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Kennt ihr diese absolut typischen, perfekten Paare, die von allen in der Schule angehimmelt werden?
„Oh, sie sind ja so süß!“ „Wie perfekt!“ „So glücklich will ich auch mal sein!“ „Blablabla.“
Das ist ja so widerlich!
Alle finden sie perfekt. Aber eigentlich – wenn man näher hinschaut – sind sie doch genauso verkorkst wie alle anderen Paare auch. Das weiß natürlich keiner und es erfährt auch niemals jemand.
Außer mir.
Ich mache mir einen großen Spaß daraus, mich in solche Beziehungen einzumischen und mal wieder ein bisschen Schwung hinter die Edward-und-Bella-fürimmer-vereint-Fassade zu bringen. Oder Eva und Jan. Oder so eben.
Klar, dass ich dabei selber hinter die Fassade klettern muss, was leider bedeutet, dass im Nachhinein ein oder zwei Herzchen gebrochen und große Lieben enttäuscht werden. Das könnte gemein klingen, aber Leute, das Glück kommt doch nicht von allein, man muss es sich schon holen. Ohne Fleiß kein Preis, nicht wahr?
Na gut, ich muss gestehen, mein Glück habe ich jetzt noch nicht so richtig gefunden. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntermaßen zuletzt.
Das meinen sicher auch die anderen Mädchen auf diesem Internat, die mich mit ihren Blicken massakrieren. Sie hoffen wohl, dass ich blutend zu Boden stürze. Sorry!
Das fängt ja gut an!
Sie tuscheln. Ich kann sie natürlich nicht verstehen, aber ich weiß worum es geht. Man könnte es sicher so übersetzen: „Hast du schon gehört? Die Neue soll eine richtige Schlampe sein!“
Richtige Schlampe? Falsche Schlange wäre wohl angebrachter.
So schlängel ich mich also unter todbringenden Blicken in Richtung Sekretariat. Statt zu sagen: Hey, ich freue mich schon auf die Zeit mit ihnen, ist ja schließlich erst mein drittes Internat! Sage ich schlicht: „Hallo.“
Ich, die schlängelnde Schlampe, grüße Sie, schrullige Hexensekretärin.
„Guten Tag! Du musst Jessica sein!“
„Jessie, bitte. Ein spitzer Hut würde ihnen sicher stehen.

Mein Gepäck steht noch unten im Flur. Wann wird gegessen?“
Das „Bitte“, hebe ich mit französischem Näseln hervor, damit die schrullige Sekretärin das auch positiv zur Kenntnis nimmt. Doch sie hebt nur herablassend die Augenbrauen. „Gut, du kannst es später in dein Zimmer bringen. Die Schülerpräsidentin wird es dir zeigen.“
Das wars schon? Mensch, das ist ja langweilig.
„Amen.“, sage ich also.
„Wie bitte?“


„Da kommt Dampf aus ihren Ohren.“
Bevor sie mich mit ihrem verhexten Kugelschreiber bewerfen kann, klopft es und ein Mädchen kommt herein.
„Ich kotz gleich, Geschmacksverirrungen waren wohl im Ausverkauf?!“, stöhne ich.
„Das ist die Schuluniform.“, antwortet sie kalt. Sie hat einen Stock im Allerwertesten, da bin ich mir sicher.
„Rückenprobleme?“ Ich betrachte ihre eingefrorene Haltung.
Sie lächelt. Eisprinzessin.
„Komm.“ Wie kann man bloß so reaktionslos sein?
Den Rest des Weges habe ich keine Lust zu reden, denn beim Anblick des alten Gebäudes verschlägt es selbst mir die Sprache.
Die Decken sind bestimmt dreimal so hoch wie in einem gewöhnlichen Gebäude und ich glaube ich habe noch nie so viel Marmor gesehen. Leider trüben die Buntglasfenster das Bild ein wenig.
Eine gute Cafeteria und die nächsten fünf oder sechs Monate könnten ein Spaß werden.
Länger werde ich nicht bleiben, denke ich. Und wenn ich gehe werden die braven katholischen Engel kiffen und saufen bis der Arzt komm – im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich selber mache sowas eigentlich nicht. Wirklich! Aber ich habe wohl eine asoziale Aura, die alles vergiftet was in ihre Nähe kommt. Außer die Eisprinzessin.
Die stakst mit storchigen Beinen die Treppe herauf und ich passe lieber auf, dass ich auf den gefrorenen Stufen nicht ausrutsche.
„Du wirst vorerst ein Einzelzimmer haben.“
Ich würde fröhlich tanzen, aber Schlangen haben ja leider keine Beine, also krieche ich einfach fröhlich voran und vereise meine Bauschschuppen auf den frostigen Stufen.
„Ob man sein Bauchfett wohl wegeisen kann?“
Madame Stockstorch würdigt mich keines Blickes, bis wir da sind. „Hier ist es. Hol noch deine Koffer hoch.“
„Kein Typ mit Bärenfellmütze und rotem Anzug, der meine Koffer hochträgt?“
„Das wirst du wohl alleine schaffen.“
Ich stöhne, laut und qualvoll, damit sie das auch ausreichend zur Kenntnis nimmt.
„Madame Stockstorch, ich werde ihr eisiges Herz zum tauen bringen....“

, flüstere ich dramatisch und strecke meine Hand in ihre Richtung.
Zwei Sekunden lang guckt sie verwirrt, wird dann etwas rot, macht schließlich auf dem Absatz kehrt und verschwindet.
Ja, das sieht aus als würde der Frühling in ihr Herz einkehren. Ich kichere.
Dann gehe ich wieder in die marmorne Eingangshalle und hole den ersten Koffer. Die Treppe gefiel mir ohne Koffer besser.
Stufe für Stufe zerre ich den Koffer wie einen Sack voller Steine hinter mir die Stufen herauf. Jedes mal knallt er laut gegen die nächsthöhere, als wollte er mich ankündigen.
„Lalala, der Eiermann ist da...“, brumme ich vor mich hin.
„Brauchst du Hilfe?“, höre ich jemanden fragen. Ich blicke auf und sehe das Gesicht einer älteren Schülerin. Sie lächelt fröhlich. Igitt.
Also falle ich auf die Knie und sehe sie an. „Ja. Trag mich hoch, Prinz, Retter in der Not!“ Sie kichert leise und reicht mir die Hand. „Steh schon auf.“
„Ich kann nicht.“, dramatisiere ich.
Naja, ich kann tatsächlich nicht, denn beim „auf die Knie gehen“ habe ich mir so hart das Schienenbein angehauen, dass mir die Tränen in die Augen geschossen sind.
Sie grinst. Miss Sonnenschein also.
„Miss Sonnenschein,“, sage ich feierlich. „gehen sie ohne mich weiter. Wenn sie mich zurücklassen, können sie es noch rechtzeitig schaffen! Sagen sie meiner Frau und meinen Kindern, dass ich sie liebe...“
Das Mädchen schüttelt ihren Kopf und ihre weißblonden Haare fallen auf ihre Schultern.
„Du spinnst.“, behauptet sie.
„Falsch. DU spinnst.“
„Was redest du da?“
„Was Gott mir aufgetragen hat!“
„Pass mit sowas auf. Wir sind an einer katholischen Schule!“
„Ah, Blasphemie!“
„Hä?“
„Jetzt verstehe ich nur noch Kamel...“
„Hör auf damit!“
„Gut, wie sie wünschen, Miss Sonnenschein. Von nun an bringen wir Ernst in diese Lage.“
Sie seufzt, packt mich mit der einen und den Koffer mit der anderen Hand und zieht uns die breite Treppe hinauf. Die Stufen sind aufgetaut.
Als wir ankommen sieht sie sehr geschafft aus. Ich denke darüber nach, mich zu bedanken – aber da ich nicht allzu lange bleiben will, sollte ich nicht von meinem „Bad Girl“-Weg abkommen.
„Du bist Jessie, die Neue, oder?“
„Du nicht, oder?“
Sie stöhnt genervt.
„Die Neue ist ätzend, findest du nicht? Also ich kann sie nicht ausstehen.“, sage ich.
Sie mustert mich von oben bis unten – ohne eine Stelle meines Körpers auszulassen.
„Sowas außergewöhnliches sieht man selten...“, stelle ich fest, um davon abzulenken, wie unangenehm mir ihr Blick ist.
„Du nimmst dich wohl für ziemlich wichtig, hmm?“, bemerkt sie nüchtern. Dabei kehrt ihr Blick auf meine Augen zurück.
Ich kann nicht antworten, denn ich versuche zu ergründen, was hinter ihren leuchtend grünen Augen vor sich geht.
„Warum auch nicht.“, antworte ich schließlich. Es schadet ja wirklich nicht, denke ich. Ich stehe gerne im Mittelpunkt und genieße jegliche Aufmerksamkeit. Ist doch nicht schlimm, oder?
Die strahlende Miss Sonnenschein geht nicht darauf ein. „Ich denke den Rest schaffst du allein...“
Dann geht sie und lässt mich und meinen Koffer stehen. Die Gänge sind leer.
Als ich mein Zimmer betrete, freue ich mich sogar ein bisschen. Meine Decken sind höher als gewohnt. Die Wand gegenüber der Tür besteht zum größten Teil aus Fenstern, die schon auf Kniehöhe anfangen und bis hoch unter die Decke reichen. Von ihnen aus blickt man auf einen riesigen Laubwald, dessen Blätter orange und gelb in der herbstlichen Abendsonne leuchten. Ich schließe die Tür, damit auch keiner sieht, dass ich traurig bin. Geht ja auch niemanden was an.
Eine Weile lehne ich mich ans Fenster und beobachte, wie die Blätter zu Boden fallen.
„Der Wald sieht aus wie der hinter unserem Haus...“


Die Erinnerungen fluten meinen Kopf, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Bilder von goldenen Blättern und strahlender Sonne. Hundegebell – Twinny, ihr Neufundländer, der sich im Gras umher wälzt. Der Geruch von Sonnencreme und frischer Erde, das Gefühl am Ende des Tages halbtot vor Erschöpfung ins Bett zu fallen. Popcorn, weicher Teppich, knarzendes, altes Holz.
Meine Mutter.
Meine wunderschöne Mutter, die voller Freude mit uns spielte. Die geheimen Abende, wenn Papa schon ins Bett gegangen war und sie mir ihre aufregenden Geschichten vorlas - wir uns auf den weichen Teppich knieten, während das Popcorn in der Mikrowelle knallte, wie wir jedes mal schnell das Licht ausschalteten, wenn es irgendwo im Haus knarzte...
Das Leuten von Kirchenglocken reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf meine Uhr. Es ist sechs.
Schnell werfe ich mir eine Jacke über, die ich aus meiner Tasche reiße und jage dann die Treppen und Gänge entlang, vorbei an jeglichen Lehrern, - um darauf aufmerksam zu machen, dass ich verbotenerweise in den Gängen renne – und halte zwei Millimeter vor der geschlossenen Flügeltür des Gemeinschaftssaals. Ich horche. Sie beten. Ups.
Ich stoße die Tür auf und stehe vor der ganzen Schule. Jeder sieht mich an. Natürlich tue ich als wäre es ein versehen gewesen und stammele etwas von Koffer tragen und hinfallen und versuche so unschuldig und verwirrt wie möglich auszusehen. Dieses Prozedere erspart mir die Bekanntmachung mit den einzelnen Schülern.
Sie verzeihen mir, natürlich. Und so werde ich hingesetzt und während alle beten und Gott für das Essen und das Dach über dem Kopf danken, überlege ich mir ob man für die Cafeteria hier tatsächlich danken kann oder ob man sich genauso durch die Mahlzeiten quälen muss wie an meinem letzten Internat.
Zum Glück beginnt die Schule erst in ein paar Tagen und so habe ich noch genügend Zeit um mir mein Jagdrevier anzuschauen.
Es ist nicht allzu leicht, denn Mädchen und Jungen werden hier ziemlich strikt getrennt und obwohl die Gemeinschaftsräume bis sechs Uhr für alle geöffnet sind, halten sich die wenigsten Paare hier auf. Man findet sie eher im Park oder in den Gängen. Bis jetzt habe ich allerdings keins gesehen, das interessant für mich gewesen wäre.
Aufgeben kommt natürlich nicht in Frage, das wäre allzu langweilig. Also beobachte ich die Mädchen an meinem Tisch. Multitasking ist nicht so richtig mein Ding, das heißt beim Beobachten kann ich nicht wirklich ausführlich auf ihre Fragen antworten. „Wo kommst du her?“ „Aus so 'ner Stadt.“ „Haha, na du scheinst ja 'ne ganz schlaue zu sein.“ Ich wende dem Mädchen meinen Blick zu. Sie ist nicht so toll, dass sie sich mit mir anlegen könnte. Irgendwie 0815, viel zu hübsch und wahrscheinlich auch noch klug. „Hör mal, Mary-Sue, Schätzchen, ICH weiß wo ich herkomme. Also bin ich schonmal schlauer als du.“, belehre ich sie mit zuckersüßer Stimme. Das heißt, das ist was sie hört. Eigentlich sage ich: „Zieh den Stock aus dem Hintern und küss mich da, wo die Sonne nie hin scheint!“ Damit ist der Bereich unterhalb der Taille gemeint – FKK Strände mag ich nicht besonders, da kommt also echt selten Sonne hin.
Was auch immer sie jetzt sagt, ich höre nicht zu. Ihre Stimme klingt wie aus einer Telefonwarteschleife. „Bitte gedulden sie sich, während wir ihren Antrag bearbeiten.“ Ich halte dabei immer den Hörer von meinem Ohr weg.
„Maaaann, jetzt sei doch mal still, Isabel, echt!“ Kommen da die rettenden Truppen? Halt, habe ich überhaupt um Unterstützung gebeten?
Ein unerbitterlicher Zickenkrieg entbrennt. Was? Streiten sich die Damen etwa um mein edles Herz? Vielleicht auch nicht.
Das ganze endet mit den Worten „oberflächliche intolerante Zicke“ und „ekelhafte Kampflesbe“. Ich werde hellhörig. Also ekelhaft ist sie nun wirklich nicht. Ganz im Gegenteil. Kommt da ein Boot um mich ans andere Ufer zu holen? Aber ich möchte nicht inkonsequent sein und als erstes muss das „Notizbuch des Ehebruchs“ weitergeführt werden.
„Hast du heute Abend schon was vor, Schneckchen?“, gurre ich trotzdem. Sie bricht in schallendes Gelächter aus. Im ersten Moment denke ich, sie ist ein extrem sympathischer Mensch und hat nichts dagegen mal auf die Schippe genommen zu werden. Dann sehe ich den Pinguin. Also diese mit den Schleiern. Ja Nonnen, genau die meine ich. Sie scheint richtig wütend zu sein.
„Gott sagt, ich darf lieben wen ich will.“, provoziere ich.
„Wem sagt er das?“
„Na mir, Chuck Norris ist es ja egal, ob ich liebe wen ich will!“
„Und Gott hat dir auch gesagt, dass du so eine Unruhe veranstalten sollst?“
Ich zögere.
„Ne, mir doch nicht. Ich nehme an, er hat es Mary-Sue gesagt, die macht doch so einen Lärm.“
„Ich heiße aber nicht Mary-Sue!“, kommt von Isabel.
„Da wir hier keine Mary-Sue haben, spielt das ja gar keine Rolle, ob er es ihr gesagt hat.“
Ich seufze. Blöder,schlagfertiger Pinguin, denke ich.
„Blöder, schlagfertiger Pinguin!“, sage ich.
Damit ist das Essen für mich beendet. Die anderen Schüler folgen auf dem Fuße. Auch Rebecca – so stellt sich die nicht allzu unattraktive Lesbe vor. Weil sie mich vorhin verteidigt hat (denke ich zumindest), küre ich sie zum Mitglied der „sündhaften Luder“. Somit also auch zu einer Freundin auf Zeit.
Also hake ich mich bei Becki – meiner neuen besten Freundin – unter und lasse sie mich durch das Gebäude führen. Sie ist für mich wahrscheinlich die passendste Freundin in der ganzen Schule. Sie ist hübsch, fröhlich, sehr redselig und lesbisch. Perfekt, wenn ich daran zurückdenke, wie sich meine letzten „besten Freundinnen“ in meine Jungsgeschichten eingemischt haben.
Als wir schließlich den Leseraum, der direkt an die Bibliothek grenzt, durchqueren, bleibt Becki stehen. Sie seufzt theatralisch. „Hach, sie ist so toll.“
Ich folge ihrem Blick und in meinem inneren grölt ein ganzer Kegelklub. „Strike!“, gröle ich mit.
Sie sieht mich verwirrt an, dann blickt sie zurück.
Ich sehe Miss Sonnenschein – Barbie - auf dem Schoß von einem muskulösen, göttlichen Jungen – Ken. Ich grinse. Alle anderen Schüler in diesem Raum werfen ihnen regelmäßig bewundernde Blicke zu. Damit war meine Unterhaltung für die nächsten Wochen und Monate gesichert.
Als ich Becki von Miss Sonnenscheins Anblick losgeeist habe, ziehe ich sie in die Gänge zurück.
„Machen wir einen Deal?“
„Hmm?“
„Du Barbie und ich Ken?“
Sie lacht und gibt mir ein High-Five. „Meinetwegen, ein bisschen träumen darf man ja.“ Dann singe ich.
„Sunny, you smiiiiiled at meee...“ Tja, Miss Sonnenschein, hier komm ich...





Die letzten freien Tage habe ich damit verbracht, alles Wissenswerte über Barbie und Ken herauszufinden. Das ist noch nicht so viel, ehrlich gesagt.
Trotzdem bekommen sie ihre eigene Akte in meinem „Notizbuch des Ehebruchs“, wie ich es feierlich getauft habe. Hier stehen schon einige Paare. Mit der Zeit habe ich mein System in diesem Buch perfektioniert - und langsam bekomme ich richtig Übung.



Mehr hab ich noch nicht, denn bei den Beobachtungen ist bis jetzt noch nicht wirklich viel rumgekommen. Becki hilft mir so gut es geht und hat – Gott sei Dank, Amen – keinerlei moralische Bedenken. Eigentlich hat sie sogar genauso viel Spaß wie ich.
Sie hat mir den Ratschlag gegeben, eine Karte zu zeichnen, auf der ich markiere Wann sie sich Wo aufhalten. Das ist eigentlich keine schlechte Idee und so kann ich das Gelände noch ein bisschen besser kennenlernen.
Als Ausgangspunkt zeichne ich den Mädchentrakt oben auf die Karte und direkt einen großen Metallzaun außen herum. Ein Tor führt nach unten auf einen Weg, zwischen den Bäumen hindurch zum Hauptgebäude. Das besteht aus zwei Teilen, der Schule und dem Freizeittrakt, in dem sich die Gemeinschaftsräume, sowie AG- und Hobbyräume befinden. Außerdem liegt hier die Bibliothek und die Kirche. Weiter nach unten führt der Weg zum Jungentrakt, der ebenfalls eingezäunt ist. Der Park – auch eingezäunt – ist nur am Wochenende offen und nur vom Schulgebäude aus zu erreichen. Ansonsten liegt die gesamte Anlage im Wald. Ich bin mir sicher, der ist auch nochmal eingezäunt.
Dass mich Männer in weißen Kitteln hier hergebracht haben, war wohl doch ein schlechtes Zeichen !? Kleiner Scherz, ich musste natürlich mit dem Bus herfahren. Ein Penner hat mir während der Fahrt im Schlaf auf die Schuhe gesabbert. Er tat mir so Leid, dass ich ihm – wir waren wohl beide gefangen in geistiger Umnachtung – sein Pappschild mit den Worten „Ich habe Hunger.“ abgekauft habe. Naja, ich habe es ihm gestohlen und ihm aus Reue einen 5 Euro Schein hingeworfen. Auf jeden Fall habe ich damit was in dieser Welt verbessert. Heiliger Samariter, ich komme vom Thema ab.
Viel mehr kann ich also nicht einzeichnen und da wir eingesperrt sind wie Zootiere, hätte das auch keinen Sinn.
Da morgen die Schule anfängt, wird es ab sofort wohl nicht mehr so leicht sein, die beiden zu beobachten.
Am nächsten Morgen will ich eigentlich ausschlafen, doch weil ich sowieso schon wach bin, kann ich auch pünktlich zur Schule gehen. Da ich schon schnell fertig bin, schnappe ich mir meine Tasche und gehe raus. Es ist sehr kalt – bye,bye Sommer. Obwohl es tagsüber noch warm ist, fallen bereits die ersten orange-braunen Blätter von den Bäumen und die Nächte frieren alles ein. Ich setze mich an den Zaun und betrachte durch die Gitterstäbe den Park. Die Äste winken mir im Wind langsam zu. Sehnsüchtig stecke ich meine Hand durch das Gitter. Wie gerne würde ich jetzt unter diesen Bäumen sitzen.
Ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren, schließe die Augen und mache leise „Imagine“ an. Das Lieblingslied meiner Mutter. Der Geruch des frisch gemähten Grases und das Licht der aufgehenden Sonne lassen mich beinahe in der Zeit reisen.
Ich höre nichts außer ihren Gesang, wie sie den Text in den schiefsten Tönen mitsang und dabei einen fürchterlich jammernden Ton in ihre Stimme legte. Ich habe sie immer total geärgert, weil ihr Gesang so schrecklich war.
„Jessica.“
Ich drücke die Kopfhörer fester in meine Ohren. Halt doch die Klappe!
„JESSICA!“ Irgendjemand rüttelt an meinen Schultern, als wäre ich in einer schlechten Filmkulisse und würde grade sterben.
Nein, bleib bei mir! Du darfst nicht sterben! NEIN!
Dann werden brutal die Kopfhörer aus meinen Ohren gerissen. „JESSICA, WAS MACHST DU HIER DRAUßEN?“
Äh, hat da jemand seinen Part nicht kapiert? Wir führen kein zweitklassiges Bühnenstück auf, sondern eine romantische Komödie. Da hängen doch immer diese großen Plüschmikros rum – also kein Grund so zu schreien.
Ganz besonders langsam öffne ich meine Augen. Ah, es ist die wundervolle Mary-Sue. „Na, intolerante, oberflächliche Zicke, was kann ich denn für dich tun?“ Ihre kristall-/meer-/eis-blauen , mit langen schwarzen Wimpern umrahmten Augen funkeln mich aus einem makellosen Gesicht mit ebenmäßigem Teint und rosigen Wangen an. Baah, gleich muss ich kotzen.
Sie verdreht übertrieben gespielt die Augen. „Ich wollte dir nur einen Gefallen tun.“ Wow, okay, wenn das so ist. Ich hasse dich du blödes *+&%§#$. „Scheiß los.“ Anstatt zu antworten zieht sie nur verächtlich die Augenbrauen hoch. „Ja, ich hab Scheiße gesagt, jetzt komme ich in die Hölle. Bitte, könnte Madame jetzt sagen, was sie will? Ich bin eine viel gefragte Frau, weißt du, und habe nicht ewig Zeit!“
„Du solltest eigentlich jetzt auf dem Weg zum Morgengebet sein.“
„Sollte ich also.“
„Ja!“
„Weißt du, ich gebe nicht sonderlich viel darauf, was ich sollte.“, belehre ich sie.
„Okay meinetwegen. Aber sag nicht, ich hätte dir nicht Bescheid gesagt!“
„Äh, apropos, wieso sagst ausgerechnet du mir Bescheid?“
Sie lächelt zuckersüß. „Du bist doch die Neue, da muss an ja auch mal nett sein, nicht wahr?“
Äh, nö, nicht dass ich wüsste. Himmel, sie opfert sich ja quasi total für mich auf.
„Ich werde mein Leben lang in deiner Schuld stehen!“, stelle ich sarkastisch fest und bevor sie noch etwas entgegnen kann, sind meine Kopfhörer wieder in den Ohren und meine Augen geschlossen. Verdammt, jetzt ist das Lied zu ende und ich bin total raus. Eine Weile versuche ich mich noch zu entspannen, aber dann gehe ich tatsächlich zur Schule. Brauche ich eine Ausrede wegen dem Gebet? Eigentlich nicht.
Als erstes geht es zur Hexensekretärin. „Frau Schrullig, können sie mir sagen, wo ich jetzt Unterricht habe?“, frage ich so unschuldig wie möglich. „In Raum 124, also im Erdgeschoss.“, sagt sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Bestimmt hat sie ihr Herz an den Teufel verkauft, um ihre Hexenkräfte zu bekommen. Aber – eigentlich müsste mein Herz dem Teufel doch reichen, oder?
„Vielen lieben Dank, Monsieur. Äh, Madame.“ Ich zwinkere und trippele Leichtfüßig davon. Hinter mir höre ich die Sekretärin wie eine Dampfmaschine zischen. Da pfeift es wohl aus allen Löchern. Ich kichere und komme gleichzeitig mit dem Pinguin, der uns unterrichtet, an der Klasse an. Damit beginnt ein wirklich vorzüglicher Schultag.
Die Klasse ist im totalen Höhenflug. Jemand wie ich hat hier anscheinend gefehlt.
In der letzten Stunde scheint Gott jedoch Rache nehmen zu wollen – natürlich an mir. Vielleicht wegen dem Morgengebet? Man sagt ja: Die kleinen Sünden bestraft Gott sofort. Dann sollte er sich allerdings warm anziehen. Ich sündige schließlich ziemlich viel. Außerdem gibt’s jede Strafe doppelt und dreifach zurück.
Wie? Das muss ich mir noch überlegen.
In dieser Stunde wird mir klar gemacht, dass die Pinguine das mit dem bösen drei-Buchstaben-Wort echt eng sehen. Das mit dem S vorne, dem E in der Mitte und dem X am Ende. Sex. Oh mein Gott, ich habe es gesagt. Sie werden mich kreuzigen – und ich werde als Jesus aller Nutten, Stripperinnen und Schlampen in die Geschichte eingehen.
Als ich nämlich laut
„Cause I may be bad,
but I'm perfectly good at it
Sex in the air, I don't care,
I love the smell of it
Sticks and stones may break my bones
But chains and whips excite me!“,


singe, kommt meine zukünftige Deutschlehrerin herein – und mir fällt alles aus dem Gesicht. Ich kann mich einfach nicht zurückhalten. Schnell stupse ich Becki an. „Ich brauche psychologische Unterstützung von dir!“, murmle ich.
„Wieso?“
„Ich bin besorgt wegen meiner Sexualität.“
Sie lacht nur.
Fast die ganze Stunde verbringe ich damit, kleine Zeichnungen von Pinguinen (richtigen Pinguinen) in meinen Block zu kritzeln. Bis die Schwester wissen will: „Hat jemand noch Fragen?“
Mein Finger schießt in die Höhe. „Ja, Jessica?“ Oh mein Gott, Hitzewellen, sie kennt meinen Namen. Nehmt mich bitte nicht allzu Ernst.
„Wieso zum Teufel wird eine Frau wie sie Nonne?“, frage ich mit echter Neugier. Der Ausdruck „zum Teufel“ war wohl etwas zu viel des Guten. Doch sie reagiert gelassen – fürs erste.
„Spricht deiner Meinung nach etwas dagegen?“
„Hallo? Wenn sie keinen riesigen Leberfleck auf ihrem geilen“ ich räuspere mich „äh von Gott wohlgeformten Hintern haben, könnten sie in ihrem Leben echt viel Spaß haben!“ Dieser Satz beruht eigentlich auf Spekulationen, denn durch den Habit kann man echt wenig sehen.
Habt ihr es bemerkt? Ich hab schon was gelernt! Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sie einen Habit (oder so) und keinen Zaubererumhang tragen.
Ach, ich wollte ja was erzählen.
„Ich suche noch 'ne Stripperin für meinen 16ten, falls sie also Zeit haben?“, führe ich fort.
Jetzt scheine ich etwas falsch gemacht zu haben, denn ich werde am Ohr aus dem Klassenraum gezerrt.
Gut, das war gelogen, am Handgelenk.
Daraufhin will sie ein sehr langes Gespräch mit mir führen, aber alles was ich höre ist „lalalalalalala.“. Ich gucke natürlich überallhin, aber nicht in ihr Gesicht – bis sie schließlich kurz davor ist, zu kochen.
„Wenn ihnen warm ist...“, fange ich an, doch sie unterbricht mich. Als ich dann doch in ihre Augen sehe, fahre ich innerlich zusammen wie ein geschlagener Welpe. Ich kenne diesen Blick – es wird Zeit seinen Chitinpanzer anzulegen.
Der fette aus dem Kegelklub in meinem Kopf – ich glaube er arbeitet bei der Stadtverwaltung – meint nur zu mir: Ach komm, lass dich doch nicht von einem Pinguin unterkriegen.
„Hör auf damit!“, sagt sie sanft, aber nachdrücklich.
Es ist Mitleid – ich hasse Mitleid. Das kann ich nicht gebrauchen, sie könnte jetzt mit ein paar anderen Gefühlen aufwarten, das würde mir gefallen...
Sie legt nur ihre Hand auf meine Schulter und sagt: „Ich weiß nicht was mit dir los ist, aber wenn du mal Hilfe oder jemanden zum Reden brauchst, komm einfach zu mir. In Ordnung?“
Was zur Hölle? Okay, bei dieser lieblichen Stimme und den tröstlichen Rehaugen reicht kein Chitin mehr.
„You shoot me down, but I won't fall! I am titanium...“

, summe ich nur. Und nicke.
Tja, das wars, ich bin ohne Strafe davongekommen! Leider war ihr Mitleid Strafe genug, mehr als Nachsitzen. Sieht aus als müsste ich die nächsten Deutschstunden schwänzen.
Im Klassenraum herrscht Stille, als wir zurückkommen. Das kann doch nicht wahr sein? Normalerweise sollte doch totales Chaos ausbrechen sobald der Lehrer den Raum verlässt!? Ich geselle mich zurück zu Becki und stehe die letzten zehn Minuten durch. Zum Abschluss verlasse ich den Raum mit dem legendärsten Moonwalk der Weltgeschichte und – wie könnte es anders sein – hinterlege die Show mit Gesang.
„MfG - mit freundlichen Grüßen
die Welt liegt mir zu Füßen,
denn ich steh drauf
ich geh drauf
für ein Leben voller Schall und Rauch
bevor ich falle, fall' ich lieber auf!“


Prompt stoße ich rückwärts gegen etwas. Als ich mich umdrehe, steht da ein verdammt verdammt geiler Typ im Türrahmen. Seine braunen Augen blitzen mich belustigt an.
Mein SA (Situation-Analyzer) spuckt aus: du blamierst dich grade vor einem absolut heißen Typen, gegen den du gerannt bist. Wenn du jetzt sinnloses Zeug stotterst...
Mein innerlicher Kegelklub unterbricht die Analyse:
Oh mein Gott, sie haben dich in einen schlechten Vampirroman gesteckt! Lauf, lauf, lauf!


Ich rolle die Augen. „Himmel, Arsch und Zwirn! Mach dich doch nicht so fett, hier könnten zwei Leute nebeneinander durchpassen! Danke!“
Puh, nochmal gutgegangen. Also falscher Alarm, kein sexy Vampir. Nichts bringt mich aus der Fassung!

Ich weiß nicht was mit dir los ist, aber wenn du mal Hilfe oder jemanden zum Reden brauchst, komm einfach zu mir. In Ordnung?

Wie lange das wohl noch in meinem Kopf widerhallen wird?


Ehm ja, wenn Becki, diese beknackte Lesbe, nicht meinen Bleistift zerbrochen und in einen Blumentopf gesteckt hätte, wäre hier jetzt eine schöne Überschrift. Sie war der Meinung ihr hässlicher Krüppelkaktus namens "Krüppelkaktus Karl" bräuchte eine Stütze, damit er nicht umfällt. Ich habe sie verprügelt und wollte den Karl nach ihr werfen, aber dieses verdammte Ding ist so hässlich und abstoßend, da hatte ich einfach Mitleid. Und außerdem wollte ich ihn nicht anfassen.
Tja, also gibt es vorerst keine schöne Überschrift.

3. Bitte sehr und Dankeschön



Tatsächlich habe ich die letzten Deutschstunden geschwänzt. Man glaubt es kaum - bei einem belesenen Genie wie mir! Heute ist es Zeit, das zu feiern. Deswegen warte ich auf meinem Bett, bis Becki mich abholt. Wir gehen in den Park - das entspricht nur bedingt meinen Vorstellungen von feiern, aber viel Auswahl habe ich ja nicht. "Du bist einfach nur behindert.", begrüßt mich Becki. Ich funkle sie böse an. "Das war extrem diskriminierend. Gott liebt jeden Menschen!"
"Ich Knall dir gleich eine!"
"Heul doch nicht rum! Bist du schwanger oder was?"
"Hast du in Bio nicht aufgepasst?"
"Oh. Ja. Lesbe. Penis. Hab ich ganz vergessen."
"Könntest du BITTE diesen Penis aus dem Spiel lassen?"
Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu lachen, und spiele weiter ernst.
"Ja ja. Wie gehts dem Karl?"
"Wie zum Teufel bist du jetzt von Penis zu Karl gekommen !?"
Sie presst die Lippen zusammen und gibt seltsame Geräusche von sich. Flennt sie oder versucht sie, nicht zu lachen? Jesus, das arme Weib erstickt mir ja gleich.
"Karl ist weg."
"Oh Gott sei..." Grade kann ich noch meinen erleichterten Ausruf verschlucken. "Ääh, jaaa", Sage ich skeptisch. "Ist er dir weggelaufen oder was?"
"Jessie!!! Er ist schwerbehindert! Wie hätte er das machen sollen?"
Naja, also ich finde eine bessere Antwort wäre gewesen 'Er ist ein Kaktus und hat keine Beine." aber wenn sie meint ein gesunder Kaktus könnte laufen. Ich möchte ihr ihre Illusionen ja nicht nehmen. Man sieht was aus einem Menschen wird, den man aus seiner Traumwelt reißt und in ein katholisches Internat holt.
"Vielleicht hatte er einen Rollstuhl? Oder, nein, besser, einen Mitstreiter. Vielleicht die Primel von Frau Doktor Hexe?"
Autsch. Früher fand ich Kissenschlachten immer richtig lustig. Ich habe ja nie geahnt dass man damit Zähne ausschlagen kann. Und das nur wegen dem Karl. Wie kann man bloß so ein Geschiss um eine grüne Stachelgurke machen, die sich von zwei Tropfen Wasser im Jahr ernährt. Da kann ja im Hirn nix überleben!
Zumindest ist die Diskussion jetzt beendet und ich hab meine Ruhe von diesem botanischen Ungetüm. Becki sagt, da möchte mich jemand kennenlernen. Da dieser Satz ihr äußerstes unbehagen zu bereiten scheint, ist es wohl niemand den ICH gerne kennenlernen möchte. "Wer genau"?, will ich deshalb wissen. Sie drückt sich so lange um die Antwort herum, bis ich beschließe mich einfach darauf einzulassen. Neue Menschen kennenlernen - das mochte ich doch schon immer ! Kotz.

Impressum

Texte: Das Copyright liegt bei meiner zweiten Persönlichkeit. Ich frag sie demnächst, ob ich ihren Text verwenden darf. Die Liedtexte kommen von: Boney M. , Rihanna, Sia und Den Fantastischen Vier
Bildmaterialien: D. Sharon Pruitt: "Teen Girl Eating Ice Cream Cone" http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Quelle: piqs.de
Lektorat: Rechtschreibfehler hat OpenOffice repariert !?
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich allen, die beim Lesen in der Nase popeln. Ohne Spaß, ich widme es meiner besten Freundin, die ihrerseits die abgefuckteste beste Freundin der Welt hat. An manchen Tagen frage ich mich, ob sie niemand außer mir liebt, denn wenn ich sie wäre würde ich mich jedem zuwenden aber nicht mir. Alles klar ? :D

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