dem Rechten sah und das fürchterliche Tier mit einem Stein erschlug, ganz so, wie es das Orakel geweissagt hatte. Athene, die ihm bei dieser Heldentat wohl auch ein wenig zur Hand gegangen sein dürfte, riet ihm, dem Schlangendrachen die Zähne aus dem Maul zu reissen und sie in die Erde zu säen. Kadmos befolgte den Rat seiner Mentorin und säte die Zähne aus. Wie Pflanzen aus der Erde wuchsen ‚Spartoi’ daraus hervor - die Ausgesäten: kampfeslüsterne Kerle, die sich als allererstes gegenseitig umbrachten. Nur fünf besonders geschickte, beziehungsweise besonders tapfere, überlebten. Diese fünf sollen den Ursprung der Kriegerkaste der Spartaner gebildet haben.


Kadmos, Harmonia und all die anderen



Es gibt Quellen, die behaupten, Harmonia, die Auserwählte des Heroen Kadmos, sei eine Tochter von Aphrodite und Ares gewesen - eine lupenreine Göttin also. Zur Erziehung der kleinen Harmonia hätte man sie dem Haus der Elektra auf Samothrake übergeben. Irgendetwas wird dran sein an dieser Version, denn die ganze Götterwelt stieg vom Olymp herab, um an den Hochzeitsfeierlichkeiten von Kadmos und Harmonia teilzunehmen. Die Musen selbst sangen zu Ehren des Brautpaares, und die Göttinnen und Götter liessen es sich nicht nehmen, mit grossartigen Hochzeitsgeschenken aufzuwarten. So ein Auftritt war extrem selten und wirft ein erhellendes Licht auf die Herkunftsfamilien des späteren Oidipus. Harmonia, die Vereinigende, fuhr mit ihrem Ehemann in einem aufsehenerregenden Gefährt: Löwe und Eber, die ja nun wirklich nicht füreinander bestimmt sind, wurden als Zugtiere vor den Wagen des Hochzeitspaares gespannt. Und ab gings in die Flitterwochen.
Fünf Kinder bekam das Paar, vier Töchter und einen Sohn: 1. Selene wurde von den Blitzen ihres Verfuehrers Zeus verbrannt, 2. Agaue zerriss im Wahnsinn ihren Sohn, 3. Autonoe hatte im Lauf ihres Lebens die Knochen ihres Sohnes Aktaion zusammenzuklauben, 4. Ino sprang, zusammen mit ihrem Sohn Palaimon, ins Meer - nur bei 5. Sohn Polydoros lief es besser: er wurde König von Theben und Teil der Geschlechterlinie Kadmos - Polydoros - Labdakos - Laios - Oidipus. Was für Dramen. Was fuer ein Aufwand. Was für eine Grossfamiliengeschichte. Kein Mensch würde sich getrauen, daraus eine Fernsehserie zu entwickeln. Zu unglaubwürdig. Zu realitätsfern. Zu blutruenstig. Zu übertrieben.
Versuchen könnte man es aber doch einmal. Oder? Auf ganz modern natürlich. Zeitgenössisch. Angesagt. Cool and Up to Date. Mit Sex and Crime, Blood and Tears. Mit Türken als Trojaner oder Phönizier - ist ja eigentlich auch egal: als ‚die Anderen’ halt, ‚die Fremden’. Alles angesiedelt in Berlin, dem ‚Spree-Athen’. Die Museumsinsel gäbe den Olymp, der Deutsche Dom den Hades und Ostberlin Kleinasien oder Phönikien - ist ja eigentlich egal: ‚das Andere’ halt, ‚das Fremde’. Und Wowereit spielte den Labdakos, den Mann ohne Eigenschaften, wie wir gleich hören werden. Wäre das ein Fest. - Halt. Stopp. Geht nicht: Das Stück könnte als antitürkisch oder als antiislamisch aufgefasst werden. Das kann man sich nicht leisten in diesen Tagen. Lieber antijüdisch, antisemitisch, antiisraelisch: Das geht schon wieder. Das ging auch frueher schon .
Von Polydoros, dem Sohn des Kadmos', wissen wir nur, dass er an der Stelle, wo der Blitz des Zeus seine Schwester Selene verkohlen liess, eine eiserne Einfassung anbringen liess, die er mit einem Weinstock und heiligem Efeu bepflanzte. Dieser Ort sollte von niemandem betreten werden. Sonst weiss man nichts von Polydoros und auch von Labdakos nichts, seinem Sohn, dem Mann ohne Eigenschaften.
Von Harmonia und Kadmos wissen wir noch, dass sie am Ende ihres Lebens nach Illyrien auswanderten und dort in Schlangen verwandelt wurden.


Laios, ein undankbarer Asylbewerber



Erst mit Laios, dem Sohn von Labdakos, betrat wieder eine uns bekannte Persönlichkeit die Bühne. Laios, der leibliche Vater des Oidipus, von vielen auch als die eigentliche Ursache des ganzen Oidipus-Dramas identifiziert, war ein Urenkel aus der so folgenreichen Verbindung zwischen Kadmos und Harmonia, den Götterlieblingen, wie es auf den ersten Blick erschien.
Als Laios' Vater Labdakos starb, war Laios gerade ein Jahr alt. Er wurde später - obwohl er der rechtmässige Erbe auf den Königsthron von Theben war - von seinen beiden finsteren Brüdern Lykos und Nyteus vertrieben. Bei Pelops, einem König, der etwa fünf Tagereisen von Theben entfernt sein Reich regierte, wurde Laios Asyl gewährt. Er wurde freundlich aufgenommen und wie ein Familienmitglied behandelt. Doch Laios dankte seinen Gastgebern Pelops und dessen Ehefrau Hippodameia die Fürsorge schlecht. So etwas passiert schon manchmal. Er verliebte sich in Chrysippos, den jüngsten Sohn des Pelops, einen sonnigen Knaben, dessen Name ‚Der mit den goldenen Pferden’ bedeutet. Hippodameia war Chrysippos' Stiefmutter. Laios verliebte sich in Chrysippos, lehrte ihm das Lenken von Wagen und wohl auch andere, vielleicht sogar intimere Dinge. Schliesslich entführte er den Knaben und nahm ihn mit in nach Theben, seine Heimat. In der griechischen Antike galt Laios, der Ver- und Entführer des Chrysippos, als der Erfinder der Päderastie, der Knabenliebe.
Pelops war bitter enttäuscht von Laios. Er trauerte um seinen goldenen Liebling und verfluchte seinen missratenen Gast: Nie dürfe dieser einen Sohn zeugen. Täte er es dennoch, würde er von diesem Sohn ermordet werden. Der Fluch des Pelops beeindruckte Laios sehr – die alten Griechen fuerchteten jede Form Schwarzer Magie -, und er hatte - inzwischen verlobt - seine Not damit, Iokaste, seiner Verlobten und späteren Ehefrau, seine auffällige Enthaltsamkeit in Sachen Sex zwischen Geliebten beziehungsweise zwischen Eheleuten, ueberzeugend zu erklären.


Die Knabenliebe - eine griechische Erfindung?



In den Texten zur griechischen Mythologie wird berichtet, dass Laios den Chryssipos das Wagenlenken lehrte. Dass er ihm darueber hinaus auch Intimeres beibrachte, davon ist nicht die Rede. Das habe ich hinzugefügt. Das sollte nur in aller Kürze das Wesen der Knabenliebe im antiken Griechenland andeuten: Laios brachte seinem Liebling Chryssipos etwas bei. Damals gab es keine Allgemeine Schulpflicht und keine Universitäten. Die Aufgaben von Bildung und Ausbildung der heranwachsenden Knaben aus guten Familien lag bei den Männern. Meist natürlich bei den eigenen Vätern, die sich bemühten, achtsame und umsichtige Erzieher zu sein. Erotik und Sex spielten in solchen innerfamiliären Beziehungen wahrscheinlich keine grosse Rolle.
Man muss sich vor Augen halten, dass in der griechischen Antike das Schönheitsideal vor allem auf die männliche Gestalt projiziert wurde - auf den Kopf des Mannes, sein Gesicht, seinen Körper. Hier spielte sich alles ab, was den griechischen Schönheitssinn erweckte, entzündete, zum Leuchten brachte: Mund und Wangen, Stirn und Augenausdruck, Hals und Schultern, Arme, Hände, Brust und Bauch, Gesäss, Glied und Hodensack, Oberschenkel, Knie, Waden, Füsse, Zehen. Die langgestreckten phallischen Formen, die ‚edlen, vibrierenden Haltungen und Ausdrucksformen’ - man denke an den Wagenlenker von Delphi beispielsweise, oder an die berühmte Statue des Diskuswerfers. Heutzutage wenden wir uns bei der Betrachtung mehr den weiblichen Statuen zu, all den Göttinnen und Heroinen. Für die Griechen aber wirkten diese offenbar nur mässsig erotisierend. Am allerwenigsten fasziniert waren sie vom Betrachten der Scham einer nackten weiblichen Figur.
Die Lust an der Schönheit, die Reize, die von einem knabenhaften männlichen Körper ausgingen - diese Empfindungen waren nicht etwas, was Griechen als fehlgeleitet bewerteten. Das war ihnen selbstverständlich. Aber die Grundlage blieb doch die Beziehung zwischen Mentor und Schüler, dem Knaben, der mit des Mannes Hilfe in die Welt der Männer hineinwachsen sollte, um dort seinen angemessenen Platz zu finden. Viel Zeit wendete der Lehrer auf, seinem Schüler Kenntnisse vom Leben, der Gesellschaft, der sozialen Beziehungen, der Wirtschaft und des Handels, der Politik, der Kunst und der Literatur, der Körperertüchtigung und Körperpflege nahezubringen, und - der Liebe zwischen Männern. Dokumente bezeugen, wie sehr das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler von Ehrgeiz und Gewissenhaftigkeit geprägt war. Ein Lehrer muss keinen grösseren Wunsch gehabt haben, als seinen Schüler, seinen Knappen, zur Vollendung an Leib und Seele zu erziehen.
Diese Form der Knabenliebe bewegt sich bestimmt noch in einem für alle akzeptablen Rahmen, etwas prickelnd vielleicht, aber kein Grund für irgendeine Form von Scham. Aber jetzt kommt es, was alle Gegner der Knabenliebe eint: der Geschlechtsakt zwischen Lehrer und Schüler, zwischen dem Mann und dem Knaben. Nach Ansicht der alten Griechen übertrug der Lehrer, der Mann, dem Schüler, dem Knaben, beim Geschlechtsverkehr seine Kraft. Man glaubte auch, dass der Schüler, der Knabe, mit dem Samen des Lehrers, des Mannes, auch dessen ganzes Wesen in sich aufnahm. Wer es glaubt, wird selig, heisst es.


Mesalliance



Mit dem Wissen von Laios' Vorliebe für Knaben und dem Wissen vom Fluch, mit dem Pelops den undankbaren Laios überzogen hatte, heiratete also Iokaste den ihr angelobten Laios. Selbst schuld - könnte man von oben herab sagen.
Wer aber war Iokaste, die spaetere Mutter des Oidipus? Betrachten wir ihren Stammbaum, dann hatte sie die gleichen Voreltern wie Laios, nämlich Kadmos und Harmonia, die Götterlieblinge. Allerdings nicht über Polydores, den Sohn des Paares, sondern über Agaue, der zweiten der vier Töchter, der Wahnsinnigen, die ihren Sohn zerriss. Agaue war die Frau des Echion, daraus ging Pentheus hervor, der zeugte Oklaseus und dieser Menoikeus. Iokaste war Menoikeus' Tochter, Kreon war ihr Bruder. Beide spielen herausragende Rollen in dem Oidipus-Stück.
Warum sie Laios heiratete, der schwer an seinen - heute würde man vielleicht sagen ‚Altlasten’ - zu tragen hatte, ist unklar. Vielleicht, weil Laios König von Theben war und sie somit zur Königin aufsteigen würde? Vielleicht, weil sie es abzuschätzen verstand, dass sich ihre Familie auf absteigendem, Laios' sich aber auf einem aufsteigendem Ast befand und sie sich für eine vermeintlich bessere Zukunft entschied? Trotz des Fluches, den Pelops auf ihren Zukuenftigen geladen hatte? Vielleicht sollte man die Frage zur Beantwortung einer ‚Abteilung Schicksal’ übergeben. Denn unausweichlich und schicksalhaft ist der Weg, den beide, Laios und Iokaste, ihr Leben lang zu beschreiten haben.
Auf den wenigen Seiten haben wir bislang schon eine ganze Menge an Informationen zu unserem Oidipus-Thema erhalten: ueber Theben, das siebentorige Theben, dem zentralen Schauplatz unserer Geschichte, über seine Gründung, seinen Gründer und dessen göttlicher Ehefrau und von dem Unglück, mit dem die ganze Familie geschlagen wurde. Über Laios, der so griffig bezeichnete Erfinder der Knabenliebe und einiges über die Knabenliebe im alten Griechenland.
Übrigens: nach über eineinhalbtausend Jahren christlich-orthodoxen Regimentes über die Griechen auf dem Festland, dem Peleponnes und den Inseln, ist von der Knabenliebe nicht viel übriggeblieben. Die Knabenliebe der türkischen Janitscharen in Griechenland war ja ohnehin von einer ganzen anderen Art gewesen. Es mutet grotesk an, wenn heute Schwule - oft in weisses Tuch gekleidet - aus Europa und Amerika auf griechische Inseln reisen, in der Hoffnung, dort auf die Freunde und Freuden der gleichgeschlechtlichen Liebe zu stossen. Worauf sie stossen, ist das Unverständnis der Griechen, die für Schwule meist nichts als tiefe Verachtung empfinden. In den Hirnen mancher Kreter ist beispielsweise das Besteigen von Schafen oder Ziegen weniger abartig als der Geschlechtsverkehr unter Männern. Da wäre es dann schon angesagter, nach Ägypten oder Bali weiterzufliegen.


Ohne Orakel geht da nichts



Wie bei vielen Begebenheiten in der Antike spielten auch bei dem Drama um Oidipus das Orakel und die Orakelweissagungen eine ausschlaggebende Rolle. Die Orakelstätten von Ephyra und Dodona, beide im Nordwesten des griechischen Festlands, die Oase Siwa in der Westlichen Wüste Ägyptens, Didymas bei Milet, Kleinasien, und Delphi an der Südküste des griechischen Festlands gelegen, wurden über viele Jahrhunderte intensiv besucht und in Anspruch genommen. Einfache Menschen und Könige, Kaufleute und Krieger, Trauernde und Glücksuchende, Heiratswillige und Investitionsbereite wollten Ratschläge erhalten und ihr Tun an diesen Ratschlägen orientieren. Orakelstätten waren einerseits Beratungszentren und Auskunfteien, magische Plätze, an denen man mit göttlicher Hilfe in die Zukunft schauen konnte und andererseits Machtzentren. Machtzentren der jeweils dort tätigen Priesterschaften und Einrichtungen, die den Ruf des Orakelgottes oder der Orakelgöttin festigen und deren Verehrung mehren sollten.
Der bedeutendste aller Orakelgötter war Apollon. Zahlreiche Orakelstätten in Griechenland und Kleinasien waren ihm geweiht. Seine Religion war es auch, die das Orakelwesen wesentlich mitformte und ausgestaltete. Und da war es dann Delphi, das zum wichtigsten aller Apollon-Orakel wurde - ja, zum religiösen Mittelpunkt der damaligen Welt überhaupt.
Auskünfte zu religiösen und kultischen Fragen wurden dort gegeben, zu Fragen, die beispielsweise die Kolonisation Kleinasiens, Süditaliens und Siziliens betrafen. Sühnemassnahmen in bedeutenden Schuldverfahren wurden in Delphi angeordnet. Neu erarbeitete Verfassungen der griechischen Stadtstaaten oder Vertraege der sich immer wieder ändernden Städtebündnisse wurden hier abgesegnet.
Die Orakelstaetten von Didymas, Dodona, Delphi und Siwa habe ich besucht. Delphi erstmals 1979, seither viele Male. Delphi lag auf meiner Route zwischen den Fährschiffhäfen Igouminitza und Piräus, die ich anfuhr, wenn ich von Kreta nach Deutschland fuhr oder von Deutschland nach Kreta. Da konnte ich die Route über das antike Korinth waehlen oder die über Delphi. Überwiegend fuhr ich ueber Delphi.


Delphi - der Nabel der Welt



Dodona ist die älteste aller bekannten und ausgegrabenen Orakelstätten. Dodona war dem Zeus, ‚dem Alten’, gewidmet. Fernab von den Städten und ein wenig unzugänglich zwischen Hügeln und Bergen liegen die Ruinen des ehemalige Orakels. Und ein wenig geheimnisumwittert erschien mir der archaische Ort auch noch in unseren Tagen zu sein.
Delphi hingegen hatte mich von meinem ersten Besuch an wirklich fasziniert: die umgebende Landschaft, das Gebirge, die kastalische Quelle, die sichtbare Zerstörung der Orakelstätte durch ein Erdbeben und einen mächtigen Steinschlag vom aufragenden Parnass herunter - noch immer liegen die gewaltigen Felsbrocken zwischen den Ruinen -, das alles kann man heute noch sehen und erleben. Dass das endgültige Aus aber von seiner späteren Überbauung mit dem Dorf Delphi und von der christlichen Zerstörungswut gegenüber allem Heidnischen herruehrt, das erfährt man aus der Literatur. Ich jedenfalls glaubte bei manchen meiner Besuche etwas Mystisches und Spirituelles zu erleben. Ich habe einige Male in Delphi meditiert. Aber es reicht auch schon, im Dezember, Januar, Februar oder März nach Delphi zu kommen. Dann ist es fast still im Dorf, im Museum und in der weitlaeufigen Ausgrabungsstaette, und keine geführten Gruppen und Touristenbusse stoeren die Ruhe. Wenn man Glück hat, gleisst die Sonne auf den schneebedeckten Gipfeln des Parnassgebirges, der Himmel ist tiefblau, der Blick wandert hinunter auf das Plateau mit dem Gymnasium und dem Heiligtum der Athena Pronoia und noch tiefer hinab in das Tal des Pleistos, der im Winter wasserreich hinausströmt durch das silbrige Grün der olivenbestandenen Ebene nach Itea und dem violettfarbenen Golf. Dann stehst du vielleicht ergriffen und wartest. Du wartest auf Apollon, den schönen jungen Gott, den Sohn des Zeus, den Zwillingsbruder von Aphrodite, den Sender der Pest gegen die Griechen vor Troja, dem Lyra und Kithara heilig waren, dem Verkörperer der Jugend, der Kultur, der Schönheit. Dem ordnenden und klaren Geist. Dem Gott der Künste. Vielleicht wäre er gekommen. Du konntest es nur nicht erwarten.
Delphi ist unsere Orakelstätte. Es ist das Orakel, das Laios, Iokaste und Oidipus befragten. Deshalb einige Anmerkungen dazu, zu seiner Geschichte, wie es in die Welt kam und wie es funktionierte.
Jeder weiss es und der umgürtete steinerne Nabel im Museum beweist es noch heute: Delphi ist der Nabel der Welt. Der neugierige Zeus wollte wissen, wo sich der Erdmittelpunkt befindet. Von den beiden Rändern der Erdscheibe aus liess er jeweils einen Adler fliegen - den einen von West nach Ost, den anderen von Ost nach West. Sie trafen genau über Delphi zusammen. Dort befand sich auch eine Spalte im Fels, aus der Dämpfe aus dem Erdinneren ins Freie drangen, Dämpfe, die eine berauschende Wirkung gehabt haben sollen. Über dieser Erdspalte gründete man ein Orakel, das der Erdgöttin Gaia gewidmet wurde. Gaia sprach durch die mythische Sibylle zu den Menschen, und später durch Hydrophile, die man auch Pythia nannte. Der Ort wurde von dem Drachen Python bewacht, einem Sohn der Gaia. Als Apollon auf einer seiner Wanderungen nach Delphi kam, beschloss er, dort ein eigenes Heiligtum zu gründen. Dazu musste er aber erst Python toeten. Wegen dieser Untat musste Apollon eine siebenjährige Busse tun - Gaia hatte ihn dazu verurteilt. Man sieht: auch Götter durften nicht, mir nichts, dir nichts, morden, schon gar nicht den Sohn einer Erdgöttin. Erst nach diesen sieben Jahre konnte Apollon einen Tempel errichten lassen und zwar mit dem Eingang direkt neben der bereits vorhandenen Orakelstätte. Es sprach ab sofort nicht mehr Gaia durch die Pythia zu den Ratsuchenden, sondern Apollon.


Delphi - die Prophezeiungsmaschine des Apollon



Wir Menschen sind in der Regel eingespannt zwischen einer krisengeschüttelten, unsicheren, und angstbesetzten Gegenwart und einer unbekannten und deshalb grundsätzlich unheimlichen Zukunft. Wen wundert es, dass wir gerne das Dunkel der Zukunft aufgehellt hätten, um Entscheidungen, die zwangsläufig in die Zukunft hineinwirken müssen, umsichtig und richtig und mit für uns und die Unseren überschaubaren Folgen treffen zu koennen. Risikoabschätzung eben. Das Orakel als eine Handreichung zum Faellen richtiger Entscheidungen in allen uns bedeutsam erscheinenden Lebensfragen schien den Menschen der Antike das dafuer richtige Medium zu sein. Wenn die Menschen heute das Horoskop, die Schafgarbenstäbchen des chinesischen I Ging, Pendel aus Messing, Elfenbein oder exotischen Hölzern, Tarot-Karten oder Steine mit Runen oder Zahlen benützen, Würfel werfen, in Kaffeesatz lesen oder Handlinien deuten, um ihre Fragen an die Zukunft beantwortet zu bekommen, so hatten die Menschen der Antike auch allerhand wahrsagerische Mittel zur Verfügung. Davon war die Befragung von Sehern eines der stärksten - der Seher Teiresias etwa war in ganz Griechenland berühmt, aber auch berüchtigt. Das kraftvollste und verbindlichste von allen Moeglichkeiten aber war ein Spruch des Orakels. Und Delphi wurde, nachdem es von Apollon übernommen worden war, über viele Jahrhunderte das am meisten besuchte und das bedeutendste Orakel der mediterranen Welt.
Mancher mag heute glauben, Delphi sei das Orakel der Reichen und Mächtigen gewesen. Das ist nicht richtig. Delphi war auch das Orakel der Reichen und Mächtigen, der Krösus', Xerxes', Laios', Iokastes, Oidipus', der römischen Kaiser, der Städte wie Theben, Mykene, Athen, Korinth oder Ephesus. Diese berühmten Kunden waren sicher auch die Haupteinnahmequelle für die Orakelinstitution - die Schatzhäuser hinauf zum Apollontempel beweisen es. Mehr noch aber waren sie wirksame Reklame- und Marketinginstrumente, die das Orakel von Delphi in der damals bekannten Welt einzigartig werden liess, was wiederum helle Scharen zahlungskräftiger Kundschaft aus der Mittelschicht anzog. Menschen wie Oidipus, Iokaste, Laios oder Kreon waren die Popstars ihrer Zeit. Als häufige Kunden des Delphischen Orakels trugen sie zu seiner weiteren Popolularisierung bei. Im Bereich Prominenz lauerten aber auch die Gefahren für das Orakel: die die Prominenz betreffenden Orakelsprüche verbreiteten sich - auch ohne ‚Bunte’ oder ‚Spiegel Online’ - in Windeseile in der gesamten Ökumene und jeder konnte überprüfen, ob die massgeschneiderten, von der Pythia gestammelten und von den Orakelpriestern in eine verständliche Sprache übertragenen göttlichen Offenbarungen nun tatsächlich eintrafen oder nicht. Das hatte zweierlei Folgen: zum einen wurden viele der Weissagungen so vieldeutig formuliert, dass rückwirkend bald jede Art von Entwicklung daraus abgelesen werden konnte. Eine Praezisierung eines Orakeltextes wurde nicht nachgereicht. Zum anderen errichtete die Orakelpriesterschaft ein Netz von Informanten und Spionen, die besonders an den Höfen und Machtzentren der griechischen Welt und deren Nachbarstaaten der Informationsbeschaffung nachgingen. Es muss Zeiten gegeben haben, in denen Delphi die bestinformierte Institution der ganzen damals bekannten Welt war. Nur so konnte man die göttlichen Offenbarungen und die daraus abgeleiteten hausgemachten Interpretationen einigermassen wirkungsvoll fundieren.
Vor dem Orakel war jeder Mensch gleich, nimmt man vielleicht an. Stimmt nicht. Nur neun Mal im Jahr wurde unter Mitwirkung einer Pythia geweissagt. Ensprechend gross war der Andrang. Viele mussten von weit herkommen und lange auf einen Orakeltag warten. Und andere waren reich und wichtig und prominent oder alles miteinander. Diese Gruppe konnte - gegen Geld natuerlich - die sogenannte ‚Promantie’ bekommen, eine Vorzugsbehandlung gegenüber den anderen Auskunftsuchenden. Man kann das gut mit der Situation in einer heutigen Arztpraxis vergleichen und mit der Vorzugsbehandlung von Privatpatienten und Barzahlern.
An den Orakeltagen wurde die Pythia zur Kastalische Quelle geführt, wo sie sich gründlich wusch. Die Nacht zuvor hatte sie auf einem Bett aus Lorbeerblättern geschlafen. Lorbeerblätter kauend ging sie dann hinauf zum Tempel. Dem Lorbeer wurde reinigende und mantische - das ist wahrsagerische, hellseherische - Wirkung zugeschrieben; mantisch kommt vom griechischen mantaion, der Stätte, an der man sich von einer Gottheit Antwort auf eine gestellte Frage erbat. Die Römer nannte diese Stätte und das Produkt später ‚oraculum’, wovon sich unser heutiges Orakel ableitet.
Im Tempel des Apollon, im Allerheiligsten, stand das für das Orakel von Delphi so wichtige Instrument, das wir häufig mit dem Orakel selbst gleichsetzen: der heilige Dreifuss. Abgeleitet von der heute noch gebräuchlichen Vorrichtung zum Aufhängen eines Kochkessels, war es ein dreibeiniges Gestell aus Bronze, das auf seiner Spitze eine flache Bronzeschale trug. In dieser Schale sass, lag, oder sagen wir: lagerte, die Pythia, so, dass sie nicht herunterfallen konnte - auch wenn sie noch so berauscht war. Für den Fall der Fälle waren an der Schale bronzene Halteringe angebracht, die für ausreichende Sicherheit der Pythia sorgen sollten. Unter dem Dreifuss wurden über einem Feuer besondere Hölzer und Kräuter verbrannt, und so stieg betörender Rauch zur Pythia auf. Der berauschte und ekstatische Zustand der Pythia ist ein Hinweis darauf, dass nicht sie selbst bewusst die Orakel sprach, sondern dass sie in ihrer Trance von Apollon erfüllt wurde und er durch sie sprach. Sie redete also nicht selbständig, sondern war während des Orakels ein Werkzeug des Gottes - sein Medium.
Die Pilger, die Ratsuchenden, hatten sich ebenfalls an der Kastalischen Quelle zu reinigen. In einer Prozession ging man - zusammen mit dem ‚Propheten’, dem Hohepriester und den Priestern, - hinauf zum Tempel, opferte auf dem Altar vor dem Tempel dem Gott Apollon. Entsprechend der ‚Promantie’ oder in einer durch ein Losverfahren ermittelten Reihenfolge wurden sie zum Orakel vorgelassen dann - einer nach dem anderen - von dem Propheten in das Allerheiligste geführt. Hier stand der Dreifuss, in dessen Schale die Pythia sass oder lag. Ausser ihr hatte keine Frau Zutritt zum Allerheiligsten. Der Fragesteller hatte in einer Ecke des Raumes Platz zu nehmen und musste reine Gedanken denken und gut gemeinte Worte sprechen. Er konnte die Pythia nicht sehen, während sie sich in diesem geheimnisvollen, ekstatischen Zustand befand - der Dreifuss stand hinter einer Trennwand. Der Prophet, der amtliche Begleiter des Fragestellers, hatte bereits vorher dessen Frage mündlich und schriftlich erhalten, klar und deutlich formuliert und trug diese jetzt der Pythia vor. Diese soll in Trance oder im Rausch, schreiend, unverständlich und zusammenhanglos geantwortet haben, was den Propheten dazu zwang, die Antwort erst zu interpretieren, dann zu formulieren und schliesslich niederzuschreiben. Der Fragesteller erhielt eine schriftliche Antwort - vorgeblich den unfehlbaren Ratschlag des Gottes Apollon selbst. Hatte der Fragesteller Apollons Antwort erhalten, verliess er den Tempel und hatte nun die Möglichkeit, die dunklen und vieldeutigen Zeilen für sich selbst auszulegen. Nur die Zukunft konnte die eine oder andere mögliche Auslegung bestätigen oder widerlegen.
Das Orakel hüllte sich bei bestimmten Anfragen, insbesondere bei politischen Fragen oder Fragen zu Krieg und Frieden, absichtlich ins Dunkel und hinterliess den Frager mit einer mehrdeutigen Antwort. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Orakel des Kroisos, Krösus: Als Krösus vorhatte, Krieg gegen Kyros zu führen, holte er erst die Meinung des Orakels von Delphi ein. ‚Wenn Kroisos den Fluss Halys überschreitet, wird er ein grosses Reich zerstören’, weissagte ihm das Orakel. Krösus legte den Spruch entsprechend seiner eigenen Interessenlage aus, setzte mit seinen Soldaten über den Halys und griff Kyros an. Aber nicht das Perserreich des Kyros wurde in diesem Feldzug zerstört, sondern Lydien, das Reich des Krösus. Schlecht gelaufen.
Der Zuspruch des Orakels von Delphi war so gross, dass an den neun Orakeltagen im Jahr die Fragen all der angereisten einfacheren Pilger und der Promantie nicht bearbeitet werden konnten. Deshalb belebte die Orakelverwaltung wieder das Los-Orakel, das Verfahren der heiligen Lose, wie es bereits in vorhistorischer Zeit üblich gewesen war. Es soll vom jungen Apollon selbst erfunden worden sein und sich auf die Nymphen beziehen, die einst den Parnass bewohnten. An den Tagen, an denen die Pythia nicht auf dem Dreifuss sass - und das waren, wie wir nun wissen, die allermeisten im Jahr - diente das Los-Orakel als Ersatz, als kleines Orakel gewissermassen, vielleicht auch als das Arme-Leute-Orakel. Auf jeden Fall gibt es nur wenige schriftliche Zeugnisse über das Los-Orakel, ausser dass die Lose vermutlich Kerne waren, die dem Kessel des Dreifusses entnommen wurden und dass es sich um ein einfaches Ja-Nein-Orakel handelte. Das liess das Los-Orakel vermutlich nicht besonders attraktiv erscheinen.
Im 5. Jahrhundert v.u.Z. - den Zeitraum, den wir die griechische Klassik nennen - kam die ‚Aufklärung’ nach Griechenland und mit ihr die Kritik an Aberglaube und Götzendienst. Das bis dahin etablierte Orakelwesen wurde von der Kritik nicht nur nicht verschont, sondern ganz gezielt angegriffen. Ein allmählicher Niedergang war die Folge. Die Orakel verloren ihre bedeutenden Klienten und wurden mehr und mehr zu Wahrsageeinrichtungen nur des einfachen Volkes. Im zweiten Jahrhundert u.Z. erlebte manche Orakelstätte unter den Römern noch einmal einen Aufschwung. Die Römer fanden ja überhaupt die Kulturleistungen derer, die vor ihnen die Welt oder Teile davon beherrschten, interessant und neigten zur Übernahme oder Nachahmung. Etrurien, Phönikien, Punien beziehungsweise Karthago, Ägypten, Kreta, Griechenland, Kleinasien: das römische Liktorenbündel könnte man also nicht nur als Symbol der Macht Roms, sondern auch als ein Sinnbild der alten römischen Kultur interpretieren – als ein Bündel von Übernahmen aus älteren Kulturen. Fraglos ist das ebenfalls eine Kulturleistung.
Vielleicht noch wichtig zu erwähnen ist die Tatsache, dass das Orakel von Delphi auf Befehl des christlichen Kaisers Theodosius im Jahr 393 u.Z. geschlossen wurde. Plünderungen und Naturkatastrophen zerstörten nach und nach das alte Delphi, das noch bis ins 7. Jahrhundert u.Z. von einer christlichen Gemeinde bewohnt wurde. Dann gab man es auf.
In vorgeschichtlicher Zeit gegründet, in mykenischer Zeit wachsend, ab dem 8. Jahrhundert v.u.Z. von zunehmender Bedeutung für die ganze Ökumene, noch in römischer Zeit befragt, war das Orakel des Apollon von Delphi von grösster Bedeutung. Für die Heroinen und Heroen vor, um und nach Oidipus war es Initiator und Motor zugleich, Kompass und Irrefuehrer und der fortwaehrende Beweis für die Willkür der Götter und die Ohnmacht der Menschen.


Das Orakel in Laios' Schlafzimmer



Also, das war’s: beladen mit dem Fluch des Pelops kehrte Laios zurück nach Theben. Was war der Fluch gleich noch einmal? Richtig: nie dürfe er einen Sohn zeugen. Täte er es dennoch, würde er von diesem ermordet werden. Belastet mit einem solchen handicap schreitet man nicht vor den Traualtar. Doch die Ehe zwischen Laios und Iokaste war aufgesetzt, wahrscheinlich von langer Hand geplant. Jetzt wollte sie geschlossen werden. Und vollzogen. Also heirateten die beiden Nachkommen hochgeehrter und verdienter Voreltern. Iokaste war auf Kindersegen aus. Natürlich wollte sie die Geschlechterlinie, fortsetzen, ausgehend von Kadmos und Harmonia. Laios war eher zurückhaltend: der Fluch des Pelops und die beständige Unterdrückung seiner Liebe zu Chrysippos wirkten nicht als Aphrodisiakum in der jungen Ehe. Die Zeugung klappte nicht. Iokaste wurde und wurde nicht schwanger. Sie und Laios konnten kein Kind bekommen. Warum nicht? Was war passiert? Was wirkte dagegen?
Können Sie sich an die wunderbare Verfilmung des Amphitryon-Themas erinnern? Adele Sandrock als Hera, die Gattin des Zeus, Willy Fritsch als der Weiberer Zeus, der in die Rolle des jugendlichen Helden Amphitryon schlüpft, um dessen attraktive Frau Alkmene zu verführen? Deutscher Film 1935? Vielleicht der speziellen Achsenbeziehung zwischen Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien wegen, griff man allerdings auf die römischen Varianten Jupiter und Juno zurück. Die Sandrock spielte die Juno (Hera) als alte, runzelige, unansehnliche, eifersüchtige, keifende Alte - das Urbild der betrogenen Ehefrau. Die Wirklichkeit im olympischen Götterhimmel aber war eine andere: Hera war die hochgeachtete, attraktive ältere Schwester und Gattin des Zeus, Tochter der Rhea und des Kronos, selbstzeugenden Mutter des Typhaon, des Hephaistos und des Ares, der Hebe und Eileithyia, Herrin unter den Göttinnen und verehrt als Göttin der Familie. Ja, sie war sehr eifersüchtig und litt unter Zeus' unendlichen und im Wesentlichen peinlichen oder lächerlichen Eskapaden und unter den Fluten von Samen, den er nicht in ihrem, sondern in den Schössen zahlloser Frauen jeder Art und Herkunft verstroemte. Hera suchte Erfüllung in dieser Ehe, nicht nur in der Rolle der Mutter. Und er, Zeus, wollte nur verführen und mit anderen Frauen Kinder zeugen.
Hera war aufmerksam geworden auf Laios. Nicht der Knabenliebe des Laios wegen, nein, deshalb nicht. Homoerotische und homosexuelle Beziehungen gab es genug unter den Göttern und unter den Menschen - das war es nicht, was sie hätte aufbringen können. Aber als die hochgeachtete Göttin der Familie konnte sie und wollte sie die Verführung und die Entführung des jungen Chrysippos durch Laios nicht einfach hinnehmen. Auch dass sich Laios opportunistisch kurzerhand von Chrysippos wieder trennte, ihn fallen liess und Iokaste heiratete, als die Situation für ihn schwierig wurde, und dass ihn Iokaste zum Mann nahm, von Laios' Liebe zu Knaben und vom Fluch des Pelops wissend, sprach gegen das Königspaar von Theben. Es hatte eine zu leichtfertige Auffassung von der Ehe, befand Hera. Auch der Schmerz des Pelops und der Hippodameia - wenn diese auch nur Chrysippos' Stiefmutter war - bedrückten Hera. Und so schickte sie die Unfruchtbarkeit in den Königspalast. Heras Einmischung und Abstrafung die Unfruchtbarkeit von Laios und Iokaste zur Folge.
Iokaste war verzweifelt. Ihr weibliches Gespür aber und das Wissen um die unselige Vorgeschichte ihres Gatten, liess bei ihr den Verdacht aufkommen, dass irgendwelche olympischen Gottheiten die Hände im Spiel haben könnten. Deshalb bat sie Laios, nach Delphi zu reisen und das Orakel des Apollon zu befragen. Sie wollte herausfinden, warum sie unfruchtbar waren.
Laios erfüllte ihr den Wunsch und machte sich auf den Weg. Als König von Theben genoss er sicher das Privileg der Promantie. Das änderte aber nichts an der starken Reaktion der Pythia. Sie wandte sich ab. Mit Grausen? Ihr Geschrei und Gestammle wurde von dem Propheten aufbereitet und aufgeschrieben. Der Spruch lautete: ‚Hüte dich davor, einen Sohn zu bekommen. Solltest du einen Sohn bekommen, wird er dich töten’. Über Reaktion von Laios gibt es kein Zeugnis. Er machte sich auf den Rückweg, erreichte Theben und überbrachte Iokaste die Antwort des Orakels.
Iokaste erschrak heftig. Erst einmal über die Klarheit und Direktheit der Aussage. Da gab es nichts mehr zu herumzuraten oder zu deuteln. Aber: in einer solchen Eindeutigkeit äusserte sich das Orakel nur selten. Hatte Laios die Antwort etwa selbst erfunden? Um sich vom gemeinsamen Bett fernhalten zu können? Sie hatte seine Liebe zu Chrysippos nicht vergessen. Natürlich nicht. Wollte er diese Liebe neu beleben? Auch Laios musste an einer Nachfolge für den Königsthron interessiert sein. Auf Kosten seines eigenen Lebens? Iokaste, die verständnisvolle und auf Harmonie bedachte Frau, lenkte ein. Sie stimmte seiner Forderung zu, nie wieder das eheliche Lager teilen zu muessen. Sie wollte das Leben ihres Mannes nicht ihrem Kinderwunsch und ihrer Lust opfern. Zumindest wollte sie es versuchen. Sie wollte sexuell enthaltsam leben. So verständigten sich Iokaste und Laios, und so vereinbarten sie sich. Iokaste und Laios, das Königspaar von Theben. Die Eltern von Oidipus.


Alle Probleme beginnen im Alkoven



Also hat etwas doch nicht so geklappt, wie ausgemacht? Von wegen keinen ehelichen Beischlaf mehr! Von wegen kein Kind zeugen! Denn so, wie es noch heute ist, war es schon bei den Alten: der Geist war willig ...
Laios verweigerte den ehelichen Geschlechtsverkehr wie vereinbart, und Iokaste duldete den Zustand wie versprochen. Aber sie litt sehr darunter. Gross war ihr Wunsch nach Kindern und gross war ihre sexuelle Not. Als sie glaubte, den Druck aus beiden Richtungen nicht mehr aushalten zu können, ergriff sie eine List: eines Abends animierte sie Laios, mehr Wein als gewöhnlich zu trinken, ja, absichtsvoll machte sie ihn volltrunken, schaffte ihn ins Bett und brachte ihn auch noch dazu, sie zu begatten. Wie ihr das gelang, dem trunkenen Laios zu einem ausreichend steifen Glied zu verhelfen und dann auch noch zu einem Samenerguss in ihrem Schoss - das wurde für immer Iokastes Geheimnis. Doch dass sie es schaffte, sagt uns mythologische Überlieferung.
Oder aber vielleicht: nichts ist stärker als der Geschlechtstrieb, auch wenn er von Todesangst und Alkoholrausch gezuegelt scheint. Auf jeden Fall passierte das kleine Wunder. Damit das Schicksal und die Handlung ihren Lauf nehmen konnten, empfing Iokaste den Samen des Laios und wurde schwanger. Auf einmal ging es. Nur verhalten dürfte ihre Freude über diesen Umstand gewesen sein. Laios aber war entsetzt. Die Chancen standen 50 zu 50, dass Iokaste einen Sohn zur Welt bringen würde, den Sohn, der ihn, den Vater, ermorden würde. Kein Zweifel, keine Frage: so hatte es das Orakel in Delphi vorhergesagt.


Laios der Schreckliche



Rückwirkend erscheint Laios uns Heutigen ohnehin wie ein arg verdammenswertes Exemplar Mensch. Oder Mann. Wenn man aber die moralischen Grenzen etwas weiter zieht, beziehungsweise mit weniger Vorurteilen behaftet auf ihn schaut: was hatte er denn bis dahin schon gross verbrochen? Er hatte seine Liebe zu Chrysippos entdeckt und sich als Päderast geoutet. Die Entwicklung der Knabenliebe in Griechenland hat ihn rückwirkend bestätigt. Dass er Chrysippos dessen Familie entführte, hat sich auf der Ebene des Brautraubes unzählige Male zugetragen und ist vielleicht auch als Ausdruck seiner starken Liebe zu dem Knaben zu entschuldigen. Nicht ganz freiwillig löste er dann die Beziehung zu Chrysippos wieder auf, als der Fluch des Pelops auf ihm lastete. Dass Laios dem jungen Chrysippos kein körperliches Leid zufügte, muss erwähnt werden. Dass Männer aus falsch geleiteten Überlegungen heraus heiraten, oder eine Frau heiraten, der sie nicht wirklich zugeneigt sind, oder eine Frau heiraten, obwohl sie doch eigentlich Knaben lieben - auch das können wir nachsehen. Wer weiss schon, wie diese und warum jene Ehe gestiftet wurde und welche Hindernisse bereits im Vorfeld bestanden. Es hatte wohl eher mit dem Fluch des Pelops zu tun, dass Laios an einer sexuellen Beziehung mit Iokaste nicht mehr sehr interessiert war. Nein, das alles reicht nicht aus, Laios zu dem Schurken zu machen, den unsere geballte Verachtung treffen darf.
Es ist der Plan und seine konsequente Ausfuehrung, die uns rasend machen, die jedes Verständnis für den Mann rauben. Der Plan und dessen Umsetzung nämlich, das Neugeborene, wäre es denn ein Knabe, in der Wildnis auszusetzen und ihm damit seinem Tod preiszugeben oder zumindest billigend in Kauf zu nehmen. Das heisst, nicht einmal selbst zum Mörder an dem maennlichen Neugeborenen wollte er werden, sondern nur zu seinem feigen Beihelfer. Denn mit dem Tod musste das Unternehmen enden, wollte Laios dem Orakelspruch entgegenwirken. Das heisst, die Weissagung des Apollon-Orakels wurde so ernst genommen wie sie gesprochen war. Daran gab es nichts mehr zu deuten, nachzubessern, nachzuverhandeln. Laios würde von seinem Sohn ermordet werden. Das glaubte er nicht nur, das wusste er. Die Worte des Orakels waren Gesetz und nicht anzuzweifeln. Sein Leben gegen mein Leben, könnte der beherrschende Gedanke gewesen sein, der Laios während der gesamten unglückseligen Schwangerschaft Iokastes verfolgte. Ihr Leben gegen mein Leben - das gab es nicht. Von einer Tochter hatte er nichts zu befürchten. Es sind immer die Söhne, die die Väter töten. Die Mythologie zeigt es uns. Iokaste, der es wohl in erster Linie darum ging, überhaupt Kinder zu empfangen, auszutragen und gesund auf die Welt zu bringen, wäre auch mit einer Tochter zufrieden gewesen. Einen Sohn? Unter anderen Umständen unbedingt. Aber sie wollte ihrem Laios nicht ans Leben, dem Laios, dem sie selbstsüchtig den Samen geraubt hatte - die Vereinbarung missachtend.
Man darf sich hier nichts vormachen: mit der geplanten Kindsaussetzung wollte Laios dem neugeborenen Knaben keine Chance zum Überleben lassen. ‚Aufgezogen von einer Wölfin’, ‚Von einem Hirten gerettet’ ‚Von Pflegeeltern angenommen und geliebt’ - nein, nein: das sind Bildzeitungs-Überschriften. Er wollte den Knaben tot haben. Er wollte nur nicht von eigener Hand zum Mörder werden, und er hatte andererseits wohl nicht die Möglichkeit, einen Untertanen zu einem Kindsmord - noch dazu an einem Königssohn - zu überreden oder zu zwingen.


Anmerkungen zum Thema 'Kindsaussetzungen'



Egal, welche Haltung wir gegenüber Laios einnehmen, dessen ganzes Denken und Empfinden dürfte sich reduziert haben auf: Ich oder der Knabe. Mein Hemd ist mir näher, als die Jacke. Mein Leben gegen seinen Tod. Noch bevor wir uns von dem Drama weiter forttragen lassen, hier einige Anmerkungen zum Thema Kindsaussetzungen.
Betrachtet man die Mythen und Märchen in verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten, dann fällt auf, dass die Aussetzung von Kindern - Neugeborenen oder Heranwachsenden - als Thema immer wieder auftaucht. Ihre kulturelle Herkunft und ihre Entstehungsgeschichte mag unterschiedlich sein, aber immer verweisen diese zu Herzen gehenden Geschichten auf vergleichbare Motive, die zu Aussetzungen von Kindern führten: die Eifersucht eines Eltern- oder Stiefelternteils auf das Kind bei ‚Schneewittchen’; die Armut und Hoffnungslosigkeit der Lebensumstände bei ‚Hänsel und Gretel’; die Angst, durch das eigene Kind getötet zu werden bei ‚Oidipus’.
Dazu kommen Gründe, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Zivilisationsgeschichte ziehen: die unerwünschte, oftmals verheimlichte Schwangerschaft; die Geburt eines kranken oder missgebildeten Kindes; unklare, anzweifelbare Vaterschaft; die Geburt an einem Unglueckstag oder in einer insgesamt Unheil verheissenden Situation. Im Roemischen Recht beispielsweise war die Aussetzung Neugeborener als Ganzes erfasst und geregelt worden. Aussetzungen waren erlaubt. Die Kinder mussten an einem bestimmten Ort ausgesetzt werden – zum Beispiel an der sogenannten ‚Milchsäule’ auf dem Marktplatz. Dort konnten sie von Pflegeeltern übernommen werden, die sie dann später häufig als Sklaven hielten, auch wenn diese als frei Geborene rechtlich ihren Status als Freie eigentlich nicht verlieren konnten. Den Christen galt die Aussetzung und der damit möglicherweise in Kauf genommene Tod eines Kindes als ein Verbrechen vor Gott.
Auch in unseren demografisch alternden Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts loesen die Aussetzungen von Kindern tiefe Gefühle der Abscheu und der helfenden Anteilnahme aus. In Deutschland will man mit sogenannten ‚Babyklappen’ verhindern, dass Neugeborene unkontrolliert ausgesetzt werden. Den Müttern wird zugesichert, dass sie dort anonym und ohne Angst vor einer Bestrafung ihr Baby abgeben können. Oft arbeiten die Babyklappen direkt mit Krankenhäusern oder Kinderheimen zusammen.
Gleichzeitig entstand die Idee der anonymen Entbindung, das heisst, der werdenden Mutter wird die Möglichkeit der ärztlich und krankenhausmässig betreuten Entbindung angeboten, die vermeidbare negativen Folgen einer heimlichen Geburt bei Mutter und Kind verringern helfen sollen. Nach der Geburt kann die Mutter die Klinik ohne ihr Neugeborenes anonym wieder verlassen. Gerade die anonyme Entbindung enthält neben medizinischen Überlegungen auch die Aspekte vom Wert eines neugeborenen Lebens in unserer geburtenschwachen Gesellschaft und auch den Druck, der von kinderlosen, adoptionswilligem Paaren ausgeuebt wird.
Noch einmal zurück zum Thema Kindsaussetzungen in Mythen und Märchen. Es gibt zahlreiche Wiederholungen, wenn es darum geht, die Art und Weise zu beschreiben, wie Kinder ausgesetzt wurden: auf einem Fluss, einem See oder im Meer; in einem steuerlosen Schiff, einem Kasten, einem Glaskörper, dem berühmten Schilfkörbchen, einer Schachtel, einem goldenen Kasten, einem Floss aus Schilf – beim Lesen und Schreiben fiel mir auf, dass das Ganze auch immer etwas Embryonales an sich hat, das Ungeborene ist von Wasser umgeben, in der Fruchtblase, geschützt im Mutterleib, umgeben vom Fruchtwasser. Jetzt sind alle die Schachteln, Körbchchen oder Kästchen in Freuds Traumsymbolik Zeichen für das Weibliche. Geht es beim Thema Aussetzung auch um ein tief verankertes Grundwissen, nämlich mit der Geburt aus dem paradiesischen Urzustand vertrieben worden zu sein? Ausgetrieben? Ausgesetzt?
Ebenfalls auffällig oft genannt wird der andere Bereich, in den Kinder ausgesetzt wurden: die Wildnis und der Wald. Keine rechten Orte für das Überleben von Neugeborenen - voll von wilden Tieren und unheimlichen Wesen. Aber gerade von ihnen kommt manchmal die Rettung: von den Wölfen, von diesen besonders oft, von einem Adler, einem Kentauren. Sind Tiere vielleicht doch die besseren Menschen?
An dieser Stelle nicht zu vergessen ist die Rolle, die ‚der einfache Mann’ in den Märchen und Mythen spielt. Er hat sich trotz oder wegen seiner schwierigen Lebensumstände ein Herz bewahrt, er hat sein Herz nicht vollends versteinern und gefühllos werden lassen. Er bringt es in der Regel nicht über sein Herz, ein Neugeborenes tatsächlich gleich zu toeten oder auszusetzen. Er lässt es leben, er übergibt es den fuersorglichen Tieren im Wald oder er reicht es weiter an einen guten Menschen, oft an Adelige oder Könige sogar, die in der Folge das Neugeborene an Kindes Statt annehmen, es nähren, kleiden, lieben und grossziehen.
Die existenzielle, menschliche Angst, aus der Mutter vertrieben, ausgetrieben zu werden und ausgesetzt in eine wilde, lebensfeindliche Welt, von artfremden Wesen vor dem Tod bewahrt und möglicherweise von Stiefeltern aufgezogen zu werden und geplagt von der Frage: wer bin ich?, wer bin ich wirklich? - das scheint ein Thema zu sein, das uns nicht nur während der Pubertät plagt. Das Gefühl, fremd zu sein im eigenen Haus oder im vermeintlich eigenen Haus fremd zu werden, wird uns in den Dramen um Laios, Iokaste, Hera, Apollon, der Sphinx, Teiresias, Polyneikes, Antigone und all den anderen drastisch vor Augen geführt.


Heisst geboren werden sterben?



So sah nun also die Geschichte aus: Iokaste war niedergekommen und aus der 50:50-Situation war schlagartig eine 0:100-Situation geworden: Iokaste hatte einem gesunden Buben das Leben geschenkt, einem Knaben ohne besondere Kennzeichen, aber gesund und munter von der Art, dass sich jeder Vater in Griechenland von Herzen darüber gefreut hätte. Doch Laios' Herz war wie versteinert. An ihm würde sich nun das Orakel erfüllen. Sein Sohn würde ihn - auf welche Weise auch immer, wo auch immer und wann auch immer - umbringen. Das war seine von den Göttern vorgezeichnete Bestimmung. Und Laios hatte sich während Iokastes Schwangerschaft längst für das Hemd und gegen die Jacke entschieden. Nicht er wollte sich von dem Sohn töten lassen, sondern der Sohn sollte getötet werden: nicht direkt von Laios' Hand, sondern durch die Umstände, durch die Lebensfeindlichkeit der Natur, durch die Wildnis. Durch eine Aussetzung.
Auf diesen Plan hatte er sich festgelegt und auf diesen Plan, wenn man bei einem so simplen Entschluss überhaupt von einem Plan sprechen mag, hatte er auch die Mutter des Neugeborenen eingeschworen. Warum sie sich an der Untat beteiligte, sie duldete, darüber schwieg - darüber wird in den Texten nichts gesagt. Wahrscheinlich ist, dass sie aus Scham über ihre nicht ausreichend unterdrückte sexuelle Begierde und aus dem Schuldgefühl ihres ungezügelten Wunsches nach Kindern, entgegen ihrem Willen und gegen die ihr eigene Mütterlichkeit, dem Laios klein beigegeben hat. Das weibliche Prinzip, das sich oft dem männlichen Prinzip unterordnet. Auf jeden Fall verhielt sie sich passiv und hinderte den Mann Laios nicht daran, seine Absicht zu verwirklichen.
Eichmann hat nie selbst einen Juden, einen Homosexuellen, einen Sinti oder einen Roma oder einen Kommunisten erschossen oder vergast. Hitler auch nicht. Auch nicht Göring, Goebbels, Himmler, Bormann, Hess, Heydrich, Speer und all die anderen. Sie alle wollten und mussten sich die Finger selbst nicht schmutzig machen und delegierten die Greueltaten an andere, an Untergeordnete, an Subalterne, an Befehlsempfänger. Zum Schluss waren sie angeblich alle nur Befehlsempfänger gewesen und beriefen sich auf einen sogenannten Befehlsnotstand. Das Delegieren schaffte Distanz zwischen Absicht, Plan und Tat und entlastete scheinbar die geistigen und politischen Anstifter zum Grauenhaften und entlastete die, die innerhalb einer solchen Befehlskette ganz oben standen. Und auch die weiter unten.
In dem Konflikt zwischen Laios, dem Vater, und Oidipus, dem Sohn, ging es nicht um das managerielle und bürokratisch perfektionierte Vernichten von Millionen von Menschenleben. Natürlich nicht. Es ging nur um einen Vater, der sich seines einzigen, neugeborenen Sohnes entledigen wollte. Und das für immer. Das Prinzip der Delegation aber war das Gleiche und auch das der Befehlskette und auch die Stellung innerhalb der Befehlskette: er, Laios, oben - andere, hier ein Diener, ein Knecht, unten. Einem seiner Knechte nämlich, der in der Hauptsache als Schäfer für ihn arbeitete, übertrug er die Aufgabe, den Neugeborenen in die Wildnis hinauszutragen und ihn dort sich selbst zu überlassen. Apollon war das Orakel. Das Orakel gehorchte Apollon. Laios gehorchte dem Orakel. Iokaste gehorchte Laios. Der Hirte gehorchte Laios und Iokaste. Erst einmal. Aber dann durchbrach er die Befehlskette: er gehorchte seinem Herzen. Er, der Hirte.
Hitler gehorchte - wie jeder Maniker - dem Geist der sogenannten Vorsehung. Er gehorchte auch den Intuitionen, die sich wohl aus den Quellen seines manisch-depressiv Seins speisten. Göring, Goebbels, Himmler, Bormann, Hess, Heydrich, Speer und all die anderen gehorchten Hitler. Alle Untergeordneten gehorchten dem Führer und der Führung. Durchbrochen wurde die Befehlskette im Grunde fast nie. Erst später kam es zu einigen wenigen Versuchen. Mangelhaften Versuchen. Gescheiterten Versuchen. Die auch mehr von der Angst vor den Folgen aus der militärischen Niederlage Nazideutschlands genährt wurden als von dem Grauen der gnadenlos effizient arbeitenden Maschinerie der ‚Endlösung’.
Laios wollte sein Söhnchen nicht nur aussetzen - nein, er durchstach ihm vorher noch beide Füsschen. Das erscheint uns so abartig, dass wir es nicht verstehen koennen und keine nachvollziehbare Erklärungen für diese grauenvolle Tat finden. Wir wollen sie wenigstens verstehen lernen.
Ich sah einmal junge halbierte Forellen zum Trocknen auf Weidenruten gefädelt. Auch Geflügel an Haken im Schaufenster eines chinesischen Supermarktes ausgestellt. Hasen, Lämmer, Schafe, Ziegen zum Abdecken aufgehängt. Die durchstochenen Füsschen erinnern mich an diese Bilder: Haken, blankgelegte Sehnen, blaeuliche Haut ueber duennen Knochen. Hängen. Aufhängen. Aushängen.
Manche setzen bei ihrer Interpretation des Oidipus-Textes die Wundmale an den Füsschen des Neugeborenen mit den Wundmalen Christi in Beziehung. Warum? Wo sind die durchgenagelten Hände bei dem Kind? Wo ist die Wunde durch den Lanzenstich? Wo sind die blutigen Schrammen, die die Dornenkrone hinterliess? Wo ist der Erloesungsaspekt, der das Leiden Christi begruendet?
Andere sprechen von der Furcht des Laios, dass ein Geist des Neugeborenen ihn nach dessen Tod für immer verfolgen koennte. Also durchstach Laios dem Knäblein die Füsse und band sie mit einer goldenen Spange zusammen. Damit wollte er den Geist des Neugeborenen bannen. In der altägyptische Religion spielte das ‚ka’ eine wichtige Rolle. Das ‚ka’ war Ausdruck des Geistig-Seelischen eines jeden Menschen, das, was blieb, wenn das Leibliche abgestorben war. Nach dem grossen Sühnegericht vor den Göttern und der Wiederauferstehung schlüpfte das ka gewissermassen zurück in die wohlpräparierte menschliche Hülle. Deshalb der ganze Aufwand mit den Mumien und den Mumienmasken auf den Sarkophagen: nur wenn das ka ‚seinen’ Leichnam wiedererkennen und wiederfinden konnte und sich die Mumie in einem ordentlichem Zustand befand, konnte das ka, zusammen mit der menschlichen Hülle, wieder auferstehen.
Der Kontakt zwischen Ägypten und Griechenland war lange Zeit sehr intensiv, besonders der mit dem minoischen Kreta. Ägyptische Papyri zeigen es uns: Jahr für Jahr huldigten kretische Abordnungen dem jeweiligen Pharao. Bis etwa 1400 v.u.Z.: da explodierte der Vulkankegel auf Santorin und rief ein gewaltiges Seebeben hervor, das unter anderem weite Teile Kretas verwüstete. Nachfolgende kriegerische mykenische und dorische Stämme aus dem Norden, Archaier genannt, überzogen die Insel mit Kriegen und gaben dem minoischen Reich den Rest. Zwar wurden einige der zerstörten Palaststädte noch einmal aufgebaut - Knossos und Festos zum Beispiel - aber so rechte Lust, weiterhin bei den Pharaos in Aegypten vorstellig zu werden und Geschenke bei ihnen abzuliefern, hatte von da an niemand mehr. Auf jeden Fall tauchten die Kreter – und damit die Griechen – seither auf den ägyptischen Papyris nicht mehr auf.
Wie auch immer: mit dem Austausch von Handelswaren wurden auch religiöse Überzeugungen und Lebensstile mittransportiert, und so kann es tatsächlich sein, dass Laios mit dem Durchstossen und Fesseln der Babyfüsschen den Geist, das ‚ka’, des Kleinen bannen wollte. Eines hatte diese grauenvolle Misshandlung auf jeden Fall zur Folge: das Kind erhielt einen Namen, der sich auf die Wunden und ihre Folgen bezogen. Der Knabe wurde Schwellfuss genannt - auf griechisch ‚Oidipus’.


Du bist mein Sohn ...



In seiner Selbstanalyse, die sich über viele Jahre erstreckte, entdeckte Sigmund Freud zu seiner Verblüffung, dass unter einer Oberfläche aus Liebe und Verehrung seinem Vater gegenüber Angst, Kritik, Unverständnis, Verachtung, ja sogar Hass lagen und der Wunsch, den Vater zu überwinden, ihn zu verdrängen. Lange Zeit hielt er seinen wesentlich älteren Stiefbruder Emanuel für seinen Vater. Von der Analyse dieser Verwirrtheit ausgehend, kam Freud zu dem Ergebnis, dass die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen - von beiden Seiten ausgehend - alles andere als einfach und einfach zu leben seien. Diese geheimnisvollen Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen drückt sich einerseits in dem Wunsch der Väter nach einer ununterbrochnen Generationenkette aus. Der Erstgeborene, zu dessen Geburt in alter Zeit und in Teilen der Welt auch heute noch eine Ziege, ein Schaf oder ein Kalb geschlachtet und ein Fest veranstaltet wurde und wird, der Stammhalter, der Erbe - spielte in der Menschheitsgeschichte immer eine grosse Rolle.
Die Heilige Schrift des Christentums liefert gleich mehrere Beispiele für positive Vater-Sohn-Beziehungen. Da ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Die Liebe des Vaters zu dem schwierigen, aus allen sozialen Bindungen herausgefallenen Sohn, der sich davongemacht und in der Welt herumgetrieben hatte und dem Vater Kummer und Schande bereitete - dieser Sohn kam ausgehungert, zerlumpt und verarmt zurück in das Haus des Vaters. Der Vater erkannte ihn, verzieh ihm, nahm in ohne Umstände wieder auf und veranstaltete sogar ein Freudenfest zu Ehren des verloren geglaubten und nun zurückgekehrten Sohnes. Verstaendlicherweise beklagte sich der ältere Sohn, der ältere Bruder, der über die Jahre ohne Murren mit und für den Vater gearbeitet hatte. Doch der Vater wies die Vorwürfe zurück und sagte zu dem Erstgeborenen: ‚Du sollst fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden’. Ein ‚Er ist mein erstgeborener Sohn, er ist mein Fleisch und Blut, er ist Fleisch von meinem Fleisch’ - etwas zutiefst Archaisches und Mystisches ist darin enthalten, fast schon etwas Kanibalisches. Man muss nicht Vegetarier sein, um das herauszuhören.
‚Du bist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe’, spricht der christliche Gott zu Jesus, seinem Sohn. Und das ausgerechnet in der Situation, in der für den Gottes- und Menschensohn Jesus von Nazareth, dem König der Juden, die Leidenszeit beginnt, die mit dem Tod endet. Liebe und Gehorsam und Gleichrangigkeit und Unterwürfigkeit bestimmen die Beziehung zwischen Gott, dem Vater und Jesus, dem Sohn. Erweitert und vollendet in der Trinität, in der Dreieinigkeit, in der Dreifaltigkeit, wird die Beziehung dann durch den Heiligen Geist, wodurch sie eine völlig andere Qualität bekommt. Vater, Sohn und Heiliger Geist - von Frauen keine Rede. Eine Männergruppe. Eine Spiegelung der patriarchalischen Gesellschaftsordnung zur Zeit der Niederlegung christlicher Glaubensinhalte auf den Fundamenten alter jüdischer Traditionen. Erst später kam das Weibliche durch die Jungfrau und Mutter Jesu, Maria, dazu. Patriarchalisch und jüdisch spielen bei Sigmund Freud eine wichtige Rolle - Patriarch und Jude, der er war.
Und dann gibt es den anderen, den blutigen Strang der Vater-Sohn-Beziehungen. Das ist der Bereich, in dem Väter ihre Söhne tatsächlich opfern oder bereit sind, sie zu opfern: Laios den Oidipus, um seine eigene Haut zu retten; Abraham seinen Sohn Isaak, um Gott gegenüber gehorsam und wohlgefällig zu sein; Gott Vater selbst seinen Sohn Jesus, um den Menschen auf Erden ein Zeichen zu geben und um den Vertrag zwischen Gott und den Menschen zu erneuern und zu vertiefen: Gott Vater opfert seinen Sohn Jesus.
Ja, es ist etwas sehr Spezielles um die Vater-Sohn-Beziehungen und es wird sich zeigen, was da so alles unter der Decke steckt, beziehungsweise darunter stecken kann, und wie es wirkt, beziehungsweise wirken kann.


Oidipus bei Polypos und Peroboia



Wie abgesprochen und vorbereitet, übergab Laios das schwerverletzte Neugeborene einem Hirten, der gleichzeitig Diener am Hof war. Er sollte Oidipus im westlichen Grenzgebirge aussetzen, zwischen Attika und Böotien gelegen, das noch heute stark bewaldet ist. Der Hirte machte sich auf den Weg. Sei es, dass er von Haus aus ein guter und mitfühlender Mensch war oder dass sich auf dem einsamen Weg ins Gebirge zwischen ihm und dem Neugeborenen so etwas wie eine - heute würden wir vielleicht sagen - emotionale Beziehung entwickelte. Er gewann den kleinen, geschundenen Knaben lieb und hatte Mitleid mit ihm. Und er tat das, was weiter oben als das Durchbrechen der Befehlskette bezeichnet wurde: er traf sich mit einem ihm bekannten Hirten aus Korinth und händigte diesem den Säugling aus, damit der ihn bei sich aufwachsen liess. Der Hirte aus Korinth aber brachte den kleinen Oidipus zu seiner kinderlosen Königin und seinem König. Er übergab ihn wie ein Geschenk. Nicht gesichert ist, ob es sich bei dem Paar um die Herrscher von Sikyon oder Anthedon oder tatsächlich die von Korinth handelte. König Polybos, der oft als der König von Korinth beschrieben wurde, und Koenigin Periboia, auch Merope genannt, litten sehr unter ihrer Kinderlosigkeit und so nahmen sie erfreut das in ihren Augen grossherzige Geschenk des Hirten entgegen und schlossen den kleinen Oidipus schnell in ihre Herzen. Ja, es gibt Dinge, die passieren in Augenblicken. Mehr Zeit ist dazu nicht notwendig.
Periboia ging sogar soweit, dass sie eine Schwangerschaft in der letzten Phase vortäuschte, in Anwesenheit mehrerer Hofdamen während eines Spaziergangs eine schnelle Geburt im Freien hinlegte und die Damen mit dem inzwischen tagealten Oidipus überraschte. Andere schrieben, Periboia habe vorgetäuscht, den Neugeborenen in einem wasserdichten Kästchen am Ufer eines nahen Gewässers gefunden zu haben. Die Mosesgeschichte aus dem Alten Testament lässt grüssen. Damit wird deutlich, wie sehr Polybos und Periboia den Oidipus als ihr eigenes Kind betrachteten und dass sie ihn wie ihren eigenen Sohn behandeln und lieben wollten.
Oidipus wuchs in dem festen Bewusstsein auf, ein Prinz zu sein, der Sohn dieses Elternpaares, der Sohn des Königspaares. Was sollte er auch anders angenommen haben? Polybos und Periboia liebten ihren Oidips von ganzem Herzen und Oidipus liebte seine Eltern über alles und entwickelte sich erstaunlich schnell zu einem klugen, schönen, im Herzen sanftmütigen, aber auch stolzen und manches Mal zur Melancholie und zum Jähzorn neigenden jungen Mann.
Oidipus war Prinz und inzwischen einer der vornehmsten jungen Männer Korinths, als einmal in einer Weinschenke ein betrunkener Gast stichelte, er, Oidupus, sei gar nicht der Sohn von Polybos und Perboia. Beide seien nur seine Stiefeltern. Er müsse sich einmal selbst im Spiegel betrachten - er habe keinerlei Ähnlichkeit mit seinen sogenannten Eltern, weder mit der Mutter, noch mit dem Vater. Oidipus überprüfte nun tatsaechlich sein Ebenbild im Spiegel und musste dem Betrunkenen Recht geben: da war keinerlei Ähnlichkeit mit den Eltern zu erkennen. Das war ihm noch nie aufgefallen. Jetzt war er verwirrt und verunsichert.
Von Oidipus zur Rede gestellt, und dadurch wirklich in grosse seelische Not gebracht, antworteten seine Zieheltern erst ausweichend, dann wiesen sie seine Verdächtigungen scheinbar entschlossen zurück und stritten seine Unterstellungen entschieden ab. Wie man das oft so macht, wenn man lügt.


Und wieder Delphi - und wieder das Orakel



Es wird klar, warum wir uns so ausführlich mit dem Orakel beschäftigten - besonders mit dem von Delphi. Denn was tat Oidipus, als er den Erwiderungen von Polybos und Periboia keinen Glauben schenkte und sie als Ausreden und Lügen empfand und den Sticheleien einer angetrunkenen Zufallsbekanntschaft mehr vertraute, als den Erklärungen seiner geliebten Eltern? Er wollte die aufgekommene Unsicherheit bekämpfen, er wollte ihr auf den Grund gehen. Deshalb machte er sich auf nach Delphi, um das Orakel zu befragen.


Dem Oidipus wird orakelt



Es gibt keine Tatsachen an sich, würde mancher von uns heute sagen, sondern nur eine bestimmte Lesart davon. So hätte das Oidipus damals nie formulieren koennen: für ihn schaffte das Apollon-Orakel in Delphi Tatsachen - unangreifbare, nicht zu ignorierende Tatsachen.
In Delphi aber ereignete sich etwas Einmaliges, für das es kein Vorbild und keine Nachfolge gab: als Oidipus vor dem Orakel erschien war die Pythia so entsetzt, dass sie ihn gar nicht erst ins Allerheiligste einliess und sich weigerte, seine Frage entgegenzunehmen. Völlig ausser sich, schrie sie ihn an: ‚Hinweg, du Elender! Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter wirst du zur Frau nehmen. Ein ungeheurer, ein unaussprechlicher Fluch liegt auf dir. Wenn du der Menschheit noch einen letzten Dienst erweisen willst, dann gehe in den Tod!’
Oidipus, ein junger Mann noch, erschrak zutiefst. Er liebte seinen Vater Polybos, seinen vermeintlichen Vater, und Periboia, seine vermeintliche Mutter, und der hysterische Anfall der Pythia hatte ja seine Frage nicht klären können. Er war verwirrt. Wie könnte er den einen töten und die andere zur Frau nehmen? Nein, er verlor keinen Gedanken darüber, den beiden Unglück zu bringen. Aber sterben, von sich aus in den Tod zu gehen, das wollte er auch nicht. Er war noch jung. Er hatte das Leben vor sich. Er war der Sohn des Königs von Korinth. Und überhaupt: er spürte instinktiv, dass er da in etwas hineingezogen wurde, das mit ihm selbst nichts zu tun hatte und dem er besser auswich. Zumindest versuchen konnte er das. Und er versuchte es. Oidipus entschloss sich, nie wieder nach Korinth zurückzukehren, um nie wieder seinem Vater Polybos begegnen zu muessen. Auch beschloss er, auf Wanderschaft und in die Welt hinaus zu gehen - um die Ökumene, die griechische Welt, kennenzulernen und zu erforschen.
Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein schlauer Wicht ...
Also schlug er eine andere Richtung ein. Weg von der Strasse zum Golf, weg von der Strasse nach Korinth. Dafür durch Phokis gehen, zwischen Delphi und Theben gelegen, oder den Weg südlich von Theben nehmen, zwischen dem Kithairon hindurch, dem bewaldeten Gebirge, in das man ihn als Neugeborenen gebracht hatte, und nach Potniai. Und ohne es zu wissen, ja, nicht einmal ahnen konnte er es , ging er genau auf die Wegscheide zu, auf den Scheideweg, die Weggabelung oder die Engstelle, den Hohlweg, wo er an einem Unbekanten zum Mörder werden sollte.
Denn von Theben her kommend, war ein Fahrzeug unterwegs, ein Fuhrwerk, kräftige Pferde vorgespannt, einen Thronsessel aufmontiert. Das Fahrzeug war mit Bedeckung unterwegs. Ein Herold und bewaffnete Soldaten bildeten die Begleitung des - Königs von Theben. Es war Laios, Oidipus' leiblicher Vater, Oidipus' Mörder in Absicht und Veranlassung, der auf der Fahrt nach Delphi zielstrebig auf die gleiche Wegscheide zuhielt, auf den gleichen Scheideweg, die gleiche Weggabelung oder die gleiche Engstelle, den gleichen Hohlweg, wo er von einem Unbekannten ermordet werden sollte.
Wieso Delphi? Schon wieder zum Orakel? Ja - das Orakel von Delphi und kein Ende. In Theben wütetete naemlich sein einiger Zeit die Sphinx. Sie terrorisierte die Stadtbevölkerung, tötete reihenweise Männer, bevorzugt junge, sie verängstigte die Händler und Besucher der Stadt, brachte die Märkte zum Erliegen und würde über kurz oder lang das Leben in dem einst so blühenden Theben ganz zum Erlöschen bringen. Wie immer bei solchen dramatischen Entwicklungen fragten sich die Griechen als erstes: Was haben wir falsch gemacht? Wodurch haben wir die Götter beleidigt, dass sie uns eine solche Strafe auferlegen? Um das herauszufinden, ging Laios, der König selbst, in die Verantwortung und fuhr mit einigen ausgewählten Männern zum Orakel. Erst wenn die Ursache für das Wüten der Sphinx herausgefunden war, konnte man etwas Angemessenes in der Angelegenheit tun und dadurch die Strafe hoffentlich abwenden.


Das Orakel erfuellt sich - Teil 1



Aus der Furcht vor dem Schrecklichen rennt der Mensch oft dem Schrecklichen entgegen.
Ist es nicht tatsächlich so? Eine schlimme Bestätigung dieser Erkenntnis spielte sich in einem engen Voralpental ab, durch das ein hurtiger, wasserreicher Bach floss. Ein kleiner Bauernhof lag nahe dem Bach. Davor befand sich eine hin und wieder stark befahrene Strasse. Bewohnt wurde der Hof von einer grossen Familie - Vater, Mutter, die Eltern des Bauern, dazu vier Kinder. Die junge Bäuerin hatte dort eingeheiratet. Die Schwiegereltern waren bereits im Austrag. Eine einzige Sache beeinträchtigte diese scheinbare Idylle: die junge Frau machte sich fast hysterisch Sorgen darum, dass eines ihrer Kinder in den Bach fallen und darin ertrinken könnte. Entsprechend streng und konsequent waren ihre erzieherischen Massnahmen und entsprechend wirkungsvoll waren sie auch. Keines der vier Kinder ertrank in dem Bach oder in einem anderen Gewässer. Aber eines der Kinder wurde auf der Strasse vor dem Haus von einem Auto überfahren und starb. Ein zweites Kind verunglückte bei einem Motorradunfall schwer und ist seitdem gelähmt ...
Oidipus kam von Delphi. Laios wollte nach Delphi. Wieder einmal sollte sich das Urbild von der Entthronung des Vaters durch den Sohn wiederholen. Die mythologischen Erzählungen vom Kampf zwischen Uranos und Kraios und die von Kronos, der seine Kinder frisst, und seinem Sohn Zeus, der nur durch eine List überlebt, haben das bereits vorweggenommen. Wie ein roter Faden zieht sich der Vater-Sohn-Konflikt durch die Berichte von den Dramen der Menschen. Und jetzt kommt Laios des Wegs - mit einem Thron auf einem Wagen montiert. Von wegen entthronen.
‚Wanderer, weiche dem König’, soll Laios' Herold dem Oidipus befohlen haben. Oidipus mag ja nun ein recht lieber Kerl gewesen sein, aber er war auch eine Königssohn, er war klug, stark und hatte ein leicht aufbrausendes Temperament. Auch verfügte er über ein feines und natürliches Gespür für Recht und Unrecht und reagierte überhaupt schnell auf Anmassungen und Beleidigungen. Und ausserdem war er gerade erst aus dem Orakelbezirk von Delphi geworfen worden. Davongejagt. Als ihn der Herold, ein Bediensteter nur, also nicht bat, sondern ihm befahl, den Weg für das Gefährt des Königs freizumachen, schwoll Oidipus der Kamm und er kochte augenblicklich vor Wut. Er weigerte sich, dem Befehl nachzukommen. Laios, der König, schaltete sich ein und verstärkte diesen Befehl noch durch die Kraft seiner Autorität. Er versuchte es zumindest. Aber da war er bei Oidipus an den Falschen geraten: ‚Ich gehorche nur meinen Eltern und den Göttern - sonst niemandem. Und dir, Unbekanntem, schon gar nicht.’
Einer schrieb, ein Pferd sei dem Oidipus auf den Fuss getreten. Ein anderer, Laios hätte versucht, Oidipus mit der Peitsche zu drangsalieren. In einer dritten Version versuchte Laios den Oidipus mit einem gegabelten und mit Eisenspitzen besetzten Pferdestock zu treffen. In dieser Version wehrte Oidipus die Schläge des Laios ab und erschlug ihn mit seinem langen Wanderstab. Den Herold gleich dazu. Zwei phallische Stäbe - benutzt als Waffen bei der finalen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn.
An anderer Stelle heisst es, der Mann hätte versucht, Oidipus mit der Peitsche zu schlagen. Oidipus wehrte den Schlag ab, griff nach der Peitsche, riss den Unbekannten - in dieser Fassung ist von einem König nicht die Rede - von seinem Wagen, sodass er auf die Erde stürzte. Oidipus erschlug die Begleiter bis auf einen, der fliehen konnte. Vom Kampfgetümmel wild geworden, rannten die Pferde mitsamt dem Wagen los und schleiften den auf der Erde liegenden Koenig hinter sich her. Als sich die Pferde wieder beruhigt hatten, langsamer liefen und schliesslich stehen blieben, war Laios tot.
Der erste Teil des Orakels, das dem Oidipus im Tempel von Delphi von der ausser sich geratenen Pythia entgegenschleudert worden war, hatte sich erfüllt. Oidipus hatte einen Unbekannten getötet. Oidipus wusste nichts von einem leiblichen Vater Laios und einem Pflege- und Stiefvater Polybos. Laios hatte die Jahre über in der Gewissheit gelebt, dass der neugeborene Oidipus, der Schwellfuss, den er mit durchstochenen und einer goldenen Spange zusammengehaltenen Füsschen im Wald von Kithairon hatte aussetzen lassen, dass dieser Säugling längst tot war. Auch hatte er nie etwas von dem Geist des Kindes, von dessen ‚ka’, bemerkt.
Interessant an dieser Fassung der Geschichte ist, dass Laios durch seine Pferde - seine Untergebenen, Diener und Knechte gewissermassen, - zu Tode geschleift wurde. Dass er also nicht direkt durch die Hand des Oidipus ums Leben kam, genauso wenig, wie Laios direkt zum Mörder an Oidipus geworden wäre, hätte der Hirte diesen tatsächlich im Wald ausgesetzt und ihn seinem Schicksal überlassen.


In Theben herrscht die Sphinx



Furchtbare Wesen hat die Echidna geboren. Echidna, das Ungeheuer, halb Frau, halb Schlange, Tochter des Phorkys und Schwester und Frau des Typhon. Die Sphinx war eines ihrer furchtbarsten Nachkommen, die Ausgeburt der Paarung von Echidna mit Orthos, dem Hund, ihrem eigenen Sohn, dem Bruder der Sphinx. Was soll auch bei solche einer Paarung schon gross herauskommen? Eine reissende Löwenjungfrau, eine geflügelte Löwin oder eine Hündin mit dem Kopf und Rumpf einer Jungfrau. Dieses Ungeheuer, die Würgerin, hatte Hera aus dem fernen Aithiopien kommen lassen, aus dem Land der dunkelhäutigen Menschen, dem Quell-Land des grossen Stromes Nil, der durch Aigyptos fliesst, dem Land der Pharaonen. Hera hat die Sphinx gegen die Kadmeer geschickt, gegen die von Kadmos gegründete Stadt, gegen Theben also und die Thebaner. Um die Menschen dieser Stadt zu bestrafen, weil sie die Verführung und die Entführung des jungen Chrysippos durch Laios so einfach duldend hingenommen hatten. Erst also bestrafte Hera Iokaste und Laios mit der Unfruchtbarkeit, und jetzt, lange Zeit danach, in einem zweiten Anlauf, die ganze Stadt Theben und ihre Bürger mit dem Überfall durch die Sphinx. Also war sie doch eine nachtragende Person, diese Hera.
Zahlreiche Abbildungen auf antiken Vasen und Kratern zeigen uns die Sphinx, alleine oder zusammen mit Oidipus, und zahlreiche Kuenstler des 18. und 19. Jahrhunderts u.Z. haben das Sphinx-Thema illustriert. Und natürlich haben die ungezählten grossen und kleinen Sphingen-Skulpturen - der Plural von Sphinx lautet tatsächlich Sphingen - aus allen Epoche der ägyptischen Kunst unser Bild von der Sphinx geformt, bis hin zur grössten aller bisher bekannt gewordenen Sphinx-Darstellungen, nämlich der Sphinx auf dem Plateau der Grossen Pyramiden bei Giza, die etwa 2500 Jahre v.u.Z. unter Chefren errichtet wurde. Der Frauenkopf, der Kopf einer Jungfrau also, der Löwenkörper, der Schlangenschwanz und die Adlerflügel: was all diesen Darstellungen gemeinsam ist, ist die sinnliche Ausstrahlung der Frau. Gesicht, Schultern, Brüste und das Fehlen des wirklich Grauenhaften, Sadistischen und Männerverschlingenden im Ausdruck des Ungeheuers. Die Darstellung als Mischwesen alleine - und die Sphinx ist natürlich ein Mischwesen - lässt den Horror, den sie angeblich verbreitet hat, fuer uns Heutige nicht mehr so recht deutlich werden. Mischwesen gab es in der griechischen Mythologie viele: die Kentauren, die Skylla, die Giganten und den Hermaphroditen, also den Sohn des Hermes und der Aphrodite, der in einen Zwitter verwandelt wurde, den Pegasus und den Minotaurus, den Hippokampus, die Satyrn, die Chimäre oder den Greif - und die Sphinx eben. Alle zusammen drückten das Unheimliche, das Unbehauste und das Unsichere im Leben mit der Natur und mit den Kreaturen aus und das Ausgeliefertsein der Menschen an diese so unheimlich belebte Welt. Aber die ganze grosse Furcht lösten sie bei den Menschen nicht aus. Oder doch?
Wofür steht diese aus vier verschiedenen Wesen zusammengesetzte Sphinx symbolisch? Manche sagen, die Sphinx könnte die Symbolisierung der vier Jahreszeiten sein. Na, ja. Nach einer zweiten Version war sie ein Sinnbild fuer Zeit und Vergänglichkeit. Klingt immer gut. Als Inbegriff von Rätselhaftem soll sie stehen und von gefährlichen Geheimnissen - das ist naheliegend. In Wirklichkeit aber gibt es keine griffige und eingängige Erklärung, was die Sphinx nun tatsächlich darstellt. Vielleicht ist die Sphinx nichts anderes als das Weib, das die Männer in die Begehrfalle lockt und sie dort ein Leben lang gefangenhält. Diese Interpretation würde mir gefallen. Sie stammt von mir.
Unsere Sphinx nun lagerte entweder auf dem Phikion, einem Hügel vor den Toren Thebens, oder auf dem Kapitell einer Säule direkt auf dem Marktplatz. Wenn in der Literatur von Bergen und Schluchten berichtet wird, so ist das übertrieben. Um Theben gibt es keine Berge, nur Hügel und deshalb auch keine dramatisch tiefen Schluchten. Was aber tat die Sphinx dort? Was war das Grauenhafte an ihr? Von den Musen - ausgerechnet von den Musen - hatte sich die Sphinx eine Rätselaufgabe ausdenken lassen, die sie nun eitel und voll von abartigem Vorgenuss den Bürgern Thebens, die sich zu ihren Füssen versammeln mussten - Bürgern, nicht Bürgerinnen - zur Lösung aufgab. Das gleiche Raetsel immer wieder. Das Rätsel war schwer, und jedes Mal, wenn es die Thebanern noch immer nicht lösen konnten, wählte sie einen aus der Versammlung aus und frass ihn auf. Und wie schon erwähnt, sie bevorzugte junge Männer. Sie verschlang sie vor den Augen der gesamten männlichen Stadtbevölkerung. Und kam ein Ortsfremder, ein Reisender, ein Händler daher, hielt sie ihn auf und stellte ihm die gleiche Rätselfrage. Konnte er sie nicht lösen - frass sie ihn auf, ohne Ruecksicht zu nehmen, wie alt der war.
Wen wundert es, dass bald keine Reisenden und keine Händler mehr in die Stadt kamen. Aber wie andere Städte auch, lebte Theben von seinen Märkten. Märkte, die berühmt waren, insbesondere ihrer kunstvoll bemalten Keramik wegen, die man in der ganzen Ökumene kannte und begehrte, aber auch wegen anderer kunsthandwerklicher Artikel und den Produkten aus der Landwirtschaft, die in Thebens Umgebung fleissig betrieben wurde. Die Anwesenheit der Sphinx liess die Händler und die Fremden ausbleiben und die Stadt begann langsam zu veröden. Die Frage nach dem ‚Warum’ wurde übermächtig. Deshalb entschloss sich Laios - ganz verantwortungsbewusster Landesvater - die Angelegenheit zur Chefsache zu machen und nach Delphi zu fahren und das Orakel zu befragen.
Diese Reise brachte ihm, wie wir inzwischen wissen, den Tod. Vielleicht sollten wir hier noch einen Gedanken anfügen, der bei der Betrachtung des Oidipuskomplexes von Bedeutung sein dürfte: Laios wollte Oidipus aus dem Weg haben. Mit der Aussetzung des neugeborenen Oidipus hatte er versucht, ihn tatsächlich aus dem Weg zu räumen. Ein zweites Mal, dieses Mal ohne dem Wissen von der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen ihnen, wollte er den fremden Wanderer, der ja in Wirklichkeit sein Sohn war, aus dem Weg haben. Der jedoch liess sich nicht von seinem Weg abbringen, sondern räumte statt dessen Laios, den König, den Vater, aus dem Weg. Dieses sich gegenseitig aus dem Weg räumen Wollen scheint ein Bestandteil in den Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen zu sein. Auch jemanden nicht aufkommen zu lassen oder ihn als eigenstaendige Persoenlichkeit nicht anzuerkennen, ist einen Form des aus dem Weg räumens.
Nun, wir sind wieder bei der die Sphinx in Theben. In dieser unglueckselige Situation kam Oidipus zurück in seine eigentliche Vaterstadt. Als Fremder. Von niemandem erkannt. Auch von dem einen Soldaten des Laios nicht, der dem Kampfgetümmel entflohen war. Dieser war nach Theben zurückgekehrt und hatte Iokaste - jetzt Witwe - und den Menschen in der Stadt von dem Zwischenfall und dem Kampf und dem Tod des Königs berichtet.
Der junge Oidipus war, als er auf Theben zuging, in einem gewissen Sinn lebensmüde. Zumindest war er melancholisch gestimmt. Er hatte von der Sphinx gehoert, er wusste von ihrem angeblich unlösbaren Rätsel und von ihren grausamen Morden. Und dennoch ging er direkten Weges auf sie zu. Er sagte zu sich selbst: ‚Wenn ich das Rätsel nicht lösen kann, dann soll sie mich eben fressen. Kann ich aber das Rätsel lösen, werde ich sie mit Freuden umbringen.’ In dieser letztlich recht entspannten Haltung ging Oidipus hinauf auf den Hügel Phikion, wo die Sphinx bereits auf ihn lauerte, ging direkt auf sie zu und forderte sie lautstark auf, ihm ihr Rätsel zu stellen. Wohlgefällig betrachtete die Sphinx den jungen, gut aussehenden, knackigen Mann - wahrscheinlich leckte sie sich schon ihre gierigen Lippen - und begann: ‚Nun, du schöner Jüngling, höre. Ich gebe dir ein Rätsel auf zur Lösung. Findest du die richtige Antwort nicht, werde ich dich verschlingen. Also höre gut auf meine Worte.’ Unüberhörbar der Sadismus in ihren Sätzen. Die Sphinx war stolz auf das Rätsel und auch ein wenig eitel, obwohl sie es, wie wir wissen, gar nicht selbst erfunden hatte, sondern die Musen, die den Job fuer sie erledigt hatten. Sie wusste, dass sie damit alle Menschen verwirren und in Todesangst versetzen konnte. Also begann sie zu sprechen: ‚Ein Zweifüssiges gibt es auf Erden und ein Vierfüssiges mit dem gleichen Wort gerufen und auch dreifüssig. Die Gestalt ändert es allein von allen Lebewesen, die sich auf Erden, in der Luft und im Wasser bewegen. Schreitet es, sich auf die meisten Füsse stützend, so ist die Schnelle seiner Glieder am geringsten.’ Ja, das Rätsel war genauso schwer und konnte von den Menschen genauso wenig gelöst werden, wie die Zeile, die in der Vorhalle des Apollon-Tempels in Delphi eingemeisselt war: ‚Erkenne dich’ ... ‚dass du ein Mensch bist’, hiess hier die Lösung.
Wie es die Abbildungen zeigen, auch die am Thron des Zeus in Olympia, den Phidias geschaffen hat, stand Oidipus unter der anmassend schlauen Sphinx, deren Schlauheit aber nur ausgeliehen war (copy and paste), und setzte ihr seine Klugheit entgegen, eine Klugheit, die aus ihm selbst kam, dazu eine Mischung aus Lebensüberdruss, Stolz, Überlegenheit, Apathie und Kampfeslust. Wie ein Aufbegehren zum letzten Gefecht, eine gefährliche Mischung, aus der man nicht nur Rätsellöser, sondern auch Selbstmordattentaeter formt. Nach kurzem Überlegen schaute Oidipus hoch zu der Sphinx und rief ihr ins Gesicht: ‚Du meinst den Menschen! Der, da er noch auf der Erde herumkriecht, kaum geboren, zuerst vierfüssig ist, wenn er aber alt wird, mit gekrümmtem Nacken unter der Last des Greisentums zum dritten Fuss den Stock gebraucht, auch dreifüssig!’ Die Sphinx, die richtige Antwort hörend, bekam einen Tobsuchtsanfall, sie sprang auf und herum und schrie und stürzte sich - obwohl sie ja die starken Schwingen des Adlers hatte -, die Flügel angezogen, den Hügel hinunter in den tödlichen Abgrund. Sie machte es gerade so wie die Sirenen, die sich vom Himmel stürzten, wenn es ihnen nicht gelang, die Menschen mit ihrem betörenden Gesang zu verführen. Halbtot lag die Sphinx am Ausgang der Schlucht und Oidipus soll ihr mit einem leichten Speer noch den Gnadenstoss, den Todesstoss, versetzt haben.


Das Orakel erfuellt sich - Teil II



Manche Befreier werden von den politischen Eliten oder den Vertretern eines militärisch-ökonomischen Komplexes oder von den nach Coca Cola, Schokolade und Kaugummi gierenden Kindern oder von den zum Beischlaf mit den Siegern bereiten Frauen erst zu sogenannten Befreiern hochstilisiert, um auf dieser Ebene ohne Skrupel mit ihnen verkehren zu können. Oidipus hingegen war ein echter Befreier und als solcher wirklich allen Menschen in Theben hochwillkommen: den Militärs, den Kaufleuten und Händlern, den Kindern, die nach und nach ihre Väter, und den Frauen, die nach und nach ihre Männer verloren hatten. Oidipus hatte sie von der Sphinx, dem Scheusal, befreit und gleichzeitig von dem Fluch, den die gestrenge Hera über sie verhängt hatte, des zügellosen Laios' wegen, dem Knabenverführer, den ein gerechtes Schicksal nun aber von einem verpfuschten Leben in einen glanzlosen Tod befördert hatte.
Heil dem Oidipus, dem geheimnisumwitterten Jüngling, dem Sohn von Polybos und Periboia, dem Königssohn aus dem mächtigen Korinth. Als Befreier hatte sich Oidipus eingeführt und als solcher wurde er nun empfangen und gefeiert. Die Stadt atmete auf und es herrschten Frohsinn und Dankbarkeit.
Kreon, Sohn des Menoikos und Bruder der Iokaste - also Schwager des Laios - übte seit dem Tod des Laios dessen Königsamt aus und trug die Würde und die Bürde des Amtes stellvertretend. Stellvertretend für den Mann, der da kommen würde, um die Sphinx zu töten. Wer die Sphinx besiegte, sollte neuer König von Theben werden. Und Iokaste zur Frau bekommen. Das war der Lockruf gewesen, den Kreon in die Welt hinausgeschickt hatte. Oidipus hatte ihn nicht vernommen. Er war auf Wanderschaft gewesen. Kreon selbst zeigte zu diesem Zeitpunkt wenig Neigung, das schwere Amt zu übernehmen, beziehungsweise beizubehalten. Deshalb fiel es ihm leicht, dem Mann, der die Sphinx besiegt hatte, dem als Befreier nach Theben eingezogenen Oidipus, die Königswürde anzutragen und auch gleich die Hand seine Schwester dazu – der Iokaste, der attraktiven und noch kinderlosen Witwe des Laois. Oidipus bedankte sich für das Angebot: obwohl selbst Prinz von Korinth, empfand er in Theben erstmals wieder so etwas wie ein Gefühl von Heimat. Auch eine Aufgabe schien auf ihn zu warten, die er seiner für angemessen hielt. Er überlegt nicht lange und stimmte zu: Oidipus wurde inthronisiert und gekrönt. Er wurde Iokaste angetraut, seiner Mutter. Mir nichts, dir nichts. Und Oidipus soll ein weiser, ein umsichtiger, ein liebevoller Herrscher und Ehemann und Vater geworden sein.
Der zweite Teil des Orakels hatte sich erfüllt: Oidipus heiratete seine Mutter. Er wurde der Vater ihrer vier gemeinsamen Kinder, seiner Geschwister. Keine Ahnung hatte er von dieser, von den Göttern gewollten und verfügten Verstrickung - dieser angeblich so weise König Oidipus. Oder Oidipus Rex. Oder Oidipus Tyrannos, wie er auch genannt wurde.
Damit endet der Teil, der beschreibt, wie Oidipus gezeugt, ausgetragen und auf die Welt gebracht wurde; wie man ihn als Neugeborenen töten wollte; wie er durch die Gutherzigkeit einfacher Menschen überlebte und wie er dann bei königlichen Stiefeltern aufwuchs. Wie er die Unsicherheit seiner Herkunft nicht ertragen konnte und diese in Delphi gegen die Sicherheit eines Orakelspruchs eintauschen wollte. Und wie er seinen leiblichen Vater erschlug und seine Mutter zu Frau nahm, kurz, wie sich das Orakel des Laios und das des Oidipus erfüllte.


Oidipus - der Koenig der Thebaner



Wie gesagt, Oidipus galt als klug, als weise sogar und als gerecht. Mit Umsicht versah er sein Königsamt, und es dauerte nicht lange, dass nach dem Verschwinden der schrecklichen Sphinx Bürger und Fremde wieder Vertrauen in das Königreich gewannen. Das Handwerk blühte wieder auf, ebenso der Handel, die Märkte wurde beschickt wie frueher, und Wohlstand, da und dort sogar Reichtum, begannen Einzelne wieder herauszuheben, beziehungsweise voneinander zu trennen.
Auch in Familienangelegenheiten bewies Oidipus Einfühlungsvermögen und die angemessene Geduld. Er akzeptierte Iokastes Trauer um Laios, er hatte auch kein Problem damit, dass sie um einiges älter war als er selbst. In Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten war sie ihm eine kluge und erfahrene Beraterin, deren Ansichten er gerne mit einbezog - sie war ja schon Königin gewesen, als er noch ziellos durch die Lande zog. Die Zeit verging. Die Trauerzeit hatte ein Ende, und in der Intimität des gemeinsamen Schlafzimmers liebten sich die beiden nun umso mehr mit Hingabe und Freude. Nacheinander kamen vier Kinder zur Welt: Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene. Sie machten die Verbindung des Paares noch reicher und erfüllten sie.
Dass trotz allem auf beiden eine schwer erklärbare Melancholie lag, konnte der sehen, der die Menschen zu betrachten wusste. Aber das nahm Iokaste und Oidipus eigentlich nichts weg, im Gegenteil. Es nahm ihrer Macht die übliche Hybris, nahm ihnen die Schaerfe und vertiefte ihre Menschlichkeit, vertiefte die Beziehung zueinander, zu ihren Kindern und die Beziehungen zu den Menschen in ihrem Haushalt, in der Stadt und dem ganzen Land.
Und wenn sie nicht gestorben sind ...


Die Pest in Theben



Aber da kam die Pest über Theben und seine Menschen. Niemand wusste, woher sie kam. Und warum sie gekommen war. Aber viele erkrankten daran und starben. Auch in diesem Fall, wie in allen anderen Katastrophenfällen war klar, dass die Pest keine natürliche Ursache haben konnte, sondern dass sie von einer Gottheit oder gleich von mehreren über die Stadt geschickt worden war. Man fragte sich, und hatte den Willen dazu, das auch zu untersuchen: was haben wir getan oder gelassen, um eine solche Strafe auf uns zu ziehen? Woran sind wir schuldig geworden, dass die Götter so zornig auf uns wurden? Ein Ausschuss wurde gebildet und eine Delegation zusammengestellt, und bald machte sich eine kleine Gruppe von Thebanern auf den Weg nach - na, wohin wohl? Klar, nach Delphi, zum Orakel. Oidipus kam nicht mit, obwohl das angemessen gewesen wäre. Aber ihn hatte das Orakel seinerzeit verflucht, ihn hatte man aus Delphi hinausgewiesen - nein, hinausgeworfen hatte man ihn aus Delphi. Dorthin wollte er nie wieder zurück. Also blieb er in Theben und wartete wie die anderen auf die Rückkehr der Delegation.
Das Orakel reagierte wieder sehr stark, als die Thebaner ihre Frage vorlegten. Sehr beliebt waren sie in Delphi offenbar nicht gewesen, die Thebaner. ‚Vertreibt den Mörder eures Königs Laios aus der Stadt, dann wird die Pest ein Ende haben’, lautete der Orakelspruch.
Der Mörder lebte also noch in der Stadt? Das Orakel hiess Laios noch immer den König? Für das Orakel war also die Nachfolgefrage noch gar nicht geregelt. Und Oidipus sass in Theben und hatte von all dem keine Ahnung. Oidipus - wir wissen es - hatte Laios getötet, seinen leiblichen Vater. Ohne es zu wollen. Ohne es zu wissen. Er hatte bis jetzt keine Ahnung davon. Und ohne es zu wissen, hatte er seine Mutter geheiratet und vier Kinder mit ihr gezeugt. Er hatte auch hiervon keine Ahnung.
Wie alle anderen war er von dem Grauen der Pest tief betroffen und sehnte deren schnelles Ende herbei. Als er den Spruch des Orakels aus Delphi vernahm, fand er es nur gerecht, dass man den Mörder des Laios finden, ihn greifen und aus der Stadt jagen sollte. Er fügte dem Orakelspruch sogar noch einen Fluch hinzu, der Ahnungslose, und verfluchte den Mörder des Laios bis ans Ende aller Tage. Er verfluchte sich selbst.
Das ist das wirklich Tragische an der Figur und dem Schicksal des Oidipus, das Sophokles, der erfolgreichste Dramatiker Athens im 5. Jahrhunderts v.u.Z., der neunzig Jahre alt wurde und mit seinem Leben fast sein ganzes Jahrhundert ausfüllte, das Sophokles dazu brachte, gleich drei Dramen über den tragischen Helden Oidipus zu verfassen. Drei Dramen, die noch heute zu den vielgespielten Stücken im internationalen Theaterrepertoire gehören: ‚König Oidipus’, ‚Oidipus auf Kolonos’ und ‚Antigone’. Antigone, eine von Oidipus' Töchtern, auf die der Fluch überging, der auf dem Vater lastete. Dieser Fluch bestimmte auch ihr Schicksal und ihr Leben. Wie das im griechischen Drama und im griechischen Selbstverständnis eben so ist.


Teiresias - nur Blinde sehen



Oidipus war ratlos, und in seiner Ratlosigkeit rief er nach Teiresias. Teiresias war einer der bekanntesten Seher, das heisst Wahrsager, des Altertums. Ja, es wurde sogar behauptet, er wäre der einzige wahrhaft Weise gewesen, der Oidipus in seiner Verwirrtheit durchschaute, wie er auch dessen Vater Laios in dessen Ratlosigkeit hatte sehen können. Teiresias war blind und das machte ihn sehend. Natürlich wusste er, was die Thebaner nur erfühlten, nämlich, dass ihr Gemeinwesen an einer geheimen Krankheit litt, es war etwas faul im Staate Theben.
Teiresias' Geschichte ist interessant und verwickelt und es gibt - wie fast immer in der griechischen Mythologie - unterschiedliche Fassungen davon. Die eine berichtet, Teiresias sei als junger Mann, dem gerade der erste Bart wuchs, unterwegs auf der Jagd gewesen und, um seinen grossen Durst zu löschen, zur Hippokrene, der Quelle des Pferdes, geritten. Dort aber erfrischte sich, erhitzt von einem langen Ausritt, Pallas Athene im kühlen Wasser der Quelle. Begleitet war sie von Frauen, darunter auch Chariklo, die Mutter von Teiresias,. Ihre Kleider hatte Athene, die sonst so Schamhafte, in der Einsamkeit des Quellgeländes abgelegt, und sie war entsetzt, als nun ein Jüngling auf sie zuritt, sein Pferd zwar zügelte, aber mit grossen Augen auf ihre Brueste und ihren Schoss starrte. Wohin sonst hätte er auch hinstarren sollen? Hatte ein Mann die Athene nackt gesehen, sollte er mit diesen Augen die Sonne niemals wieder sehen können. So hart war Athene mit ihren Strafen, wenn es um ihre Eitel- und Schamhaftigkeit ging. Eine Jungfrau aus Passion eben. Athene legte die Hände auf Teiresias' Augen - wahrscheinlich hatte sie sich inzwischen rasch angekleidet - und liess ihn erblinden. Die Mutter des Jungen, Chariklo, klagte und bat für ihren Sohn, und ihr zuliebe machte Athene ihn zu einem Wahrsager. Wenigstens das. Sie liess ihm von einer Schlange die Ohren reinigen und die Gehörgänge weit öffnen, und zwar so sehr, dass er den Stimmen der Vögel lauschen konnte. Und sie liess ihm einen Stock aus Kirschholz zurechtschneiden, mit dem er sich so gut wie ein Sehender orientieren konnte. Eine blöde Prothetik, eigentlich.
Eine andere Erklärung für Teiresias' Blindheit und seine Wandlung zum Seher ist ebenso drollig wie hinterlistig und gemein. Teiresias war noch ein junger Hirte, als er am Kithairon-Gebirge zufällig Zeuge wurde, wie sich zwei Schlangen paarten. Irgend etwas muss ihn dabei über die Massen erregt haben, denn er schlug mit seinem Hirtenstab auf die Schlangen ein und tötete dabei das Weibchen. Im selben Augenblick wurde er durch einen Götterscherz, wie es heisst, für sieben Jahre in eine Frau verwandelt. Nach sieben Jahren ging der Unglücksrabe wieder mit einer Herde, und wieder stiess er auf ein sich liebendes Schlangenpaar. Irgendwelche tiefsitzenden Vorbehalte gegen kopulierende Reptilien muss Teiresias gehabt haben, denn wieder nahm er seinen Stab und drosch auf die sich paarenden Schlangen ein. Dieses Mal toetete er das Männchen und - konsequent wie scherzende griechische Götter nun einmal sind - wurde Teiresias für sieben Jahre zurückverwandelt in einen Mann.
Zu dieser Zeit stritten sich Zeus und Hera darüber, und das unter der engagierten Anteilnahme vieler anderer Gottheiten, wer von der körperlichen Liebe mehr Genuss habe: der Mann oder die Frau? Ausgelöst hatte den Streit die Behauptung des Zeus, Frauen hätten beim Sex auf jeden Fall mehr Lustgewinn als Maenner.
Teiresias, der durch der Götter Scherze nun sein Geschlechtsleben sowohl als Frau, als auch als Mann genosssen hatte, schien den Streitenden der passende Schiedsrichter zu sein. Der musste auch nicht lange überlegen: ‚Nur den einen von zehn Teilen,’ sagte er, ‚geniesst der Mann. Die neun Teile erfüllt die Frau, sich der Seele freuend.’
Und was macht Hera? Denken wir an die grimmige Adele Sandrock. Sie freute sich nicht über Teiresias' Urteil. Sie war ausgesprochen sauer auf ihn und bestrafte Teiresias mit Blindheit. Die Strafe seiner Schwestergattin Hera konnte Zeus nun schlecht aufheben. Der Mensch wurde wieder einmal der Ball im Spiel der Götter. Zeus verlieh Teiresias zum Ausgleich, zur Wiedergutmachung sozusagen, die Gabe eines Wahrsagers, eines Sehers und deshalb, da vorher die Zahl sieben schon einmal eine Rolle spielte, sollte Teiresias sieben Menschenleben lang auf Erden wandeln dürfen.
Die verliehene Gabe machte Teiresias nicht glücklich. Entweder ein geringeres Wissen oder ein kürzeres Leben - das soll er von Göttervater Zeus erbeten haben. Ausgestattet mit göttlichem Wissen, aber blind, musste er das Schicksal des Stadtgründers Kadmos und seiner Kinder und Kindeskinder - das waren im ganzen sechs Generationen - miterleben und miterleiden. Zuviel für einen, der sich nur über den Geschlechtsverkehr von Schlangen erregt hatte. Zugegeben: handgreiflich erregt hatte.


Es wird eng fuer Oidipus



Oidipus rief also nach Teiresias. Der wurde ausfindig gemacht, kam in den Palast und wurde augenblicklich von Oidipus empfangen. Dieser Mann stand nun allein vor Oidipus. Konnte ihn nicht sehen. Aber erkennen. Er konnte ihn durchschauen. Der Blinde trat vor den König, strich ihm über Kopf, Haare, Gesicht, Hals und Brust und sagte: ‚Ja, du bist Oidipus. Dich trifft der Orakelspruch von Delphi. Du hast Laios getötet, den rechtmässigen König von Theben. Deinen Vater. Und du lebst zusammen mit deiner Mutter Iokaste und Kinder hast du mit ihr. Deinetwegen und deiner Schandtaten wegen wütet die Pest in Theben.’

Bei Sophokles liest sich das so:



Teiresias: Des Mannes Mörder, den du suchst, bist du!
Oidipus: Nicht dir zur Freude sagst du dieses Greuel ein zweites Mal!
Teiresias: Soll ich noch andres sagen, dass du dich noch mehr erzürnst?
Oidipus: Soviel du willst! In den Wind wird es gesprochen sein!
Teiresias: Ahnungslos, sag ich, verkehrst mit deinen Nächsten du
in Schimpf und Schande, und siehst nicht, wie tief du steckst im Übel!
Oidipus: Du meinst, du könntest fröhlich stets so weiterreden?
Teiresias: Ja, sofern es noch eine Kraft der Wahrheit gibt.

Oidipus ist entsetzt. Er überspielt die Situation. Er kann das Gesagte nicht fassen, er kann und will Teiresias nicht glauben.

Oidipus: Sie (die Wahrheit) gibt's, nur nicht in dir! In dir ist diese nicht,
da blind bist du an Ohren, Geist und Augen.
Teiresias: Und du unselig! Denn du verhöhnst an mir,
was jeder unter diesen an dir verhöhnen wird - und nur zu bald!
Oidipus: Aus einer einzigen Nacht nur nährst du dich, so dass du weder mir
noch einem andern, der das Licht sieht, jemals schaden kannst.
Teiresias: Es ist auch nicht dein Los, durch mich zu fallen,
denn Apollon ist genug, dem daran liegt, dies auszuführen.
Oidipus: Sind das des Kreon oder deine Erfindungen?

Oidipus beschuldigte Teiresias, ein Komplott gegen ihn angezettelt zu haben. Teiresias, über den ganzen Zeitraum seines langen Lebens und Wirkens hinweg der berühmteste und erfahrenste aller Seher und Wahrsager, hat tatsächlich einen schlechten Ruf. Er gilt allgemein als verbittert, heimtückisch und intrigant. Sodass der Verdacht des Oidipus' nicht ganz aus der Luft gegriffen scheint.
Als er bei Teiresias nachfragt, hält er es offenbar auch für möglich, dass aus der Ecke seines Schwagers Kreon, der zugleich sein Onkel ist und der nach dem Tod der Sphinx zugunsten des Oidipus auf den Königsthron von Theben verzichtete, Unheil droht. Aus dieser Ecke vermutete Oidipus eine gegen ihn gerichtete Intrige. Bei den anderen vermutete er die Heimtücke. Bei sich selbst jedoch keine Schuld.
Eine vage Vorstellung von der Möglichkeit einer eigenen Beteiligung, so eine Art von Anfangsverdacht, nistete sich doch in seinem Denken ein - an Teiresias' Unterstellungen könnte doch etwas Wahres sein. Er, Oidipus, könnte vielleicht doch mit einem so grauenhaften Schicksal verbunden sein.
Also begann er, Nachforschungen anstellen zu lassen. Und auch Teiresias hatte ein Interesse daran, vom Vorwurf des Komplotts und der Intrige gegen den König freigesprochen zu werden. Auch er stellte Nachforschungen an. Er fandete nach dem einstmals jungen Hirten, der im Auftrag seines Königs Laion den neugeborenen Oidipus im Wald aussetzen sollte. Der Hirte war noch am Leben. Gemäss der Natur war er in den Jahrzehnten zum reifen Mann geworden. Er wurde nach Theben zum Palast des Oidipus gebracht. Dort sollte er aussagen. Langsam gleiten wir hinein in ein Kriminalstück. In ein Kriminalstück ersten Ranges.

Erst kommt der Bote ...



Noch ehe der Hirte aussagen kann, taucht bei Sophokles in ‚König Oidipus’ ein Bote auf. Ein Bote aus Korinth. Er trifft auf Iokaste.
Bei Sophokles liest sich das so:

Bote: Zum Herrscher wollen die Bewohner ihn (Oidipus)
des Lands am Istmos machen, hiess es dort.
Iokaste: Wie sagst du? Tot ist Polybos, Alter?
(schickt nach Oidipus)
Oidipus: Dieser - wer ist er denn und was hat er mir zu sagen?
Iokaste: Er ist von Korinth, zu melden dir, dein Vater
Polybos, sei nicht mehr, nein, er sei tot!
Oidipus: Was sagst du, Fremder? Zeige du mir's selber an!
Bote: Wenn ich das zuerst genau vermelden soll,
so sei gewiss: jener ging im Tod dahin.
Oidipus: An Krankheit schwand der Arme, wie es scheint, dahin.
Bote: Ja, und wie es hohem Alter so entspricht.

Diese Nachricht des Boten aus Korinth brachte erst einmal Entspannung über Oidipus und Iokaste. Doch Oidipus weiss, dass das nur einen Teil des Orakels betrifft. Die Angst vor der Mutter als Bettgenossin steckt ihm weiterhin in den Knochen. Und Periboia ist ja noch am Leben. Iokaste, die fürsorgliche Gattin des Oidipus, setzt ganz auf Entspannung, ganz auf Beschwichtigung, und greift das Thema offensiv auf.

Iokaste: Was soll der Mensch sich fürchten, wo über ihn die Macht des Zufalls
herrscht und verlässliche Voraussicht in nichts besteht?
In den Tag hineinzuleben, ist das Beste, so wie einer kann!
Du aber, was die Ehe betrifft mit deiner Mutter, habe keine Angst!
So mancher Sterbliche hat auch im Traume schon
geschlafen mit der Mutter. Doch wem derlei
für nichts gilt, trägt am leichtesten das Leben!
Oidipus: Gut und recht wär all dies von dir gesagt -
wäre die Mutter nicht am Leben! Da sie aber
lebt, zwingt schwere Not, so schön du sprichst, in Furcht zu sein.

Aber jetzt geht's darum, die Spannung erneut aufzubauen. Der Bote macht klar, dass Oidipus gar nicht der Sohn des Polybos ist und dass somit das Vater-Sohn-Problem mitnichten aus der Welt geschafft ist. Oidipus gerät abermals unter Druck: erst durch Teiresias, jetzt durch den Boten.

Zurück zu Sophokles:



Bote: Weißt du denn, dass du ganz zu Unrecht zitterst?
Oidipus: Wie nicht, wenn ich doch Sohn dieser Eltern bin?
Bote : Weil Polybos gar nicht war verwandt mit dir!
Oidipus: Was sagst du? Hat denn Polybos mich nicht gezeugt?
Bote: Doch dich hat er weder gezeugt noch ich.
Ödipus: Doch warum hat er mich dann seinen Sohn genannt?
Bote: Als ein Geschenk einst, wisse, empfing er dich aus meiner Hand.
Oidipus: Und gewann mich dann, obwohl aus fremder Hand, so lieb?
Bote: Die frühere Kinderlosigkeit hat ihn dazu gebracht.
Oidipus: Doch du - hattest du gekauft mich oder zufällig getroffen, als du ihm mich
gabst?

Jetzt wollte Oidpus natürlich wissen, wie er als Neugeborener an den Boten geraten war, wer ihn ihm übergeben hatte, woher dieser gekommen und wessen Sohn er nun eigentlich war. Der Bote gab sich als der Hirte zu erkennen, der von einem Bekannten, ebenfalls einem Hirten, einem thebanischen Hirten des Laios', seinerzeit selbst das Baby übernommen hatte. Im Wald am Kithairon-Gebirge. Er hatte ihm damals die goldene Fussfessel abgenommen - Sophokles spricht im übrigen von Verletzungen an den Fussknöcheln - und es zu Polybos und Periboia gebracht. Als Geschenk, wie er sich ausdrückte, an das bis dahin kinderlose Ehepaar. Der Bote empfahl, nach dem Hirten aus Korinth zu suchen, der über die Herkunft des Kleinen wohl am besten Bescheid wissen dürfte.
Und wir wissen, dass dieser Hirte aufgrund von Teiresias' Nachforschungen bereits gefunden war. So schnell geht das manches Mal. Der Hirte erschien, kein Jüngling mehr, sondern ein älterer, gesetzter Mann, erfahren in vielem. Er trat eingeschüchtert von dem, was ihn möglicherweise erwartete, vor den König und dessen Gemahlin, vor den Boten und Freund und vor Teiresias, den Seher.
Der unvorbelastete und deshalb besonders glaubwürdige Hirte bestätigte, dass er den Knaben einem anderen Hirten übergeben hatte, und er erkannte in dem Boten, den älteren Mann von heute, wieder den Freund aus vergangenen Tagen. Dieser habe dann das Kind dem König Polybos von Korinth und dessen Frau Periboia übergeben, die den Knaben liebten und umsorgten und grosszogen. Über die Herkunft des Knäbleins aber wollte er sich erst nicht äussern. Oidipus musste ihn massiv bedrängen und sogar mit dem Tode drohen. In seiner Not verwies der Hirt auf Iokaste, von der er den neugeborenen Oidipus ausgehändigt bekommen hätte. Jetzt war der Knoten geknüpft beziehungsweise geschürzt, wie man manchmal auch auch zu sagen pflegt.

Bei Sophokles geht das so:



Oidipus: So frag ich dich zuerst, den Fremden aus Korinth:
Ist's dieser, den du meinst?
Bote: Diesen, den du vor dir siehst.
Oidipus: He, du dort Alter! Sieh hierher und sage mir,
was ich dich frage! Des Laios warst du einst?
Hirte: Ich war's, ein Sklave, nicht gekauft, nein, im Hause aufgewachsen.
Oidipus: An welchen Plätzen lebtest du mit ihnen meist zusammen?
Hirte: Bald war das der Kitharon, bald das angrenzende Gebiet.
Oidipus: Den Mann da: Erinnerst du dich, ihn irgendwo gesehn zu haben?
Bote: Komm, sag jetzt, weißt du, wie du damals mir ein Kind
gegeben, dass ich mir es als Ziehkind zöge gross?
Hirte: Ich gab's! Wär ich nur umgekommen an dem Tag!
Oidipus: Wo nahmst du's her? Dein eignes war's? Oder kam's von einem andern?
Hirte: Aus dem Haus des Laion also denn ein Sprössling war's!
Hirte: Sein Sohn denn also wurde es genannt ... doch die drinnen
könnt am besten sagen, deine Frau, wie sich das verhält.
Oidipus: Gab sie es dir?
Hirte: Ja, Herr!
Oidipus: Um was damit zu tun?
Hirte: Vernichten sollt' ich es!
Oidipus: Die Mutter bracht' es über sich ...?
Hirte: Aus Angst vor schlimmen Sprüchen.
Oidipus: Welchen?
Hirte: Erschlagen wird es den Erzeuger, hiess das Wort.
Oidipus: Weshalb dann hast du's diesem Alten übergeben?
Hirte: Aus Mitleid, Herr! Ich dacht', ich brächt es
weg ins fremde Land, woher er selber war: Doch er,
von dem er spricht, so wisse, das unglückselig du geboren bist.
Oidipus: Iu! Iu! Das Ganze wäre klar heraus!
O Licht, zum ersten Mal will ich dich schauen jetzt.
Es trat zutage: Entstammt bin ich, von dem ich nicht gewollt,
verkehr, mit wem ich nicht gesollt,
und hab erschlagen, wen ich nicht gedurft!

Die Mutter bracht es über sich ...?, fragte Oidipus ungläubig im sophokleischen Drama, auch wollte er wissen, wer von seinen Eltern bereit war, ihn in den Tod zu schicken. O bei den Göttern! Von der Mutter? Oder vom Vater? Sprich, drang er in den Boten aus Korinth. Was aber diese irrsinnige Spannung zuerst einmal überlagerte, war seine Bereitschaft, vielleicht auch seine Fähigkeit, erstmals in dem Untersuchungsverfahren seine eigene Rolle zu sehen: ‚O Licht, zum ersten Mal ...’, und darin seine Verstrickung und seine Schuld zu erkennen. In einem Satz fasste er zusammen, wie er durch sein Schicksal und sein Handeln zur Erfüllung des Orakelspruch beigetragen hatte, beziehungsweise diese erst ermöglichte:

‚Entstammt bin ich, von dem ich nicht gewollt,
verkehr, mit wem ich nicht gesollt,
und hab erschlagen, wen ich nicht gedurft!’

Das hat schon eine Wucht.
Oidipus hatte noch immer Zweifel an der ganzen Geschichte - klar, auch im alten Griechenland konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Aber tief innen wusste er bereits um die Wahrheit. Er spürte das Drama und stürzte aus dem Audienzsaal in die inneren Räume des Palastes.
Auch Iokaste erkannte die Wahrheit in Teiresias' Darstellung und in der des Boten und des alt gewordenen Hirten. Sie war zutiefst erschüttert. In all den Jahren hatte sie darunter gelitten, dass sie damals dem Drängen des Laios nachgegeben hatte und ihm ihr neugeborenes, ihr erstgeborenes Söhnchen auslieferte und der Vernichtung anheimgab. Schmerzliche Qualen litt sie während der vielen Jahre, und sie hatte alle Kraft aufwenden muessen, um diese Qualen zu verbergen. Iokaste trauerte nie wirklich um den gewaltsam gestorbenen Laios, aber den von ihr mitverursachten Tod ihres Kindes hatte sie ohne Ende betrauert. Daran änderte auch die glückliche Verbindung mit Oidipus nichts und nicht die Geburt der vier Kinder, die sie mit ihm hatte. Von den Schatten der Vergangenheit hatte sie sich nie lösen können.
Wie geht's nun weiter? In jedem durchschnittlichen Krimi würde jetzt nach der Polizei gerufen werden und man würde die beiden Verdächtigen in Untersuchungshaft nehmen. Prominente Anwälte würden sich des Falles annehmen und die Medien würden darüber berichten. Und zwar exzessiv. Man stelle sich vor: Ein Königspaar. Ein Kanzler oder eine Kanzlerin, nebst Ehegatten. Oder ein Präsident mit Frau Gemahlin. Wieder eines dieser Jahrhundert-Medienereignisse.
Aber unser Fall liegt anders; wir erinnern uns: Hera strafte Laion wegen der Chrysippos-Affaire ab, Apollon trat nach und verhängte über Oidipus gleich einen zweifach miesen Spruch. Alles erfüllte sich: Laios starb durch die Hand seines Sohnes. Und der Sohn heiratete anschliessend die Frau Mama. Und hatte vier Kinder mit ihr.
Und jetzt sass er da, beziehungsweise verschwand kurz einmal im Inneren des Palastes, in den Privatgemächern sozusagen, und wir müssen schauen, wie wir damit zurechtkommen. Glücklicherweise gibt es den Sophokles und den Keréncy und den Köhlmeier und die eigene Phantasie. Und zusammen wird uns das schon weiterbringen.
Indem wir uns mit der ganzen langen Vorgeschichte vertraut machten, haben wir den Helden Oidipus bis hin zu seiner Beinahe-Einsichtigkeit begleitet, ermoeglicht durch eine gewisse Vorform von Klarheit und Erleuchtung. Oidipus ist auch in dieser Phase heldenhaft, weil ihm diese Einsicht und die Übernahme der Verantwortung fuer sein Handeln den Kopf kosten kann. Also nichts mit Polizei und Staatsanwaltschaft und Untersuchungshaft. Auf der einen Seite waren die Götter, die ihr unberechenbares, nur sie selbst erheiterndes Spiel mit den Sterblichen trieben - siehe auch die Biographie des Teiresias -, und auf der anderen Seite die Verantwortung des Oidipus, sich selbst, seinen Naechsten und den Menschen in der Stadt und der Stadt selbst gegenüber. Wir haben ja noch immer die Pest in Theben.
Der noch zweifelnde Oidipus hatte bislang viele Seiten mit Erfolg bedient: er war als Rätsellöser nach Theben gekommen, als Problemlöser, als Sphinxbrzwinger, als Befreier und Erretter der Stadt und ihrer Menschen. Und dann wurde er an der Seite Iokastes ein guter Koenig und ein guter Ehemann und Vater. Doch in diesen glänzenden Rollen und hinter den Masken, mit denen er seinen Aufgaben geradezu brillant gerecht wurde, hinter all dem nach Aussen gerichtetem Glanz, steckte das Elend des von den Göttern Verfluchten.
Und gegen dieses Elend, gegen diesen Fluch, konnte er nichts ausrichten. Da nutzte kein Jammern, kein Drohen, kein Davonlaufen. Aber vor den Menschen konnte er fliehen, seine Macht ausspielen. Oder sich verantworten. Und genau das Letztere tat er mit Vorsatz und Entschiedenheit. Und genau das machte ihn zum Helden.
Das ‚Ein Mensch wie du, ein Mensch wie ich’ in den letzten Tagen und Stunden eines anderen grossen Verlierers in Politik, Staatskunst und Kriegsführung, dessen Leben in einem Bunker in Berlin endete, wurde mit einem bekannten Schweizer Schauspieler und Ifflandring-Träger in der Hauptrolle verfilmt. Der Film wurde mit mittlerem Erfolg in den Kinos gezeigt. Dieser grosse Verlierer konnte sich nicht dazu aufraffen, sich dem Gegner und damit dem Gericht zu überantworten und persönlich für seine Schandtaten eingestehen. Nein, er schlich sich feige aus dem Leben und aus der Verantwortung. So nach der Art: ‚Wie gewonnen, so zerronnen’, oder ‚Nach mir die Sündflut’. Der Sender Flensburg des Radio Hamburg verkündete am 1. Mai 1945 den Heldentod des Feiglings: ‚Aus dem Führerhauptquartier wird ge-meldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichshauptstadt, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist.’
Nicht so Oidipus. Ihm war nicht nach Davonschleichen, nach Verantwortungslosigkeit und Feigheit. Obwohl er als Ahnungsloser von den Göttern hineingetrieben worden war, zögerte er nicht, sich dafür zu verantworten, als er seine Rolle und seine Untaten in diesem Spiel schliesslich erkennen musste.


Der Auszug aus Theben



Der vorläufig letzte Teil des Dramas um Iokaste und Oidipus beginnt:
Wie der Diener aus dem Palast vermeldete, hatte Iokaste sich gerade selbst umgebracht. Erdrueckt von ihrer Schuld, die sich über Jahrzehnte aufgestaut und nun freie Bahn verschafft hatte, stürmte sie in den Palast und in das Schlafzimmer, hin zu dem Bett, auf dem sie Oidipus empfangen hatte, den Sohn und den Gemahl. Die Teilhabe an dem Kindsmord hatte sie bereits schuldig gemacht. Und nun, ahnungslos und ohne eigenes Zutun die allerschlimmste Blutschande, der Inzest mit dem eigenen Sohn. Sie beweinte noch das Bett - Symbol ihres unglücklichen und grausamen Schicksals. Dann erhängte sie sich. ‚In schwebende Stricke eingeflochten’, wie es heisst. Sie, die nicht glücklich wurde mit ihren beiden Männern; sie, die ihren Männern auch kein Glück brachte; sie, deren fünf Kinder allesamt ein schlimmes Schicksal nehmen wuerden - sie starb von eigener Hand.
Als Oidipus, verwirrt und rasend, in das gemeinsame Schlafzimmer stürzte und seine Frau sah, tot, erhängt - brüllte er wie ein Stück Vieh. Zuviel für ihn: das konnte er nicht mehr ertragen. Mutter und Gemahlin - er hatte Iokaste sehr geliebt, er liebte sie noch immer. Er schrie und löste sie aus der Schlinge. Sie glitt zu Boden. Und als sie unten vor ihm lag, riss er vom dem Gewand der Iokaste die goldene Spange ab, die Fibel, die das reich gefältelte Kleid zusammenhielt. Die Augen, seine Augen, die all das Übel nicht erkennen wollten, das sie hätten sehen müssen, und all die Übel sahen, die sie nie hätten sehen dürfen - dies schreiend, immer wieder, holte er aus und stiess sich die feste Nadel erst in das eine Auge, dann in das andere. Und nur tropfenweise lief das Blut heraus. Doch plötzlich ergoss sich ein schwarzer blutiger Hagelregen auf die Köpfe von Oidipus und Iokaste.

Das alte Glück von einst war früher zwar
wirklich ein Glück, doch nun, an diesem Tag:
Stöhnen, Verblendung, Tod, Schande - so viele
Namen aller Übel sind, nicht einer fehlt!

Oidipus war für den Rest seiner Zeit blind. Begann sein Leben mit dem Durchstechen seiner Füsse, so endeten seine Regentschaft und seine Ehe mit dem Durchstechen seiner beiden Augäpfel. Nur selten hörte man von solchen Massnahmen gegen ein Neugeborenes, und nur selten hörte man von Fällen der Selbstblendung. Wie auch immer: Oidipus wurde in seiner letzten Handlung als der König von Theben seiner Verantwortung gerecht. Dem Orakel entsprechend, um die Pest aus der Stadt zu zwingen, verbannte er sich selbst, den Mörder des vorangegangenen Königs Laios. Oidipus, der Koenig, der Herrscher, der Machthaber, verbannte den Privatmann Oidipus, den Verfluchten. Ohne weitere Umstände erfuellte er das Orakel.
Er zog den rauhen Umhang eines Büssers an, ein unbequemes und unansehnliches Gewand und verliess Theben. Seine Lieblingstochter Antigone begleitete ihn.
Oidipus wanderte mit Antigone, die gleichzeitig seine Halbschwester war, durch Griechenland. Sie kamen nach Kolonos in Attika, ganz in der Naehe von Athen gelegen, und - wir glauben es kaum - Oidipus wurde in ein neues Orakel verstrickt. In der Stadt, in der Oidipus stürbe, würde das Glück Einzug halten. Das ist für jede Kommune wie ein Sechser im Lotto. Oidipus, das Glücksschwein, der Kaminkehrer, die blanke Kupfermuemze, das vierblätterige Kleeblat – Oidipus, der Glücksbringer. Die Stadt Athen - vertreten durch Theseus, den Landesherren - wir kennen Theseus aus dem minoischen Sagenkreis als den Besieger des Minotaurus im Labyrinth des Palastes von Knossos und als den kurzzeitigen Liebhaber der Ariadne, die dann doch die Gattin des Gottes Dionysos wurde - Theseus also bot Oidipus und seiner Tochter, die beide als Bettler durch die Gegend gezogen waren, Asyl an und Oidipus zusaetzlich eine letzte Ruhestatt. Erinnert man sich an den Inhalt des Orakelspruchs und an seine Auswirkung, dann war dieses erst einmal sehr grossherzig wirkende Angebot bestimmt nicht frei von Eigennutz.
Neben dieser zwar nicht gemütlichen, aber doch von Selbstbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein geprägten Fassung gibt es noch eine zweite Fassung - wie könnte es auch anders ein. In dieser sehr viel rauheren und weniger heldischen Schilderung wird Oidipus von seinen beiden Söhnen respektive Halbbrüdern und seinem Schwager und Onkel Kreon mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt. In dieser Fassung ging Oidipus also nicht aus freien Stücken und nicht zu seiner eigenen Läuterung in die Fremde, und er liess auch nicht seine Tochter Ismene zu deren Sicherheit in der Obhut ihres Onkels Kreon zurück. Nein, Hals über Kopf floh er da mit der anderen Tochter als seiner Führerin, mit Antigone.
Die beiden Söhne und Halbbrüder des Oidipus, Eteokles und Polyneikes, und sein Schwager und Onkel Kreon bekämpften sich gegenseitig mit Intrigen und in wechselnden Allianzen, tatsächlich auch mit Waffengewalt. Jeder wollte die Nachfolge des blinden König Oidipus’ antreten, und jeder wusste, dass er dazu die Legitimation und den Segen Oidipus' benötigte. Nur dann konnte er Thronfolger werden und sich auch der Zustimmung der Thebaner sicher sein. Gerade Kreon, der nach Laios' Tod und bis zur Inthronisation Oidipus' die Geschäfte kommissarisch verwaltet hatte, Kreon, der ewige Zweite, rechnete sich nun gute Chancen auf den Thron aus und schürte, wo und wann immer ihm das möglich war, den Bruderkampf zwischen Polyneikes und Eteoles.
Polyneikes suchte Oidipus in Kolonon auf und bat um dessen Segen, Eteokles reiste an und erbat sich dasselbe. Oidipus lehnte in beiden Fällen ab. Er wollte den Bruderkrieg nicht schüren und keine der verfeindeten Parteien unterstützen. Kreon kam und untermauerte seinen Machtanspruch: er kam gleich mit einem Heer angerückt - direkt vor die Stadt. Eine sicherlich unangemessene Form, dem blinden Oidipus in Amt und Würden nachfolgen zu wollen. Ob aus diesem Grund, wissen wir nicht, aber Oidipus verweigerte auch ihm die Anerkennung. Aus Wut darüber raubte ihm Kreon die beiden Töchter Antigone und Ismene. Auch Ismene, die sich inzwischen Antigone angeschlossen hatte und nun mit der Schwester und dem Vater lebte. Aber Theseus gab dem Kreon etwas auf die Mütze, befreite die beiden jungen Frauen und brachte sie zu ihrem Vater zurück. Man sieht, wie Oidipus, der Glücksbringer, wieder im Geschäft war und in der Gunst der Menschen stieg. Für die drei Bewerber um Oidipus' Nachfolge lief das alles nicht sehr gut, denn das Orakel - wieder das in Delphi - hatte geweissagt, dass tatsächlich nur der die Nachfolge für sich entscheiden würde, der Oidipus auf seine Seite ziehen wuerde.
Nun aber: Die Verwicklung reichte offenbar noch nicht aus, als dass die Götter nicht noch etwas draufzusatteln vermochten. Nach ‚Oidipus Rex“. Dem ersten, ‚Oidipus auf Kolonos’, dem zweiten, sind wir jetzt beim dritten der Oidipus-Dramen angelangt, bei ‚Antigone’. Und wir wollen in ganz groben Strichen skizzieren, um was es dabei ging: Antigone war mit Haimon verlobt, dem Sohn ihres Onkels Kreon. Ausgerechnet, wird man sagen. Aber die beiden liebten sich tatsächlich.
Doch der Onkel verbot Antigone, den Leichnam ihres Bruder Polyneikes zu bestatten. Kreon begründete das damit, dass Polyneikes auf der Seite der Argiver aus Argos in der Schlacht der ‚Sieben Verbündeten gegen Theben’ gestanden und somit seine Waffen gegen die eigene Vaterstadt gerichtet hätte. In der Schlacht war er dann ums Leben gekommen. Ohne Bestattung aber, und sei es, dass nur einige Hände Erde über den Leichnam geworfen werden, konnte er nicht ins Jenseits hinüberwechseln. So sagte es die Religion. Trotz des klaren Verbotes und der angedrohten Todesstrafe bei Zuwiderhandlung, beerdigte also Antigone den Bruder. Kreon, der Sturkopf, blieb gegen alle Einreden hart und liess Antigone hinrichten: die Staatsraison war ihm wichtiger als das Familiäre. Haimon, der Verlobte, und seine Mutter, Euridike, begingen Selbstmord. Und zum Schluss stand Kreon allein da - als hartherziger Tyrann, der seine Familie der Staatsraison und seiner Rechthaberei geopfert hatte.


Der Kreis schliesst sich



‚Oidipus auf Kolonos’ und ‚Antigone’ sind die Fortführung und der Schluss der Oidipus-Dramen von Sophokles. Wir können rückwirkend noch einen Blick auf die Protagonisten werfen und unsere Schlüsse ziehen aus dem, was wir gesehen und gehört haben. Im Mittelpunkt stehen natürlich Oidipus und sein Weg. Ja, es ist sein Weg, den er geht, und dieser Weg verdient es, noch ein wenig genauer betrachtet zu werden. Vielleicht sollte man gleich noch die Liste der Grossen aufstellen, die sich mit dem Oidipus-Stoff auseinandersetzten: Aristoteles und Caesar, Corneille und Voltaire, Schiller und Grillparzer, Kleist und Platen, Hofmannsthal und Reinhard, Cocteau und Strawinskij, Strindberg und Gides. Und Sigmund Freud im Zusammenhang mit seiner Selbstanalyse und dem ‚Ödipuskomplex’.
Was ist an der Figur des Oidipus dran, das sie weit heraustreten lässt aus der Rolle eines Hauptakteurs im ersten grossen Kriminalfall der Weltliteratur?
Fünf Themenkreise zeichnet Kurt Steinmann im Nachwort zu seiner König-Ödipus-Übersetzung auf (Reclam, 2002). Ich finde sie sehr einleuchtend:


Oidipus geht den Weg vom Schein zum Sein



Wie inspirierend und wie vorbildhaft: Vom Schein zu Sein. Ich konnte mich augenblicklich mit dieser Formulierung anfreunden, alleine schon deshalb, weil sie mich an Erich Fromms nachdrueckliches ‚Haben oder Sein’ erinnert.
Schnell waren in der Geschichte alle Voraussetzungen erfüllt, sodass Oidipus die Wahrheit hätte erkennen können. Er möchte diesen Weg auch gehen, unbedingt. Doch er benötigt Zeit dazu. Denn er steht gleichzeitig mit beiden Beinen auf der Erde. Er weigert sich, sein Organismus weigert sich, seine Seele weigert sich, das ungeheure Gewicht der Wahrheit und die Folgen ihrer Entbergung, so ungeschützt, so plötzlich über sich hereinbrechen zu lassen. Da ist er kein Opfer mehr oder ein Spielball der Götter. Da handelt er ganz selbstverantwortlich. Und wie das eben so ist: es kommen erst einmal die Ausflüchte und es funktioniert erst einmal die Abwehr. Er setzt Teiresias ins Unrecht, verspottet ihn wegen seiner Blindheit. Und es ist mehr als nur Ironie, dass es dann nur noch wenige Stunden dauert, bis er sich selbst blendet. Dann nämlich, als er sehen kann und auch zu sehen bereit ist.
Niemand erwartet Selbstblendungen, wenn heutige Führer - oder Eliten, wie man sich wieder zu sagen traut - aus Politik und Wirtschaft dabei ertappt werden, sich grob daneben verhalten zu haben, beziehungsweise dabei, dass sie die Verantwortung für die Unregelmässigkeiten in ihren Geschäftsbereichen nicht übernehmen wollen. Nein, aber die langatmigen, peinlichen und dann oft auch noch langweiligen Enthüllungen, die Rituale aus Widerständen und Tricks, aus Verzögerungen und Verschleierungen - da wünschte man den Managern der Macht mehr Anstand, Würde und Ehrlichkeit und mehr Gefühl für ihre Verantwortung. Sollte man den Herrschaften ein Reclam-Bändchen des König Oidipus schicken - mit rot markierten Textstellen? Ob sie sich darin wiederfinden würden? Fehler machen? Ja. Vorteile erschleichen? Kommt vor. Aber sich dann aus der Verantwortung stehlen, verschleiern, vertuschen, leugnen, auf andere abschieben? Nein! - Das zu unterscheiden ist doch eigentlich ganz einfach. Oder? (heute ist Sonntag, der 19. Februar 2012: das ganze im Grunde laecherliche Drama um den ueberfaelligen Ruecktritt des Bundespraesidenten Christian Wulff ist gerade zuende gegangen – ein Paradebeispiel von mangelnder Einsicht und Verantwortungslosigkeit, finde ich.)

Die Reinigung bis tief in die Poren



Befleckt und unbefleckt, verschmutzt und rein, besudelt und vom Schmutz befreit - diese Begriffe können auf alles Äussere angewandt werden. Auf der Ebene von Schuld und Entsühnung von Unreinheit und Reinigung ziehen diese Begriffe durch das ganze Oidipus-Drama. Die Knabenliebe, die Kindsverführung und die Kindsentführung, die Kindsaussetzung, das Geheimnis um den Adoptivsohn, der Vatermord, das Wüten der Sphinx, der Inzest mit der Mutter, die Pest, der Selbstmord, die Selbstblendung, der blutige Hagelregen - meine Güte, was für ein Dreck, welche Lügengeschichten, welche Verschleierungsversuche haben die handelnden Personen auf sich geladen! Wie kann dieses Gebirge an Dreck und Schuld jemals abgetragen werden? Oidipus tut das durch seine Selbstblendung und indem er erkennt, sich selbst verurteilt und sich diesem, seinem eigenen Urteilsspruch beugt und sofort - ohne Aufschub, ohne Revisionsverfahren und ohne Nachverhandlung - die Konsequenzen zieht und geht. Abgeht. Abhaut.
Und die Zuschauer? Wie werden die gereinigt? Aristoteles hat das ganz klar formuliert, wie das zu gehen hat: erst kommt die Rührung, dann der Schauder, und dann, ja dann, kommt die Erleichterung - die Katharsis. Und dann gehen die Zuschauer gut unterhalten, angeregt und erleichtert - und hoffentlich zufrieden mit sich und der Welt - nach Hause.

Das Wissenwollen um jeden Preis



Oidipus ist ein ‚mit-Fleiss-Typ’, ein ‚jetzt-gerade-Typ’ oder ein ‚dennoch-Typ’. Er will es wissen, und wenn alles darueber zugrunde geht. Die Wahrheit muss ans Licht kommen, die Wahrheit muss entborgen werden. Er will wissen, was Sache ist. Dabei glaubt er aber nicht jedem, und es müssen schon handfeste Beweise auf dem Tisch liegen, bevor er sich überzeugen lässt.
Dieser Hang zum Entbergen, zum Nachforschen, zum Aufstöbern, zum Wissenwollen ist ein Grundzug des eigentlich europäischen, des westlichen, des modernen Menschen. Er ist ein Grundzug des aufgeklärten, den Naturwissenschaften und der Technik verpflichteten Menschen, der alles erforschen will, ohne wirkliche Bedenken dabei, wohin ihn all das Forschen führen wird. Wobei die Problematik auch darin besteht, dass alles, was erforscht wird, tatsächlich auch zur Anwendung kommt. Heute mehr denn je.
Oidipus verkörpert den Typ des modernen Menschen, aber auch den, der mit seinen Göttern im Clinch liegt und sich ihren Zumutungen unterwirft.

Fragwuerdig ist des Menschen Grösse und zerbrechlich ist sein Glück

Das Schicksal des Oidipus steht da wie ein Sinnbild für das menschliche Leben überhaupt:



‚Io. Geschlechter der Sterblichen! Wie zähle ich euch gleich dem Nichts, solange ihr lebt!’ heisst es bei Sophokles. Das klingt wiederum gar nicht mehr nach einem modernen Wahrheitssucher. Der Mensch ein Nichts und - wie es zum Schluss heisst - jemand, den man vor seinem Ende nicht glücklich preisen sollte. Wie gewonnen, so zerronnen? Ja, ist die Erde doch ein Jammertal und sind wir Menschen doch nur Geschöpfe, mit denen die Götter ihr Schindluder treiben und ihre Exempel statuieren? Und ihre selbstgefälligen Spiele spielen? Ganz wie sie wollen?

Das Stück vom unschudig schuldigen Menschen

Oidipus ist durch die ‚Harmartia’ betroffen, das sind bei den alten Griechen die objektiv furchtbaren und verdammenswerten Taten ohne eine subjektive Schuld. Harmartia. Griechen schauen allein auf die Tat, nicht auf das, was hinter der Tat stehen könnte. Nicht das, was man sagt, sondern das, was man tut, wird bewertet. Nichts anderes. ‚Du kannst mir viel erzählen, aber ich bin nicht an deinen Geschichten interessiert, warum du das getan hast oder warum du jenes nicht getan hast.’
Doch warum wird eine so ohnehin schwer geprüfte Person wie Oidipus ausgewählt, Spielball und Opfer des Gottes Apollon zu werden? Braucht ein Gott wie Apollon ein solches Theater, hat er solche manipulativen und destruktiven Eingriffe in das Leben eines Menschen nötig? Muss er tatsaechlich so in das Leben eines Menschen eingreifen? Zwar in das eines Prinzen erst und dann Königs, eines Helden - aber eben doch nur eines Menschen? Vielleicht, um als Gott selbst noch mächtiger, noch anbetungswürdiger dazustehen?
Um ihre Göttlichkeit zu bewahren, mussten die Götter von Zeit zu Zeit tief in ihre Wundertuete greifen - ja, die Menschen verlangten, gierten förmlich nach Wundern, nach Zeichen, die die Göttlichkeit ihrer Götter immer wieder aufs Neue bestätigte. Man erinnert sich, was man dem Jesus aus Nazareth alles für Wundertaten andichtete, nur, um in ihm den Geheiligten, den Göttlichen, den Gottessohn sehen und verehren zu können. Oder anders gefragt: Musste Apollon erst einen bedeutendenund herausragenden Mann zugrunde richten, um zwischendurch wieder die Abhängigkeit des Menschen von den Göttern zu demonstrieren? Müssen sich die Menschen unter göttlichen Peitschenhieben, unter des Schicksals Knute, immer wieder ducken, damit die Verhaeltnisse gewahrt bleiben?
Der Mythos um die Figur des Oidipus scheint ausreichend betrachtet zu sein. Ich dachte mir, dass es spannend sein könnte, Oidipus und seinen familiären, politischen und mythologische Hintergrund in mehr als nur zwei oder drei Facetten zu untersuchen. Es ist mir beim Lesen und Bearbeiten erst so richtig klar geworden, wie modern dieser Oidipus ist und welchen Vorbildcharakter er haben koennte, beziehungsweise verkörperte, beziehungsweise verkörpern könnte.
Und: sind es wirklich nur die ganz grossen und die ganz tragischen Schicksale der von den Göttern oder von Gott oder von allen guten Geistern Verlassenen, die uns zum Nachdenken bringen? Oder zur Rührung? Zum Schaudern? Und hoffentlich - zum Schluss zur Entspannung?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /