Cover

1


Meine beste Freundin sagt, mein Leben ist total verrückt (dabei ist es noch nicht mal zur Hälfte vorbei (hoffe ich...)). Ich sage: wo sie recht hat...
Meine beste Freundin ist Liz. Liz Baker. Ich kenne sie seit dem Kindergarten, und wir waren schon immer ein Wunder der Genetik, da unsere Gehirne irgendwie gleich liefen.
Ich bin Alice. Ich weiß, dieser Name ist voll bescheuert, aber meine Eltern sind ja auch bescheuert. Also eher meine Mutter, meinen Dad kenne ich nicht wirklich, er ist abgehauen als ich vier Jahre alt war. Meine Mutter hat neu geheiratet, und mein Stiefvater (John) ist ganz OK. Mom ist die, die mich nervt. Ständig verbietet sie mir irgendwas. Ich meine, ich bin siebzehn, inzwischen kann ich auf mich selber aufpassen. Ich führe mit Liz ein ziemlich actiongeladenes Leben (Kung Fu, Teakwondo, Klettern, Fallschirmspringen, Paragliding, Bungee...). Manchmal redete ich mir ein, das sie sich Sorgen um mich mache. Aber sie macht sich nichts aus mir. Warum sollte sie sich Sorgen machen? Ich weiß warum sie mich so hasst. Sie glaubt, Dad ist meinetwegen abgehauen. Ist er garantiert nicht. Ich verstehe ihn total. Ich freue mich schon wenn ich in neun Monaten endlich ausziehen darf...
Meine Mom ist also richtig anstrengend. John geht mir eigentlich aus dem Weg. Er weiß nicht, wie er mit mir umgehen soll. Das finde ich OK, weil Mom für mich da sein sollte. Ist sie nur leider nicht. Die einzige auf die ich mich immer verlassen konnte war (und ist) Liz, womit wir wieder beim Thema wären. Als das Verrückte (also das ernsthaft Verrückte, mein Leben war schon vorher komisch) anfing, war ich nämlich zufällig bei ihr.
Ich hatte an der Tür geklingelt, und zwei Sekunden später riss Mary (eigentlich Maria Catherine), Liz' kleine Schwester, die Tür auf und grinste mich Zahnlos an. (ich weiß auch nicht wie sie es geschafft hat, aber Mary hat sich sämtliche Schneidezähne ausgeschlagen. Gott sie dank Milchzähne.)
„Hallo, Mary.“ begrüßte ich sie.
„Hallohallohallo!!!!!!!“ quiekte Mary fröhlich.
„Komm rein!“ rief ihre Schwester von drinnen. Sie saß am Küchentisch und spielte mit ihrem Bruder (Finn Theodor, elf) Poker. Offenbar hatte Mary auch mitgespielt, ihre Karten lagen kreuz und quer über den Tisch verteilt. Ich zog die Tür zu und ging in die Küche.
„Hi!“ sagte mein beste Freundin.
„Hihihihiiii!!!“ kreischte Mary. Mein Gott, sie ist erst sechs, spielt Poker, und klingt wie eine Alarmsirene.
„Hi Mary. Wir haben uns schon begrüßt.“ sagte ich. Liz seufzte.
„Lass uns hochgehen.“ sagte sie. Und an ihre Geschwister gewandt: „Spielt ohne mich weiter. Finn: Nicht deine kleine Schwester bescheißen. Mary: nicht deinen großen Bruder bescheißen. Nicht um Geld spielen, nicht wetten, nicht prügeln.“ (aber ich bin verrückt...)
Irgendwie liebte ich diese freakige, schrullige Chaosfamilie über alles. Nicht weil sie freakig, schrullig oder chaotisch ist, sondern weil sie eben eine Familie ist. Eine Familie, in der jeder Platz hatte, sogar ich. Bei mir zuhause war das nicht so. Ich stritt dauernd mit meiner Mutter, Liz und ihre Mutter waren wie beste Freundinnen. Mein Vater war abgehauen, Liz' Vater kam jeden Abend fröhlich nachhause, und freute sich, seine Zeit mit seinen Kindern und seiner Frau verbringen zu können. Ich schüttelte den Kopf. Ich hasste Selbstmitleid.
„Hey Olle, komm endlich!“ rief angeblich beste Freundin. Ich rannte ihr nach die Treppe rauf.
Liz' Zimmer ist auch freakig, schrullig und chaotisch. Sie wohnt auf dem Dachboden, und an der schrägen Decke hängen überall Seile, woran man sich über den Boden schwingen kann, und das ist auch nötig. Liz hat nämlich keine Regale, das bedeutet ihr ganzer Krempel liegt auf dem Boden. Eigentlich hat Liz überhaupt keine Möbel. Neben der Hängematte in der sie schläft steckt ein Brett in der Wand, das als Tisch dient. In einer Ecke des Zimmers steht eine alte Holztruhe, in einer anderen stapeln sich Bücher. An der Decke hängen dann noch so überlebensnotwendige Sachen wie Ghettoblaster (obwohl Liz keine Ghettomusik hört, sie steht auf düstereres wie Metal und Punk oder so), daneben eine Art CD-Regal, dann ein Telefon in einem kleinen Lederbeutel (ja, bei Liz hängt ein Telefon an der Decke...) und natürlich Lampen (schwarze Kronleuchter), und das merkwürdigste: ein Aquarium. Da sind zwar keine Fische (mehr) drin, allerdings eine menge Wasserpflanzen. Durch Liz` Zimmer führt ein sehr schmaler Weg, den sie liebevoll 'Trampelpfad' nennt, in alle Ecken. Und genug der Beschreibung, es ist eben so wie es klingt: freakig, schrullig, chaotisch. Ich ließ mich in die von Liz so getaufte 'Kissenecke' fallen und seufzte erstmal tief.
„Na, bist du über Brad hinweg?“ fragte Liz. Wie immer konnte ich ihr Taktgefühl nur bewundern. Ich meine, sie wäre nicht meine beste Freundin, wenn sie nicht unglaublich sensibel sein könnte, aber leider ist sie manchmal auch unglaublich nervig. Und nein, ich war über meinen achsotollen Ex, Schulschwarm Brad, nicht hinweg. Ich wollte ihn immer noch am liebsten erwürgen. Er war am Anfang echt süß, und zwar wirklich. Er war richtig lieb, aber dann wollte er nur noch Sex. Und ich nicht. Und dann hat er gesagt, ich wäre billig (hä?) und ein hässliches Mauerblümchen, das eh nie jemand ficken wollen würde (und das war jetzt zensiert). Dann hat er mich verlassen. Arsch.
„Also wenn ich Brad wäre, ich hätte ja jetzt tierisch Angst vor dir.“ meinte Liz, die mein Temperament kannte. „Und Angst vor mir hätte ich auch, weil ich bin deine beste Freundin. Und so geht keiner mit meiner Al um.“
Das gehörte zu den dingen die ich an Liz so liebte. Sie stand zu mir. Egal was ich tat, egal wie ich aussah. Sie sah nur Alice, die leicht verrückte beste Freundin.
„Liz, weißt du eigentlich, das du echt toll bist?“ fragte ich.
„Ja.“ antwortete sie. „aber ich freue mich immer wieder, es zu hören.“
„Man, du bist echt eingebildet.“ Ich grinste.
„Ich weiß... Ey, ich hab ne Idee.“ Liz sprang an eines der vielen Seile, und schwang sich Tarzanmäßig in die 'Truhen/Geheimnis-ecke'. Dort stand die schwarze Holztruhe. Liz kniete sich davor, öffnete sie, und begann darin rumzuwühlen.
„Was genau hast du vor?“ fragte ich skeptisch.
„Na mich an Brad rächen.“ ertönte Liz Stimme dumpf aus der Kiste. Bücher flogen heraus. Ich erhaschte einen blick auf einige der Titel : Rituale und Heilpraktiken, Pflanzen der Macht, Kraft der Natur...
„Ich habs!“ rief Liz, tauchte wieder auf, und hielt mir ein ziemlich kaputt aussehendes Buch unter die Nase.
Voodoo-Flüche. Ich sah sie an wie ein Fragezeichen.
„Liz! Was! Ist! Das?!?“
„Das“, erklärte mir Liz, „Ist ein Buch.“ Mein Gott, das seh ich selber!!!
„Was hast du vor mit diesem Buch?“ fragte ich, und mir schwante übles.
„Na das ist doch ganz einfach.“ Liz blätterte in dem Buch, das auf mich den Eindruck machte, als würde es gleich auseinanderfallen. „Wir brauchen nur 13 rote Kerzen, und ein Stück Brad, und eine Puppe. Oh, Sekunde...“ Liz' Kopf verschwand erneut in der Kiste. Stunden später (nach meinem nicht vorhandenem Zeitgefühl) zog sie freudestrahlend eine kleine ziemlich zerzauste Voodoo-Puppe hervor.
„Prima!“ strahlte sie. „Jetzt fehlt nur noch ein Stück Brad.“ Ich verzog das Gesicht.
„Was ist denn bitte ein Stück Brad?“ fragte ich angeekelt.
„Na, ich weiß auch nicht, ein Haar oder ein Fingernagel oder so.“
„BÄH! Liz, du hast echt einen Esoterik-Tick. Das ist ja furchtbar.“ Sie lachte.
„Ich weiß. Aber was ist denn bitte ein Esoterik-Tick? Das ist ja mal ein Prima Wort.“ Ich lachte mit. Und zack, Liz hatte es mal wieder geschafft, mich aufzumuntern. Ja, doch, ich liebte sie. Sie war echt super.
„Findest du dein Leben nicht auch erstaunlich unactionreich?“ fragte Liz mich auf einmal. Ich wusste, das sie manchmal von ihrem Leben gelangweilt war, deshalb machten wir ja so viele Actiongeladene Sachen. Ich sah sie fragend an.
„Na ich meine, nie Passiert irgendwas besonderes.“
Es klopfte, Finn stand vor vor Tür. Er weinte. Liz seufzte, und rannte in einer mir unbegreiflichen Geschwindigkeit über den 'Trampelpfad' zur Tür. (unbegreiflich, weil der Pfad so klein ist, wenn ich so was machen würde, hätte ich ständig Angst irgendwo gegen etwas gegen/ irgend etwas um zu rennen.)
„Was ist?“ fragte Liz nahm ihren Bruder in die Arme und schloss die Tür. Da kam ihre herzliche Seite wieder sehr zum Vorschein, als sie ihm das Gesicht abtrocknete und sich seine Geschichte anhörte.
„Wir haben gespielt, und dann hat es an der Tür geklopft, und Mary ist dahin und ich hab in ihre Karten geschaut und gesehen, das sie schummeln wollte. Und dann bin ich auch zur Tür, weil ich Mary hauen wollte, und die Tür stand offen, und sie war weg.“ erzählte Finn. Liz stand auf. „Bin gleich wieder da.“ sagte sie, und war auch schon weg. Ich raffte mich auf, schlich förmlich über den 'Trampelpfad' und stürmte dann Liz hinterher. Ich hörte sie unten im Flur laut nach ihrer Schwester rufen.
„Mary, wo bist du?“ Ich hatte sie eingeholt, und wir gingen zusammen nach draußen. Es war inzwischen fast ganz dunkel, man konnte nur Schemen erkennen. Irgendwo schrie ein Vogel, im Gebüsch raschelte es. Liz zeigte in Richtung Hecke, und schlich lautlos herüber. Ich umrundete die Sträucher, und näherte mich dem Geräusch von hinten, allerdings nicht ganz so leise, damit ich die Person heraustreiben, und Liz sie/ihn fertigmachen konnte. Liz war damit hundertpro einverstanden (unsere Gehirne liefen irgendwie gleich). Ich trampelte auf das Gebüsch zu, und hatte es schon fast erreicht, da sprang ein Mann heraus, Mary im Arm und wollte wegrennen. Liz stellte sich ihm in den Weg. Ich beeilte mich um die Hecke herumzulaufen und stellte mich neben sie. Der Mann lachte.
„Ihr glaubt doch wohl nicht, das ihr mich aufhalten könnt, oder?“ Er zog eine Knarre, und richtete sie auf Liz. Ich erkannte eine Magnum Research Desert Eagle, 4,5 mm Kaliber, 8 Schuss, Trommelmagazin. Für ne Magnum ein ziemlich olles Teil. Liz sah das wohl genauso. Sie machte einen schnellen Bogengang und trat dabei dem Typ die Knarre aus der Hand. (Für alle die nicht wissen was ein Bogengang ist: man biegt den Rücken nach hinten und setzt dann die Hände auf den Boden (Brücke), dann schwingt man die Beine über den Kopf, bis man wieder Steht, ist ziemlich praktisch, weil wenn der Angreifer schießt, die Kugel wahrscheinlich über einen weg geht) Der Typ zog ein Messer (man, Klischeehafter geht’s wohl nicht mehr...) und hielt es Mary an den Hals.
„Deine Eltern sind reiche Anwälte.“ sagte er zu Liz. „Ich will 50.000.000 Euro, oder sie stirbt.“ Liz sah ihn an.
„Also, leider hab ich grad keine 50.000.000, komm doch morgen nochmal wieder. Blödmann.“ sagte sie. „Selbst wen ich wüsste woher ich das Geld nehmen sollte – meine Eltern sind nämlich nicht da – würde ich mich niemals erpressen lassen.“
„Dann werde ich deine Schwester leider mitnehmen müssen, bis deine Eltern mir das Geld geben, und wenn sie das nicht tun, sie töten.“
„Ein Typ der mit ner Desert Eagle Alice Dinozo und Liz Baker bedroht ist niemals in der Lage Mary Baker zu töten, alles klärchen?!“ stellte Liz klar.
„Genau, du Arschloch.“ sagte Mary, und biss dem Mann in die Hand. Und das ohne Schneidezähne. Es muss ihm trotzdem sehr wehgetan haben, denn er lies sowohl Mary als auch das Messer fallen, um sich de schmerzende Hand zu halten. Ich bewunderte Liz und Mary echt für ihre Fähigkeit, in solchen Situationen einfach ruhig zu bleiben und das Richtige zu tun. Liz hob sie leicht geschockte Mary auf.
„Kümmre du dich um ihn.“ sagte sie zu mir. Er hob sein Messer auf und grinste.
„Ich mach dich fertig, bevor du bis Drei zählen kannst.“ sagte er. Keine Ahnung aus welchem Billigfilm das war. Ich zuckte die Schultern.
„Drei...!“ sagte ich, und griff an. Es dauerte nicht lang. Ich trat ihm das Messer aus der Hand, schlug mit den Fingerspitzen gezielt auf seinen Solarplexus, und ihn dann K.O.. Liz blickte auf und hob eine Augenbraue. Wahrscheinlich reagierten alle nur so gechillt, weil dauernd jemand versuchte, Liz' Eltern zu erpressen, indem er Finn oder Mary entführte. Finn hatte (als wäre das Routine) die Polizei gerufen, deren Sirenen man schon hören konnte. Seltsame Familie.
Wie schon deutlich wurde, sind Liz' Eltern (erfolg)reiche Anwälte, und waren auf irgendeinem Kongress in Japan oder so (ich glaub in Österreich), und ich beschloss bei Liz zu übermachten. (Also ich beschloss das nicht, weil Liz' Eltern weg waren, im Gegenteil, Nadia und Alec Baker sind schon fast meine eigenen Ellies, ich mag sie echt gern.) Natürlich hatte Liz sie angerufen, und natürlich wollten sie auf dem schnellstem Weg nach Hause. Sie würden mit dem nächsten Flugzeug kommen. Da ich den Großteil meiner Zeit bei Liz verbrachte, hatte ich auch einige Klamotten bei ihr, unter anderem Schlafanzug und Zahnbürste, weshalb ich nicht nochmal zu mir fahren musste. Ich schrieb meiner Mom eine SMS, dass ich bei Liz bleiben würde (hätte ich angerufen, und gefragt hätte sie garantiert „Nein“ gesagt), dann überlegten Liz und ich, welchen Film wir schauen wollten. Liz wollte das Mary und Finn auf den Schreck mitgucken, und da wir deshalb nichts ganz brutales gucken konnten, einigten uns schließlich auf 'Fluch der Karibik', den ersten. Irgendwann in der Mitte des Films schlief Mary in meinem Schoß ein, zusammengerollt wie eine Kugel, und wir brachten sie ins Bett. Wir sahen uns den Film zuende an, aber unsere sonstige 'ohmeingottjohnnydeppistsosüüüß'-Stimmung kam nicht wirklich hoch. Vielleicht ging Liz die Sache doch etwas näher als ich angenommen hatte. Aber da war noch etwas anderes, sie verschwieg mir etwas. Und zwar schon länger. Ich war mir hundertpro sicher. (unsere Gehirne liefen irgendwie gleich.) Aber jetzt wollte ich sie nicht drauf ansprechen. Sie war noch zu fertig. Ich würde mich später bestimmt noch dran erinnern. Tat ich dann aber natürlich doch nicht, was wie mir später klar wurde, ziemlich blöd war.

2


Als ich am nächsten Morgen aufwachte war das Gefühl der Vollkommenheit fast perfekt. Ich war umgeben von Liz' Kissen(ecke) und es war warm und gemütlich. Dann erinnerte ich mich an die Ereignisse vom Vortag, und es war schon weniger warm und gemütlich. Ich drehte mich zu Liz' um, die immer mit mir unten schläft wenn ich da bin, und stellte fest, das sie nicht da war. Liz schläft nie länger als fünf Stunden, sie geht lieber laufen, lernt irgendeine Sprache (Liz spricht fließend Spanisch (ihre Mutter ist Spanierin), Finnisch (ihr Vater ist Finne), Deutsch (Muttersprache (mehr oder weniger)), Englisch(lernen wir in der Schule), Russisch (lernen wir auch in der Schule) und Japanisch (hat sie sich aus Spaß an der Freude selber beigebracht, sie ist ein krasses Sprachtalent)... bis jetzt) oder geht in den Fitnessraum Trainieren (Anwaltsfamilien mit zu viel Geld haben auch einen Fitnessraum). Ich stand also auf, zog mich an und ging nach unten. Ich hörte Liz' und Nadia's Stimmen aus der Küche (also waren Liz' Eltern wieder da), also steuerte ich sie an, nicht zuletzt weil ich Hunger hatte.
„Liz, wo ist der Kuchen?“ fragte Nadia, und sie klang nicht besonders erfreut.
„Keine Ahnung, ich hab ihn gegessen.“ sagte Liz.
„Dann weißt du ja doch wo er ist.“
„Nein.“
„Elizabeth Felicitas Baker. Wenn du einen Kuchen isst, ist er danach in deinem Magen.“
„Nadia meine Mutter, aber das kommt drauf an wann man ihn gegessen hat, wenn es, wie bei mir, schon länger zurückliegt, kann er sich überall befinden.“ Liz grinste. Nadia verschränkte die Arme, und sah sie genervt an.
„Irgendwie hab ich das Gefühl das du mich verarschen willst.“, sagte sie, dann sah sie mich und grinste. Sie ist die typische spanische Schönheit, mit olivfarbener Haut und langen schwarzen Locken.
„Hi Alice, schön dich zu sehen.“ sie kam zu mir und umarmte mich kurz. „na wie geht’s dir?“ fragte sie mich. „komm, es gibt Frühstück. Leider ohne Kuchen.“ sie sah Liz böse an.
„Sorry man.“ sagte Liz.
„Schon gut. Ach, habt ihr Mädels übrigens Lust, mit in den Hochseilgarten zu kommen? Mary hatte es sich gewünscht. Du bist natürlich eingeladen, Al.“ mir war zum Heulen. Warum konnte meine Mutter nicht so sein. Mir Kosenamen geben, und mit mir was unternehmen wollen? Aber ich tat das, was ich immer tat, ich lächelte, und spielte heile Welt.
„Klar Nadia, immer gerne.“ Ich setze mich an den Tisch und strich mir dick Nutella auf mein Brötchen. Wenn ich gefrustet bin muss ich Nutella essen. Liz weiß das (und findet es nicht unbedingt toll) deshalb sah sie mich fragend an. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte den Tag nicht mit meinem Selbstmitleid ruinieren.
Es war auch wirklich schön. Finn und Mary sind wirklich absolut Liz' Geschwister, wie sie durch die Bäume tobten, und auch Nadia und Alec waren hoch unterwegs. Ich mag es, wenn Erwachsene nicht vergessen haben, dass sie auch mal Kinder waren.
Nach dem erholsamen Ausflug in die Bäume gingen wir noch ein Eis essen, bei Alejandro, den ich schon deshalb mag, weil er den selben Namen wie Zorro hat. Alejandros kleine Eisdiele ist eingequetscht zwischen einem riesigen Billigschuh-Laden und einer Apotheke, man sieht sie gar nicht, wenn man nicht weiß dass sie da ist. Die, die es wissen, wissen allerdings auch das es sich lohnt zu kommen, denn Alejandro macht das beste Eis der Welt. Und er sieht dabei auch noch gut aus. Wir aßen also Eis, und Alec erzählte einen Witz nach dem anderen, die alle unlustig waren, aber trotzdem hatten wir Spaß. So sollte das Leben sein.
Als wir wieder bei Liz ankamen, war es acht Uhr, und ich dachte ich sollte vielleicht besser nach Hause gehen. Liz wohnt gar nicht so weit von mir entfernt, zwischen unseren Häusern liegt nur ein kleiner Park. Durch den Park brauche ich sieben Minuten. Drumherum eine Viertelstunde. Ich ging also durch den Park. Klar, jetzt sollten alle 'nein, stopp tu's nicht' schreien. Aber ich bin den weg schon tausendmal gegangen, außerdem, wäre ich nicht durch den Park gegangen, hätte ich auch niemals ihn getroffen.

Er ist Yan. Schon sein Name ist so wunderbar klangvoll (auch wenn ich da noch nicht wusste, dass er so heißt), und von seiner Schönheit reden wir erst gar nicht. Doch das tun wir. Er hat pechschwarze Harre, die sich leicht wellen, und in seine Augen hängen. Seine Augen sind Türkis, und das ist mein Ernst. Die Iris war von einem so tiefem und reinem Blaugrün, dass man darin versinken und nie wieder auftauchen könnte. Könnte, wäre man nicht durch die klassische 9mm Firat Magnum P. A. K. (15 Schuss) in seiner Hand abgelenkt. Das war eine Waffe, mit der man mich bedrohen konnte. Und er richtete sie auf mich. Trotzdem machte dieser schöne Fremde nicht den Eindruck, als würde er mich erschießen wollen. Er sah mich eher verzweifelt an, als wüsste er nicht, was er nun tun sollte. Er stand einfach nur da, seine Pistole auf mich gerichtet, und raufte sich mit der freien Hand die Haare, die dadurch unglaublich sexy verstrubbelten. Schließlich sagte er etwas, das ich leider nicht verstehen konnte, da ich nicht das Sprachwunder Liz war. Es klang aber wie „чушь,я упуска́ть ва́жный не зака́з (Tschusch', ja upuskatch waschnyi nje sakas“ Seine Stimme war ein wenig rau und tief, aber sehr angenehm. Ich sah ihn verwirrt an, und er lächelte. Schmacht.
„Ich muss leider gehen,“ sagte er, diesmal in deutsch mit leichtem Akzent, irgendwas östliches, Russisch vielleicht? Ja, das würde zu den Worten passen. „Vielleicht auf ein anderes Mal.“
Und mit diesen Worten ließ er mich stehen, und rannte weg. Ich starrte ihm hinterher, völlig unfähig, irgendetwas anderes zu tun. Was in dieser Situation natürlich sinnvoll wäre. Als ich schließlich glaubte, mein Kreislauf würde es verkraften wagte ich einen Schritt. Dann noch einen, und noch einen, bis ich es unfallfrei nach Hause geschafft hatte. Dort ließ ich mich in mein Bett fallen, und versank sofort in tiefen Schlaf, und Träumte von türkisäugigen Typen.

Der Zauber wurde am nächsten Morgen von meiner keifenden Mutter jäh unterbrochen.
„Aufstehen Alice, du kommst wieder zu spät, es ist doch immer dasselbe (…)“ Ich stand also auf, zog mich an, und ging nach unten zum Frühstück. Mein Traum verfolgte mich. War das wirklich passiert? Wenn ja wollte ich wirklich wissen, wer das wohl gewesen war. Ich setzte mich an den Tisch.
„Morgen, Al.“ sagte John der halbwegs munter aussah (ganz im Gegensatz zu mir wahrscheinlich). Er und Liz (und vielleicht ihre Familie) sind die einzigen, die mich so nennen dürfen. Nicht das mich irgendjemand anders so mag, dass er es tun würde. John ist eigentlich voll in Ordnung, bis auf die Tatsache, das er Mom geheiratet hat, aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer. Aber das Problem zwischen Mom und mir war nicht seine Schuld, also beschloss ich nett zu ihm zu sein.
„Guten Morgen, John. Ich hoffe du hast gut geschlafen?“ Huch? Ich war wirklich erstaunlich nett heute. Lag wohl daran, dass ich immer noch verwirrt wegen gestern Abend war. Und weil ichs meiner Mom zeigen wollte. Ihr Kommentar ließ natürlich nicht lange auf sich warten.
„Jaja, schleim' dich ruhig ein, das kannst du ja gut.“ Ich floh aus dem Haus. Soviel dazu. Ich meine, deshalb bin ich immer bei Liz. Während ich die Tür zuknallte, hörte ich John noch so etwas wie 'musste das sein?' sagen, aber Mom ignorierte ihn. Das ihre Art der Konfliktlösung. Es wundert mich wirklich, das sie keine Freunde hat (an alle die's nicht gecheckt haben: war ironisch gemeint). Ich fuhr mit dem Bus zur Schule, und wollte Liz eigentlich von meiner Begegnung erzählen. Irgendwie kam ich aber nicht dazu, denn kaum hatte Liz mich entdeckt, kam sie auf mich zugelaufen, und begann mit dem Armen in der Luft herumzufuchteln, und dabei komische Mundbewegungen zu machen.
„Liz, was um alles in der Welt tust du da?“ fragte ich völlig geschockt.
„Ich lerne Gebärdensprache“ sagte Liz, als wäre das völlig normal (das ist es für sie irgendwie auch). „das heißt 'guten Morgen'.“ sagte sie, und machte wieder merkwürdige Bewegungen. Ich seufzte. Dann fiel mir der Typ ein, und ich wollte grade anfangen zu erzählen als es klingelte. Ich seufzte nochmal, und rannte mit Liz ins Schulgebäude.

In der Mittagspause hatte ich das Gefühl, ich würde nicht mehr dazu kommen, Liz von gestern Abend zu erzählen. Denn es war so laut, das man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Irgendwie war das Schicksal grad gegen mich.
Dann, in der letzten Stunde, schrieben wir eine Mathearbeit. Ich verkackte voll, und gab nach 35 Minuten mein Blatt ab, (unter den zweifelnden Blicken meiner Mitschüler und des Lehrers) und ging nach draußen. Liz kam ungefähr fünf Sekunden später.
„Was ich dir eigentlich erzählen wollte...“ setzte ich an, aber Liz sah mich so komisch an, das ich lachen musste. Liz fiel ein, und wir lachten lauter und lauter, bis unser Mathelehrer nach draußen kam, und uns anbrüllte, wir sollen gefälligst leise sein. Liz und ich grinsten uns an, und suchten zusammen das Weite.
Als wir bei ihr ankamen (nach der Schule ging ich eigentlich immer zu ihr), wurden wir sofort von Mary überrannt.
„Liz, machst du Kaiserschmarren? Biteeeeee, du kannst das so gut, und Finn ist auch einverstanden, und ich hab VOLL Lust darauf, und ich helf dir auch wenn du willst.“ Liz lachte.
„Klar.“ sagte sie.
Liz kann super kochen/backen. Und sie schafft es, alles irgendwie nach Marzipan schmecken zu lassen, was ich sehr begrüße. Ich liebe Marzipan! Also machte sie jetzt Kaiserschmarren, natürlich mit Marzipangeschmack. Es schmeckte genial. Ich liebe es sowieso zu Essen. Fett setzt bei mir nicht an, dafür mach ich zu viel Sport. Liz geht es mit dem Essen genauso, und auch unsere Gehirne liefen irgendwie gleich, denn wir standen gleichzeitig auf, und stellten unsere Teller weg.
Oben in Liz 'Zimmer' konnte ich ihr dann endlich von meiner unheimlichen Begegnung erzählen. Und wie immer hörte sie aufmerksam zu.

3


Liz sah mich eine Weile schweigend an, nachdem ich ihr die Geschichte erzählt habe. Dann zauberte sie ein Glas Nutella irgendwo her (Ich hatte manchmal das Gefühl, sie deponiert überall in der Wohnung Nutellagläser, für solche Fälle), und reichte es mir wortlos.
„Willst du dazu nichts sagen?“ fragte ich.
„Was soll ich dazu sagen?“ antwortete Liz, und ließ sich in die Kissen zurückfallen.
„Du könntest mir zum Beispiel übersetzten, was er gesagt hat.“ Ich wiederholte die Worte so gut ich konnte.
„Wärst du mal noch im Russischkurs.“ sagte Liz (da ich Italienische Staatsbürgerschaft habe konnte ich Russisch abwählen, und stattdessen Italienisch machen, Liz ist sowohl Finnin als auch Spanierin, aber sie braucht ungefähr ein halbes Jahr bis sie eine Sprache gut kann, und noch eins, um sie fließend zu beherrschen, also belegt sie alle Sprachkurse, die unsere Schule zu bieten hat). „Er hat gesagt, wenn man die Worte in die richtige Reihenfolge bringt,: 'Mist, ich verpasse grad einen wichtigen Auftrag'“
„Das hat er gesagt? Cool, vielleicht ist er Auftragskiller.“
„Al, du bist komisch. Schau mal, du triffst einen Typen, wirst von ihm bedroht, und findest ihn toll. Ich sag dir was er gesagt hat, du schließt daraus, das er Auftragskiller ist, und findest ihn toll. Das ist doch nicht normal. Ich meine, jedes andere Mädchen wäre schreiend weggerannt.“
„Wahrscheinlich.“ musste ich zugeben. „Aber er sah einfach so toll aus.“
„Glaub ich dir aufs Wort.“ sagte Liz. „Wirst du es deiner Mutter sagen?“
„Bist du völlig bekloppt? Nein!?“
„Hätte ich auch nicht erwartet.“ grinste Liz. Ich musste lachen.
„Meinst du, ich seh ihn nochmal wieder?“ fragte ich. Liz lächelte, und antwortete: „Man sieht ich immer dreimal.“
„Heißt das ja?“
„Ja, das heißt ja.“
„Oh, gut, ich hab noch ein Hühnchen mit ihn zu rupfen.“

Am Abend ging ich selbstverständlich wieder durch den Park nachhause. Und nein, ich traf ihn nicht, was mich ziemlich deprimierte. Aber ich vertraute Liz' Urteil, dass ich ihn wiedersehen würde.
Doch Wochen vergingen, ohne das irgendetwas passierte, und ich begann zu zweifeln. Möglich, dass er wirklich ein Auftragskiller war, und nun jemanden umgelegt hatte, und zurück nach sonst wohin gegangen war. Das wäre natürlich schlecht. Liz war sehr mitfühlend, und ich war echt froh sie zu haben. Aber ich hatte das Gefühl, das mir irgendwas fehlte, seitdem ich ihn gesehen hatte. Manchmal war ich mir aber auch gar nicht sicher, ob ich ihn gesehen hatte. Vielleicht war das alles nur ein Traum oder eine Illusion oder eine Halluzination gewesen, dieser Gedanke machte mich fertig. Und grade als ich dachte, es könnte nicht schlimmer kommen, bat unser Mathelehrer meine Mutter und mich zu einem Gespräch. Schon als meine Mom mir davon erzählte, wusste ich, dass das nichts gutes bedeutete. Gott sei dank hatte meine Mom einen guten Tag, und war auf dem Hinweg sogar richtig nett. Sie fragte mich, wie ich sonst so zurechtkäme, und wie es überhaupt so sei in meinem Leben. Ich erzählte ihr von der Schule, dass ich eigentlich ganz gut war, nur in Mathe nicht, vom Training, und von der 'Entführung' Mary's. Von der unheimlichen Begegnung mit einem potenziellen Auftragskiller erzählte ich ihr nichts.
Als wir an der Schule ankamen, warteten bereits Herr Barthlott (unser Mathelehrer) und Frau Tobaben (unsere Klassenbetreuerin), die das Gespräch begleiten würde. Ich mochte beide nicht besonders. Barthlott schleimt sich bei allen ein, und Tobaben tut immer so, als mag sie dich, aber schreibt nachher nur Mist in dein Zeugnis. Beide sahen nicht sehr vertrauenerweckend aus. Ich seufzte, und folgte ihnen ins Besprechungszimmer.
Mit einem unglaublich freundlichen „Deine Leistungen im Fach Mathematik sind für deinen Abschluss nicht ausreichend“ eröffnete Tobaben das Gespräch. Na, das haut mich ja jetzt echt vom Hocker. Ich meine, ich weiß das ich kein Mathe kann, und die Lehrer und meine Mom wissen es auch.
„Also deswegen sollte ich hier antanzen?“ fragte Mom. Barthlott sah sie an.
„Frau Dinozo, ihre Tochter schafft möglicherweise ihren Abschluss nicht.“ sagte er. „Sie wollen doch nicht, dass sie nachher auf der Straße sitzt, oder zur niederen Volksschicht gehört?“ 'so wie Sie' schwang unausgesprochen durch den Raum. Asozialer Mistkerl.
„Meine Tochter ist schlauer als Sie beide zusammen, da ist es mir herzlich egal, wenn sie kein Mathe kann.“ sagte meine Mom.
„Wenn sie ihren Abschluss nicht schafft...“ setzte Barthlott an, doch Mom unterbrach ihn.
„...kann sie ihre Vier, das ist eine ausreichende Leistung übrigens, sollten Sie als Lehrer wissen, mit ihrer Eins in Deutsch oder Englisch ausgleichen. Stimmt doch, oder?“
„Schon, aber das bedeutet nicht, dass sie sich nicht anzustrengen braucht.“
„Sie strengt sich ja an. Sie kann es einfach nicht. Und da ist sie nicht die einzige, was mich bei Ihrer Unterrichtsmethode nicht wundert.“
„Sie...“ begann Tobaben, doch meine Mom unterbrach sie einfach wieder (ich geb's zu, manchmal ist sie cool).
„Alice ist sehr gut in Logik. Sie kann toll Zeichnen und Konstruieren. Sie kann nur einfach nicht mit Zahlen umgehen.“
„Gut, dann stellen wir ihr eine Logikaufgabe. Wenn sie die löst, vergessen wir dieses Gespräch.“ Ich seufzte. Super Mom.
„In Ordnung.“ begann Barthlott. „Also. Drei Menschen teilen sich ein Zimmer. Es kostet pro Nacht 30 Euro, egal wie viele Menschen in dem Zimmer wohnen. Also bezahlt jeder zehn Euro. Doch der Vermieter bemerkt Bauarbeiten unter dem Fenster, die ruhestörend sind. Also erstattet er den drei Leuten fünf Euro. Jeder nimmt einen Euro zurück, die übrigen zwei geben sie dem Vermieter als Trinkgeld. Soweit alles klar?“ Ich nickte, und versuchte mich zu konzentrieren. Mom hat recht, Logik ist meine Stärke. Ich konnte es schaffen.
„Jetzt kommt die Aufgabe. Da alle einen Euro zurückbekommen haben, hat nun theoretisch jeder nur noch neun Euro bezahlt. Drei mal neun Euro sind siebenundzwanzig Euro, plus die zwei Euro Trinkgeld macht neunundzwanzig Euro. Nun ist die Frag: wo ist der letzte Euro geblieben?“ Na das war doch nicht schwierig.
„Ist doch ganz leicht, das ist ein Rechenfehler. Man muss das Trinkgeld von den 27 Euro abziehen, und dann die 5 Euro Ermäßigung dazurechnen, dann kommt man auf 30.“ Herr Barthlott sah mich an, als wäre bei mir was nicht ganz richtig (dazu sagen wir mal nichts).
„Sie hat ja Recht“ sagte er völlig fertig.
„Natürlich hat sie das, sie ist meine Tochter“ sagte meine Mutter unwirsch. Sie stand auf. „Da wir das ja geklärt. Auf wiedersehen.“ Und sie ging einfach. Barthlott war immer noch irgendwie weggetreten.
“Sie wusste es...“ murmelte er „Warum wusste sie es?“ Ich flüchtete (meiner Mom hinterher).

Kurz zu einer Schule, in der man wegen eine Vier zum Gespräch bestellt wird, und an der Psychopathen unterrichten dürfen. Ich bin auf so einer Super-Bonzen-Privatschule. Kostet megaviel Geld, und ist auch gar nicht mal so schlecht, nur die Lehrer sind... NAJA.
Meine Mom findet die Schule ganz gut, weil sie auch eigentlich ganz gut ist. Nur hat sie einen gewissen Mathelehermangel. Deshalb dürfen Leute wie Barthlott unterrichten. Man könnte vielleicht denken, so eine Bonzenschule kann sich sofort neue Lehrer besorgen, aber es gibt irgendwie nicht so viele Mathelehrer. Was mich nicht wundert. Ich meine, wer studiert schon freiwillig Mathe?

Zurück zur Story: meine Mom war dann auf dem Rückweg nicht mehr so gechillt. War ja klar.
„Alice, ich werde nicht immer alles für dich geradebiegen. Wir kommen oft nicht gut miteinander klar, aber ich hab dich trotzdem lieb.“ Ach Gottchen... Ich war gerührt. Wirklich. Aber ich glaubte ihr nicht. Dafür hatte sie mich zu oft enttäuscht. Ich weiß, das ist traurig, aber nicht meine Schuld. Zuhause rief ich sofort an Liz an, so nach dem Motto 'ich brauch sofort meine beste Freundin'. Sie lachte sich am Telefon kaputt, weil Mom den Barthlott fertiggemacht hat, und munterte auch mich wieder auf. Wie immer.

Ich hatte mich grade damit abgefunden, dass ich ihn wohl niemals wiedersehen würde. Und überraschenderweise wurde es am nächsten Montag in der Schule noch schlimmer. Wie in dem Spruch: 'und aus dem Chaos heraus sprach eine Stimme zu mir: lächle und lebe, es könnte schlimmer kommen. Und ich lächelte, und lebte, und es kam schlimmer.'. So ist mein Leben.
Ich saß mit Liz und Kris (auch bekannt als Kristina, eine Freundin von uns beiden) in der Mensa, und unterhielten uns über Jungs, als niemand anderes als Brad hereinkam. Das hätte mich nicht weiter gestört, wir sind auf derselben Schule, da begegnet man sich schon mal, vor allem in der Mensa. Was mich störte, war das Etwas, welches sich an seinen Arm klammerte.
„Ohmeingott...“ entfuhr es Kris, und das traf es ganz gut. Es war Melissa. Sie ist die Schulzicke, Queen der Oberstufe, und ganz besonders Sexgöttin der Jungs. Sie lässt sich echt von jedem flachlegen, und Brad hasste sie. Hatte er mir jedenfalls erzählt. Jetzt grinste er dümmlich vor sich hin, und Melissa sah zu mir. Sie lächelte auch noch. Fies und hinterhältig sah sie aus, und sie drehte sich zu Brad, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er sah zu mir herüber, jetzt lachten beide. Melissa drehte ihr Gesicht zu Brad, und küsste ihn. Es war ein richtiger Filmkuss mit gesabber, und es war keine Frage, für wen er gedacht war. Bei mir rissen die Sicherungen. Liz und hatten natürlich alles mitbekommen und versuchten mich zu beschwichtigen.
„Komm wieder runter“ sagte Kris.
„Nicht aufregen, Al“ sagte Liz.
„Alles wird gut“ sagte Kris.
„Beruhig dich“ sagte Liz.
Aber ich wollte nicht. Ich sprang auf, und rannte nach draußen, begleitet von Melissas hohem, künstlichen Lachen.
Ich musste verschnaufen. Ich war einfach losgerannt, und hatte grad keinen Plan, wo ich war. Ich atmete tief durch und sah mich um. Ich sah: Bäume. Überall. Ich schloss daraus, dass ich im Wald war. Ich knallte meinen Rucksack auf den Boden, und versuchte mich zu Beruhigen, mein Temperament zu zähmen, aber es funktionierte nicht. Immer wenn ich halbwegs wieder klar denken konnte, schoss das Bild von Melissa in meinen Kopf, die Brad ihre Zunge in den Hals steckte.Ich ballte die Fäuste. Ich musste jetzt ganz dringend an irgendetwas Frust ablassen, sonst würde was Schlimmes passieren. Ich entschied mich für einen Baum, und rammte meine Faust hinein. Aua. Keine gute Idee. Naja, dem Baum schien es auch nicht so gut getan zu haben, An der Stelle, wo meine Faust ihn getroffen hatte, war ein dampfendes Loch. Nein, natürlich nicht, aber einen leichten Abdruck sah man schon.
„Schick.“ sagte ein jemand leise hinter mir. Ich wirbelte herum, und wollte die Faust, die eben noch im Baum gesteckt hatte nun in sein Gesicht befördern, aber er fing sie locker mir einer Hand ab. Ich sah in sein Gesicht.
Es war der Junge mit den schwarzen Harren. Mit den türkisen Augen.
Und er lächelte.

4


Ohmeingott. Ich hatte mir so gewünscht ihn wiederzusehen, und jetzt war ich völlig geschockt, als er auf einmal vor mir stand. Wahrscheinlich verständlich.
Ich lies die zurückgehaltene Faust der ersten folgen. Seine zweite Hand schnellte vor, und hielt sie auf.
„Du bist gut.“ bemerkte er.
„Bist du ein Auftragskiller?“ kann mir mal bitte jemand in den Arsch treten? Warum musste ich meine dummen Gedanken immer direkt in die Weltgeschichte posaunen?
Er grinste. Immer breiter. Dann fing er an zu lachen.Er hatte ein schönes Lachen, es passte zu seiner tiefen Stimme. Trotzdem war ich deprimiert. Lachte er mich jetzt aus? Immer noch lachend lies er meine Hände los.
„Was zu Geier ist so komisch?“ fragte ich gereizt.
„Du“ antwortete er. Ich? Wollte er mich ärgern? Ich sah ihn fragend an.
„Fragst du alle Typen die du triffst ob sie Auftragskiller sind?“ Ich muss zugeben, hätte mich das einer gefragt, hätte ich auch so reagiert.
„Nur die, die in Kung Fu besser sind als ich, und mich mit ner Firat Magnum bedrohen.“ erklärte ich.
„Deine Schläge waren vorhersehbar. Du kennst dich mir Waffen aus?“ Er hob fragend eine Augenbraue. Ich zuckte die Schultern.
„Ein bisschen.“
„Scheinbar mehr, als das normale Durchschnittsmädchen.“
„Ich bin nicht das normale Durchschnittsmädchen!“ stellte ich klar. Er lachte wieder.
„Stimmt wahrscheinlich. Und du hast Recht, ich bin ein Auftragskiller.“ Wow. Ich unterhielt mich mit einem Auftragskiller. Krass.
„Und jetzt tötest du mich, weil ich dein Gesicht gesehen habe?“ Er sah mich an.
„Wenn ich jeden umbringen würde, der mein Gesicht gesehen hat... Außerdem hab ich versucht dich zu töten.“
„Aber?“
„Ich konnte nicht. Wahrscheinlich weil du nicht schreiend weggerannt bist. Nein, ich hab einfach was gesehen, in deine Augen... das ist mir noch nie passiert.“ Ich merkte, dass das ein großes Geständnis für ihn war. Es war also fast ein Wunder, dass ich noch lebte.
„Ich heiß Alice.“ sagte ich irgendwann. „Meine Freunde nennen mich Al.“
„Ich bin Yan.“ antwortete er. „Meine Freunde nennen mich Yan.“ Ich lächelte.
„ALICE!“ schallte ich durch den Wald. Oh. Liz.
„Ich müsste dann mal gehen.“ sagte ich. „Ich hab eigentlich Schule.“
„Ich halt dich nicht auf.“ er hob meinen Rucksack auf, und gab ihn mir. Ich wollte fragen, wann, und ob wir uns wiedersehen würden, aber als ich mich ihn zuwenden wollte war er verschwunden. Aaahhhh sollte ich jetzt wieder wochenlang warten, bis ich ihm zufällig begegne? Nee, das würde ich nicht durchhalten. Liz tauchte zwischen den Bäumen auf.
„Al, sachma kannst du vielleicht nicht einfach wegrennen wenn... oh.“ Sie hatte wohl mein Gesicht gesehen.
„Al? Was ist los?“ fragte sie besorgt. Ich schüttelte nur den Kopf und ging zurück zur Schule.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich fröhlich oder traurig sein sollte. Im Matheunterricht, als ich mein Heft aufschlug flog mir ein Zettel entgegen, kompliziert gefaltet. Dieser Junge. Mir kam in den Sinn, wie er meinen Rucksack aufgehoben hatte. Ich schüttelte lächelnd den Kopf, und entfaltete den Zettel. Auf der einen Seite war eine Zeichnung. Ich erkannte den Park, eine Stelle war mit einem Kreuz markiert (schon wieder so ein Klischee). Auf der anderen Seite standen scheinbar wahllos aneinandergereihte Buchstaben und Zahlen.

Alice,
SPOOTAG 15,
BEIT 11 UJR,
ACJTE HARAUF, HASS HIDJ OIENAOH SIEJT.
Yan

Ein Code. Freu. Ich mag Codes, sie fördern/fordern meine grauen Zellen. Ich besah mir die Buchstaben genauer, während mein Hirn auf Hochtouren arbeitete.
„Alice Dinozo. Fanpost?“ F***! Barthlott. „...oder eine Logikaufgabe?“ Man, was hatte der nur für ein Problem. Während ich darüber ernsthaft nachdachte schnappte er sich den Zettel.
„Hm. Anscheinend tatsächlich eine Logikaufgabe. Tjatja. Wer ist Yan?“ Liz sah mich schräg an.
„Eifersüchtig?“ fauchte ich Barthlott an. Ich hab wirklich ein erstaunliches Talent, mich mit Lehrern anzulegen. Er lächelte, und erinnerte mich dabei irgendwie an Melissa. Dann riss er den Zettel auseinander, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Mülleimer.
„Damit du dich mehr auf den Unterricht konzentrieren kannst.“ sagte er. Mhhhhhhh. Ich bin nicht verrückt, ich mach das zur Beruhigung. Das funktioniert wirklich. Ehrlich. Ich muss es mir nur oft genug einreden. Aaaahhhhhhh. Ich hasse diesen Typen!!!!!! Lässig (NICHT) schlenderte er zurück zur Tafel, und malte irgendwelche Zahlen. Liz stand auf.
„Ich geh mal eben auf Toilette.“ Sagte sie, und verschwand. Toll. Lies sie ich auch noch alleine.Auf dem Hof war ein lautes krachen zu hören, scheppern, klirren, und dann weglaufend schritte. Barthlott stürzte zum Fenster.
„HEY!!“ brüllte er in trommelfellzerfetzender Lautstärke. Im selben Moment kam Liz rein, griff kurz in den Mülleimer, und setzte sich an ihren Platz, als wäre nichts geschehen. Ich sah sie an.
„Warst du das?“ fragte ich leise.
„Mehr oder weniger.“ flüsterte sie zurück, und drückte mir ein paar Papierfetzen in die Hand. Oh man, ich hätte sie am liebsten geküsst, aber nachher wäre Barthlott wieder eifersüchtig geworden....(das war ein Scherz).

Zuhause machte ich mich sofort daran, den Code zu entschlüsseln. Als erstes schrieb ich das Alphabet auf einen Zettel.

A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Dann nahm ich mir ein Wort vor, das ich auch so lesen konnte, nachdem ich die Fetzen wieder zusammengefügt hatte. Das wäre dann wohl SPOOTAG. Wenn ich annehmen konnte, das es sich hier um eine einfache Buchstabenverschiebung mit Schlüsselwort handelte (ich erklär das kurz: alle Buchstaben werden nach rechts oder Links verschoben, nur die von einem Wort bleiben an Ort und Stelle), war es möglich, das in dem Schlüsselwort die Buchstaben T, A und G vorkamen, also TAG. Daraus könnte vielleicht ein Wochentag werden? Ich überlegte. Montag... Dienstag... Donnerstag... Freitag... Sonntag... Ja Sonntag könnte von der Buchstabenzahl/Kombination passen. Ich schaute im Kalender nach, ob der nächste Sonntag ein 15. war. War er sogar, das war sehr gut. Ich schrieb die Buchstaben über das Alphabet.

A G O P S T
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Jetzt musste ich überlegen, welche Worte ich wohl kannte, in denen die Buchstaben T, A ,G und S vorkamen. Oder wie die Verschiebung aussah. Dem O und P nach war es eine einfache linke Verschiebung um eine Stelle. Hm. Ich schrieb das ganze nochmal, diesmal mit der Verschiebung.

A C D E F H G I J K L M N O P Q R U S T V W X Y Z B
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z


Ja, so könnte es funktionieren. Vorausgesetzt, das Schlüsselwort wäre nicht zuuuu lang. Ich versuchte es am Wort OIENAOH. Irgendwie sah das Wort cool aus. Also. O=N, I=H, E=D, N=M, A=A, O=N, H=F.
NHDMANF. Hm. Also das half mir nicht besonders. Nächstes! Dann fiel mir auf: HARAUF. Viellicht war das quasi ein Wort, nur das H passte nicht. Das erste, was mir einfiel, was DARAUF. Also nochmal.

A C D E H F G I J K L M N O P Q V R S T U W X Y Z B
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Aber für das OIENAOH-Wort hatte das nichts gebracht. Mist. OK, mal schauen. Welche Buchstaben des Schlüsselwortes hab ich denn schon. A, F, G, R, S, T und U. OK Alice, denk nach, du bist ganz nah dran. F... R... U... S... T... JA verdammt, ich bin gefrustet.G... U... S... T... A... F... Das konnte unmöglich das das Schlüsselwort sein. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen (das wollte ich schon immer mal sagen). Es lautete Auftrag. Und nicht nur das, es war Auftragskiller. Es war so einfach, und doch genial. Ich machte mich an die Arbeit.

A C D H E F G J I M K L N O P Q V R S T U W X Y Z B
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Alice,
SONNTAG, 15
ZEIT 11 UHR,
ACHTE DARAUF, DASS DICH NIEMAND SIEHT.
Yan.


5


Wow. Er wollte mich treffen. Ich war so glücklich darüber, das ich mich gar nicht fragte, wieso er Zettel mit sich herumtrug, auf denen mein Name stand, und die verschlüsselte Botschaften waren. Vielleicht hatte er mich ja gestalkt... und wieso hatte ich ihn ausgerechnet da im Wald wiedergetroffen? Höchste merkwürdig. Aber wie ich schon sagte, darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich schwebte nur einfach strahlend durch die Weltgeschichte. Leider musste ich noch fünf Tage warte, aber das würde ich schon schaffen. Immerhin hatte ich auch fast zwei Monate überstanden. Mehr oder weniger.
Ich überlegte sehr lange, ob ich Liz davon erzählen sollte. Sie war die andere Hälfte meines Gehirns. Aber ich konnte nicht. Yan war etwas, nur für mich bestimmt. Ich wollte ihn nicht teilen. Jedenfalls noch nicht. Also ignorierte ich Liz' fragende Blicke (sie hatte natürlich bemerkt, dass etwas nicht stimmte), und dachte, dass ich wohl bald vor der großen 'Typ-oder-beste-Freundin'-Entscheidung stehen würde. Kein sehr schönes Gefühl. Aber zuerst würde ich auf Sonntag warten müssen.
Was sich als schwierig herausstellt, wenn erst Dienstag ist.
OU? Dienstag? Wie cool ist das denn. Dienstags trainiere ich in unserem Taekwondo-Verein eine Minigruppe. Eigentlich hat Liz auch eine Gruppe, aber sie hat Dienstags kein Zeit mehr (mich würde wirklich interessieren wieso), deshalb wollte unser cooler, original koreanischer Trainer heute jemanden neuen mitbringen. Ich packte meine Sachen und spurtete los.
Unser Trainer heißt Dongjin, und ist richtig cool. Er wartete vor unsere Trainingshalle (Dojang) mit einem Mädchen auf mich. Sie hatte endlos lange, blonde wellige Haare, die ihr offen über den Rücken fielen, nur gehalten von einem schmalen Haarband. Ihre katzengrünen Augen blickten mir freundlich entgegen, und ganz ehrlich, sie sah absolut nicht nach einer Kämpferin aus. Aber sie war mir sympathisch, also wollte ich nicht vorschnell urteilen. Sie lächelte, und stellte sich vor.
„Lou.“ sagte sie, und ergriff meine Hand. Ihr Händedruck war wie ihre stimme, kräftig, und zugleich weich.
„Alice.“ erwiderte ich.
„Ich habe Lou auf einem Wettkampf kennengelernt, ich glaube sie ist in der Lage, Liz zu vertreten.“ sagte Dongjin mit seinem stylischen Akzent. Wenn er das sagte würde es wohl so sein.

„Alice, Alice!“ meine süßen Schülerchen strömten in die Halle (natürlich nicht ohne sich vorher zu verbeugen). Ich lachte sie an.
„Hallo ihr lieben. Ihr wisst ja, dass Liz nicht mehr kommt,“ (trauriges Gemurmel) „stattdessen wir Lou euer Training übernehmen.“ Ich deutete auf Lou, die schräg hinter mir stand. „Sie ist neu hier, also seit gefälligst nett zu ihr.“ Sofort umringte Liz' alte Gruppe die neue Trainerin, und überschüttete sie mit Fragen.
„Warum bist du gekommen?“
„Welcher ist dein Lieblingstritt?“
„Gehst du auf Wettkämpfe?“
„Seit wann trainierst du?“
„Wie weit bist du?“
Lou lachte.
„Ich bin Lou. Ich trainiere seit ich denken kann, und gehe sehr gern auf Wettkämpfe. Mein Lieblingstritt ist bandae dollyeochagi . Ich bereite mich auf die dritte Dan-Prüfung vor. Hab ich was vergessen?“ Dritte Dan-Prüfung? Hola. Sie sah aus als wäre sie höchstens fünfzehn, tat sie nichts anderes außer zu fighten? Ich war nicht so weit. Krass.
„Lou, Lou, bitte mach uns einen bandae dollyeochagi vor.“ bettelten die Kinder. Lou's stechende Augen suchten meine, wie um Erlaubnis zu fragen, und ich nickte Leicht. Sie konzentriere sich und trat. Und zwar mit Power. Ihre langen Haare flogen wie eine Wolke um sie herum, und sie erinnerte mich dermaßen an Liz, das ich den Namen fast laut geschrien hätte. Wenn sie trat, wollte ich nicht getroffen werden.
Sie war gut. Und irgendwie mochte ich sie. Sie war nicht eingebildet, und war mit Leib und Seele Kämpferin, auch wenn man es ihr nicht ansah, was natürlich cool ist. Wenn sie einer angreift rechnet man gar nicht damit, dass sie zurückfightet.
Wir begannen mit dem Training, und man sah sofort, dass Lou super mit Kindern umgehen konnte. Sie ging auf jedes Kind perfekt ein. Wenn eines etwas nicht auf Anhieb hinbekam übte sie mit ihm, und zwei Sekunden später war es perfekt. Und die kleinen hatten auch noch Spaß. Ich hasse Grundschule.

Nach dem Training gingen wir zusammen nach Hause, sie hatte fast denselben Weg. Sie wohnte ungefähr anderthalb Kilometer hinter mir. Wir unterhielten uns prima, sie war klug und witzig. Wir stellten fest, dass war dieselben Sachen mochten. Schon nach fünf Minuten kam es mir vor, als würde ich sie schon ewig kennen.
Nur zu schnell hatten wir mein Haus erreicht (sie hatte tatsächlich den gleichen Weg). Wir umarmten uns zum Abschied, und obwohl wir uns erst heute kennengelernt hatten, war es eine total vertraute Geste. Sie hatte eindeutiges Freundinnenpotenzial. Ich ging zum Haus, und sie lief weiter.
Ich wollte grade die Haustür aufschließen, da hörte ich den Schrei. Nicht laut. Aber dringend.
„Alice!“ es war Lou. Sofort drehte ich mich um, und lief der Stimme nach. Sie sah mir entgegen.
„Komm, schnell!“ sagte sie, und rannte los.
„Was ist?“ stieß ich zwischen zwei Atemzügen hervor.
„Da hat grad ein Typ ein kleines Mädchen entführt.“ sagte Lou. Ihre Stimme klang völlig unangestrengt und ruhig, obwohl sie rannte.
„Sicher?“ fragte ich.
„Sie hat sich geschrien und sich gewehrt, er hat sie gefesselt.“
Das passierte bei uns in der Gegend leider häufiger. Kein Wunder: das ist ein totales Bonzenviertel. Nur Villen oder Privathäuser. Das bedeutet viele reiche Menschen mit möglicherweise Kindern.
„Was verfolgen wir?“ schaffte ich zu fragen.
„Sein Auto.“ antwortete Lou. Fast wäre ich stehen geblieben.
„Wir verfolgen ein Auto?“ Lou lachte.
„Da vorne ist eine Straßensperre, wegen Bauarbeiten. Da ist seit zwei Wochen dauerhaft Stau.“ Ich sah sie zweifelnd an. Sie grinste.
Dann erreichten wir tatsächlich einen kleinen Stau.
„Welches Auto?“ keuchte ich.
„Das schwarze da vorne.“ sagte Lou. Die Olle war noch nicht mal außer Atem. „Sie ist im Kofferraum.“
Wir sprinteten los.
Die Autokolonne bewegte sich vorwärts. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.
„Alice Dinozo, hier wurde grade ein Kind entführt.“
„Lohnbergstraße.“ sagte Lou.
„Lohnbergstraße.“ informierte ich den Polizisten. „An der Straßensperre, das ist kein Scherz, also beeilen sie sich gefälligst.“ Ich legte auf. Wieder schoben die Autos nach vorne.
„Es dauert bis sie kommen.“ sagte ich.
„Gleich ist er weg.“ sagte Lou.
Wir dachten das gleiche.
Wir schlängelten uns durch die Autos bis zu dem schwarzen Golf. Ich versuchte den Kofferraum zu öffnen. Verschlossen. Lou klopfte an die Fahrerscheibe. War sie völlig verrückt?
Das Fenster ging herunter.
„Hi.“ sagte Lou. „Wir machen von der Schule eine Umfrage, wollen sie mitmachen?“ fragte sie. Sehr gut Lou. Zeit schinden. Ich rüttelte an der Kofferraumklappe.
„Nein.“ brummte der Mann.
„Oh wie schade.“ sagte Lou. „Wenigstens eine Frage. Bitte.“ sie lächelte zuckersüß.
„Ich hab nein gesagt.“ die Autos bewegten sich. Lou drehte sich halb weg, als würde sie gehen, doch dann schnellte ihr Körper zurück, und sie stach mit den Fingerspitzen durch das Fenster. Doch er hatte damit gerechnet, und zog nun an ihrem Arm.
„Du asozialer Mistkerl!“ schrie Lou. Sie stemmte sich gegen die Tür, im selben Moment ertönten Polizeisirenen. Der Mann ließ Lou los, doch nun klammerte sie sich an seinen Arm. Ich versuchte immer noch, den Kofferraum zu öffnen. Entnervt trat ich kraftvoll dagegen. Ich hörte dass Schloss brechen. Ich hob das mit Klebeband gefesselte Mädchen aus dem Wagen. Lou klammerte sich immer noch an den Mann, die Sirenen kamen näher.
Er zog eine Pistole, es knallte. Lou ließ den Mann los und duckte ich, er gab Vollgas und war verschwunden. Ich setzte dass Mädchen auf den Bürgersteig, und löste ihre Fesseln.
„Alice.“ ich drehte mich zu Lou. Sie lag auf der Straße. Ein rasch größer werdender Blutfleck breitete sich auf ihrer Brust aus. Mit einem Satz war ich bei ihr, und nahm ihre Hand.
„Alice...“ sie lächelte schwach. „Erzähl mir etwas.“
„Ich...“ ich schluckte. „Ich liebe einen Auftragskiller.“ sie lächelte wieder. Ein Blutrinnsal kam aus ihrem Mund. Sie hustete.Eine Polizistin war neben mir, und versuchte, mich von ihr wegzuziehen.
„Nein!“ schrie ich. „Ich bleibe.“ Tränen liefen mir übers Gesicht. „Ich bleibe.“
„Ich wünsch dir viel Glück mit ihm. Grüß meinen Freund von mir. Er heißt Alex.“ sagte Lou. Sie schloss die Augen.
„Tschüss Alice. Sag Alex das ich ihn liebe.“ ich zog sie in eine Umarmung.
„Bitte nicht.“ flüsterte ich. „Du bist verdammt noch mal eine Kämpferin also KÄMPF!“ das letzte Wort schrie ich förmlich heraus. Ich schüttelte sie, und schluchzte. Keine Regung.
Sie war tot.

6


Ich saß in eine Decke gewickelt auf dem Bürgersteig, umgeben von Blaulicht und panischen Menschen.
Die erste die kam, war Liz. Wortlos nahm sie mich in die Arme, und streichelte meinen Rücken. Dann war meine Mom neben mir. Keiner sagte etwas.
Man hört eine Frau schreien. Lou's Mutter.
Die Eltern des kleinen Mädchens kommen auf mich zu, und erzählen, wie dankbar sie seien.
Ich hörte nicht zu.
'Lou ist tot!' schrie alles in mir. 'Sie kommt niemals wieder'
Ich wollte nachhause.
Polizisten sprachen mich an, aber ich bekam nur mit, wie Liz sie anfauchte. Sie sollten mich in Ruhe lassen.

Ich ging nicht in die Schule. Meine Mom schrieb mir eine Entschuldigung, ich verbrachte zwei Tage im Bett, mit regelmäßigen Besuchen von Liz und Mom und Kris und John.
Am Freitag quälte ich mich in die Schule, schlief aber im Unterricht ein. Die Lehrer ließen mich in Ruhe.
Jeder behandelte mich, als würde ich gleich umkippen, und das mit Recht.
'Lou ist tot!'
Ich fragte mich, ob ich das Recht hatte, um sie zu trauern. Ich kannte sie eigentlich gar nicht. Aber wir waren durch das Geschehene untrennbar verbunden.
In der dritten Stunde ging ich nachhause. Niemand hielt mich auf, sie sahen mich nur alle mitleidig und traurig an.
Ich warf mich auf mein Bett und weinte. Das Leben des Menschen war so zerbrechlich, so schnell vorbei. Zack, und Ende. Ein Schuss. Es war nicht fair.
'Lou ist tot!'
Glühender Hass stieg in mir auf, ich wollte dem Mann bestrafen, der Lou das angetan hatte. 'Er soll grausam zugrunde gehen' dachte ich. Ich hatte das Recht zu trauern.

Am Samstag kam eine Nachricht von Yan. Meine Mom brachte sie, es war ein Brief, nur Alice stand darauf, in seiner geschwungenen Schrift, die ich immer erkennen würde. Meine Mom fragte nicht, sondern gab ihn mir einfach. Ich liebte sie dafür, denn er war nicht verschlüsselt. Nur acht kleine Worte.

Ich würde es verstehen, wenn du nicht kommst.


Er hatte es also mitbekommen. Kein wunder, es war groß in den Nachrichten und allen Zeitungen. Ich dachte an Lou's Worte. Ich wünsch dir viel Glück mit ihm.


Da war mir klar, dass ich gehen musste.
Als ich zu Lou sagte 'Ich liebe einen Auftragskiller' war mir zum ersten mal klar, das es stimmte. Ich liebte Yan. Ich mochte, wie er redete. Seinen Akzent. Wie er aussah. Seine sanfte Art. Ich kannte ihn nicht richtig, aber ich wusste, ich liebte ihn.
Er erinnerte mich an Lou.
Später kam Liz, die treue Seele, und setzte sich zu mir ans Bett.
„Sie war sehr mutig.“ sagte sie. „Genau wie du.“ Sie lächelte traurig.
„Aber ich lebe noch.“ es war das erste mal, das ich seit Lou's tot etwas sagte. Sie streichelte meinen Kopf.
„Sie lebt in dir weiter.“ sagte sie. Was täte ich ohne Liz?
Sie blieb den ganzen Tag und war für mich da. Und das brauchte ich auch.
Ich fragte mich ob es egoistisch von mir war, mich so bemuttern zu lassen, wo es doch Lou's Eltern und Freunden viel schlechter gehen musste.
Irgendwie konnte ich es nicht wahrhaben. Ich lernte sie kennen, und schon starb sie. Das war so verdammt unrealistisch.

Am Sonntag war ich tatsächlich fähig, aufzustehen, und in den Wald zu gehen. Ich kam nur langsam voran, weil ich immer wieder stehen bleiben musste. Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Aber ich wollte ihn sehen. Schlau wie ich bin, hatte ich natürlich die Karte zuhause vergessen, und versuchte mich an den Weg zu erinnern. Ich war mitten im Wald. Völlig orientierungsgestört lief ging ich über die Blätter, und es grenzte an ein Wunder, das ich nicht gegen einen Baum knallte. Es war tatsächlich keine gute Idee, ich hatte einen Schimmer wo ich war, und drohte jeden Moment zusammenzubrechen. Mir wurde schwindelig.
Jemand fing mich auf als ich fiel, und ich bekam noch mit, wie ich getragen wurde.
Alles war dunkel.

Als ich wieder halbwegs klar sehen konnte, wurde ich nicht mehr getragen. Ich lag auf einer grünen Wiese. Ein breiter Bach floss sanft nur wenige Meter von mir entfernt. Ich setzte mich auf.
Ich war eindeutig noch im Wald, auf einer kleinen Lichtung. Hinter mir stand ein kleines Holzhäuschen, dass aussah, wie eine Jagdhütte. Davor ein Motorrad, umgedreht, und Yan schraubte daran herum.
Ich war echt nicht mehr zu retten. Ich ging alleine in den Wald, um mich mit einem Killer zu treffen. Der megagut aussah, und mich wahrscheinlich hierhin getragen hatte. Er sah mich, lächelte und stand auf. Er hatte kein T-Shirt an.
Er kam auf mich zu, setzte sich neben mich, und umarmte mich. Es war das erste mal, das wir uns berührten.
„Es tut mir Leid, was mit deiner Freundin passiert ist.“ sagte er leise. Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass ich Lou gar nicht gekannt hatte. Ich weinte mich einfach an seiner Schulter aus.
Und wieder erinnerte er mich an Lou, diese Vertrautheit, dieses Gefühl von Sicherheit. Sonst war das nur bei Liz so. Ich konnte nicht einfach irgendjemandem vertrauen. Über Jahre baut sich das auf, es kommt nicht einfach so. Eigentlich.
Ich merkte, wie schnell ich mich beruhigte. Viel schneller als bei anderen. Yan streichelte meinen Rücken und lächelte.
„Alles gut?“ fragte er.
„Nicht wirklich.“ antwortete ich, und rang mir ein Lächeln ab.
„Wird schon wieder.“ sagte er. „Jeder verliert irgendwann irgendwen.“ jetzt wurde ich neugierig.
„Du auch?“ er nickte.
„Wen?“ fragte ich. Er schwieg kurz.
„Meinen Vater.“ sagte er dann. „Er wurde erschossen.“
„War er auch...?“ er lachte leise. Es klang so angenehm.
„Ja, war er. Meine ganze Familie.“ auch er vermied bewusst das Wort. Auftragskiller. Mörder.
Ich dachte an meinen Vater, den ich nicht kannte, und meine Mutter, die mich nicht mochte.
„Wie hast du es überstanden?“ fragte ich.
„Ich hab ihn gesucht. Und gefunden. Und getötet.“ antwortete er, ohne jede Spur von Mitleid. Ich zuckte ein wenig zurück.
„Tut mir Leid“ sagte er sofort.
„Ist nicht schlimm.“ erwiderte ich, doch innerlich war ich aufgewühlt. Er konnte so kalt von einem Leben sprechen? Doch war ich nicht genauso? Hatte ich Lou's Mörder nicht auch den Tod gewünscht?
„War es danach besser?“ fragte ich nach einer Weile.
„Ja.“ antwortete er. „Erst schon. Und irgendwann hatte ich mir so oft eingeredet, dass es so richtig sei, das mein Gewissen es glaubte. Und dann fühlte ich keine Reue mehr. Ich fühlte gar nichts mehr.“
Das klang traurig. Ich blickte in seine türkisen Augen, und sah, dass er recht hatte. Da war kein Gefühl. Nur Leere.

7


„Wie viele Menschen hast du... getötet?“ brachte ich heraus.
„Zwölf.“ antwortete er. „Und jeder einzelne hatte es verdient.“ ich schluckte. Er bemerkte es offenbar.
„Reden wir über etwas anderes.“ sagte er aufmunternd. Er stand auf, und zog sein T-Shirt an.
„Komm, ich zeig dir das Haus.“
Er zögerte.
„Kannst du laufen, oder muss ich dich wieder tragen?“ er grinste verschmitzt.
„Ich krieg das gut alleine hin, danke.“ sagte ich, stand auf, drohte aber sofort wieder umzukippen. Krampfhaft hielt ich mich an Yan's Schulter fest, der fast umfiel vor lachen.
„Nicht lustig.“ beschwerte ich mich, fing dann aber selber an zu lachen. Es tat gut. Er führte mich zum Haus, und wir gingen hinein. Es war ziemlich klein, in einer Ecke ein Tisch mit drei Stühlen, in einer anderen ein egal. Auf dem Boden ein Teppich.
Das wars.
„Was ist das hier?“ fragte ich, während ich mich umsah.
„Unser altes Hauptquartier.“ erklärte Yan. Ich sah ihn skeptisch an.
„Ist das nicht ein wenig... eng?“ Er lachte. Ich mochte es, wenn er lachte. Dann klang er so offen.
„Ich zeig dir was, aber dann muss ich dich kurz loslassen.“
„Ich werd's schon überleben.“ versicherte ich ihm.
„Sei dir mal nicht so sicher.“ sagte er schelmisch, und ließ mich los. Ich schaffte es stehen zu bleiben. Er zog den Teppich weg. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein. Er öffnete sie, kam zu mir zurück, und führte mich zu dem Loch im Boden. Er ging mit mir die schmal Treppe hinunter in eine völlig andere Welt. Alles technisiert und modern breitete sich der Keller viele Räume weit aus.
„Wow“ sagte ich. Er zeigte mir alles. Jeden Raum. Jede Ecke.
Als wir komplett durchwaren war es vier Uhr.
„Ich sollte gehen.“ sagte ich.
„Soll ich dich bringen?“ fragte Yan.
„Das halte ich für eine gute Idee, da ich keine Ahnung hab, wo wir sind.“ er brachte mich wieder nach oben und setzte mich auf sein Motorrad. Er stieg auf und fuhr los. Er setzte mich am Waldrand ab, und umarmte mich. Ohne ein Wort stieg er auf und fuhr weg.

Zuhause war niemand, aber auf dem Tisch lag ein Zettel.

Lou's Mutter hat angerufen.
Morgen ist die Beerdigung, um fünf.
Mom



Ich ging wieder nicht zur Schule. Die schönen fröhlichen Momente mit Yan waren vorbei. Um halb fünf nahm ich den Bus zur Marienkirche. Es waren unglaublich viele Menschen da. Sie war echt ein beliebtes Mädchen gewesen. Ich strich mein schwarzes Kleid glatt. Ich fühlte mich auf einmal sehr einsam.
Es gab keine Messe, wir hingen sofort auf den Friedhof. Direkt hinter Lou's Eltern, die hinter dem blutroten Sarg gingen, liefen zwei blonde Mädchen, eine ältere (20?) und eine jüngere (13?), die sich fest an den Händen hielten. Lou's Schwestern? Ebenfalls ganz vorne ein Junge der weinte, mit etwas dunkleren Haaren, der einen etwas moppeligen, aber sehr süßen Kater im arm trug. Selbst der sah traurig aus. Eine ältere Frau mit dunkelbraunen Haaren stolperte verstört hinterher. Danach kamen freunde und andere Verwandte.
Die Eltern des entführten Mädchens und ihre Tochter waren auch da. Sie blickten traurig, aber ihre Augen strahlte. Die perfekte Familie, unzerstörbar, ein Leben für ein anderes. Lou's für das des Mädchens. Ich glaube, ich war nicht die einzige, die ihnen am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre.
„Asche zu Asche“ sagte der Priester. Er wirkte gelangweilt, nicht teilnahmsvoll. Der Sarg ging in die Erde. Jemand schrie. Ein hellbraunhaariges Mädchen drehte sich schluchzend weg. Mir war übel.
Der Junge gab den Kater dem kleineren Mädchen, zog eine rote Rose aus seiner Jacke, und war sie in die Grube. Dann kam er auf mich zu. Er hatte zwar blonde Haare, sah aber eher Bad Boy mäßig aus, in den schwarzen Kleidern.
„Ich bin Alex.“ brachte er heraus. Oh. Lou's Freund.
„Du warst bei ihr als... als...“ er kam nicht weiter. Ich berührte ihn am Arm und nickte.
„Sie hat von dir gesprochen. Sie hat gesagt, ich soll dich grüßen. Und dir ausrichten, dass sie dich liebt.“
„Danke.“ sagte er und hielt mühsam die Tränen zurück.
„Sie lebt in dir weiter. In dir, und ihnen.“ ich deutete auf die Trauergesellschaft. Er nickte, aber ich wusste, dass es dauern würde bis er wieder froh sein konnte. Der schwarze Kater sprang aus den Armen von Lou's Schwester und lief auf mich zu. Ich hockte mich hin und lies ihn an meiner Hand schnuppern.
„Er heißt Toulouse.“ sagte das braunhaarige Mädchen von eben. „Er gehört Lou. Ich meine gehörte.“ sie sah aus als würde sie gleich umfallen. Ich streichelte Toulouse's Kopf.
„Er mag dich.“ sagte Lou's jüngere Schwester. Stille tränen rannen ihre Wangen hinunter. Ich stand auf.
„Herzliches Beileid.“ sagte ich. Ich meinte es ernst, aber mit so viel Trauer auf einmal bin ich überfordert. Ich drehte mich um, und ging alleine über den Friedhof. Wieder war jemand neben mir.
„Danke, dass sie meine Tochter gerettet haben.“
„Verschwinden Sie.“
„Ich wollte nur sagen, wie toll ich es fand...“ Ich unterbrach sie.
„Ja, ich find es auch toll. Nur das Lou tot ist find ich nicht toll. Wir sind hier auf ihrer BEERDIGUNG! Freuen Sie sich gefälligst woanders.“ schockiert drehte sie sich um und ging.
Ich lief zurück zur Trauergesellschaft. Das braunhaarige Mädchen kam auf mich zu.
„Ich find es schön, dass ihr das Mädchen gerettet habt.“
„Danke.“
„Aber die Eltern gehen gar nicht.“ sie hatte sich einigermaßen wieder im Griff. Ich erzählte ihr von de kleinen Auseinandersetzung mit der Mutter.
„Sie hat es nicht verdient, das man sie respektlos behandelt.“ sagte sie.
„Sie fightet im Himmel weiter.“ Das Mädchen versuchte es mit einem Lächeln. Es missglückte.
„Ich bin Wiebke, ihre beste Freundin.“ stellte sie sich vor. Sie war klein und zart, und vom Aussehen her... ich kanns nicht besser beschreiben, dass komplette Gegenteil von Melissa. Und irgendwie wirkte sie so verletzlich. Sie weckte in einem einen Beschützerinstinkt.
„Ich bin Alice.“ sagte ich.
„Ich weiß. Jeder hier weiß das.“ natürlich. Das Mädchen, das den Tod miterlebt hatte.
Ich wollte hier weg.

Zuhause ließ ich mich aufs Bett fallen und weinte mich aus. Ich konnte nicht mehr. Es dauerte lange bis ich einschlief.
Meine Mom kam zwischendurch ins Zimmer und legte einen Zettel auf den Tisch, aber sie ging sofort wieder raus.
Ich stürzte mich auf den Zettel.

Gleicher Ort, gleiche Zeit. Ich hol dich ab.
Yan.


8


Ich konnte den Sonntag kaum erwarten. Aber erst war Dienstag. Ich musste zum Training. Und den Kindern beibringen, was passiert war. Kaum betrat ich den Dojang umringten sie mich schon alle. Doch als sie mein Gesicht sahen wurden sie ganz ruhig.
„Ich muss euch etwas sehr schlimmes erzählen.“
„Vor genau einer Woche ist Lou gestorben. Sie wurde erschossen. Wir legen heute beide Gruppen zusammen. Aber zuerst zollen wir ihr den gebührenden Respekt. Setzt euch bitte in den Schneidersitz.“ die Kinder taten es. Sie wirkten irgendwie deprimiert.
„Konzentriert auch auf euer innerstes, und versucht Geistige Energie aufzubauen.“ sie waren alle ganz ruhig.
„Denkt an Lou und wünscht ihr das Beste. Ihr könnt aufstehen. Wir Laufen eine Hyong. Nummer 11, die Shaolin Hyong. Ihr habt sie schon oft gesehen und gelaufen.“ Ganz ohne sich zu beschweren liefen die Kinder die Hyong völlig fehlerfrei. Lou wäre stolz auf sie. Und ich war deprimiert. Ich musste mich erst an die Umstände gewöhnen.
Irgendwann kam Dongjin und übernahm die kleinen auch noch.
„Geh nach Hause Al.“ sagte er. Ich tat es dankbar.

Wir hatten Sport in der Schule. Volleyball. Ich LIEBE dieses Spiel. Das ist das geilste Ballspiel ever. Schon beim Warmlaufen spürte ich, wie mein Körper sich entspannte, mehr oder weniger. Ganz im Gegensatz zu Liz, die kein wirklicher Volleyballfan ist. Total demotiviert joggte sie neben mir her.
„Ich hasse Volleyball.“ murrte sie. Ich lachte.
„Hey, du lachst. Ich hab dich zum lachen gebracht.“ Liz hüpfte davon. Man ist die komisch...
Dann übten wir Aufschläge, das macht besonders Spaß. Ich warf den Ball in die Luft, und schmetterte meine Handkante dagegen. Der Ball donnerte durch die Sporthalle (die nur 20 Meter lang ist), prallte an der Wand ab, und traf ein Mädchen auf der anderen Seite des Netzes am Hinterkopf. Überraschenderweise war es Melissa. Eyy, das hab ich noch nicht mal mit Absicht gemacht. Ehrlich. Trotzdem kringelte ich mich vor lachen, denn Melissa hatte es umgehauen, und total bedröppelt saß sie auf dem Hallenboden. Ich hörte neben mir ein dumpfes Geräusch, und stellte fest, das Liz in stummem Lachen umgefallen war. Man merkt: extrem standfest, die Gute. Selbst unser Sportlehrer grinste breit, und wollte Melissa aufhelfen, doch sie rannte mit Tränen in den Augen und komplett ruinierter Hochsteckfrisur (in Sport!?) aus dem Unterricht. Na das war doch mal wieder eine tolle Sportstunde.
In Mathe lachten wir immer noch.
„Heute gibt’s die Arbeiten zurück.“ sagte Barthlott.
Das Lachen verstummte. Barthlott begann die Arbeiten auszuteilen.
„Alice? Na wo ist sie denn?“ Seufz. Der Typ war echt nicht mehr zu retten. Ich hob die Hand. Er kam und gab mir mein Heft. Ich schlug es auf, überlegte es mir aber doch anders und gab Liz das Heft.
„Ähmm Alice...“ begann Liz.
„Sags einfach, sags einfach“ bettelte ich.
„Drei Minus.“ sagte Liz. Drei Minus? DREI Minus? Ehhh okay?
„Was hast du?“ fragte ich Liz, die ihr Heft auch grade wiederbekam.
„Auch.“ antwortete sie. Ich LIEBE diesen Tag.

An diesem Tag fühlte ich mich so gut, dass ich Lou's Grab besuchen wollte. Ich setzte mich also in den Bus und fuhr zum Friedhof. Und ratet, wer zwei Haltestellen nach mir einstieg? Genau: Yan. Ne, war nur ein Scherz (mein (Möchtegern)Humor ist wieder da, Yippie), es war Alex, Lou's schnuckeliger Badboy-Freund. Vermutlich wollte er auch zu Lou's Grab. Denn auch er stieg 'nächster Halt: Marienkirche' aus. Ich wollte mich ihm nicht aufdrängen, aber irgendwann gingen wir ganz selbstverständlich nebeneinander her. Auf Lou's Grabstein (der übrigens kein langweiliges graues Kreuz ist, sondern meerblau mit eingraviertem Wellenmuster) saß Toulouse und sonnte sich. Überall auf dem Stein waren Pfotenabdrücke. Dieser Kater war so genial. Als er uns sah. Sprang er uns entgegen, und ließ sich von mir die Schultern kraulen. Ich mag Katzen, sie sind intelligent und selbstständig, und damit viel cooler als die treudoofen Hunde.
„Er mag eigentlich niemanden außer Lou.“ sagte Alex. Ich sah ihn an.
„Wirklich?“ er lächelte.
„Ja.“ Er zog eine rote Rose aus seiner Jacke, und legte sie auf das Grab. „Sie liebte diese Blumen.“ sagte er. Ich lächelte.
„Passt zwar irgendwie nicht wirklich...“
„Du hast total Recht.“ Ich grinste.
„Wusstest du, dass sie so sterben wollte?“ fragte Alex, und setzte sich auf den schmalen Grasstreifen vor dem Grabhügel.
„Wie?“ antwortete ich und setzte mich neben ihn. „erschossen?“
„Nein.“ erklärte Alex. „Im Kampf. Während sie etwas gutes tut. Für jemand anderen. Im Zickenmodus, wie sie sagen würde.“
„Sie war ein toller Mensch.“
„Ja das war sie.“
Eine Weile starrten wir schweigend den Grabstein an.
„Bist du auch ein Kämpfer?“ fragte ich dann.
„Nicht wirklich. Ich mache zwar Tricking aber...“ ich sah ihn zweifelnd an.
„Tricking?“ fragte ich skeptisch.
„Das ist eine Untergrundsportart, die verschiedene Kampfkünste...“
„Kombiniert mit Breakdance, Kunstturnen, und Akrobatik, zur Selbstverteidigung völlig ungeeignet, ich weiß was Tricking ist. Ich mach es selber. Du siehst nur nicht wie ein Tricker aus. Er war irgendwie zu... ich weiß auch nicht, aber er sah halt nicht nach Tricker aus.
„Du auch nicht.“ sagte er. „Aber das tun die wenigsten.“ Naja, wo er recht hat... Er stand auf.
„Gehst du schon?“ fragte ich.
„Ne, ich ehre jetzt Lou.“ und da macht er doch tatsächlich einen B(utterfly)-Twist über Lou's Grabstein. Wow.
„Du bist gut.“ sagte ich anerkennend. Er grinste hinterhältig, und sah noch Badboy-iger aus.
„Ich weiß.“ sagte er. Ich musste Lachen, und er fiel mit ein. Dann fiel uns ein, dass wir auf dem Friedhof waren, und verstummten wieder.
„Sie würde nicht wollen, das wir jetzt in Depressionen versinken.“ sagte Alex. Wahrscheinlich hat er Recht.
Wir gingen zusammen zum Bus.
Und übrigens: der Butterfly-Twist, auch B-Twist genannt, ist eine Vertikale 360grad Körperdrehung nach einer bestimmten Anlauf-Schrittfolge, für die man viel Schwung braucht. Sieht cool aus, macht Eindruck, und ist nicht allzu schwierig.

Die restlichen Tage klebten, und zogen sich ohne Ende.Und Samstag wollte Liz mit mir zum Flugplatz, und einen Tandemsprung machen. Die machen echt Spaß, vor allem mit Liz. Also sagte ich zu, wahrscheinlich würde ich so abgelenkt werden. Man weiß ja, die schönen Dinge gehen immer schnell vorbei.
Und es war so cool. Ich würde Fallschirmspringen wirklich jedem empfehlen, das Gefühl ist unglaublich. Liz und ich durften es zwar nur machen weil Liz elf Jahre älterer Cousin bei der Army die Springer trainierte, aber jeder hat doch so seine Connections, oder?
Und es half, innerhalb von Minuten (nach meinem nicht vorhandenen Zeitgefühl) war Sonntag, und ich stand im Park an der Stelle, an der ich vor genau einer Woche umgekippt war. Glaub ich jedenfalls. Vielleicht war es aber auch nicht so, denn Yan ließ sich nicht blicken, immer wieder schaute ich auch die Uhr, doch niemand kam.
Es war schon viertel vor zwölf.
Zehn nach Zwölf.
Zwanzig nach zwölf.
Um halb eins wollte ich gehen, da sah ich ihn, er bretterte mit seinem Motorrad durchs Unterholz auf mich zu.
„Weg da.“ schrie er, und ich sprang zur Seite. Zwei weitere Motorräder brachen aus dem Gestüpp. Achduscheiße. Er wurde verfolgt.

Völlig weggetreten starrte ich die beiden schwarz gekleideten (Klischee oder so?) Motorradfahrer an. Und sie hatten gebremst, und sahen mich an. Yan war weg. Einer von den Männern stieg ab, und kam auf mich zu.
„Wo ist er hin?“ fragte ich eine hohe, klare Stimme. Ach, das ist gar kein Mann. Sondern eine Frau.
„Ähhh“ stotterte ich verwirrt. „Was?“
„Man, du dummes Huhn, wo ist der Motorradfahrer, der hier grade vorbeigefahren ist?“ Okay, der andere was ganz sicher ein Mann. Und seine Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Nicht als würde ich ihn kennen, eher als hätte ich eine ähnliche schon mal gehört. Ich zögerte. Sollte ich ihnen sagen, wo Yan hingefahren war? Er hatte inzwischen bestimmt genug Vorsprung, außerdem wollte ich mich nicht unbedingt umbringen lassen, und wer weiß, ob sie das nicht vorhatten. Ich deutete wage in die Richtung, in der Yan verschwunden war.
„Verbindlichsten Dank, und schönen Tag noch. Komm Cathy.“ sagte der Typ, die Frau sprang auf ihr Motorrad, und weg waren sie.

9


Tja, das war doch mal wieder seltsam. Mein Leben ist so unrealistisch, das geht eigentlich gar nicht mehr. Ich erwartete nicht, das Yan noch auftauchen würde, also machte ich mich auf den Rückweg. Tja... falsch erwartet. Ich war fast aus dem Park raus, da umkurvte mich sein Motorrad, und er grinste mich an.
„Hallo.“ Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt.
„... Yan! geht’s dir gut? Kannst du mir mal verraten, warum du erfolgt wurdest? Bist du verletzt?“ Er merkte wohl, das ich leicht unter Schock stand, denn er stieg ab, und kam zu mir.
„Alice... alles ist gut. Lass uns zur Lichtung fahren, da erkläre ichs dir.“ Ich seufzte, und setzte mich auf das Motorrad, Yan stieg auf. Ich schlang meine Arme um seine Taille (was sehr angenehm war) und legte meinen Kopf zwischen seine Schulterblätter. Viel zu schnell waren wir an der Lichtung angekommen. Ich sprang ab, und setzte mich auf die Wiese.
„So.“ Ich verschränkte die Arme. „Ich bin gespannt.“ Yan setzte sich neben mich.
„Also.“ begann er.
„Du wurdest verfolgt.“ unterbrach ich ihn. Er sah mich schräg an.
„Du hast ein erstaunliches Talent, das offensichtliche festzustellen.“
„Tut mir leid, erzähl einfach. Ich versuch die Klappe zu halten.“ (man bemerke: Ich versuch).
„Ich wurde in der Tat verfolgt. Allerdings war ich zu keiner Zeit in Gefahr.“ Ich wollte etwas sagen, doch Yan redete schon weiter. Kluger Junge.
„Ich kenne die beiden. Sogar sehr gut, wir arbeiten zusammen.“ mir lag die nächste Frage schon auf der Zunge, aber ich hielt mich zurück.
„Der Mann ist Yonathan, mein Boss. Die Frau ist seine mehr-oder-weniger-Freundin.“
„Warum mehr-oder-weniger?“ fragte ich, bevor ich mich toppen konnte. Yan sah mich schief an.
„Weil er eigentlich mit jemandem anderen zusammen ist. Aber irgendwie auch nicht. Willst du dich jetzt über Beziehungen unterhalten?“ 'JA! Am liebsten über unsere.' schrien meine unheilbar gestörten Hirnzellen. 'Klappe auf den billigen Plätzen' befahlen die anderen, die zwar auch gestört sind, aber nicht ganz so schlimm.
„Nein.“ ließen sie meinen Mund sagen.
„Gut. Jedenfalls haben wir ein bisschen Verfolgungsszenarien durchgespielt. Ich war der verfolgte.“ Da bin ich ja beruhigt.
„Dann war es ja nicht schlimm das ich ihnen gesagt hab wo du lang gefahren bist?“
„WAS hast du? Ich hab die Übung versaut, weil sie mich an der nächsten Ecke eingeholt haben. Ich hab da gehalten, weil ich dich gesehen hatte. Ich dachte nicht, das du noch da wärst.“ er klang leicht angenervt.
„Tut mir leid, das ich stundenlang auf dich gewartet habe. Kommt nicht wieder vor. Man.“ Ich wandte mich zum gehen.
„Warte, so war das doch nicht gemeint. Ich bin nur genervt von mir selber. Ich hätte nicht halten sollen als ich dich gesehen habe. Tut mir Leid.“ dieser Junge war so zum ANBETEN. Er sah so lieb und verschüchtert aus.
„Nein, meine Schuld.“ sagte ich sofort. „Ich hätte den Weg nicht sagen dürfen.“
„Ich hätte gar nicht diesen Weg nehmen dürfen, es war ja möglich, das du da wärst.“
„Aber so ist deine Übung verkackt.“
„Aber...“
„Schluss jetzt, keiner ist Schuld. Das ist doch bescheuert was wir hier machen.“ Yan lachte.
„Du hast Recht.“ sagte er. „Jedenfalls geht’s mir gut, und ich bin unverletzt.“ Gott sei dank.
Wir schlenderten zum Bach. Er war klar und sanft, ein kleiner Fluss. Alles war idyllisch.
„Warum habt ihr dieses Hauptquartier aufgegeben?“ fragte ich.
„Es lohnte sich nicht mehr. Wir haben ein besseres gefunden.“
„Und das steht hier einfach so rum?“
„Es wird nicht gebraucht, ich glaube, die meisten haben es vergessen.“ Hm cool. Ein einsames Versteck im Wald. Jetzt musste ich mutig sein, denn hier war eh niemand. Ich griff nach Yan's Hand. Er lächelte.

Yan brachte mich nachhause. Nachhause, da wo ich wohne. Nicht zum Eingang des Parks, sondern zu unserem Haus. Er umarmte mich zu Abschied, aber diesmal länger. Seufz. Drinnen war niemand, Gott sei dank, meine Stalker Mom hätte mich sofort nach dem 'Mysteriösen Jungen' ausgefragt. Und am nächsten Tag: Schule. Liz hatte angerufen, und erzählt, dass die Lehrer eine Art Tributaktion für Lou machten. Im Eingangsbereich stand ein Tisch mit Fotos und Kerzen, und Blumen, und einem Buch, in das jeder reinschreiben darf, was ihn an Lou erinnert. Sie war bei mir auf der Schule. Wundert keinen, so viele Schulen gibt’s bei uns in der Umgebung nicht. Komisch, das sie mir nie aufgefallen war. An dem Tisch erkannte ich einige bekannte Gesichter, einige Lehrer, und ein paar offenkundige Zicken, die man daran erkannte, das sie zu viel Make Up, und zu kleine Taschen trugen, die vor Schulzeug fast platzten. Ein paar der Lehrer schauten traurig. Manche sogar überzeugend. Bei anderen sah man in den Augen: 'Gott sei dank, wir sind sie los.' Die Zicken sahen alle danach aus. Ich ging zu dem Tisch. Auf der ersten Seite des Buches war eine Rose gemalt. Dann Herzen, Sprüche, Fotos, ein kleiner Dolch, alles auf dem Papier verewigt. Ich nahm einen Stift und setzte an. Doch was sollte ich schreiben? Ich sah mir die ganzen 'Ich vermisse sich so'-Mitteilungen an und legte den Stift beiseite. Es klingelte sowieso schon.
In der Mittagspause bestand Liz darauf, mir Gebärdensprache beizubringen. Ich lernte so überlebensnotwendige Dinge wie 'Hallo', 'Guten Morgen', 'Wie geht es dir', 'mein Name ist...' und da ich mit den ganzen Bewegungen überhaupt nichts anfangen konnte war es eine sehr erheiternde Pause. Nach der letzten Stunde schrieb ich meinen ersten Satz in Lou's Buch.

Die Zeit geht mit dir durch dein Leben
und am Ende angekommen,
beginnt eine neue Zeit und ein neues Leben!

Nach der Schule ging ich zu Liz, und sie kochte irgendwas nach Marzipan schmeckendes. Lecker.
Oben in ihrem Zimmer knallte ich mich wie gewöhnlich in die Kissenecke und entspannte mich. Hm. Eigentlich könnte ich Liz auch von Yan erzählen.
„...Liz, ich hab den Typen aus dem Wald wieder gesehen.“
„Was?“ fragte Liz. Das hatte einen Grund, denn zeitgleich mit mir schrie Mary durchs ganze Haus:
„Gib mir mein Schwert zurück du Doofman!!!!!“ Tja, das übertönte dann wohl meine Erzählungen. Mary's Stimme ist extrem laut. Ungefähr eine Tausendstelsekunde später kam sie in Liz' Zimmer gerannt.
„Finn hat mir mein Holzschwert geklaut.“ und ich schwöre euch, sie machte den Todesblick. Liz lachte sich erstmal kaputt, und ich fiel mit ein.
„Hört auf zu lachen!“ Mary's verdüsterte sich noch mehr, obwohl das kaum noch möglich war. Wir versuchten uns das Lachen zu unterdrücken, aber es funktionierte nicht so gut. Und als wir uns endlich im Griff hatten lag Mary vor lachen auf dem Boden und bekam fast keine Luft mehr.
„Finn Theodor!“ brüllte Liz. „Jetzt komm sofort her und gib deiner Schwester ihr Schwert wieder. Menschenskinder, diese Familie ist echt zu viel für mich.“ Finn kam und gab der halbtoten Mary ihr Schwert. Übrigens: das Teil ist mega. Nicht einfach eine Klinge und eine Parierstange, es sah fast echt aus. Und sie konnte ziemlich gut damit umgehen. Zumindest für ihr alter. Und sie ist so süß.... Man, warum hab ich keine Geschwister?

Mein nächster Satz in Lou's Buch war: Weine nicht weil es vorbei ist, sondern lache, weil es schön war.

10


Ich traf Yan jetzt öfter, manchmal nach der Schule, oder am Wochenende, inzwischen wusste ich auch den Weg zu der Hütte. Er war eigentlich immer da, wenn ich kam, als wüsste er immer, wo ich grade bin. Das ist echt gruselig. Einmal, als ich bei ihm war trainierte er mit einer Magnum (nicht der, mit der er mich bedroht hatte, aber dasselbe Modell). Er hatte zwei, eine zum üben, und eine für Aufträge. Er braucht einen Schuss, um ein Leben zu beenden. Seine Auftragswaffe wurde noch nie nachgeladen. Und das erzählte er mir, während er Muster in die umliegenden Bäume schoss (die Armen Bäume, Pflanzen haben auch Gefühle!). Er schoss völlig selbstverständlich genau, und konnte sich dabei mit mir unterhalten. Und ich gewöhnte mich daran, dass er nun mal ein Killer war, der Leute kaltblütig umbringen konnte, zumal er mir erklärt hatte, was für Menschen er tötete.
„Meistens regelt Yonathan die Aufträge, wir werden kontaktiert, und prüfen genau, weshalb die Person sterben soll. Nur wirklich gute Gründe lassen Yonathan den Auftrag annehmen.“
„Was sind denn bitte 'gute Gründe'?“ hakte ich neugierig nach.
„Vergewaltigung, Raubmord, Mord, Folter, Kidnapping... Alles mögliche. Meistens sind es Freunde oder Verwandte des Opfers, die uns einschalten.“
„Gibt es irgendwie eine Hotline, oder wie funktioniert das?“ Yan lachte. Ich liebe es wenn er anfängt zu lachen. Er legt den Kopf in den Nacken und lässt alle Freude heraus, und sieht nicht mehr so Kaltherzig aus. Eher zum abknutschen, was ich mich natürlich niemals trauen würde.
„Nein, es gibt keine Hotline, und wir setzten auch keine Anzeigen in die Zeitung, es ist eher andersherum. Oder wir werden durch Mundpropaganda bekannt, aber eigentlich nur in der Unterwelt.“ Wie sich das anhörte...
„Und wenn ich jetzt Lou's Mörder in Auftrag geben würde? Bin ich wichtig genug, das Yonathan den Auftrag annehmen würde?“ fragte ich, mehr aus Interesse als aus Rachsucht.
„Erstens: Yonathan darf NIEMALS erfahren, das wir uns kennen.
Zweitens: in dem Fall würde ein Auftrag von den Eltern eher beachtet werden als deiner.
Drittens: das heißt nicht, das du nicht wichtig bist, nur nicht nah genug an Lou dran. Du bist mir wichtig, das reicht doch oder?“ War das jetzt eine versteckte Liebeserklärung?
„Ja das reicht völlig.“ sagte ich, und kuschelte mich an ihn, was dazu führte, das er danebenschoss.
„Tststs.“ machte er. „Du lenkst mich ab...“
Noch so eine Anspielung.
„Stört es dich?“ fragte ich, mit (hoffentlich) verführerischer Stimme.
„Nein...“ antwortete er im selben Ton.

Hand in Hand schlenderten wir durch den Park, und sahen uns die Bäume und Blumenbeete an. Das heißt, Yan sah sich Bäume und Blumenbeete an; ich sah hauptsächlich ihn an. Seine kantigen aber doch weichen Gesichtszügen zusammen mit seinen unglaublichen Augen, und den Pechschwarzen Haaren sah er aus wie ein Krieger aus einem Fantasyfilm (ich liebe Fantasy), einfach nur heiß. Er war der Attraktivste Junge, den ich je gesehen habe (und Filme zählen dazu!), viel hübscher als Brad, der ja schon echt gut aussieht (sonst wäre er ja kaum der Schulschwarm). Und dann wie er sich die Haare verstrubbelte. Und volle (vermutlich) weiche Lippen, in einem leichten rosé-ton. Mann, ich würde ihn wirklich gerne mal küssen. Ich weiß, das hab ich schon erwähnt, aber es ist auch so. Und wie er sich bewegt, sanft und geschmeidig, wie ein Raubtier. Meistens wirkt sein Körper zum zerreißen gespannt, immer wachsam, doch jetzt war er locker. Und seine schwarzen Klamotten wirkten nicht klischeehaft, sondern schlicht und elegant; eine Jeans, ein dunkelgraues Hemd (die oberen Köpfe offen... ), und einen schwarzen Mantel., Kurz: zum anbeißen.

Zurück auf der Lichtung nahm Yan sein Training wieder auf, er nahm es damit sehr ernst. Er konnte aus jeder Entfernung jedes noch so kleine Ziel treffen. Verträumt schaute ich ihm zu.
„Möchtest du es versuchen?“ drang seine Stimme an mein Ohr.
„Wie... schießen?“ fragte ich. Er lächelte.
„Wieso nicht?“
„Wieso?“
„Weil ich dir ansehe, das du es versuchen willst.“
Verfluxt (ein eher unbekanntes Liz-Wort, Mischung aus 'verflucht' und 'verflixt', ebenfalls aus diese Wortgruppe: Verflammt und Verflimmt). Er ist gut. Ich grinste und stand auf.
„Na gut, ich will es echt probieren.“ Yan gab mir die Waffe. Sie war schwer, lag gut in der Hand.
„Ehm... worauf soll ich schießen?“ fragte ich. Ich konnte unmöglich die Muster und Bilder nachahmen, die er ins Holz der Bäume schoss. Er überlegte.
„Eigentlich müssten wir hier irgendwo noch eine Scheibe haben...“ und er verschwand im Haus. Ich fuchtelte mit der Pistole durch die Gegend, wie ich es in Filmen gesehen hatte, und wartete darauf, dass Yan zurückkam, bis ich bemerkte, dass er hinter mir stand und mir zusah. Sofort war mir die ganze Aktion total peinlich, und ich drehte den Kopf weg, damit er nicht sah, dass ich rot wurde.
„Also... Alice...“ ich weiß, was er sagen wollte. Ich bin total peinlich. „Du bist echt ein Naturtalent.“ sag ich doch, ich bin... ich bin WAS?
Ich drehte mich um.
„Was?“
„Deine Bewegungen. Sie sind gut, auch wenn du wahrscheinlich nur Filme nachgemacht hast. Aber das Grundprinzip stimmt.“ Krass wirklich? Ich merkte, das ich das wohl nicht nur gedacht hatte, als er mir antwortete.
„Ja, wirklich. Ich hab die Scheibe gefunden., ich häng sie mal auf. Yan hängte eine dicke schwere Holzscheibe an den untersten Ast eines Baumes, ungefähr mit mir auf Bauchhöhe. Ich nahm die Knarre zwischen beide Hände, zielte, und drückte ab. Nichts geschah, außer, dass Yan sich halb schlapplachte. Keine Sekunde später fiel ich mit ein: ich hatte vergessen, die Waffe zu entsichern. Das war das erste was ich nun tat. Dann zielte ich noch einmal und schoss.
KNALL
Deprimierenderweise hatte ich die Scheibe kaum gestreift, und meine Kugel landete im nirgendwo. Irgendetwas machte ich falsch. Weil mich sowas ziemlich schnell aggressiv mach hörte ich lieber auf.
„Mach dir nichts draus, die Scheibe ist klein, und du stehst weit weg, andere hätten weitaus schlechter geschossen.“ tröstete mich Yan.
„Du aber nicht.“ antwortete ich.
„Ich bin auch trainiert. Ich mach das jeden Tag.“ erklärte Yan, und er hörte sich nicht danach an, als wäre er genervte/deprimierte Teenager gewöhnt. Lag wohl daran, dass es so etwas in seiner Familie nicht gab. Da waren alle Tötungsmaschinen. Auch mal schön. Nicht.

Zuhause schmiss ich mich auf mein Bett. Und ich langweilte mich. Meine Tage waren actiongeladener wenn ich mich mit Yan traf, dafür wurde das Zuhause sein langweiliger. Da war sogar die Schule eine nette Abwechselung. Und ich begann zu verstehen, was Liz mit 'langweiligem Leben' meinte. Sie würde sich wahrscheinlich super mit Yan verstehen. Aber ich konnte ihr es nicht erzählen. Ich hatte es versucht, aber das Schicksal war dazwischengegangen. Und auch Yan wollte, das unsere knospende Beziehung auf jeden Fall geheim bleib. Das machte mich aus zwei Gründen furchtbar traurig. Erstens hatte ich das Gefühl, als versteckte er mich, als stünde er nicht zu mir. Und zweitens: ich wollte es unbedingt Liz erzählen. Ich hasste das, etwas vor ihr zu verheimliche, wir waren immer offen miteinander gewesen. Und sie sprach mich darauf an. Oft.
„Al, willst du mir nicht sagen, was du mir verheimlichst?“ fragte sie dann. Und es tat so weh. Und als Ausgleich traf ich mich wieder mit Yan. Ein scheinbar endloser, auswegloser Teufelskreis.
Auch mit meinem Training lief es nicht unbedingt toll. Yan meinte immer, ich wäre ein Naturtalent, aber ich traf immer nur den Rand der Scheibe.
„Hört die Schüsse eigentlich keiner?“ fragte ich, während ich sorgfältig zielte.
„Wir sind mitten im Wald. Hier hört uns keiner. Außerdem ist diese Pistole auch ziemlich leise.“
Ich schoss. Für mich klang es ziemlich laut.
„KACKE!“ schrie ich genervt, ich hatte schon wieder nur den Rand der Scheibe getroffen. Ich schleuderte die Magnum frustriert zu Boden. Ein Schuss löste sich und traf einen Pilz, schlug die Oberseite weg, und bildete so (mit viel Fantasie) ein Herz.
„Sowas muss man auch erstmal können.“ meinte Yan, nachdem er mein Werk begutachtet hatte. Ich lachte.
„Das war das Schicksal, das uns zusammengebracht hat.“ rezitierte ich irgendetwas.
Yan streichelte meine Schulter als er sich bückte und die Pistole aufhob. Er legte sie in meine Hand.
„Versuch es nochmal.“ sagte er leise. „Ich helfe dir.“ Ich hob die Waffe, und er stellte sich hinter mich, und umschloss meine Hände mit seinen. Sie sind stark und warm. Angenehm. Er zielte mit mir zusammen.
„Jetzt.“ hauchte er in mein Ohr. Ich drückte ab. Die Kugel schlug genau in der Mitte der Scheibe ein. Ich lächelte.
„Gut gemacht.“ sagte Yan.
„Ich hab nichts gemacht...“
„Doch, du hast geschossen, und deine Hand war völlig ruhig.“
„Das liegt an dir.“
„Ich weiß.“ sagte Yan, ohne jede Spur von Bescheidenheit. Noch immer stand er hinter mir, und umarmte mich.
„Du bist wirklich etwas besonderes.“ sagte er, und ich spürte, wie er meinen Scheitel küsste. Irgendetwas setzte in diesem Moment aus. Ich dreht mich zu ihm, schlag meine Arme um seinen Hals, und presste meine Lippen auf seine.

11


Es dauerte nur eine Sekunde bis er zurück küsste, und wir versanken in unsere eigenen Welt. Und die ganze Zeit hatte ich denselben Gedanken: 'wie sollte das jemals funktionieren?'
Ich liebte diesen Jungen, mit all seinen merkwürdigen Tätigkeiten. Aber was war mit mir? Ich war keine Mörderin, wie konnten wir zusammen sein? Ich weiß nicht, wie lange wir da standen und uns küssten, aber als wir voneinander abließen dämmerte es schon.
„Wow.“ sagte ich.
„Tja... wow.“ sagte Yan. Unschlüssig standen wir voreinander.
„Das war schön.“ sagte Yan leise.
„Find ich auch.“ Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Wir waren uns so nah grade...
„Ich bring dich nach Hause.“ sagte Yan in meine Gedanken hinein. Ich nickte, und wir gingen zu seinem Motorrad. Ich war innerlich aufgewühlt. Bedeutete der Kuss, dass wir zusammen waren? Liebte er mich, so wie ich ihn? Ich konnte während der Fahrt keinen klaren Gedanken fassen, und auch Yan wirkte ein bisschen neben der Spur. Er durfte mich gar nicht kennen, was bedeutete das denn für ihn? Ich vergrub mein Gesicht in seinem Mantel, doch wir waren schon da. Ich stieg ab.
„Willst... willst du noch mit reinkommen oder so?“ fragte ich vorsichtig. Er lächelte.
„Ach warum nicht? Aber nur kurz, ich muss um sieben wieder an der Hauptstelle sein.“ Kaum sagte er das hätte ich die Einladung am liebsten rückgängig gemacht. Was, wenn jemand da war? Aber Mom's Auto war nicht zu sehen, und John arbeitete um diese Zeit immer. Also nahm ich meinen Schlüssel und schloss die Tür auf. Es war keiner da, gottseidank. Ich nahm eine Cola aus dem Kühlschrank und zwei Gläser, und ging mit Yan hoch in mein Zimmer. Mein Zimmer ist nicht so spektakulär wie Liz', sondern ziemlich normal, Dachschrägen, Fenster, Schreibtisch Regale, Schrank, Bett und ein Hängesessel in den ich mich setzte. Yan setzte sich aufs Bett und sah sich um.
„Schön.“ sagte er. Meinte er das ernst? Ich kippte Cola in ein Glas und gab es ihm.
„Danke.“ Er nippte an seiner Cola. Die ganze Situation war so unwirklich... Ich seufzte und setzte mich zu ihm aus Bett. Er schloss mich in seine starken Arme. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und genoss es einfach dass es da war. Und dann:
„Alice... ich bin da!“ F*** meine Mutter.
„Hi Mom!“ schrie ich.
„Du solltest besser verschwinden.“ Yan bewegte sich vorsichtig zur Tür, aber man hörte meine Mom die Treppe heraufkommen. Nicht gut. Hektisch sah ich mich um. Yan war mit einem Satz am Fenster und riss es auf. Und schon war er weg. Er war doch jetzt nicht ernsthaft aus dem Fenster gesprungen? Ich rannte hin. Unten stand Yan, warf mir eine Kusshand zu und verschwand.
„Alice?“ meine Mom war im Zimmer. „Was tust du denn da?“
„Ehm... Ähh ich genieße die frische Luft.“ ja 'tschuldigung, was besseres ist mir so schnell nicht eingefallen. Meine Mom sah mich zweifelnd an, und kam auch zum Fenster.
„Was ist da unten?“ fragte sie lauernd.
„Gar nicht.“ sagte ich unschuldig, und hätte fast angefangen vor mich hin zu pfeifen.
„Lügen ist eine Sünde, wusstest du das?“
Ach du Scheiße, meine Mom war in einer Kirchenphase. Zählte mit einem Auftragskiller zusammen zu sein auch als Sünde? So genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen.

Am nächsten Tag hatten wir wieder mal Sport in der Schule, und ich versuchte vergeblich, Liz einen Aufschlag beizubringen.
„Man kann es sein das du dir gar keine Mühe gibst?“ fragte ich irgendwann völlig entnervt.
„Ja.“ strahlte Liz. Ich seufzte. Unser Sportlehrer kam vorbei.
„Denk dir das ist jemand, den du umbringen willst.“ sagte er zu Liz und ging weiter. Wir sahen uns an, ich hob eine Augenbraue, Liz donnerte den Ball übers Netz.
„Aha.“ sagte ich. Liz grinste. Und nach Sport hätten wir Mathe, aber es wurde vertreten, weil wir eine Art Schulveranstaltung hatten, bei der die Lehrer uns alle einzeln irgendwas erzählen wollen. Ist das nicht herrlich? Nein. Und nach stundenlangem Gelaber, Wahlen zu irgendwelchen Vertretern (die jedes Jahr dieselben sind) und allerhand Langeweile durften wir dann gehen. Ich glaube ich hätte lieber Mathe gehabt... hab ich das grad echt gesagt? Menschenskinder.
Zuhause in meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett und dachte an Yan. Seine tollen Augen, die weichen Haare, die sinnlichen Lippen, ich war ihm absolut verfallen. Warum konnte er nicht einen halbwegs normalen Job haben? Seufz.
Klong.
Ich schreckte auf.
Klong.
Schon wieder, was war das?
Klong.
Irgendwas traf meine Fensterscheibe. Achso, da schmeißt einer Steinchen an mein Fenster, wie klischeehaft, das konnte nur Yan sein. Ich lief zum Fenster und riss es auf.
„AU!“ ein Stein traf mich an der Stirn.
„Mensch, das tat weh.“ schrie ich beleidigt Richtung unten, und sah Yan's lachendes Gesicht.
„Tschudigung...“ rief er zerknirscht. Er nahm Anlauf, und... er wollte doch wohl nicht zu mir hochspringen, oder?... Doch das tat er. Er sprang, griff das Fensterbrett und schwang sich ins Zimmer. Er küsste mich (ER mich) und ließ sich aufs Bett fallen. Ich legte mich neben ihn, und genoss es, seinen Körper neben mir zu spüren. Wir küssten uns wieder, und ich bekam nichts mehr mit um mich herum, bis...
„ALICE!“ fuckfuckfuckfuck, meine MOM!!! Yan und ich hechteten auseinander.
„ALICE, wer ist DAS?!?“ fragte meine Mom, und sah aus, als würde sie gleich explodieren.
„Eh... das ist Yan. Mom, Yan - Yan, Mom.“ stellte ich vor. Yan stand auf, und ich dachte er wollte wieder aus dem Fenster springen. Doch er ging zu Mom, und streckte ihr die Hand hin. Vollkommen überrascht von dieser Geste nahm sie seine Hand.
„Ich bin Yan,“ sagte er „Freund ihrer Tochter.“ dann sah er sie an, und ich wusste das Mom in dem Moment dem Zauber seiner Augen verfallen war.
„Ich bin Clara, freut mich sehr.“ hauchte sie. Ja, meine Mutter heißt Clara.
„Mich auch.“ sagte Yan und lies ihre Hand los.
„Ja dann lass ich euch mal wieder alleine... oder soll ich euch was bringen?“ sie sah kurz zu mir, dann wieder in Yan's Augen.
„Nein danke.“ sagte Yan warm. „Oder möchtest du etwas, Al?“ ich schüttelte den Kopf, und meine Mutter ging.
„Puh, das war knapp.“ sagte an, und war schon wieder neben mir.
„Du kannst ja nett sein...“ sagte ich.
„Überrascht dich das wirklich so?“ fragte er sanft und küsste mich.
„Nein?!? Das war ein Scherz.“ antwortete ich beleidigt.
„Weiß ich doch.“ sagte er leise, und kicherte. Ich schlang meine Arme um seinen Hals.
„Ich liebe dich.“ gestand ich ihm.
Er lächelte, und es war das tollste Lächeln was ich je gesehen habe.
„Mein Herz gehört dir.“ antwortete er. HACH ja, er war so süß.
„Am Wochenende hab ich nichts zu tun, wollen wir etwas unternehmen?“ fragte Yan mich nach einer Weile.
„Klar, wieso nicht?“ antwortete ich sofort voller Enthusiasmus. „Was schwebt dir denn vor?“ Er grinste verschmitzt.
„Ich dachte, wir könnten vielleicht ans Meer fahren, da gibt es so ein Ferienhaus das gehört Yonathan...“
„Ans MEER?“ unterbrach ich ihn begeistert. „Ich bin dabei. Wann fahren wir? Was muss ich mitnehmen? Wohin fahren wir?“ Yan lachte.
„Als erstes klären wir das mit deiner Mutter.“ und ehe ich ihn aufhalten konnte rief er: „CLARA.“ Als hätte sie vor der Tür gelauscht stand sie sofort im Zimmer.
„Was gibt’s?“ fragte sie neugierig.
„Tut mir Leid wenn ich störe, aber ich würde gerne mit Alice am Wochenende ans Meer fahren, und dann mal frage ob das von Ihrer Seite in Ordnung ist.“ Tja da war ich jetzt aber gespannt. Eigentlich lässt meine Mom sich nicht so leicht überzeugen.
„Du störst doch nicht. Trotzdem würde ich gerne etwas mehr darüber wissen...“ sagte sie, und setzte sich in den Hängesessel.
„Selbstverständlich.“ sagte Yan. „Ich würde sie am Freitagnachmittag abholen und mit ihr nach Baltrum fahren, die kleinste bewohnte ostfriesische Insel. Ein guter Freund von mir besitzt dort in den Dünen ein kleines Ferienhaus, das er mir umsonst überlassen würde. Am Sonntag würde ich ihre Tochter wieder zurückbringen, und wir verbringen zwei ruhige und erholsame Tage auf der Insel.“
Meine Mutter sah leicht überfordert aus.
„Was heißt bringen... hast du einen Führerschein?“ Na das würde mich auch mal interessieren.
„Selbstverständlich.“ und Yan zückte sein Portmonee aus der Tasche und reichte meine Mom seinen Führerschein.
„Yan Dark. Interessanter Name.“ Yan schaute geknickt.
„Sie können sich nicht vorstellen, wie das früher in der Schule war. Sie wissen schon, Jeanne d'Arc, die heilige Johanna von Orleans.“ Mom lächelte.
„In Ordnung, aber pass gut auf Alice auf.“ eh, hat sie grade zugestimmt? Ich durfte mit Yan wegfahren? Ein GANZES Wochenende?!?“
„Dankedankedanke, Mama.“ quiekte ich. So nannte ich sie nur ganz selten, nur in Situationen die es verdient hatten. Das war wohl eine.
„Aber das ist eine Ausnahme, okay?“ stellte sie klar, wahrscheinlich wurde ihr in dem Moment bewusst, das ich auch noch anwesend bin...
„Klar Mom. Danke.“ Ich würde ein Wochenende mit Yan auf einer Insel verbringen. Wie cool ist das denn? Oh mein Gott. Ich würde ein Wochenende mit Yan auf einer Insel verbringen. Was da alles passieren konnte.
Klappe ihr Schwarzmaler! Das wird ein verflucht schönes Wochenende. Meine Mutter lächelte Yan noch einmal an bevor sie ging.
„Ich bin eifersüchtig auf meine Mutter.“ schmollte ich.
„Musst du nicht sein, ich weiß wie man Menschen zu etwas bringt.“ antwortete Yan.
„Ach... hast du mich auch schon mal zu etwas gebracht?“
„Nein!“ rief Yan schockiert.
„Psst, das war nur ein Scherz.“ sagte ich und küsste ihn schnell. Dann zog ich seinen Führerschein hervor.
„Hm. Yan Dark? Heißt du echt so?“ fragte ich zweifelnd.
„Nein.“ antwortete Yan. „Das ist ein gefälschter Schein.“
„Obwohl du alt genug wärst, um einen richtigen zu haben.“
„Weiß ich, deshalb steht da auch neuerdings mein richtiges Geburtsdatum.“ Ich sah es mir an. Achter Juli. Oh, das war doch letztens irgendwann... vor einem Monat oder so...
„Das war der Tag an dem wir uns das erste Mal begegnet sind.“ sagte er.
„Du hast etwas von einem wichtigen Auftrag erzählt...“ begann ich.
„Ja.“ nahm er den Faden auf. „Mein erster großer Fall. Als Geschenk zur Volljährigkeit.“ super Geschenk, ich muss schon sagen.
„Du hast gesagt, du hast versucht mich umzubringen.“
„Ja.“ sagte er, und man merkte ihm an, dass ihm dieses Thema schwerfiel.
„Warum wolltest du? Und warum hast du es nicht getan?“
„Weil du mich gesehen hast. Und die Magnum.“ das war nur eine halbe Antwort.
„Und warum hast du mich nicht erschossen?“ hakte ich nach. Er zögerte.
„Weil ich von Anfang an das Mädchen in dir gesehen habe, dass ich heute in dir sehe.“ Menschenskinder, kann der nicht einfach mit einer klaren Antwort kommen?
„Und was siehst du in mir?“ fragte ich. Diesmal kam die Antwort sofort.
„Unsere Zukunft...“

12


Yan ist ja der totale Romantiker... Fröhlich lachend küsste ich ihn.
“Weißt du eigentlich das du echt toll bist?“ fragte ich.
„Ja.“ antwortete er ohne jede Bescheidenheit. Wie Liz. Ich kuschelte ich seufzend an ihn, mit dem Gedanken, dass meine beste Freundin immer noch nichts von meinem Freund wusste.
Irgendwann musste Yan auch gehen, und kaum war er weg kam meine Mutter ins Zimmer gestürmt.
„Alice, wir müssen reden.“ sagte sie, setzte sich auf mein Bett und starrte mich an.Okay?
„Was gibt’s?“ fragte ich so optimistisch wie möglich.
„Na... dein Freund?!?“ erwiderte sie in einem Ton der mir anscheinend sagen sollte, das ich genau zu wissen hätte, worauf sie hinaus wollen würde (man DAS ist ein komplizierter Satz).
„Was ist mit Yan?“ fragte ich unschuldig.
„Du weißt genau was ich meine. Du bist zu jung für einen Freund.“ sagte sie hart.
„Ehm, Mom... ich werde in sieben Monaten achtzehn.“ merkte ich an.
„Ja, ich sag doch, du bist zu jung. Außerdem ist er ein Aufreißertyp.“ Was? Woher wollte sie das wissen?
„Woher willst du das wissen?“ sprach ich meine Gedanken aus.
„Ich habe es in seinen Augen gesehen. Glaub mir ich kenne mich da aus.“
„Woher denn? Dein erster Freund war Dad, und der ist bei der ersten Gelegenheit verschwunden!“ Als ich ihr Gesicht sah, wusste ich, das ich zu weit gegangen war.
„Du wirst nicht mit ihm wegfahren!“ sagte sie nach einer Weile.
„Doch, das werde ich. Und danach werde ich ihn immer noch lieben.“ stellte ich klar.
„Und er dich auch?“ fragte meine Mom in den Raum.
„Natürlich, Mensch.“ ich wusste das es so war. Was immer Mom in Yan's Augen sah, ich sah etwas anderes.
„Du wirst nicht fahren, das ist mein letztes Wort.“ sie stand auf und wollte gehen.
„Warum hast du es mir dann grade erlaubt?“ fragte ich, und zwang mich, ruhig zu bleiben.
„Weil...“ ihr fiel keine Antwort ein, ja super.
„Dann sag ich es dir.“ nun schrie ich doch fast, und ich wurde lauter. „weil du seine Augen gesehen hast, und keinen Aufreißertyp gesehen hast, sondern eine reine sensible Seele. Denn genau so ist er.“ das er auch brutal töten konnte sagte ich ihr lieber nicht.
„Schrei mich nicht an.“ sagte Mom und rauschte aus dem Zimmer. Soviel zum Thema Konfliktlösung.

Tja, am nächsten Tag in der Schule erzählte ich Liz, das ich am Wochenende nicht da sein würde. Nur ein Satz, 'ich bin am Wochenende nicht da', das reichte ihr. Sie fragt nicht nach, sondern nahm es einfach hin, und dafür war ich ihr echt dankbar. In der ersten Stunde hatten wir Chemie, das ist gottseidank total chillig. Unser Lehrer jagte irgendwelche Dinge in die Luft, wir machten uns Notizen. Das heißt, ICH machte mir Notizen, Liz gammelte auf ihrem Stuhl, versuchte aufmerksam auszusehen, und freute sich über die Explosionen. Und dann klaute sie meinen Block.
„Ehm...“ merkte ich an.
„Ich will nur eben die Notizen ab... schrei... ben... Alice hier steht 'Der Klotz tuckerte übers Wasser und bämmste dann auseinander, was alle anderen umgehauen hat', ist dir das bewusst?“ ich schnappte ihr den Zettel weg, und stellte fest, dass sie Recht hatte. Tja manchmal kann ich auch lustig sein. Liz sah mich skeptisch an, und ich zuckte die Schultern. Liz lachte, und der Lehrer bekam einen Anfall, und schrie rum, alles in allem ein völlig normaler Tag. In der Mittagspause legten wir uns dann wieder mit den Lehrern an. Wir waren beim Aldi neben unserer Schule. Wir dürfen das Schulgelände in der Mittagspause verlassen, sofern wir eine Genehmigung der Eltern hatten. Hatten wir. Wir holten uns also Chips und Cola, und latschten zur Schule zurück. Unterwegs begegneten wir Frau Schweiß. Ich weiß, ein toller Name, und sie riecht wie sie heißt. Sie meckerte uns voll an, von wegen Schulgelände verlassen, wir sagten ihr, das wir die Erlaubnis hatten und ließen sie stehen.
Zurück auf dem Schulhof setzten wir uns mit Kris in die Sonne und ließen es uns schmecken. Es war wirklich schön, bis Frau Schweiß auftauchte, und uns Sozialstunden-Zettel in die Hand drückte.
„Eyy, wir haben aber eine Erlaubnis.“ protestierte ich. Frau Schweiß versuchte kalt zu lächeln, aber es sah nur dämlich aus.
„Ich glaube euch das aber nicht, und deshalb füllt ihr die Zettel bitte aus.“
„Ehm... nein? Weil wir haben eine Erlaubnis.“ versuchte ich ihr klarzumachen. Sie drückte mir die Papiere so überraschend in die Hand, das ich sie nehmen musste.
„Ja, wenn ihr das beweisen könnt, könnt ihr die Zettel ja wieder abgeben.“ Ich streckte ihr sie hin, da ich wusste, wenn ich jetzt redete würde ich einen meiner berühmt-berüchtigten italienischen Anfälle bekommen.Liz wusste das wohl auch, denn sie schob sich vor mich. Auch wenn sie ein ähnliches (spanisches) Temperament hat wie ich, ist sie auch mit der nordischen Kühle gesegnet.
„Als Lehrer sollten Sie schon die Aussagen der Schüler überprüfen.“ sagte sie leise.
„Wieso? Ich weiß doch, das ihr keine Erlaubnis habt, also kann ich mir den Weg sparen.“ erwiderte Frau Schweiß. Ich atmete tief durch und trat neben Liz.
„Wir haben eine. Gehen Sie, und schauen Sie nach.“ sagte ich so ruhig wie möglich. Frau Schweiß wich einen Schritt zurück, und versuchte die Unsicherheit mit Überlegenheit zu überspielen.
„So leicht wird das nichts.“ sagte sie höhnisch.
„Nun passen Sie mal auf. Meine Eltern sind Anwälte, und ich weiß bestens darüber Bescheid, dass Sie den Schülern Vertrauen schenken müssen, und verpflichtet sind, die Aussagen zu überprüfen. Und wenn Sie mir nicht glauben kann ich sie ja gerne mal zu einem Gespräch bitten. Mit meinen Eltern.“ sagte Liz, und man merkte ihr die Anwaltsfamilie genau wie die Spanisch-/Nordischen Wurzeln an. Frau Schweiß' Widerstand brach.
„Ich geh... vielleicht doch noch mal... nachschauen.“ und weg sah sie. Kris sah vom Geschehen völlig unbeeindruckt von ihrem Buch auf. So schnell bringt sie nichts aus der Ruhe.
„Stimmt das, was du erzählt hast?“ wollte ich von Liz wissen. Sie zuckte lachend die Schultern.
„Keine Ahnung... aber klang doch gut?“ Kopfschüttelnd wandte Kris sich wieder ihrem Buch zu. Ich zerfetzte unsere Zettel in tausend Kleinteile.
„Konfetti!“ schrie Liz, schnappte sich die Schnipsel und warf sie in die Luft. Ich weiß, sie hat einen Knall.

Ich freute mich wahnsinnig auf das Wochenende, aber ich musste noch ein Donnerstag-Training hinter mich bringen, diesmal trainierte ich selbst, und Liz war dabei. Das ganze Training machten wir eigentlich Freikampf, weil Dongjin scheinbar keinen Bock hatte mir uns zu arbeiten (er ist (wie alle anderen in meiner Umgebung) ein wenig komisch). Also Freikämpften wir und Trickten auch ein wenig, und Dongjin kam vorbei und zeigte uns neue Moves. Es war kurz vor den Sommerferien, da ließ er das Training manchmal schleifen. Er ist ein super Trainer, was man daran merkt, das wir trotzdem alle super weiterkommen. Freitag hatten wir nur Kunst in der Schule, und zwei Stunden Musik, also kaum Unterricht, und danach fuhr ich Nachhause. Ich hatte schon länger nicht mehr mit Mom geredet (seit wir uns gestritten hatten), doch als sie in mein Zimmer kam und sah, dass ich packte, bekam sie einen Wutanfall, der meinen Konkurrenz machte. Ich dachte schon mein Trommelfell würde platzen, als es klingelte. Erfreulicherweise hörte meine Mutter es, und ging zur Tür. Ich hörte Yan's Stimme.
„Schön, Sie zu sehen, Clara.“ sagte Yan. „Ich wollte Alice abholen.“ sagte er sanft.
„Also eigentlich...“ begann Mom.
„Es ist doch für Sie in Ordnung?“ fragte Yan, und sah sie erschrocken an.
„N-natürlich.“ stotterte sie.
„In Ordnung.“ sagte Yan, schob sich an ihr vorbei, kam auf mich zu und küsste mich kurz.
„Bist du fertig mit packen?“ fragte er.
„Fast.“ ich stopfte noch ein paar Tops in den Koffer, setzte mich drauf und zog den Reißverschluss zu.
Er nahm (unter meinem Protest) den Koffer.
„Mensch, Al, was ist das alles drin?“ stöhnte er unterwegs.
„Tja ich bin eben ein Mädchen, ich hab dich gewarnt.“ sagte ich halb schadenfroh.
Erst als Yan den Koffer in den Kofferraum packte fiel es mir auf. Ein schnuckeliger kleiner Sportwagen. Ich bekam den Mund nicht mehr zu.
„Dachtest du wir fahren mit dem Motorrad?“ fragte er belustigt. Ich konnte mir Yan eben einfach nicht in einem Auto vorstellen.
„Ein Audi RS5?“ ich war beeindruckt.
„Du kennst dich mit Autos aus?“ er war ebenfalls beeindruckt.
„Ein wenig.“ antwortete ich, und strich über den Kotflügel. „Schick.“ kommentierte ich. Meine Mutter stand im Türeingang, ich lief zu ihr, und umarmte sie. Ich dachte mir, das würde sie freundlich stimmen. Sie war wirklich liebenswürdig, doch das konnte auch an Yan liegen.
„Viel Spaß euch beiden, und seid ja artig.“ mahnte sie halbernst. Wir lachten alle, und Yan hielt mir die Autotür auf. Ich stieg ein, und winkte Mom noch einmal.
Yan sprang hinters Steuer, startete und fuhr an, und wir ließen unser Verbrecher-Kaff hinter uns.
Urlaub wir kommen.

13


Ich hielt Yan also nicht für einen Verbrecher. Lustig... Es war auch ein lustiges Gefühl mit ihm Auto zu fahren. Leider auch ein bisschen langweilig, ich langweile mich sehr schnell. Ich rutschte auf dem Sitz herum, öffnete das Fenster, sah hinaus, machte es zu, schaltete das Radio ein und aus, und trieb Yan damit in den Wahnsinn.
„Al.“ sagt er irgendwann. „Die Fahrt ist ziemlich lang. Leg dich hinten hin und schlaf 'ne Runde.“
Ich warf einen Blick auf den Rücksitz – beziehungsweise dahin, wo der Rücksitz sein sollte – aber da war keiner, nur eine große Matratze füllte den hinteren Raum aus, auch den Kofferraum. Unsere Koffer lagen da einfach rum, an einer Wand war eine Art Mini-Schrank/Regal. Das bewies, wie sehr Yan mich ablenkte, das ich so etwas (auch wenn die Scheiben getönt sind) nicht mitbekam. Und andersherum war es hoffentlich auch so.
Ich krabbelte nach hinten.
„In dem Regal sind Decken und Kissen.“ informierte Yan mich. Ich zog eine Fleecedecke aus dem 'Regal' und kuschelte mich hinein.
„Wann sind wir da?“ fragte ich mit Kleinkind-Stimme.
Yan seufzte und schaute gespielt zum Himmel (Wortspiel).
„Warum nur?“ fragte er. Ich lachte.
„Bist du sauer auf mich?“ wollte ich trotzdem wissen.
„Ich könnte doch niemals sauer auf dich sein, meine Schöne.“
Ach ich mag das, wenn er mich so nennt.
„Ich liebe dich.“ sagte ich, und rollte mich zusammen.
„Du gibst meinem Leben einen Sinn.“ antwortete er.
Ich schlief tatsächlich ein.

Als ich wach wurde dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass ich nicht mehr in Yan's Auto lag. Meine Hirnzellen schalteten sich nach und nach von 'standby' auf 'on', und jemand küsste mich.
„Morgen. Ausgeschlafen, Dornröschen?“ Morgen? Ausgeschlafen!? Dornröschen?!? Ich öffnete die Augen, und hatte Yan's Gesicht vor mir.
„Morgen...“ brummte ich. Yan saß im Schneidersitz neben mir auf dem riesigen Bett und grinste, und da seine Haare in alle Richtungen abstanden, sah er einfach nur zum anbeißen aus.
„Was ist passiert?“ stellte ich die altbekannte 'ich-hab-zu-viel-gesoffen-und-weiß-nicht-mehr-was-passiert-ist'-Frage. Bloß... ich hatte nichts getrunken.
„Du bist eingeschlafen, wir sind am Meer angekommen, rübergefahren, und jetzt sind wir hier.“ erzählte Yan.
„Öh... hast du mich durch die Gegend getragen?“ fragte ich.
„Ja.“ sagte Yan.
„Oh, danke.“ ich strahlte ihn an, er lachte.
„Komm, es gibt Frühstück.“ Er sprang aus dem Bett. Ich strampelte die Decke weg und fiel eher aus dem Bett.
Yan hob mich hoch und trug mich in die Küche.
„Ey, ich kann auch selber laufen.“ protestierte ich. Yan lachte.
„Macht der Gewohnheit.“ grinste er. Am Tisch setzte er mich ab, und ich bestaunte das Frühstück, das er gezaubert hatte. Rührei, gekochtes Ei, Spiegelei, Brötchen, Eine riesige Käseplatte (woher wusste er, das ich Vegetarier bin?), (von ihm?) selbstgekochte Marmelade, Champignon- und Zwiebelcreme, Obst, Müsli, Baguette, Croissants, Frischer Kakao und Tee. Wie süß, er hatte sich echt Mühe gegeben. Das liebte ich (unter anderem) an ihm, das er sich echt Gedanken um mich/uns machte. Ich setzte mich, und lächelte ihn glücklich an. Er setzte sich mir gegenüber, und wir fingen an zu essen, was sich als schwierig gestaltete, da wir immer gleichzeitig nach den selben Dingen griffen. Wir waren uns wohl einfach zu ähnlich. Und plötzlich, als ich an ihm vorbei ins Wohnzimmer (?) sah, fiel mir etwas auf. Etwas ganz tolles. Ein schwarz polierter Konzertflügel. Da wir sowieso fast fertig waren sprang ich auf, wusch mir die Hände (das macht man, bevor man spielt!) setzte mich an das große Instrument und begann zu klimpern. Ich habe leider nie spielen gelernt, aber ein paar Tönchen kann ich auch. Yan kam zu mir, und setzte mich neben mich auf die Klavierbank. Er nahm meine Hände von den Tasten, und begann selber zu spielen. Eine zauberhafte, zarte Melodie, bei der ich sofort dahinschmolz.
„Was ist das?“ fragte ich leise.
„La Traviata.“ antwortete Yan, völlig locker, als müsse er sich gar nicht auf sein Spiel konzentrieren.
„Was ist La Traviata?“ fragte ich, und kam mir dumm und unwissend vor.
„Eine Oper von Verdi. Sie handelt, wie die meisten Opern von der Liebe. Allerdings ist die Hauptfigur eine Mätresse, was eher selten ist.“
„Erzähl es mir.“ bat ich. Yan hörte auf zu spielen.
„Paris, Oktober in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Mätresse Violetta veranstaltet ein Fest. Alle feiern ausgelassen.“ er begann, eine fröhliche Tanzmusik zu spielen.
„Sie wird aufmerksam auf einen der Gäste, der ein Trinklied singt. Später gesteht dieser, Alfredo, ihr seine Liebe.“ die fröhliche Melodie wich der sanften, die Yan schon vorher gespielt hatte.
„Sie ziehen zusammen aufs Land, doch Violetta verkauft heimlich ihren Besitz, um dieses Leben finanzieren zu können. Alfredo reist nach Paris, um Geld zu beschaffen, unterdessen bekommt Violetta Besuch von Alfredos Vater Giorgio. Er verlangt, das Violetta Alfredo verlässt, da sie das Ansehen der Familie beschmutzen würde, das heißt, die Verlobte seines anderen Sohnes weigert sich, ihn zu heiraten, wenn Alfredo nicht im Haus wohne.“ Übergangslos floss Yan's Spiel in eine getragene Melodie.
„Violetta leidet an Tuberkulose, und weiß dass sie sterben wird, also stimmt sie zu und schreibt Alfredo einen Brief, und sagt, dass sie in ihr altes Leben zurückkehren würde. Er findet sie dabei, und sie sagt ihm, dass sie ihn liebt. Dann geht sie, und hinterlässt ihm den Brief, der ihn niederschmettert.“ Yan's getragene Melodie wurde noch trauriger. Gespannt hörte ich zu.
„Als Giorgio hereinkommt, und seinen Sohn bittet, mit ihm nachhause zu kommen weigert sich dieser. Dann findet Alfredo eine Einladung zu einem Ball, den Violetta's gute Freundin gibt. Er weiß, wo er seine Geliebte findet, und geht zu diesem Ball.“ wieder erklang die Tanzmusik.
„Violetta erscheint auf dem Ball mit Baron Douphol, der auch ein Verehrer von ihr ist.
Alfredo gewinnt immer häufiger beim Kartenspiel, und lässt Bemerkungen über Violetta fallen, die dem Baron nicht zusagen. Die Gäste verlassen den Saal, um sich zu erfrischen, und Violetta bittet Alfredo, zu gehen. Er möchte nur gehen, wenn sie mit ihm käme, und das will sie nicht. Sie erwähnt ein Versprechen, und meint Giorgio, aber Alfredo denkt, sie liebe Douphol. Er ruft die Gäste wieder in den Saal, und lässt sich von seiner Eifersucht hinreißen. Er wirft das gewonnene Geld auf Violetta, als 'Entlohnung' für ihre Dienste. Sie wird ohnmächtig, und Giorgio macht seinem bald reumütigem Sohn Vorwürfe. Douphol fordert Alfredo zum Duell.
Im Februar ist Violetta's Zustand so schlecht, das ihr Arzt ihr nur noch wenige Stunden gibt. Giorgio schreibt ihr, Douphol sei verletzt, und Alfredo habe ins Ausland gehen müssen. Dann eröffnet er, beschämt davon, dass er die Beiden auseinander gebracht hat, seinem Sohn, von dem Opfer das Violetta gebracht hat. Der will sie sehen, und reist sofort zu ihr. Er bittet sie um Vergebung, und sie verzeiht ihm. Sie schmiedet neue Pläne für die Zukunft, und spürt neue Kraft in sich. Sie steht auf...
und stirbt.“ Yan ließ seine Hintergrundmusik in einem langen traurigen Schlussakkord ausklingen.
„Ende.“ er nahm die Hände von den Tasten, und lächelte mich an.
„Oh Shit, alles okay Al? Du weinst ja.“ Ja, das stimmte, ich war, Tränen liefen mir übers Gesicht.
„Das ist so traurig.“ schluchzte ich, und lachte dabei, denn Yan's Art zu erzählen machte mich einfach nur glücklich.
„Das ist so schön.“ sagte ich. „Du hast so schön erzählt.“ Yan lächelte, und küsste meine Tränen weg.
„Komm, du Sensibelchen, wir gehen jetzt ins Meer.“ sagte er, und zog mich hoch. Und dann gingen wir ins Meer. Es war schön kühl, und ich liebe es sowieso im Wasser zu sein. Wir hatten unanständig viel Spaß (das ist bitte nicht zweideutig zu sehen), wir jagten uns durchs Wasser, spritzen uns nass und fuhren mit Yonathan's Boot (mit dem wir auch hergekommen waren) übers Meer. Wenn der nächste Tag so werden würde, wäre ich absolut glücklich.

Als wir uns nach einem fantastischem Abendmahl (Yan hatte vegetarische Lasagne gekocht... was kann dieser Junge eigentlich nicht?) zu Bett begaben, wusste ich schon das etwas in der Luft lag. Ich schlüpfte zu Yan unter die Decke und kuschelte mich an ihn. Ich hätte niemals erwartet, einem Jungen so vertrauen zu können, das ich mich ihm völlig hingeben konnte.
Ich konnte es doch.

14


Nach einer wirklich schönen Nacht wachte ich in Yan's Armen auf. Er hatte die Augen geschlossen, doch ich spürte, das er wach war. Schlief diese Junge eigentlich nie? Ich erwartete fast, das er aufspringen, und 'Al, ich bin ein Vampir, ich schlafe nicht' sagen würde. Gottseidank tat er das nicht. Er öffnete nur die Augen und küsste meine Kopf.
„Morgen.“ sagte er fröhlich.
„Auch morgen.“ erwiderte ich, und kuschelte mich näher an ihn. Schweigend lagen wir eine Weile da.. Dann sagte Yan: „Ich sags nur ungern, aber wir müssen heute fahren, und ich dachte, wir gehen vorher nochmal zum Strand...“ das hielt ich für eine gute Idee. Nach einem weiteren fantastischen Frühstück packten wir also unsere Sachen und legten die Koffer ins Auto. Das Haus lag fast im Wasser, mitten auf einer Düne. Wir gingen zum Strand herunter, und Yan breitete eine Picknickdecke im weichen Sand aus, und zauberte einen Picknickkorb hervor. Aber erstmal zogen wir uns um und gingen wir ins Wasser.
Wieder war es toll, und wir vergaßen völlig de Zeit.
Als wir dann aus dem Meer kamen war es nicht mehr ganz so schön. Zwei in dunkelgrün gekleidete Männer saßen auf unserer Decke. Zuerst dachte ich, es wären Polizisten, aber dann hätte Yan wohl doch anders reagiert. Er schob mich hinter sich.
„Was wollt ihr?“ rief er. Die beiden lachten und standen auf.
„Keine Angst, nur dich Kidnappen, um die IAAS zu erpressen.“ sagte einer. WAS?!? Der andere zog urplötzlich eine Pistole (Smith & Wesson) und hielt sie Yan an die Schläfe.
„Keiner bewegt sich.“ zischte er. Wir bewegten uns nicht. Eine Zeit lang geschah nichts.
„Geh in den Wagen.“ sagte der Typ irgendwann zu Yan.
„Oder was?“ erwiderte Yan sarkastisch. Ich klammerte mich an seiner Hand fest.
„Oder ich puste dir das Hirn weg, wie wäre es damit?“ fragte der Mann freundlich, und entsicherte die Knarre.
„Oh, bitte, knallt mich doch ab. Und dann versucht ihr Yonathan mit 'ner Leiche zu erpressen... das glaubst du doch selbst nicht, Shigo. Eher würde er eure kleine möchtegern Agentur im Rachefeldzug überrennen.“
Der Mann, den Yan Shigo genannt hatte dachte nach. Dann erhellte sich sein Gesicht, und zu meinem großen Entsetzen richtete er die Waffe nun auf mich. Ich muss kurz anmerken: ich HASSE es, bedroht zu werden, denn dann bekomme ich immer so unkontrollierbare Adrenalinstöße.
„Was ist mit deinem Flittchen, darf ich sie abknallen, oder kommst du jetzt?“ hatte er mich grade FLITTCHEN genannt?!?
„Nenn sie nicht Flittchen, sie ist mein Leben.“ stellte Yan klar.
„Also kommst du jetzt?“ fragte Shigo.
„Natürlich.“ sagte Yan. War das sein Ernst?
„Und du kommst auch mit.“ sagte Shigo, und fuchtelte mit der Knarre vor meiner Nase herum.
„Dürfte ich vielleicht...“ setzte ich an.
„Nein.“ unterbrach der Namenlose mich.
„Ich wollte mir nur was anziehen.“ sagte ich genervt.
„Oh.“ er sah uns an. Ich meine, wir kommen grade aus dem Wasser, wir hatte Badekleidung an.
„Okay.“ sagte er. Ich griff nach meinen Klamotten.
„Gib Yan mal sein Zeug.“ befahl Shigo.
„Das Shirt ist in dem Korb.“ informierte Yan mich. Ich sah hinein. Abgesehen von dem Shirt entdeckte ich zwischen dem ganzen Essen auch zwei Wurfmesser. Und Yan's Magnum. Ich wickelte sie in sein Shirt und warf es ihm zu. Ich selbst nahm mir die Messer (da ich mit Knarren nach wie vor nicht umgehen kann, außerdem ist es Yan's). Yan schaute mich fragend an, er hatte die Magnum wohl gespürt, und ich nickte leicht. Er zog sie in rekordgeschwindikkeit heraus, und schlug Shigo (der mich bedrohte) mit dem Griff K.O. ich warf eines der Messer (ich hab mal ne Zeitlang mit Messern trainiert) und der Griff traf den anderen Kerl, der Yan bedrohte, am Kopf. Ein Schuss löste sich, während auch er K.O ging, doch Yan hatte ich längst zu Boden fallen lassen. Jetzt stand er wieder auf, nahm den Kerlen die Waffen weg und warf sie ins Meer. Ich stellte wie immer die erste dumme Frage:
„Könnten wir die nicht noch brauchen?“ Yan durchwuschelte sich die Haare.
„Nein, wir haben einen eigenen Waffenbauer.“ erklärte er leicht abwesend. Er lief hin und her, und ich hatte das Gefühl, er wurde grade leicht wahnsinnig.
„Yan? Alles in Ordnung?“ fragte ich vorsichtig.
„NIEN, verdammt.“ brüllte er auf einmal. Ich zuckte zusammen.
„Oh Gott, Alice, es tut mir so leid.“ sagte Yan geschockt, als er sah, das ich zitterte (hat der seine Tage, oder was ist los? Der hat ja totale Stimmungsschwankungen).
„Ich will Nachhause.“ schluchzte ich. Yan nahm mich in die Arme.
„Wir fahren sofort.“ ich drückte mich an ihn.
Wir ließen Shigo und seinen Kollegen einfach liegen, was hätten wir auch sonst tu sollen? Sie umbringen? Sie mitnehmen? Okay, umbringen wäre ja in Ordnung, aber Yan meinte, erstens wäre das auf einer so kleinen Insel keine wirklich gute Idee, und zweitens würden wir uns so auf deren Niveau begeben. Man muss sich die Situation mal klarmachen. Ein Killer hindert einen 'normalen' Menschen am töten, das ist pure Ironie.

Die Fahrt verging wie im Flug, oder kam mir das nur so vor? Doch, Yan strafte die Geschwindigkeitsbegrenzung mit sanfter Missachtung, als wir mit fast 300 km/h über die Autobahn sausten. Ich hoffte wirklich, Yan wusste was er tat. Wir redeten nicht.
Als wir uns dann unserem Örtchen näherten wurde Yan langsamer, und sagte etwas, das erste mal auf dieser Fahrt.
„Ich kann dich nur kurz rauslassen, ich muss sofort in die IAAS. Unsere Agentur.“
„In Ordnung.“ antwortete ich.
Wieder schweigen, dann waren wir da. Ich nahm meinen Koffer, und küsste Yan.
„Danke für den schönen Urlaub.“ sagte er.
„Das war für dich ein schöner Urlaub?“ fragte ich zweifelnd.
„Ja weil du dabei warst.“ antwortete Yan lächelnd. Mir wurde ganz warm ums Herz.
„Ich liebe dich.“ sagte ich.
„Jeder Augenblick ohne dich ist eine Verschwendung.“ erwiderte Yan, und fuhr los.

15


Niemand war wach als ich mich ins Haus schlich, was ich sehr begrüßte, denn jetzt meiner Mom über den Weg zu laufen wäre wahrscheinlich nicht so optimal. Nachher fragte sie mich, wie der Urlaub gewesen sei, und dann wäre ich wahrscheinlich zusammengebrochen. So aber konnte ich heimlich still und leise in mein Zimmer verschwinden, und schlafen gehen.

Als am nächsten Morgen meine Mutter mit ihrer schrillen Stimme „Aufstehen. Alice“ kreischte, wusste ich, es war Zeit, in die Realität zurückzukehren. Ich stand auf, nahm ein (im Vergleich zum Wochenende) völlig banales Frühstück zu mir, und fuhr zur Schule. In der letzten Stunde (Chemie) stellte ich fest, das dass mit der Realität nicht so schnell was werden würde. Ich war todmüde. Liz neben mir sah auch ziemlich geschafft aus. Und sowieso herrschte eine gewaltige depri-Stimmung. Oder war ich deprimiert für alle zusammen? Ich spielte mit dem Gedanken, mich krank zu stellen (das sollte mir grade jetzt nicht schwerfallen), und Nachhause zu gehen, aber dann lies ich es doch lieber bleiben. Stattdessen zog ich das Wurfmesser, das ich NICHT dem Typen auf Baltrum an den Kopf geworfen hatte hervor, und spielte damit unter dem Tisch herum, während ich versuchte, das System der Chemischen Formeln zu entschlüsseln. Unser Lehrer sagte die ganze Zeit: 'Das ist doch total einfach', anstatt uns zu helfen. Klar ist es für ihn einfach, der hat das studiert. Nach der Stunde gingen alle, nachhause vermutlich, ich war noch damit beschäftigt, mein Zeug zusammenzupacken.
„Ich muss schnell weg, tut mir leid.“ sagte Liz, und verschwand. Nun saß ich als letzte in der Klasse. Ich schnappte meinen Rucksack, versenkte das Messer in meinem Ärmel und rannte in den Gang.
Melissa die S******* kam auf mich zu. Meine Hand schloss sich um das Messer in meinem Ärmel.
„Hi.“ säuselte Melissa zuckersüß. Oh Mann. So sehr ich Brad hasste, er hatte echt was besseres verdient.
„Hallo.“ murmelte ich.
Der Gang war komplett leer. Ihre Stimme hallte ein wenig, als sie wieder sprach.
„Hast du Brad eigentlich auch schon gefickt? Er ist ja echt gut. Ich muss wirklich sagen: WOW.“ sie überlegte.
„Wie bist du eigentlich an Brad geraten?“ sie musterte mich abfällig.
„Ach wahrscheinlich hat er dich eh nur benutzt. Wie ich ihn. Ist das nicht lustig? Aber nur nochmal, damit wir uns auch verstehen: du hast ihn nicht gefickt, oder? Du bist doch nur ein Mauerblümchen. Ganz süß, aber irgendwann kommt einer vorbei und tritt es platt.“ 'Oder es wird zur Ranke und erwürgt dich.' dachte ich.
„Hat Brad dich platt getreten? Kein Wunder, das du so verheult aussiehst, du kleines Mauerblümchen.“
OKAY. Das reicht. Das war zu viel für mich. Ich hab ich genug beherrscht. Ich zog das Messer war im Nu hinter Melissa, umklammerte ihre Schultern mit einem Arm und hielt ihr das Messer an die Brust.
„Halt sofort die Klappe, oder ich schneid dir eine von deinen wunderschönen, gepushten Designer-Titten ab. Dann hat Brad leider nichts mehr zum Anfassen, und auch keinen Grund mehr, dich zu behalten.“
Melissa bekam leichte Zustände, dann fiel sie in Ohnmacht. Mist. So war das nicht geplant. Verfluxt, Ich brauchte jetzt ganz dringend eine große Portion Yan. Hoffentlich war er an dem alten Hauptquartier. Ich hob Melissa auf meine Schultern und verließ die Schule.

Yan war da. Mit einem unglaublich netten „was schleppst du denn da an?“ begrüßte er mich.
„Auch dir einen wunderschönen guten Tag.“ antwortete ich leicht ironisch, und Yan lachte. Er nahm mich kurz in den Arm, was zur Folge hatte, das ich Melissa fallen lies. Sie stöhnte kurz auf, sank aber sofort wieder in ihren Dämmerzustand. Yan sah auch nicht so topfit aus.
„Wie war die Besprechung?“ fragte ich, und küsste ihn kurz.
„Langweilig.“ erwiderte er. „Aber... ich kann nicht anders, ich muss auf die Ursprungsfrage zurückkommen. Was, beziehungsweise WER ist das?“ Er sah mich fragend an, ich seufzte.
„Das ist Melissa.“ erklärte ich. Yan musterte das Häufchen Elend.
„Sieht aus wie eine Angestellte des horizontalen Gewerbes.“ stellte er fest. „Das heißt wie eine Vollschlampe.“ ich musste lachen.
„Genau so ist es.“ sagte ich. In diesem Moment kam Melissa wieder zu sich. Trat Yan gegen das Schienbein das er stürzte, sprang auf die Füße, und rannte in meine Faust. Sie knallte wieder auf den Boden, und ich sah mich nach Yan um, der sich aufsetzte.
„Alles in Ordnung.“ grummelte er.
„Ich hab sie umgehauen“
„Okay. Ich bring sie um.“ er ging auf sie zu.
„NEIN?!?“ sagte ich.
„Warum nicht?“ fragte Yan.
„Weil das nicht geht.“
„Aber sie hat mich getreten.“
„Yan, du kannst sie nicht einfach umbringen. Vielleicht hat jemand gesehen, das ich sie bedroht habe. Also NIX mit umbringen, nur das dass klar ist.“
Yan lies sich auf den Boden fallen. Er schmollte. Yan war richtig süß wenn er schmollte.
In diesem Augenblick klingelte sein Handy.
„Wer ist es?“ fragte ich neugierig.
„Yonathan.“ antwortete er.
„Ein Auftrag?“ wollte ich wissen.
„Möglich.“ sagte Yan.
Ich sah ihn an. „Willst du nicht rangehen?“
Er seufzte. „Sollte ich wahrscheinlich.“ Er drückte auf den Annahmeknopf. Eine Weile hörte er einfach zu, dann begann er zu protestieren, und redete auf russisch weiter. Dann legte er auf. Er war ruhig.
„Alles okay?“ fragte ich. Er reagierte nicht. Ich wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum.
„Hallo? HALLO? Yan, was ist los?“ Yan hob den Kopf.
„Yonathan will dich kennenlernen.“

Ich saß mit Yan in seinem Audi. Schnuckeliges Auto.
Yan war ziemlich schweigsam während der Fahrt. Ich glaube, er hatte Angst. Er durfte mich gar nicht kennen. Ich hatte auch Angst, was hatten die wohl vor? Es konnte nichts allzu schlimmes sein, sonst würde Yan nicht mit mir dorthin fahren. Oder? Immerhin, das war eine Killertruppe. Oder sowas in der Richtung.
Ich wusste nicht, wie lange wir noch fahren mussten, und wollte Yan grade fragen, als er von der Landstraße abrupt auf einen kleinen Feldweg abbog. Ich flog in den Gurt.
„Sorry.“ murmelte Yan. Er fuhr auf einen großen Bauernhof zu. Auf den Weiden grasten Kühe und Pferde. Eine alte Frau stand mit einem Eimer Körner inmitten einem Schar Hühnern. Irgendwie wirkte das Ganze überhaupt nicht böse oder gefährlich, aber vermutlich war das der Sinn der Sache.
Yan kurbelte die getönte Scheibe herunter und hielt neben der Frau.
„Yara.“ begrüßte er sie. „Ich muss zu Yonathan, können wir?“
die Frau namens Yara zog ein hochmodernes Funkgerät aus der Tasche und sprach hinein.
„Yan ist da.“ DAS war mal ne Auskunft, aber anscheinend reichte es, denn die Frau lauschte der knarzenden Antwort, und winkte uns dann durch. Ich schluckte. Yan fuhr weiter auf den Hof zu, bremste abrupt vor einer gammelige aussehenden Tür, schaltete den Motor ab, und wir stiegen aus. Yan legte seine Hand auf den Türgriff, und sie schwang auf.
„Willkommen, Yan.“ ertönte eine elektronische Stimme. Ich holte tief Luft, und betrat hinter Yan das Haus. Drinnen war es nicht halb so vergammelt, wie es von außen aussah. Hier herrschte ein fantastisches Durcheinander von allen möglichen High-Tech-Geräten. Ich sah mich suchend um.
„Keine Empfangsdame oder so?“ fragte ich.
„Yara ist die 'Empfangsdame', und Yonathan's persönliche Assistentin.“ antwortete Yan. Ich war überrascht.
„Was wäre, wenn du einfach vorbeigefahren wärst?“ fragte Ich weiter.
„Das hätte ich niemals getan, und auch sonst keiner. Man meldet sich, bevor man reinfährt. Ist einfach so. Aber nur für den Fall: Yara trägt genug Waffen, um dein Auto, oder auch dich, schon nach zwei Metern funktionsuntüchtig zu machen.“ ich speicherte die Information. Die alte Frau war nicht zu unterschätzen. Und auch sonst niemand hier. Und jetzt gingen wir zum Big Boss des ganzen Vereins...
Yan schritt durch die Gänge, als wäre er hier zuhause (das war er wahrscheinlich), öffnete eine Tür, zögerte nicht, und ging hinein.
Der Raum war extrem anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war hell und freundlich, und gemütlich eingerichtet, ein Schreibtisch mit Drehstuhl und in einer Ecke ein Glastisch und zwei Sofas, und jede Menge Bücher. Überall waren Bücher, auf dem Boden, auf dem Tisch, und in Yonathan's Hand, der, die Füße auf dem Tisch in einem der Sofas lag. Als er uns sah klappte er das Buch zu (Alice im Wunderland!?) und sprang auf. Auch er war ein wenig anders, als ich es erwartet hatte. Er sah nicht wirklich böse aus, er war sogar ziemlich schnuckelig, was daran liegen könnte, das er Yan ziemlich ähnlich sah.
„Hallo Alice.“ begrüßte er mich. „Hallo Brüderchen.“



SIE SIND BRÜDER?
Noch bevor ich irgendwelche Zustände bekommen konnte redete Yonathan schon weiter.
„Wir beobachten dich schon länger, ich machs kurz, willst du in der IAAS (internationale Agentur für Auftragsmord und Spionage) eintreten?“ Also ich war überfordert. Brüder? IAAS? Eintreten? ICH?
„Du hast großes Talent, im Kampfsport und hast auch andere wertvolle Fähigkeiten. Und da du sowieso von uns weißt, kannst du genauso gut bei uns mitmachen, also was meinst du?“
„Ehm... Okay? Wenn ich niemanden umbringen muss.“ Yonathan lachte.
„Kein Problem. Du kannst ja auch irgendetwas anderes machen.“
Ehm. Ja. In Ordnung.
Ich war natürlich nicht völlig überfordert mit der Situation.
Nachdem wir Yonathan's Büro verlassen hatten, weil Yan mir die IAAS zeigen wollte.
Und als wäre es nicht schon kompliziert genug... in einem der 'Trainingsräume', wer stand da wohl, inmitten einem Haufen Jungs? Und grinste mich fröhlich an?
„Willkommen in der IAAS, Schatzi.“ sagte Liz.

16


Also...
Das schlug dem Fass den Boden aus. Mit offenem Mund starrte ich Liz an. Ich wollte etwas sagen, brachte aber keine Ton heraus. Meine beste Freundin kam auf mich zu, und eine gewaltige Wutwelle (was ein tolles Wort) überrollte mich.
„Warum zum Geier hast du mir nie davon erzählt?“ keifte ich verletzt. Nun wusste ich, was sie mir verheimlicht hatte. Aber das war keine kleine Sache. Das war eine Lebenslüge.
Liz war eine Mörderin.
Sie nahm mich in die Arme, aber ich stieß sie weg. Merkte sie denn nicht, wie verletzt ich war?
„Als achtjährige haben wir uns geschworen, niemals wieder Geheimnisse voreinander zu haben.“ sagte ich vorwurfsvoll. Liz sah mich an.
„Du bist mir Yan zusammen?“ stellte sie klar. „Das ist ja wohl auch ein Geheimnis.“
„Ja und?“ fragte ich.
„ICH habe dafür gesorgt, das ihr euch heimlich treffen könnt, und ICH habe Yonathan schon vor zwei Jahren gesagt, das ich nur in der IAAS mitmachen würde, wenn du auch dabei wärst. Doch damals hattest du genug Probleme mit dir selber und deiner Mutter, deshalb beobachtete er dich nur. Und deine Fortschritte. Und dann trafst du überraschend auf Yan, und es war klar, das du bald soweit sein würdest. Und als Yan erfuhr, das ich dich nicht nur kenne, sondern mit dir aufgewachsen bin, hat er mich immer um Rat gefragt, ICH habe euren Urlaub geplant, und ICH habe dafür gesorgt, das Yonathan euch in Ruhe lässt, bis du mit der 'mein Freund ist ein Mörder'-Situation klargekommen bist. Und jetzt hab ich zu viel geredet und muss mich setzten.“ Sie ließ sich auf den Boden fallen. Langsam setzte ich mich neben sie.
„Hast du das echt alles für uns gemacht?“ fragte ich leise.
„Natürlich.“ sagte Liz, und sah mich gespielt böse an. „Ich hab schon immer alles für dich gemacht.“
Dem konnte man nicht widersprechen.
Unsere Beziehung war also von Anfang an ziemlich öffentlich gewesen, nur das weder Yan noch ich etwas davon mitbekamen. Liz hatte dafür gesorgt, das alles für uns gut lief, und wahrscheinlich hätte ich ohne sie Yan noch nicht mal kennengelernt.
Ein bisschen Restaggressionen waren in mir noch vorhanden, also lief ich zu einem der Boxsäcke, die von der Decke hingen, und rammte meine Faust hinein. Danach ging es mir wieder gut. Ich ging zurück zu Liz, und umarmte sie.
„Sorry.“ murmelte ich.
„Auch sorry.“ grinste Liz.
Yan schlug vor, mit dem Rundgang fortzufahren, Liz wollte mitkommen.
„Dann lernst du gleich Jo kennen.“ freute sie sich.
„Wer ist Jo?“ wollte ich wissen, und Yan grinste.
„Unser Toxicologe.“ erklärte er, und meine Augen leuchteten.
„Wie cool, so etwas gibt es?“ fragte ich begeistert. Liz lachte.
„Ich glaube, ihr werdet euch mögen. Er ist allerdings etwas... naja... anders.“ merkte sie an.
„Wer hier ist das nicht?“ fragte ich zur allgemeinen Erheiterung.
Unterwegs begegneten wir anderen Mitgliedern der IAAS, alle schienen in unserem Alter zu sein. Also nicht älter als, sagen wir 24. Ach wo wir grade beim Alter sind...
„Wie alt ist Yonathan?“ fragte ich interessiert.
„Grade einundzwanzig.“ sagten Yan und Liz wie aus einem Mund. Ich hob die Augenbrauen.
„Und... ich komm immer noch nicht damit klar, das ihr beide Brüder seid.“ Yan grinste.
„Ich denke, du wirst dich daran gewöhnen.“ sagte er.
„Klar wirst du.“ bestätigte Liz. „Ach übrigens: wir sind da.“
Okay, jetzt wird’s interessant.
„Jo!“ rief Liz. „Können wir reinkommen, ohne dass wir in die Luft fliegen?“
Hinter der Sicherheitstür (?) auf der mit Edding ein fetter Totenkopf gemalt war, knallte es kurz.
„Jetzt schon.“ ertönte es trocken von drinnen. Liz stieß die Tür auf und ging hinein. Ich war etwas skeptisch, doch Yan nahm meine Hand, und ich folgte ihm in den Raum, der eher ein Labor war. An allen Wänden und auch mitten im Weg standen Regale aus Metall, gefüllt mit kleinen Fläschchen, Gläsern, Töpfen, Bechern, und Dingen, von denen ich keine Ahnung hatte, was es war. Überall zischte, köchelte, blubberte und knallte es; es war ein herrliches Chaos. In eine Ecke des Raumes gequetscht war ein großer Tisch, an dem besagter Jo saß, der es völlig ignorierte, das der Tisch teilweise brannte, und in ein Mikroskop starrte.
„Er ist ein bisschen verrückt.“ flüsterte Yan mit ins Ohr. Tatsächlich?
„Er jagt öfters und gerne Sachen in die Luft, aber davon abgesehen ist er ein Genie.“
Gab es nicht mal so einen Horrorfilm mit einem verrückten Wissenschaftler, der angeblich ein Genie war? Oder war es Zufall, das ich an Frankenstein denken musste?
Liz erstickte das Feuer auf dem Tisch mit einer ziemlich durchlöcherten Löschdecke.
„Jo, wir haben ein neues Mitglied. Das ist Alice, meine Freundin.“ So stellte Yan mich vor. Alice, seine Freundin. Ich ging auf ihn zu.
„Hi.“ sagte ich.
„Hallo.“sagte er, ohne die Augen von dem Präparat zu nehmen, das, soweit ich das erkennen konnte, ein Schlangenzahn war. Jo runzelte die Stirn, und stellte das Mikroskop neu ein.
„Gib mir mal den Stift.“ sagte er, immer noch ohne aufzusehen. Ich sah mich auf dem Schreibtisch um, zehn Zentimeter von seiner Hand entfernt lag ein Bleistift. Zweifelnd sah ich von ihm zu Yan, der grinste und nickte, also nahm ich den Stift, und legte ihn in Jo's ausgestreckte linke Hand. Noch immer klebten seine Augen an dem Schlangenzahn.
„Danke.“ sagte er, und kritzelte (ohne hinzuschauen) irgendetwas in einen Block, der neben ihm lag. Dann erst sah er auf. Er hatte azurblaue Augen, und locken in einer undefinierbaren Farbe zwischen blond und grau, war aber keineswegs alt (was man bei grauen Haaren ja schon mal annehmen könnte), sondern, wie jeder andere auch, nicht älter als 25. Ich streckte ihm die Hand hin, er schüttelte den Kopf.
„Macht er nicht.“ sagte Liz. „Er hat des öfteren irgendwelche Gifte an den Fingern, also...“ Jo's Kopf ruckte nach oben.
„Ich hab ne Idee, Alice, gib mir mal das Rea-Glas da.“ Ich ging davon aus, das es Reagenzglas meinte, folgte seinem Finger, und nahm ein Glas aus einem der Ständer. Es war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt.
„Vorsicht, vielleicht explodiert das.“ informierte der Wissenschaftler mich.
„Wieso? Was ist das?“ fragte ich, und hielt das Glas sofort von mir weg. Jo kratzte sich am Kopf.
„Weiß ich nicht mehr so genau. Deshalb sollst du ja vorsichtig sein.“ er nahm mir das Glas ab, und kippte den Inhalt in einen der brodelnden Töpfe. Er tat den Deckel drauf, und trat einen Schritt zurück.
„Deckung.“ sagte Yan, und zog mich nach hinten. Grad noch rechtzeitig, das ganze Ding implodierte. Nachdem der Rauch der dabei entstand verflogen war, sah man nichts mehr von der kleinen Platte, auf der das Ding (ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll) gestanden hatte, außer einem schwarz kantigen Loch in der Mitte. Jo sprang zu dem Ex-Tisch, und schaute in das Loch. Yan, Liz und ich waren etwas vorsichtiger. Mit einer Pipette zog Jo etwas von der verbliebenen Flüssigkeit aus dem dampfenden Loch, tropfte einen Tropfen davon auf einen Objektträger, und klemmte ihn in das Mikroskop, und versank wieder darüber.
„Wir gehen dann mal weiter.“ verabschiedete Yan sich, aber Jo war schon vollkommen auf die Flüssigkeit konzentriert.
Als wir wieder draußen vor der Tür standen musste ich erstmal klarkriegen, was Jo für ein Typ war.
„Also ist er jetzt Toxicologe, Wissenschaftler, Biochemiker, oder einfach nur Wahnsinnig?“ fragte ich.
„Alles.“ antwortete Liz aus tiefster Seele, und Yan nickte bekräftigend.

17


17

Wir gingen weiter.
„Ach verfluxt ich hab was vergessen.“ sagte Liz plötzlich und rannte zurück. „Bin gleich wieder da.“ rief sie über die Schulter. Ich sah zu Yan.
„Ihre Waffen sind Vem-Nadeln, die sie gerne mal vergiftet.“ erklärte er.
„Was zum Geier sind Vem-Nadeln?“ wollte ich wissen. Yan grinste.
„Eine unserer Waffenbauerinnen hat sie entworfen, sie heißt Emma Vanessa, daher der Name. Stell sie dir vor, wie zwei Stifte oder Essstäbchen oder so, mit einer Metallspitze oben drin, die ungefähr zwei Zentimeter herausschaut. Man kann sie aber auch ganz herausziehen, dann ist es eine sehr sehr schmale ungefähr zehn Zentimeter lange Klinge. Da kommt sie übrigens, sie kann dir das besser erklären.“ Liz kam zurück, mit ein paar Fläschchen in der Hand.
„Zeig mal deine Nadeln.“ bat ich. Sie griff in ihren weiten Mantelärmel (indem die Teile offenbar ihren Stammplatz hatten) und zog zwei Essstäbchen-ähnliche Stäbchen hervor. Sie waren makaber blutrot, mit feinen schwarzen Ranken darauf. Mit einer ziemlich merkwürdigen Bewegung aus dem Handgelenk heraus brachte Liz die Metallspitze der einen Nadel dazu, herauszuschießen.
„Och wie süß.“ quiekte ich (peinlicherweise) als ich die zarte Klinge sah.
„Ja, nicht? Und man denkt gar nicht, wie stabil dieses schnuckelige kleine Ding ist.“ sie schob die Klinge wieder in das Stäbchen, und es war wieder eine übergroße Akupunktur-Nadel.
„Kannst du Akupunktur?“ fragte ich interessiert.
„Ein bisschen.“ antwortete Liz. „Gut genug, um die hier einsetzten zu können.“ liebevoll strich sie über ihre Nadeln.
„Wo wir schon beim Thema sind, du solltest dir auch eine Waffe zulegen, hier hat jeder eine.“ sagte Yan, und Liz Augen begannen zu leuchten. Sie packte meinen Arm und zog. Ich griff nach Yan's Hand, und er kam auch mit.
„Wohin gehen wir?“ fragte ich.
„In die Waffenkammer.“ erwiderte er.
„Ich erklär das mal eben.“ fing Liz an. „Jedes Mitglied, egal wo es arbeitet, sucht sich eine Waffe aus, und individualisiert sie mit der Zeit immer mehr, mit unseren Meisterschmieden. Jede Waffe aus diesem Raum wurde schon verwendet, manche häufig, manche erst ein Mal.“
„Was meinst du mit individualisiert?“ wollte ich wissen.
„Naja... Auf dich halt angepasst.“ sagte Liz, und man merkte, dass sie nicht wusste wie sie es erklären sollte. Glücklicherweise gab es ja auch noch Yan.
„Zum Beispiel meine Magnum. Sie ist ungefähr 11 Gramm schwerer als Gewöhnlich.“ setzte er hinzu.
„Wow cool.“ sagte ich, und das war es auch.
Wir erreichten besagte Waffenkammer, die eigentlich nur aus einem langen, von Regalen gesäumten Gang bestand. Am Ende dieses Ganges war ein von Fenstern umgebener, Regal-freier Bereich, in dem einige Zielscheiben und Menschenpuppen standen.
In den Regalen waren Waffen. Hinter dünnem Glas aufgereiht waren Nadeln, Dolche, Messer, Säbel, Schwerter, Florette, Degen, Bögen, Pistolen, Gewehre und eine ganze Menge Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung hatte, was es war. Glücklich ging ich durch den Gang, bis mit plötzlich etwas ins Auge fiel, und ich anhielt. Es war ein Set Wurfmesser. Die silberne Klinge wurde von einem schwarzen Griff gehalten, der die Form des Templerkreuzes hatte. X-förmig darum war ein rotes Seidenband geschlungen, die Enden hingen einfach herunter. Warf man sie, würde es hinterher flattern, und cool aussehen. Ich wusste sofort: das sind meine. Ich öffnete die Glastür, und nahm die Messer heraus. Es waren dreizehn Stück, die Unglückszahl, ironischerweise. Zwei in jedem Schuh, vier an der Hüfte oder am Oberschenkel (wenn man ein kurzes Kleid anhat sieht das einfach nur toll aus, wenn man die Messer zieht), zwei in jedem Ärmel und eins, in einer Spezialhülle, die offenbar in den Ausschnitt gehörte. Ist das stylisch! Ich zog eins der Messer hervor, ging zu dem offenen Platz, und warf das Messer einer der Puppen in den Hals.
„Nicht schlecht.“ sagte eine mir unbekannte Stimme. Ich drehte mich in dir Richtung, aus der sie gekommen war. Dort stand ein Junge, der wieder nicht älter als zwanzig sein konnte. Und er sah aus wie Ares de Saintclair. Haargenau so. Nur zur Info: das ist der Bösewicht schlechthin, aus 'das Blut der Templer' einem deutschen 'keine Ahnung was für ein Genre das ist'-Film, den ich ziemlich toll finde, vor allem Ares eben, und Liz findet das noch viel mehr. Sie ging auf ihn zu... und küsste ihn?!?
„Das ist mein Freund, seit kurzem.“ sagte sie. Ich war überfordert.
„Ares.“ stellte er sich vor. Jetzt ehrlich? Kein Wunder, das Liz ihn toll fand. Er sieht aus wie Ares, heißt wie Ares, trägt ein Schert (wie mir in dem Zusammenhang auffiel) und ist auch irgendwie wie Ares (das der im Film irgendwie schon einen nicht ganz so tollen Charakter hat ignorieren wir jetzt freundlicherweise einfach).
„Du hast übrigens Besuch, deswegen bin ich hier.“ sagte Ares. War er sowas wie ein Laufbursche oder wie? Scheinbar schon. Doch warum trug er dann eine Waffe? Ach, sagte Liz nicht, jeder hier hätte eine, egal, was er macht?
„Wen denn?“ fragte ich. So einen Jungen, und eine gestörte schwarze Katze...“ sagte Ares, ich unterbrach ihn.
„Toulouse!“ und weg war ich.

Alex saß ihn Yonathan's Büro, und kraulte Toulouse, der sich auf seinem Schoß zusammengerollt hatte.
„Hi Alice.“ sagten Alex und Yonathan gleichzeitig.
„Hallo.“ sagte ich.
„Alex, wie geht’s? Was tust du hier? Woher weißt du von der IAAS?“ fragte ich.
„Es hat schon einige Zeit gedauert, bis ich euch gefunden habe, und ich möchte Lou's Mörder in Auftrag geben. Und Toulouse auch. Also er will auch Lou's Mörder in Auftrag geben.“ Yan ging auf den Kater zu und wollte ihn streicheln, doch der grade noch schläfrig wirkende Toulouse sprang auf, hieb seine Krallen über Yan's Hand, und rollte sich wieder zusammen. Alex zuckte die Schultern.
„Er mag halt keine Jungs.“ Yan starrte ihn an.
„Was bist du dann bitte?“ fragte er.
„Lou's Freund.“ sagte Alex einfach.
Yan besah sich den Kratzer in seiner Hand. Ich kicherte, dann brach Yonathan in lautes Gelächter aus, ich fiel mit ein, Alex auch, Toulouse miaute und Yan schmollte.
„Also, du willst das Lou's Mörder stirbt?“ hakte ich nach. Alex nickte.
„Gut, diesen Antrag unterstütze ich voll.“ stellte ich klar.
„Ich wollte wissen, ob du es machen willst.“ sagte Yonathan vorsichtig. Ich setzte mich. Wollte ich? Ich hasste diesen Typen. Aber war ich in der Lage ihn zu töten? Wenn ich mir sein Gesicht vorstellte flammte die Rachsucht in mir wieder auf.
„Wie lang hab ich Zeit nachzudenken?“ fragte ich. Yonathan zögerte.
„Wir wissen wo er ist.“ sagte er. „Er wird dort nicht lange bleiben, und er hat wieder ein Mädchen bei sich..“ ich unterbrach ihn. Ich war mir plötzlich sehr sicher.
„Ich mache es.“ sagte ich bestimmt.
„Am besten wäre morgen.“ sagte Yonathan, ich nickte.

„Was ist das mit dir und Toulouse?“ fragte ich Alex, als ich ihn zum Ausgang begleitete,
„Keine Ahnung. Er verflogt mich.“ antwortete er, und sah sich nach der Katze um.
„Voll der Spion.“ grinste ich.
„Keine schlechte Idee.“ fand Alex. „Man könnte ihm eine Kamera umhängen und dann irgendwo bei den Bösen aussetzen...“
„Wir sind die Bösen.“ stellte ich fest. „Wir Morden. Böser geht’s doch nicht.“
„Doch.“ sagte Alex. Erst später wurde mir klar, wie Recht er hatte.
Wir verabschiedeten uns, und ich suchte Liz und Yan. Ich brauchte sie jetzt.
Ich fand sie in einer der Trainingshallen, nahm meine neuen Messer und gesellte mich zu ihnen.
„Du musst das nicht machen.“ sagte Liz. Ich seufzte,
„Ich weiß. Aber ich hab das Gefühl, ich bin ihr das schuldig.“
„Das kenn ich.“ sagte Yan leise. Ich zog eines der Messer und schleuderte es auf eine der Puppen. Es traf das aufgemalte Herz genau in der Mitte. Ich hatte Messerwerfen eigentlich schon länger nicht mehr trainiert, und war froh, das ich es noch konnte. Nach und nach folgten die anderen Messer dem ersten und ich arbeitete die tödlichsten Punkte am Körper ab. Beeindruckt sah Yan zu.
„Ich wusste gar nicht, dass du so etwas kannst.“ sagte er.
„Ich ehrlich gesagt auch nicht.“ erwiderte ich. Ich ging zu der Puppe und zog die Messer heraus.
„Kommt ihr mit?“ fragte ich leise.
„Natürlich.“ antworteten sie sofort, wie aus einem Mund. Gut.
„Danke.“ sagte ich. Schweigen.
„Hey, komm, wir bringen dir Auto fahren bei.“ sagte Liz, die immer weiß, wann ich Ablenkung brauch. Ich starrte sie an.
„Was?!?“ Yan lachte.
„Gute Idee, komm mein Herz.“ und er zog mich nach draußen hinters Haus (oder eher in einen Innenhof) wo eine Art Verkehrsübungsplatz aufgebaut war. Am Rand standen mehrere Autos.
„Such dir eins aus.“ sagte Yan. Ich ging an den schönen Wagen vorbei, bis ich einen entdeckte, der mir zusagte. Ein Audi r8 (ich MAG Audis). Die Tür war nicht verschlossen, ich setzte mich ans Steuer. Der Schlüssel steckte. Ich drehte ihn, der Motor sprang an, und ich war überfordert. Yan sprang auf den Beifahrersitz.
„Drück mal sanft das recht Pedal.“ sagte er. Ich tat es, und wir sausten los. Sofort nahm ich meinen Fuß wieder herunter.
„Ich sagte sanft.“ sagte Yan, während er sich kaputt lachte. Ich streckte ihm die Zunge raus. Fahren war anscheinend nicht ganz so einfach. Nachdem ich Liz fast überfahren hatte setzte sie sich auch noch mit ins Auto, und dann klappte gar nichts mehr. Sie erzählte die ganze Zeit irgendwelche merkwürdigen Geschichten, und lenkte mich total vom Fahren ab. Es ist echt ein Wunder, das ich das Auto nicht zu Schrott gefahren hab. Irgendwann gaben wir auf, und gingen wieder herein. Und es fiel mir ziemlich überraschend ein. Der Tag war lang, es war schon spät, und...
„Melissa liegt noch in der alten Hauptstelle.“ und weg war ich.

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Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011

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