Die Frühlingssonne kitzelte der Prinzessin in der Nase. Sie saß am großen Fenster im Stadtpalast, das sie geöffnet hatte, um etwas frische Frühlingsluft in ihr Gemach zu lassen, in dem sie eine mehr oder minder durchwachte Nacht hatte. Heute war Sonntag, ihr Lieblingstag, sie hatte ausschlafen dürfen. Bald würde die Dienerin an die Tür klopfen und ihr das Frühstück ans Bett bringen. Amira, so hieß die Prinzessin aus dem Orient, verspürte aber gar keinen Hunger. Immerzu dachte sie an ihre Freundin Salima, die nun auf dem Weg nach Italien sein musste. „Italien“, seufzte Amira. Ihr Nachtgewand aus kanariengelber Seide bewegte sich sanft in der Morgenluft. Von den Bäumen vor ihrem Fenster wehte ein angenehm würziger Duft zu ihr herüber. Sie saß unverschleiert am Fenster, das zum Innenhof des Palastes hin lag, in dem sich aber zu dieser Tageszeit für gewöhnlich jedoch niemand aufhielt. Die Sonne schaute freundlich zu ihr herunter, Vögel zwitscherten und von Ferne hörte sie das Plätschern des Zierbrunnens.
Und doch war sie, wie schon in den letzten Wochen, traurig. Der Abschied von ihrer Freundin bewegte die Prinzessin, die eigentlich sonst keinen schwermütigen Charakter hatte.
Salima hatte mit ihrer Familie die Stadt verlassen müssen, weil ihr Vater, ein angesehener Arzt,auf das Geheiß des Sultans, Amiras Vater, auf eine Reise nach Europa geschickt worden war. Er sollte die medizinischen Erkenntnisse in Europa erforschen und - eines Tages wieder zurückgekommen- sein erworbenes Wissen im Land des Sultans anwenden und weiterverbreiten.
Tief in ihre Gedanken versunken, schrak Amira plötzlich auf, als das Gebet des Muezzins vom Turm herunter ertönte. Wie töricht war doch ihre sentimentale Gedankenschwelgerei, dachte sie bei sich. Sie war eine Prinzessin, das bescherte ihr viele Vorteile, das war aber auch mit vielen Pflichten verbunden und machte sie so manchesmal einsam. Ihre nächste Pflicht war es nun, das Frühstück im Bett einzunehmen, es war immerhin schon neun Uhr. Da klopfte es auch schon an der reich verzierten Zimmertür ihres prunkvollen Gemachs. Schnell entfernte sich die Prinzessin vom Fenster und schlüpfte aus den Pantoffeln wieder in das noch warme Bett hinein, rasch, unter die Decke und dann mit einem freundlichen "Herein", der Dienerin zu verstehen zu geben, man gewähre ihr nun Einlass. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, was ihr die Dienerin da auf dem goldenen Serviertablett ans Bett brachte. Da war kein Marzipan-Walnuss-Törtchen, da war keine Kugel Joghurteis mit flambierten Ananasstücken, auch der Porzellanbecher mit dem heißen Kakao fehlte, nichts von allem dem befand sich darauf, so wie es die Prinzessin gewohnt war – nein, auf dem Tablett aus Gold lag eine kleine, ungeschälte Banane. So etwas hatte die Prinzessin schon lange nicht mehr gesehen! Bevor sie jedoch den Mund auftun und ihr Staunen der Dienerin gegenüber kundtun konnte, hob diese, in einem schüchternen, schmeichlerischen Ton an: „Verehrte Prinzessin, leider müssen sie heute auf ihr gewohntes Frühstück verzichten... nun, es gibt Probleme mit der Küche, wenn sie verstehen...ihr verehrter Herr Vater, unser Sultan, der Herrscher unseres Landes, hat es vorgezogen, den Koch des Palastes mitsamt allen Angestellten des Hauses zu verweisen – heute, am frühen Morgen. Man sagt, es sei wegen eines Frühstückseis gewesen, das zu hart gekocht war.“ Die Prinzessin kannte ihren strengen und den leiblichen Genüssen nicht abgeneigten Vater gut, aber dass er so leichtfertig zwanzig Angestellte einfach auf die Straße setzte, wegen eines Eies, das zu hart gekocht war, schien er nun doch ein wenig übertrieben. Es musste schlecht um das Sultanat bestellt sein, anders konnte sie sich diese Reaktion ihres Vaters nicht erklären. „Schon gut“ sagte sie zur Dienerin, mit einem Lächeln, das Diamanten zum Erweichen bringen konnte, so erzählte man sich jedenfalls im Reich des Sultans über die Schönheit der Prinzessin. Dem tat ihr makelloser, rosiger Tein und ihr schwarzes, langes Haar bestimmt keinen Abbruch. Am ersten Tag des Jahres war Prinzessin Amira 17 Jahre alt geworden. Es wurde ein großes Fest gegeben, bei dem ihr auch ein paar junge, vielversprechende Männer mit viel Geld im Hintergrund vorgestellt wurden. Aber Samira konnte ihr Herz für keinen von ihnen erwärmen. Viele der ihr vorgestellten junge Männer hatten wichtige Positionen beim Militär inne und versprachen sich bestimmt Karriere von einer Heirat mit der Prinzessin. Amira hatte Angst vor dem Krieg. Ihre Mutter, eine Bürgerliche, hatte ihr erzählt, wie sie ihre Schwester bei dem Kampf um die Gebiete am Fluss verloren hatte. Sie wurde von den Feinden geraubt und entführt, keiner weiß, wohin. Und nun war es wieder soweit, verfeindete Truppen stationierten sich auf der anderen Seite des großen Flusses und verbreiteten Kriegsgeschrei. Der Sultan war sehr besorgt, noch versuchte er, den Konflikt auf dem diplomatischen Wege zu lösen, doch die Fronten verhärteten sich und Krieg lag in der Luft. Amira hatte den Sultan schon tagelang nicht gesehen und auch ihre Mutter hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Samira war auf sich gestellt. Gedankenverloren kaute sie auf der Banane herum. Wenn wenigstens Salima bei ihr wäre, sie war ihr immer eine gute Zuhörerin, Trost, eine Seelenverwandte gewesen. Oder wenn sie einen Mann hätte, den sie lieben könnte und der sie liebte, mit allen Schwächen, die sie hatte, zum Beispiel für Marzipan-Walnuss-Törtchen oder flambierte Ananas...
Sharif war mit dem ersten Hahnenschrei aufgewacht. Er öffnete das Fenster und die frische Morgenluft strömte in sein Zimmer, das man als eine eher einfache Unterkunft bezeichnen könnte. Er atmete die Luft tief ein und machte ein paar Kniebeugen am Fenster, um wach zu werden. Sein Hab und Gut hatte er bereits zusammengeschnürt und zusammengepackt. Er hatte von seinem angesparten Geld ein Kamel gekauft, das ihn und seine Habseligkeiten in die Hauptstadt am Fluss bringen sollte, die Stadt des Sultans. Heute wurde sein neues Leben beginnen, er hatte viel vor. Sein Zimmer hatte er bezahlt, die Kaution hatte er bar zurückbekommen, sein Zeugnis war „mit Auszeichnung“ ausgestellt und er konnte zahlreiche Referenzen vorweisen, so hatte er doch mehrere Tage bei den besten Köchen der geheimen Kulturhauptstadt gearbeitet, um sich nun, als Beikoch beim Sultan vorzustellen. Dies war sein Plan. Der junge Mann wusste noch nicht, dass der Sultan gerade an diesem Morgen sein gesamtes Küchenpersonal hinausgeworfen hatte. Ja, das Glück war dem jungen Koch wohl gesinnt. Schon als Kind hatte er davon geträumt, in der großen Hauptstadt zu leben und hatte seine gesamte Jugend daraufhin gearbeitet. Und nun sollte es endlich soweit sein. Sein Herz hüpfte beim Gedanken daran, dass er bald den Fluss, die goldenen Kuppeln und die mit Mosaiken verzierten Türme der fernen Stadt sehen würde und wenn das mit der Stelle im Palast klappen sollte, was konnte ihm Besseres passieren. Doch sein Plan hatte einen Haken. Am Abend zuvor hatte Sharif, der junge Koch, lange mit seinen Eltern gesprochen, auch um sich von ihnen zu verabschieden. Da hatten sie ihn eindringlich von dem zu erwartenden Krieg um den Fluss gewarnt, sie wollten nicht, dass ihr Sohn sein Leben auf's Spiel setzt, um sein Ziel, ein glückliches und erfülltes Leben in der Hauptstadt, zu erreichen. Sie konnten es ihm aber nicht ausreden. Sharif war bereit, den Gefahren ins Auge zu blicken. Er wollte seine Heimatstadt verlassen, ausziehen, um sein Glück zu finden, vielleicht auch eine Frau, die er heiraten würde und mit der er eine Familie gründen würde. Aber all dies stand noch in den Sternen von 1001 Nacht...
Glücklicherweise konnte Prinzessin Amira ihrer Freundin Salima noch Briefe schreiben. So war sie nicht ganz alleine. Sie setzte sich an ihr Schreibpult und tauchte die Feder in die Tinte. Sie berichtete ihrer Freundin, dass ihr der zu erwartende Krieg Sorgen machte, dass sie ihre Eltern schon tagelang nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte und dass ihr Vater das gesamte Küchenpersonal wegen eines zu hart gekochten Eis gekündigt hatte. Es würde Wochen dauern, bis Amira mit einer Antwort Salimas rechnen konnte, die ihr über reitende Boten zugestellt werden würde, wenn es denn noch funktionierte. Inzwischen musste Salima schon in Italien sein, so lange war sie schon weg. Nachdem die Prinzessin den Brief versiegelt hatte, entzündete sie eine Öllampe, die schon nach kurzer Zeit einen Duft von Rosen und Nelken im Gemach der Prinzessin verströmte. Darauf klingelte sie nach ihrer Dienerin. Sie wollte ihre Mutter sehen, die Dienerin sollte ihr diese Nachricht überbringen. Sie gab der Dienerin auch den Brief an Salima mit, damit diese ihn den Palastdepeschen übergab.
Salima hatte noch nie Schnee gesehen. Die junge Frau aus dem Orient drückte ihre Nase an der kalten Fensterscheibe platt und fragte sich, was der komische Regen aus Eierschneeflocken zu bedeuten hatte. Sie hatte auf der lange Reise in den Westen ja schon vieles gesehen, aber dies hier übertraf ihre Vorstellungskraft. Zaghaft öffnete sie das Fenster in dem Haus, in dem sie mit ihrer Familie untergekommen war und versuchte, eine Flocke mit der Hand aufzufangen. Als es ihr gelang, erschrak sie, es fühlte sich kurz kalt und nass an, wie ein kleiner Stich und dann war die Flocke weg. Seltsam ist das, dachte sie, davon muss ich Amira in meinem nächsten Brief berichten, das war ihr nächster Gedanke. Sie waren bei einem berühmten Arzt untergekommen, der ein Hospital unterhielt. Ihr Vater konnte dort viel über die Chirurgie erfahren, hauptsächlich deshalb hatten sie Italien verlassen und waren nach Deutschland weitergereist. Von Italien hatte Salima nicht viel gesehen. Sie war etwas schüchtern und versteckte sich in den Unterkünften, die die Familie auf ihrer Reise bewohnte. Sie bewunderte die italienischen Frauen die stolz und unverschleiert auf den Straßen liefen. Aber selbst so zu leben, konnte sie sich nicht vorstellen. Oft dachte sie an ihre Freundin, die Prinzessin. Wie es ihr wohl erginge? Hier in Deutschland schmeckte ihr das Essen nicht, es gab viel Schweinefleisch, fette Saucen, Kartoffeln und keinen Fisch, das war seltsam. Sie hatte Mühe sich daran zu gewöhnen. Und es wurde viel Alkohol hier getrunken. Die Deutschen bevorzugten eine hellbraune Brühe, die sie „Bier“ nannten. Sie hatte nie davon gekostet, aber sie stellte sich vor, dass es grauslich schmecken musste. In ihrem Brief an Amira berichtete sie von den deutschen Essgewohnheiten und schrieb ihr, wie sehr sie sie vermisste und dass sie Heimweh hatte. Aber dies konnte nur ein kleiner Trost sein.
Und was machte unser junger Koch zu dieser Zeit? Er war nach einer Tagesreise in der Hauptstadt angekommen und bezog soeben Quartier in der Nähe des Palastes. Bereits am nächsten Vormittag hatte er einen Termin beim Hofwesir, bei dem er sich und seine Künste vorstellen konnte. Man hatte ihm erzählt, dass das gesamte Küchenpersonal ausgetauscht werden sollte und so rechnete er sich gute Chancen auf eine Einstellung aus. Von der Stadt hatte er in der Dämmerung schon einen ersten Eindruck bekommen: viel los auf den Straßen, bunte Bazare, Kamele, glitzernde Minarette, die Marmorfassaden des Palastes, Rauch am Fluss... Moment, Rauch am Fluss? Das konnte nur bedeuten, dass die Gegner Ernst machten und sich bereits am Fluss stationiert hatten. Sharif bekam es nun doch mit der Angst zu tun. Was war, wenn die feindlichen Truppen in den nächsten Tagen schon über den Fluss kommen und angreifen würden? Er machte sich Sorgen und fiel dennoch in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von seinen Eltern und – da war noch ein anderer Traum... er träumte von Prinzessin Amira, der er im Traum eine Rose schenkte. Amiras Ruf einer fast übernatürlichen Schönheit war natürlich auch bis in seine Heimatstadt gedrungen, die ja nicht soweit von der Hauptstadt gelegen war. Frohen Mutes wachte er am darauffolgenden Tag auf und traf seine Vorbereitungen für die Vorstellung im Palast.
Zu dieser Zeit war Prinzessin Amira auch schon wach. Sie hatte gefrühstückt (an diesem Morgen hatte man ihr eine ungeschälte Orange serviert) und hatte schon ihr perlenbesticktes, fliederfarbenes Gewand an. Endlich sollte sie ihre Mutter wieder sehen. Sie waren im hoheitlichen „Büro“ der Mutter verabredet. Amira beeilte sich, sie wollte nicht zu spät zur Verabredung mit ihrer Mutter kommen. Sie schloss die Türe zu ihrem Gemach und flitzte vorbei an den Gästegemächern, am Saal, am Audienzzimmer ihres Vaters (aus dem laute Stimmen erschallten) um dann nach rechts abzubiegen. Kurz atemholend blieb sie stehen, um an die Tür zu klopfen. Sie wurde hereingebeten. Ihre Mutter saß in der ihr eigenen, atemberaubenden Schönheit auf dem Schemel am Klavier. Sie trug ein rotes Seidengewand und hatte ihre Haare kunstvol hochgesteckt. Doch sie hatte nicht gespielt, Amira hatte keinen Ton gehört. Sie umarmten sich herzlich und ihre Mutter beteuerte, wie sehr sie sich freue, sie wiederzusehen. Auch Amira freute sich sehr. Nachdem sich Amira einen Stuhl geholt und sich zu ihrer Mutter gesetzt hatte, begann ein ernstes Gespräch. „Tochter, die Dinge stehen Ernst um unser Land. Elian und seine Gefolgsleute stehen auf der anderen Seite des Flusses und wollen uns nicht nur das Gebiet um den Fluss herum streitig machen, sondern haben es auch auf unsere Stadt abgesehen! Stell Dir nur vor, was soll aus uns werden! Wir haben diesen Krieg nicht gewollt und dein Vater hat alles versucht, um diesen Krieg zu verhindern. Aber heute muss er seine Armee einschwören auf das, was da kommen kann. Die Vorbereitungen laufen seit Tagen und ich kann nichts machen. Ich fühle mich so machtlos.“ Amira schluckte, soweit war es nun also schon, sie standen kurz vor einem Angriff der verfeindeten Armee, sie konnte es nicht glauben. „Meinst Du, Mutter, unsere kleine Armee kann etwas gegen Elians Soldaten und Söldner etwas ausrichten? Ich will Dir nicht alle Hoffnung nehmen, Mutter, aber glaubst Du wirklich, wir haben gegen diese Angreifer überhaupt eine Chance?“ „Oh, mein Kind, ich sehe uns jetzt auch schon alle bluten, glaub mir, aber Allah, der Allmächtige wird uns vor allen Übeln beschützen.“ Tränen standen in den Augen der Königin und Amira versuchte sie zu trösten, auch wenn sie keine Worte dazu fand.
Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, sagte die Herrscherin: „Es gibt aber auch eine gute Nachricht im Palast. Heute führt der Hofwesir Gespräche mit Anwärtern für das Küchenpersonal. Ein begabter, junger Koch mit guten Zeugnissen ist darunter. Wir werden heute Nachmittag mal testen, wie es um seine Backkünste bestellt ist. Wärst Du denn bereit, ein Marzipan-Walnuss-Törtchen als Probe von ihm zu kosten?“ Amira wischte sich gerade eine letzte Träne aus dem linken Auge und antwortete mit einem Schluchzen: „Ja, sicher, gerne, Mutter. Ich werde nach der Klavierstunde darauf warten.“ Sie versuchte ein Lächeln und verabschiedete sich von der Herrscherin. Sie musste zurück in ihr Gemach, an den Schreibtisch und ihrer Freundin Salima eine Nachricht schreiben. Sie schrieb:
Geliebte Freundin,
wir haben bald Krieg! Die Feinde stehen am anderen Ufer! Wir müssen uns was einfallen lassen. Mein friedfertiger Vater, der Sultan, hat nur eine winzige Armee! Wie können wir uns retten? Hilf uns!
P.S.: Meine arme Mutter erzählte ganz begeistert was von einem neuen Koch, dessen Marzipan-Walnuss-Törtchen ich heute Nachmittag testen soll. Wie findest Du das?
Ich vermisse Dich,
Amira
Dann verschleierte sich die Prinzessin für die Klavierstunde bei dem ältlichen, aber etwas aufdringlichen Klaviermeister. Mutlos klimperte sie auf dem Piano herum und dachte an alles andere, nur nicht ans Klavierspiel. Aber auch diese Stunde ging vorüber. Prinzessin Amira hatte es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht und ein Glas Wasser aus der Karaffe getrunken, da klopfte es an der Tür und die Dienerin trat ein, mit einem goldenen Tablett in der Hand. Darauf lag, das sah die Prinzessin sofort, ein Marzipan-Walnuss-Törtchen, mit Puderzucker bestäubt und kandierten Rosenblättern belegt. Das konnte nur von dem neuen Koch sein, dachte sich die Prinzessin. Sie dankte der Dienerin, die wie angenagelt vor dem Sofa stehen geblieben war, woraufhin diese sich dann doch zurückzog. Amira wollte das Törtchen in Ruhe genießen, hatte sie doch schon seit Tagen darauf verzichten müssen. Sie nahm das lockere, aber nicht zu leicht in der Hand liegende Gebäck in die rechte Hand, wobei ihre Finger sofort mit dem Puderzucker in Berührung kamen, aber das störte sie nicht. Auch als ein Rosenblatt auf den Mosaikboden fiel, störte das die Prinzessin nicht, denn sie hatte bereits ein Stück abgebissen und war total verzückt. So ein gutes Marzipan-Walnuss-Törtchen hatte sie noch nie gekostet! Der Marzipan zerging mit dem Puderzucker im Mund, der Gebäckteig war saftig, aber locker und das Aroma der Walnüsse schwebte gefällig unter ihrer hoheitlichen Nase. Das war gelungen! Wenn es nach ihr ginge, würde der junge Koch, sofort als Chefkoch eingestellt werden. Wenn er die anderen Gerichte mit der gleichen Hingabe kochen würde, stünde dem nichts entgegen. Sie klingelte nach der Dienerin und gab ihr den Auftrag, zum Hofwesir zu gehen und den jungen Koch für seine Backkunst zu loben.
Zur gleichen Zeit schwitzte Sharif noch in der Großküche des Palastes. Die Prüfung sah vor, dass er nicht nur buk, nein, er musste auch ein Hauptgericht herstellen, dass der Wesir testen wollte. Er entschied sich für sein eigenes Leibgericht: ein scharfes Hühnchen-Curry mit Reis. Er gab sich besonders viel Mühe, denn hier, so war ihm von der Dienerin zugetragen worden, ging es sogar um den Chefposten in der Küche.
Der Sultan kümmerte sich um all dies nicht. Er hatte andere Sorgen. Er bereitete seine Armee auf den zu erwartenden Kampf gegen Elians Truppen vor. Sie machten Inventur in der Armee, es wurden Schießübungen abgehalten, neue Kampftechniken erprobt, es wurden Finten überlegt und wieder verworfen, die Männer wurde auch mental auf das zu Erwartende eingestellt. Man erwartete einen Verteidigungskrieg. Es sollt erst Feuer gegeben werden, wenn die feindliche Armee über den Fluss kommen und angreifen würde. So lange würde man warten. Lange, quälende Stunden der Ungewissheit zogen dahin. Und dann gab es unter den eigenen Soldaten noch Männer, die so taten, als würde sie der Krieg nicht interessieren. Oft hatten sie Familie mit kleinen Kindern oder hatten Geschäfte zu erledigen, die während eines Krieges ruhen würden. Stimmen in den eigenen Reihen wurden laut, man solle sich verbunkern, die feindliche Armee einmarschieren lassen und dann abwarten was geschehe. Vielleicht würden die feindlichen Soldaten „nur“ plündern und dann wieder abziehen. Gewissheit gab es nicht. So vergingen Tage voller Angst in der großen Hauptstadt. Die Bürger bevorrateten Lebensmittel in großen Mengen und holten ihre Gewehre aus den Schränken, sodass sie griffbereit waren.
Im schönsten Palast des Morgenlandes konnte man zu jener Zeit nur eines genießen: eine stilvolle, nicht aufdringliche, orientalische Küche, dank Sharifs. Die Mahlzeiten waren für die Sultansfamilie ungelogen die Höhepunkte des Tages, sonst gab es nur schlechte Nachrichten. Die feindlichen Truppen waren vorgerückt und hatten, trotz eines ersten Kampfes am Fluss, das Ufer überqueren können. Schon hatten sie die ersten, ärmlichen Behausungen am Ufer der Hauptstadt überrannt und man konnte bereits ahnen, was ihr Ziel war: die Einnahme des Palastes und damit die Übernahme der Macht im Staat des Sultans. Der Sultan wusste nicht mehr ein, noch aus. Sollten sie jetzt schon aufgeben?
Deutschland, im kalten Winter: Salima hatte Amiras Zeilen hastig verschlungen. Der Brief ruhte auf ihrem Schoß und eine sorgenvolle Träne ergoss sich darauf. Nun also der Krieg in der Heimat. Damit hatte keiner gerechnet.Sie musste sich etwas einfallen lassen, sie konnte ihre arme Freundin nicht im Stich lassen... Sie überlegte genau. Salima war eine sehr kluge, junge Frau. Was war, wenn der Feind bereits in der Stadt war, die Macht über den Palast gewonnen hatte. Wie erging es wohl Amira, ihrer geliebten Freundin? Lebte sie noch? Immerhin war der Brief schon ein paar Wochen unterwegs gewesen. Sie las noch einmal das Post Scriptum im Brief der Freundin: „Meine arme Mutter erzählte ganz begeistert was von einem neuen Koch, dessen Marzipan-Walnuss-Törtchen ich heute Nachmittag testen soll. Wie findest Du das? Eine Träne der Rührung floss Salima über das Gesicht. Ja, das hatten Amira und sie gemeinsam, sie schätzten beide das gute Essen...und jetzt, konnte Amira überhaupt noch etwas zu sich nehmen? Salima dachte an die schale Kost, die sie hier vorgesetzt bekam und bekam Schluckauf. Sie kauerte sich auf ihrem Schemel zusammen, sie fror, aber ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Dann hatte sie Idee...
Sie setzte sich zum Schreiben an den einfachen Holztisch und begann:
Verehrte Prinzessin!
Mit Bestürzung habe ich von eurer großen Not erfahren. Ich hoffe Ihr und eure Familie seid wohlauf.
Ihr hattet von einem neuen Koch im Palast geschrieben. Nun, das brachte mich auf eine Idee:
Befindet sich der Feind bereits im Palast, so verpflegt ihn nach hiesiger, deutscher Art, das wird ihnen den Appetit auf euer Land schon verderben!
Setzt ihnen statt Hammelfleisch, Sauerkraut mit fetten Würsten vor,
dicke Klopse, Bier und klare Suppen, jeden Tag.
Je einfacher das Gericht, desto besser
lasst alle Kräuter, Gewürze weg,
Reis und Gemüse werden von der Karte gestrichen, dafür gibt’s Kohl.
Als Süßspeise schlage ich ungefärbten Griespudding vor, jedoch ohne Datteln.
Lasst alle Zutaten ungewaschen,
versteckt das gute Geschirr, lasst sie von Blechtellern fressen!
Der glückliche Koch soll euer Komplize sein!
Eure Salima
Sie versiegelte den Brief hastig, schrieb „Eilt!“ darauf und machte sich auf zur nächsten Postkutschenstation...
Plötzlich klopfte es laut an der Tür zum Gemach der Prinzessin. Sie schrak auf und, ohne zu warten, stürmte ihr aufgeregter Vater, der Sultan, herein. Ohne zu zögern begann er, mit einem unaufhörlichen Redeschwall, wild mit den Armen fuchtelnd, auf Amira einzureden, von dem sie aber nur das folgende verstand:“...Tochter...die Katastrophe droht...der Feind steht vor dem Palast...und da bekomme ich diesen Brief, der an dich adressiert ist, von deiner Freundin...Deutschland...peinlich genug...angesehener Herrscher wie ich....den Rat einer jungen Frau befolgen muss...aber wenn die Liebe durch den Magen geht, nicht wahr...lässt sich vielleicht auch der Feind vertreiben...fette Saucen, Klopse, Sauerkraut, Schwartenmagen...Sharif wird uns helfen.... damit werden wir sie abservieren!“
Amira verstand nichts, bis sie den Brief ihrer Freundin Salima gelesen hatte, der in die Hände des Sultans geraten war. So war das also, der Feind sollte also aus dem Lande mit Hilfe einer fremdländischen Küche „hinausgeekelt“ werden. Sie wusste nicht genau, was sie von der Idee halten sollte, aber wenn sie überlegte, war es gar nicht so dumm, wenn sie die habgierigen Erwartungen des Feindes mit derben Speisen und Sitten enttäuschen würden.
Und so wurde es gemacht. Elian übernahm die Macht im Palast, in der Stadt, im ganzen Reich und freute sich darauf, von vorne bis hinten im Palast bedient zu werden. Doch da hatte er sich mächtig getäuscht. Die landestypischen Lebensmittel waren „aufgebraucht“, die Handelswege in den Westen wurden angekurbelt und es kam nur noch kalter Braten, Knödel, Brei und Haferflockensuppe auf den Tisch. Sharif tat sein Bestes. Auch wenn er nicht gerade in seinem „Element“ war, der glückliche Koch stand nach wie vor für eine „gute Küche“. Die mangelnde Esskultur verdrießte Elian und seine Gefolgsleute. In der Hauptstadt war wohl nichts zu holen. Sie plünderten die Schatzkammer des Palastes um dann, auf Nimmerwiedersehen, das Weite zu suchen. „Geht hin, wo der Pfeffer wächst“ rief Sharif ihnen, glücklich über seinen Erfolg, übermütig nach, da waren sie aber schon hinter einem Berg verschwunden.
Der Sultan gab eine großes Fest zur Feier der Befreiung. Salimas Vater wurde per Eildepesche an den Hof zurückbeordert, was bedeutete, dass Amira ihre Freundin bald wiedersehen würde. Eine fürstliche Belohnung wartete auf Salima, die Retterin, sie sollte in den Adelsstand erhoben werden und im Palast wohnen. Und eines noch: der Sultan bestand auf eine Verlobung Prinzessin Amiras mit Sharif, dem glücklichen Koch. Dagegen hatten die beiden rein gar nichts einzuwenden...
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2010
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