Kapitel 1
Was tat sie hier? Sie wollte nicht hier sein. Zugegeben, wer sagte schon Nein zu zwei Wochen Italienurlaub? Vor allem, wenn er so gut wie kostenlos war. Deshalb hatte sie ja auch zugesagt, deshalb und weil sie Manuela einen Gefallen hatte tun wollen. Typisch, sie hatte sich mal wieder geopfert, weil Manu so ein Schisser war. Und jetzt saß sie hier fest, in diesem Loch irgendwo in der Pampa in Süditalien, wo absolut der Hase begraben lag. Keine größere Stadt in der Nähe, nichts!
Alles hatte damit angefangen, dass Manu vor zwei Wochen mit einer Freundin tanzen war und einen Kerl namens Timm kennen gelernt hatte. Sie hatte ihn nicht mit nach Hause genommen, war aber so begeistert von ihm gewesen, dass sie sich gleich am nächsten Tag wieder mit ihm getroffen hatte und an diesem Abend hatte sie ihn dann doch mitgenommen. Seitdem konnte man mit ihr nicht mehr normal reden, mindestens jedes fünfte Wort, das aus ihrem Mund kam war Timm. Und vor ein paar Tagen war sie dann überraschend bei Rebecca aufgetaucht und hatte aufgeregt erzählt, dass Timm sie gefragt hätte, ob sie Lust habe mit ihm und seinen Freunden in Urlaub zu fahren. Natürlich war sie begeistert gewesen von der Idee. Einer von Timms Freunden, oder vielmehr dessen Eltern, besaßen ein Haus in Süditalien und Timms ganze Clique wollte mitkommen und da sollte seine neue Freundin natürlich nicht fehlen. Doch so begeistert Manuela auch war, sie kannte Timm gerade erst zwei Wochen lang und die meisten seiner Freunde hatte sie nicht öfter als ein, zwei mal gesehen. Deshalb hatte sie Rebecca, als ihre beste Freundin gefragt, ob sie nicht mitkommen wollte. Sie meinte sie hätte gerne eine Freundin dabei und Rebecca hatte sich schließlich weich kochen lassen.
Und das hatte sie jetzt davon.
Vor zwei Tagen waren sie hier angekommen. Die Autofahrt war schon stressig gewesen. Sie waren mit zwei Autos gefahren. Timms Kumpel David, dessen Eltern das Haus gehörte, war mit seinem klapprigen Fiesta gefahren und hatte Timm, Manuela und Rebecca mit genommen. Die anderen drei, noch ein Mädel und zwei Jungs, waren im VW Bus des einen Jungen mitgekommen.
Nachdem sie nachts um drei losgefahren waren, hatte Rebecca erst einmal beschlossen, dass ihr für ´s erste alles egal war. Sie hatte es sich so bequem wie möglich gemacht und sich erstmal schlafen gelegt.
Als sie fünf Stunden später mit steifem Nacken wieder erwachte, standen sie im Stau und sie musste pinkeln. Mit anderen Worten schon mal ein guter Anfang. Im Nachhinein dachte sie, dass sie es da schon hätte wissen müssen. Auf dem Rücksitz turtelten Manuela und Timm wie verrückt. Eigentlich war das anfangs noch ganz süß gewesen, musste sie ja zugeben, doch dann hatte dieser David angefangen sich mit ihr zu unterhalten, als er bemerkte, dass sie wach war.
„Und, du studierst auch?“ hatte er in unschuldigem Ton bemerkt.
Sie hatte genickt: „Ja, Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaften. Und du studierst, ähh... Maschinenbau, oder?“
Es war ein Fehler, ihn auf sein Studium anzusprechen, wie sie dann feststellte, denn die nächste halbe Stunde wurde sie mit einem Vortrag über technisches Zeichen verwöhnt, der sich gewaschen hatte und von dem sie so gut wie nichts verstand.
Der Stau löste sich zum Glück langsam auf und etwas später kam auch noch ein Rastplatz, so dass sie endlich auf die Toilette konnte. Auf dem Rückweg vom Auto überlegte sie einen Moment sich im Restaurant einen Kaffee zu holen, verwarf den Gedanken aber, da sie Angst hatte sofort wieder auf ´s Klo zu müssen.
Als sie zum Auto zurück kam, waren die anderen mit ihrem VW Bus auch angekommen.
Timm, David und der Besitzer des Busses hatten eine Karte auf der Motorhaube des alten Fiesta ausgebreitet und beugten sich interessiert darüber. Manu und Paula, das andere Mädchen, saßen in der offenen Schiebetür und rauchten. Rebecca stellte sich zu ihnen.
Paula sagte gerade: „Ich wette wir gehen nachher, im Auto ein, vor Hitze.“
Manu gab ihr mit einem Nicken recht.
„Und dann noch die tolle Stimmung bei uns...“ Sie sah zu den Jungs rüber und zog die Augenbrauen zusammen, als ihr Blick auf den VW-Bus-Mann fiel. Rebecca glaubte, dass er ihr als Oliver vorgestellt worden war, war sich aber keinesfalls sicher.
„Was ist denn mit der Stimmung?“ fragte sie ahnungslos, an Paula gewandt.
„Ach, Olli ist schlecht auf Stephan zu sprechen...“ Sie schüttelte genervt den Kopf, fuhr dann aber doch fort: „Es gefällt ihm nicht, dass Stephan und ich zusammen sind, und es geht ihm erst recht gegen den Strich, dass er jetzt mit seiner kleinen Schwester in Urlaub fahren muss.“
„Ach so.“ Rebecca betrachtete Oliver genauer, leider drehte er sich in dem Moment zu ihnen um und fing ihren Blick auf. Sie drehte sich schnell wieder zu den Mädels und hoffte, dass sie nicht rot wurde.
In der Nacht, im Dunkeln, war es ihr nicht so aufgefallen und sie war wohl auch zu müde gewesen, um darauf zu achten, aber dieser Olli sah gar nicht übel aus. Als er sich jetzt umgedreht hatte, waren ihr helle blaue Augen aufgefallen und er hatte einen eben so schönen, vollen Mund, wie seine Schwester. Während Paula aber etwa schulterlanges, hellbraunes Haar hatte, war seines dunkelblond mit einigen helleren Strähnen und wesentlich kürzer als das seiner Schwester.
Bestimmt war er es gewohnt, dass die Mädels ihm nachguckten. Toll! Damit war ja schon klar, was er jetzt von ihr dachte.
Bei der Erinnerung daran seufzte Rebecca auf. Sie hatten dann noch etwa dreizehn Stunden im Auto verbracht, bei brütender Hitze, auf der Autobahn, und da die Turteltäubchen sich nicht voneinander trennen ließen, war sie diejenige gewesen, die sich Davids ewige Monologe über jeden Scheiß, von seinem Studium angefangen bis hin zu seiner Meinung über verschiedene Automarken, anhören durfte und auch noch so tun musste, als würde sie das alles interessieren.
Die drei aus dem anderen Auto sahen auch bei jedem Stop genervter aus, und so war es kein Wunder, dass sie alle müde und total gerädert waren, als sie endlich vor dem Haus in der Nähe von Trani hielten, das Davids Eltern gehörte.
Das Haus war bis jetzt das einzig Positive an diesem Urlaub, dachte Rebecca. Es war ein wunderschöner Bau aus altem Sandstein, mit großen Rippenfenstern, die hinten auf eine Terrasse mit schönen Holzmöbeln hinausgingen. Der Garten war dschungelartig bepflanzt, mit einem versteckten kleinen Teich, über dem äußerst romantisch die Äste einer kleinen Trauerweide, zumindest hielt Rebecca es für eine Trauerweide, herabhingen und sanft über die Wasseroberfläche strichen. Ein krasser Kontrast zu der eher kargen Landschaft, die sie auf der Autofahrt gesehen hatten. Außerdem brauchte man vom Haus höchstens fünf Minuten an den Strand, was immerhin auch nicht zu verachten war.
Leider gab es aber im ersten Stock nur drei Schlafzimmer und ein Badezimmer. Die beiden größeren Zimmer waren je mit einem Doppelbett ausgestattet, das kleinere Zimmer war nur eine winzige Kammer in die gerade mal ein schmales Bett und ein kleines Tischen reinpasste. Das hieß, zwei der Anwesenden mussten im Wohnzimmer auf der Bettcouch übernachten. Die Zimmerverteilung war nicht ganz so schlimm, wie Rebecca befürchtet hatte. Da es nun mal zwei Pärchen und zwei Doppelzimmer gab war es eigentlich klar, worauf es hinauslaufen würde, und David und Olli waren immerhin Gentlemen genug, dass sie Rebecca das Einzelzimmer im ersten Stock überließen und sich selbst mit der Couch zufriedengaben.
Obwohl das Zimmer wirklich mehr einer Besenkammer glich war sie doch froh über den einigermaßen privaten Raum, den es ihr bot.
An diesem ersten Abend nach der Zimmerverteilung hatten sie sich alle gemeinsam auf die Terrasse gesetzt, da es zu spät war um einkaufen zu gehen, hatten sie die Futterbeschaffung auf den nächsten Tag verschoben und sich den alkoholischen Vorräten gewidmet, die sie von zu Hause mitgebracht hatten.
Eigentlich dachte sie, hätte es ein schöner Abend werden können, gemütlich zusammensitzen, reden, rauchen und trinken. Leider waren sie alle zu erschöpft und gereizt, um die Gelegenheit zu nutzen. Nach einem spitzen Kommentar von Oliver gegen Stephan beschloß Paula, dass es besser wäre mit ihrem Freund auf ihr Zimmer zu gehen. Rebecca wollte sich in diesen Geschwisterstreit nicht einmischen, doch sie fand, dass Oliver sich ruhig ein bißchen hätte zusammen reißen können, schließlich war er nicht alleine mit den beiden.
Timm, der ihn ja schon länger kannte, hatte offenbar keine Bedenken sich einzumischen: „Musste das jetzt sein? Ich meine, er ist doch dein bester Freund...“
Olli sah wütend auf: „Ach ja, wenn er mein Freund ist, dann sollte er die Finger von meiner kleinen Schwester lassen!“
Timm schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Kurz darauf verabschiedeten auch er und Manu sich, mit mehr als eindeutigen Absichten. Rebecca nutzte die Gelegenheit und folgte ihnen, um Davids erneutem Gequatsche zu entgehen.
Gestern Morgen waren sie dann alle bei Zeiten aus den Betten gewesen, kein Wunder, schließlich hatten sie die Nacht nicht gerade durchgetanzt. Nach dem Einkaufen gab ´s erst mal was zu essen. Rebeccas Meinung nach war es auch Zeit. Ihr Magen hatte schon angefangen zu knurren. Zu diesem Zeitpunkt war die ganze Gesellschaft noch relativ vergnügt gewesen, bis es dann nachmittags zum Strand ging.
Rebecca musste zugeben, dass sie selbst etwas enttäuscht war, weil hier wirklich tote Hose herrschte. Außer ihnen befand sich kein Mensch in der kleinen Bucht. Da sie aber nicht mosern wollte, hielt sie den Mund und genoß es in der Sonne zu liegen und sich ihrer Ferienlektüre zu widmen.
Obwohl das Wasser wirklich angenehm warm war, verlor sie schnell wieder das Interesse, sie war noch nie die geborene Badenixe gewesen. Sie legte sich wieder auf ihr Handtuch und schloß entspannt die Augen, nachdem sie noch einen kurzen Blick auf Paula und Stephan geworfen hatte. Die beiden waren erst gar nicht ins Wasser gegangen. Paula lag auf dem Rücken und Stephan hatte sich über sie gebeugt und küsste sie, wie Rebecca fand, recht leidenschaftlich. Sie konnte nicht umhin ein wenig eifersüchtig zu werden. Es wäre schon nicht schlecht, jetzt einen netten Kerl hier zu haben, dachte sie schmunzelnd.
Als sie allerdings wenig später aus einem Tagtraum aufschreckte, der sie in äußerst erotischer Pose mit Oliver zeigte, beschloss sie, dass sie nicht mehr all zu viel auf die Pärchen in ihrer Umgebung achten durfte. Vor allem aber beschloss sie, dass sie sich auf keinen Fall zu sehr auf Oliver konzentrieren durfte. Gerade, weil er ihr so gut wie keine Beachtung schenkte. Es war nicht so, dass er unfreundlich gewesen wäre, aber er wirkte einfach völlig desinteressiert. Sie dagegen hatte vorhin kaum die Augen von ihm lassen können, als er sich das T-Shirt auszog und in seinen Shorts zum Wasser runter schlenderte. Er sah wirklich sportlich aus, war bereits leicht gebräunt, und sie konnte es kaum glauben, aber er hatte tatsächlich Ansätze eines Waschbrettbauches. Sie hatte noch nie einen Freund mit Waschbrettbauch gehabt... Nein, sie wollte doch nicht mehr davon träumen.
Plötzlich hörte sie aufgeregtes Rufen vom Wasser her und schreckte aus ihren Gedanken auf.
Rebecca setzte sich auf und sah, dass Manu, Timm und David am Ufer standen und auf´s Wasser hinaus starrten. Als sie ihrer Blickrichtung folgte, sah sie, dass Oliver sich gerade weit draußen auf einen Felsen zog, der aus dem Wasser ragte. Als er auf dem steinigen Rand stand, machte er sich daran weiter nach oben zu klettern. Der Felsen ragte hoch über der Wasseroberfläche auf.
Rebecca war aufgestanden und trat gerade zu den anderen, als Manu erneut nach Oliver rief: „Lass den Mist! Was soll das denn?!“
Rebecca sah fragend zu Timm auf: „Was macht er denn da?“
„Er spinnt!“ gab Timm ungerührt zurück, ohne den Blick von Oliver abzuwenden, der jetzt langsam immer höher hinauf stieg, und sich nicht von Manus Geschrei ablenken ließ. Scheinbar hatte er die Absicht von dem Felsen, der bestimmt an die zehn Meter hoch aus dem Wasser ragte, zu springen. Als ihr das bewusst wurde, verstand Rebecca die Aufregung der anderen. Sie hatte oft genug gehört, dass es gefährlich sein konnte in unbekannte Gewässer zu springen. Was, wenn das Wasser nicht tief genug war, oder unter der Wasseroberfläche weitere Felsen lauerten, auf die er aufschlagen konnte?
Auch Paula und Stephan hatten die Aufregung der anderen mittlerweile bemerkt und kamen gerade ans Wasser, als Oliver die Spitze des Felsens erklomm und sich dort langsam aufrichtete. Paula starrte entgeistert auf ihren Bruder: „Was macht er denn da? Ist er total verrückt geworden?!“ Automatisch griff sie nach Stephans Hand und klammerte sich daran fest. Der sah ebenso erschrocken aus, wie sie, doch er riss sich zusammen und versuchte, es genau wie Manu zuvor mit Rufen: „Oliver, hör auf mit dem Mist, es ist zu gefährlich!“
Oliver ignorierte seinen Freund und trat einen Schritt weiter auf den Rand der Klippe zu. Paula drehte sich zu Stephan um: „Tu doch irgendwas!“ sie sah die anderen hilfesuchend an: „Ihr könnt das doch nicht zu lassen!“
Sie machte Anstalten ins Wasser zu laufen, doch Stephan griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. In dem Moment sah Rebecca aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der Klippe und als sie den Kopf drehte, sah sie, wie Olivers Körper kerzengerade ins Wasser tauchte. Das plötzliche Schweigen verriet, dass die anderen genauso gespannt auf die Stelle starrten, an der er untergegangen war, wie sie. Die Sekunden zogen sich endlos lang dahin und Rebecca traute sich kaum zu atmen. Die Wellen schlugen an den unteren Rand der Klippen und ihr kam der Gedanke, dass es gefährlich sein könnte, wenn er von der Strömung erfasst und gegen die Felsen geschleudert würde. Wo blieb er nur, wieso dauerte das so lange? Hätte er nicht längst wieder auftauchen müssen?
Und da plötzlich tauchte sein blonder Schopf auf, er schüttelte das Wasser aus seinen Haaren und schwamm mit kräftigen Zügen auf den Strand zu.
Rebecca hörte Paula neben sich aufatmen und als sie zu ihr rüber sah, bemerkte sie, dass sie sich an ihren Freund geklammert hatte und ihr die Tränen in den Augen standen.
Die Besorgnis der Anderen verwandelte sich schnell in Wut, so dass Oliver, als er wenige Minuten später aus dem Wasser kam, einer sehr unfreundlichen Begrüßung ausgesetzt war. Allen voran rannte seine Schwester auf ihn zu: „Spinnst du total?! Was sollte das denn?! Glaubst du, Mama würde sich freuen, wenn du im Sarg nach Hause kommst?!“ Er sah sie ungerührt an und ging an ihr vorbei: „Ich weiß gar nicht was du hast, ich lebe doch noch...“ Jetzt mischten sich auch Timm und Manu ein, die beide schon näher herangetreten waren: „Ja, aber damit hast du verdammtes Glück gehabt!“.
Oliver ließ sich davon nicht beeindrucken und steuerte geradewegs auf sein Handtuch zu. In diesem Moment dachte Rebecca, dass der Urlaub wirklich ein Fehler gewesen war. So nett die anderen auch sein mochten, und David, dass hatte sie ja bereits gemerkt, war eine echte Nervensäge, Oliver schien wirklich ein arrogantes Arschloch zu sein. Und es würde sie nicht wundern, wenn das eben nicht die einzige Aktion von ihm bleiben sollte, mit der er ihnen den Urlaub vermiesen würde.
Später am Abend, als sie zurück im Haus waren, sprach sie diese Vermutung Manuela gegenüber aus. Zu ihrer Überraschung schüttelte die aber leicht den Kopf und meinte: „Ich weiß nicht, ob du damit so Recht hast. Bis jetzt hab ich Olli eigentlich als einen ganz netten Kerl kennengelernt.“
„Na, da hatte er vielleicht mal einen guten Tag!“ gab Rebecca mit einem ironischen Schnauben zurück.
„Mensch Becky, dass war jetzt echt fies!“ aber Manu grinste trotzdem, doch sie wurde schnell wieder ernst. „Nein, ich glaube, diese ganze Sache mit Paula und Stephan geht ihm einfach auf den Keks...“
Rebecca sah sie skeptisch an: „Ja, meinetwegen, aber findest du nicht, dass er ein bißchen übertreibt?“
„Ja, vielleicht,...“ gab Manuela vorsichtig zurück, sie überlegte einen Moment, dann ließ sie alle Zurückhaltung fahren: „Timm meint, es liegt einfach daran, dass Oliver sich, naja,... für alles verantwortlich fühlt. Sein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben und er hat sich seitdem um seine zwei kleinen Schwestern gekümmert, wenn seine Mutter arbeiten musste.“
„Oh...“ Das hatte Rebecca nicht gewusst, woher auch, schließlich kannte sie die Leute, mit denen sie hier unterwegs war, so gut wie gar nicht. Trotzdem dachte sie, auch wenn das natürlich einiges erklärte, so war Ollis Verhalten doch etwas übertrieben. Schließlich war Stephan, scheinbar, mal sein bester Freund gewesen, und selbst wenn er sich so für seine Schwester verantwortlich fühlte, dann gab es doch wohl keinen besseren für sie, als seinen besten Freund, oder nicht?
Dank der gereizten Stimmung, die nach diesem Strandnachmittag aufgekommen war, wurde auch dieser Abend ein Reinfall und Rebecca begann sich langsam wirklich zu fragen, was sie hier sollte.
Die Krönung kam dann aber am nächsten Morgen, als sie zum Frühstück nach unten kam und der Geschwisterstreit bereits wieder in vollem Gange war. Oliver und Paula standen sich gegenüber und schrien sich an. Aus den Wortfetzen, die sie mitbekam, schloß Rebecca, dass es wohl darum ging, dass Paula mit ihrer Mutter telefoniert hatte und ihr von Olivers Aktion am Vortag erzählt hatte.
„Du bist doch total bekloppt!“ schrie er sie gerade an: „Kannst du mir mal sagen, was das soll?!“
Sie antwortete ihm in derselben Lautstärke: „Ich bin bekloppt?! Ich bin nicht diejenige, die von irgendwelchen Felsen springt, oder?!“
„Was ich mache, geht dich ´nen Dreck an!“ antwortete er heftig „Und wenn du dich schon einmischen musst, dann lass wenigstens Mama da raus!“ damit verließ er den Raum und kurz darauf war das Schlagen der Haustür zu hören.
Die anderen, die bereits am Tisch saßen, sahen ihm verdutzt nach. Paula blieb einen Moment stehen, wo sie war, dann drehte auch sie sich um und verließ den Raum durch die Terrassentür. Rebecca sah, dass Tränen in ihren Augenwinkeln glitzerten.
Kapitel 2
Und jetzt saß sie hier. Sie wollte nicht hier sein. Gefangen mit einem Ich-bezogenen Maschinenbaustudenten, der ihr beim Frühstück schon wieder das Ohr abgekaut hatte, zwei frisch verliebten Pärchen, die sich selbst genug waren und einem durchgedrehten und total arroganten großen Bruder.
Stephan und Manu hatten sich in den Garten aufgemacht, um Paula zu trösten. David leistete Rebecca Gesellschaft beim Frühstück und Timm stand auf der Terrasse und rauchte eine.
Die Stimmung sank noch weiter, weil Paula sich nicht mehr beruhigen wollte und alle anderen mit ihrer miesen Laune ansteckte, so dass Rebecca nach dem Abwasch beschloß, für eine Weile vor den anderen zu fliehen. Sie sagte nur Manu Bescheid, dass sie zum Strand gehen würde und schlich sich dann aus dem Haus, da sie nicht Gefahr laufen wollte, David auf sich aufmerksam zu machen. Nach seinen ewigen Monologen stand ihr der Sinn nun wirklich nicht. Obwohl sie fairerweise zugeben musste, dass sein Geschwafel noch wesentlich angenehmer war, als die Streitereien der Anderen.
Am Strand angekommen, suchte sie sich ein schönes Plätzchen, breitete ihr Handtuch aus und machte es sich in ihrem neuen Bikini und mit ihrem Buch gemütlich.
Erst als sie einige Zeit später das Plätschern nasser, aus dem Wasser kommender Schritte hörte, bemerkte sie, dass sie nicht alleine war.
„Na...“ Sie sah auf und Oliver stand vor ihr. Vollbekleidet und tropfnass, nur Schuhe trug er keine, wie ihr in ihrer Verwirrung auffiel. „Hallo“, grüßte sie dümmlich zurück. Sie wunderte sich ein bißchen, dass er ihr gerade jetzt Beachtung schenkte. Vorher hatte er sie doch auch ignoriert. Aber vermutlich lag es einfach daran, dass sie eben gerade hier war. Sie überlegte, was sie noch sagen könnte, ihr fiel aber schließlich nichts Besseres ein, als lahm zu fragen: „Und, ist das Wasser warm?“ Danach hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen, doch er war freundlich genug, kurz zu lachen.
„Naja, ich war ja warm angezogen“, gab er scherzhaft zurück und ließ sich neben ihr auf den Sand sinken.
Sie wusste nicht, ob es klug war, zu fragen, aber sie war so neugierig, dass sie sich nicht zurückhalten konnte: „Bist du wieder zum Felsen geschwommen?“
Er warf ihr einen kurzen Blick zu, dann sah er wieder auf ´s Wasser: „Und wenn es so wäre, würdest du dann direkt zu den anderen rennen und es ihnen erzählen?“
Na toll, also hatte sie sich doch nicht geirrt, er war und blieb arrogant.
Sie stand auf und griff nach ihrem Handtuch. „Ich hatte eigentlich nicht vor, den Stress, den du machst, noch zu vergrößern, und ich hab auch keinen Bock auf noch mehr Stress, also geh ich jetzt lieber...“ Sie wollte davon rauschen, doch zu ihrer Verwunderung sprang er auf die Füße und hielt sie mit einer Geste zurück: „Warte, es tut mir Leid. Ich... ich hab´s nicht so gemeint.“
Sie sah ihn an und bemerkte, dass sie nach oben schauen musste, weil er ein ganzes Stück größer war, als sie. Sie war nicht bereit, ihm so schnell zu verzeihen, wenn sie schon die Gelegenheit hatte, dann konnte sie ihm auch mal die Meinung sagen. „Ach, du hast es nicht so gemeint? Dann hast du bestimmt auch den ganzen andern Scheiß nicht so gemeint, den du die ganze Zeit verzapfst, oder? Vielleicht solltest du dir mal angewöhnen nachzudenken, bevor du den Mund aufmachst?!“
Er sah sie überrascht an: „Wow, danke auch“, nach kurzen Zögern fragte er: „Vermutlich hab ich das verdient, oder?“
Sie nickte, etwas benommen von seiner schnellen Einsicht.
„Ich schätze, ich hab bis jetzt nicht gerade zur Harmonie im Urlaub beigetragen“, fuhr er fort.
„Kann man nicht so sagen“, gab sie mit einem Grinsen zu und fügte dann noch an: „Wenn ich ehrlich bin, kann deine Schwester einem auch ziemlich leid tun.“
Er verzog missmutig das Gesicht: „Du kannst mir glauben, dass ich sie auch nicht gebeten hab mitzukommen...“
„Na das nenn ich Geschwisterliebe!“ gab Rebecca trocken zurück und er lachte und wirkte mit einem mal ganz verwandelt. Viel freundlicher.
„Hast du Geschwister?“ fragte er dann neugierig. Sie schüttelte den Kopf und schämte sich fast dafür zugeben zu müssen, dass sie Einzelkind war und also, objektiv gesehen, auch keine Erfahrungen auf diesem Gebiet vorweisen konnte.
„Ok, dann werde ich dir die Sache jetzt mal erklären“, sagte er beinah onkelhaft und ließ sich wieder im Sand nieder. Zögernd folgte sie seinem Beispiel.
„Also, ich hab zwei Schwestern, Paula ist 18, aber das weißt du ja“, begann er mit einem Seitenblick auf Rebecca, „und Sophie ist 16, und ich mag die beiden wirklich, das kannst du mir glauben, aber Tatsache ist, dass sie mir seit 18, bzw. 16 Jahren pausenlos auf den Wecker gehen!“ Sie musste lachen und er grinste kurz zu ihr rüber, bevor er fortfuhr: „Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber man streitet mit niemandem so oft und so viel, wie mit seinen Geschwistern und zwar aus den nichtigsten Gründen, und gleichzeitig fühlt man sich trotzdem immer irgendwie für sie verantwortlich.“
Rebecca unterbrach ihn: „Hab ich gesehen, deine Schwester scheint sich ziemlich verantwortlich dafür zu fühlen, dass du gestern von diesem Felsen gesprungen bist.“ Um zu verdeutlichen, was sie meinte nickte sie kurz in Richtung des Wassers.
„Das war nicht das, was ich eigentlich gemeint hab...“, antwortete er rügend. Wieder fiel sie ihm ins Wort: „Aber es ist dasselbe. Und du schreist deine Schwester an, weil sie genau das tut, was du mir eben beschrieben hast.“
Er sah wieder auf ´s Meer raus und plötzlich war sein Gesicht wieder so verschlossen wie zuvor: „Das ist was anderes, das verstehst du nicht.“
Sie wartete vergeblich darauf, dass er es ihr erklären würde. Stattdessen stand er auf und zog sich sein T-Shirt über den Kopf. Auf ihren fragenden Blick hin meinte er: „Na komm schon! Ich war heut noch nicht springen, mit Klamotten ist das ein bißchen zu riskant...“
„Ach, nur mit Klamotten“, gab sie schwach zurück.
Er streckte die Hand aus und zog sie auf die Beine. Sie sah kurz an sich runter. Na, wenigstens saß ihr neuer, roter Bikini gut und da sie nach der Trennung von ihrem letzten Freund sogar ein paar Kilo abgenommen hatte, konnte sie nicht einmal über ihre Figur meckern. Leider machten aber eine akzeptable Figur und ein roter Bikini noch lange keine Baywatch-Badenixe aus ihr, und das hieß, dass so ein Ausflug zu den Felsen, selbst wenn sie das Verlangen danach verspürt hätte, was nicht der Fall war, für sie nicht in Frage kam. Außerdem hätten die anderen sie wohl gelyncht, wenn sie zuließe, dass er erneut so einen Mist machte.
„OK, ich komm mit ins Wasser“, sagte sie deshalb zögernd, „aber nur, wenn du versprichst, dass du nicht wieder springst.“
„Da musst du mir dann aber schon eine interessante Alternative bieten...“, antwortete er und bei dem Lächeln, das er ihr bei diesen Worten zuwarf, fuhr ihr ein kleiner Schauer über den Rücken. Bildete sie sich das ein, oder flirtete er gerade mit ihr? Vielleicht konnte der Urlaub ja doch noch ganz nett werden…
Nachdem sie einige Zeit im Wasser herumgetobt hatten, sich gegenseitig nass gespritzt und untergetaucht hatten, machte Rebecca sich schließlich wieder auf den Weg zu ihrem Handtuch. Oliver sah ihr nach und musste zugeben, dass sie wirklich gut aussah. In dem knallroten Bikini machte sie eine verdammt gute Figur und ihr kleiner Hintern wackelte ziemlich aufreizend als sie jetzt aus dem Wasser stieg. Ihre langen Haare hingen nass auf ihren Rücken herab und glänzten rot braun in der Sonne. Er hatte vorher schon bemerkt, dass sie nicht unattraktiv war, aber zum einen war er zu sehr mit seiner nervigen kleinen Schwester beschäftigt gewesen, zum anderen hatte sie sich immer ganz gut mit David unterhalten und ihn mehr oder weniger ignoriert. Gerade, weil er diese Reaktion normalerweise nicht gewohnt war, hatte sie ihn etwas irritiert. Allerdings, hatte er sich schließlich gedacht, lag es sicher auch an seinem eigenen Verhalten.
Er sollte wirklich versuchen, sich zusammenzureißen, aber es war einfach so verdammt schwer. Verstand eigentlich niemand, dass er sich einfach nur Sorgen machte? Klar, Stephan war sein bester Freund, aber das war ja eben das Problem, er wusste von jedem noch so kleinen Scheiß, den Stephan irgendwann mal gebaut hatte, und er wollte bestimmt nicht, dass er so was mit seiner Schwester machte. Und natürlich ging es ihm auch irgendwie gegen den Strich, die kleine Kröte jetzt auch noch im Urlaub mit seinen Freunden dabei zu haben. Es ging ja nicht mal darum, dass er sie nicht ausstehen konnte, im Gegenteil, er wusste, dass man verdammt gut mit ihr auskommen konnte, aber er fand, mindestens einmal im Jahr hatte er sich eine Pause von der Familie verdient. Und jetzt hatte er dank Stephan nicht nur seine kleine Schwester, sondern auch noch seine Mutter, immer live am Telefon dabei. Das war doch wirklich nicht fair. Zumal er sich sicher war, dass die Jungs bei seinem Sprung gestern nie so einen Aufstand gemacht hätten, hätten sie nicht ihre Mädels dabei gehabt. Gut, sie hatten ja nicht ganz Unrecht gehabt, natürlich war es gefährlich gewesen, aber wäre es das nicht gewesen, dann hätte es ihm ja auch nur halb so viel Spaß gemacht.
Naja, er wollte jetzt lieber nicht an den ganzen Ärger denken, den er hatte. Er sah zu Rebecca rüber, die schon fast wieder bei ihrem Handtuch angekommen war.
„Hey, wenn du jetzt schon schlapp machst, muss ich wohl doch noch mal raus schwimmen...!“ rief er ihr nach und deutet auf die Klippen in seinem Rücken.
Sie drehte sich um und betrachtete ihn, als würde sie überlegen, ob sie noch mal zurück ins Wasser gehen sollte, doch dann zuckte sie die Schultern und sagte in ihrem strengsten Oberlehrerinnenton: „Ganz, ganz schlechter Versuch! Los, raus aus dem Wasser, sonst...“
Er schlenderte langsam auf sie zu und fragte mit einer gehoben Augenbraue: „Sonst?“
Sie beschäftigte sich damit, ihre Sachen zusammen zu suchen: „Oh, mir fällt schon irgendwas ein, verlass dich drauf!“
„Ach, immer diese leeren Drohungen...“, spottete er.
Leider wollte Rebecca absolut keine Drohung einfallen, die ihn in irgendeiner Weise beeindruckt hätte. Deshalb blieb sie lieber etwas geheimnisvoll, das war immerhin besser als nichts.
Wie er da so stand in seinen blauen Boxershorts und auf ihre Erwiderung wartete, sah er wirklich nicht übel aus. Und sie war sich sicher, dass er das auch wusste. Schade, auf mehr als eine schnelle Nummer oder allenfalls einen Urlaubsflirt war der garantiert nicht aus, wenn er überhaupt auf irgendwas aus war. Im Prinzip, gab es ja nichts gegen einen kleinen Flirt einzuwenden, nur kannte sie sich zu gut. Sie würde sich sofort Hals über Kopf in ihn verlieben. So war sie nun mal und das war auch der Grund dafür, dass ihr bis jetzt mindestens schon ein Dutzend Mal das Herz gebrochen worden war. Sie verliebte sich immer in Kerle, die sie entweder gar nicht erst eines Blickes würdigten oder eben genauso schnell wieder weg waren, wie sie gekommen waren, weil schon die nächste am Horizont winkte. Auf Dauer konnte einen das echt fertig machen und genau deshalb hatte sie sich selbst geschworen, sich nicht mehr auf Eintagsfliegen einzulassen. Sie hatte es einmal ernsthaft mit so einem Kerl versucht. Sie war wirklich in ihn verliebt gewesen, während er sie auf Abstand gehalten hatte. „Lass uns bitte nicht von Liebe reden, oder so!“ und nach einem halben Jahr Vögeln hatte er ihr den Laufpass gegeben, weil er jetzt eine feste Freundin wollte. Sie hatte sich fast die Augen aus dem Kopf geheult, und musste sich dabei noch bemühen, ihm ihre Gefühle nicht zu zeigen, schließlich hatte sie vorher immer ganz cool getan und ihm den Eindruck zu vermitteln versucht, er bedeute ihr genauso wenig, wie sie ihm. Es war schrecklich gewesen und sie hatte beschlossen, dass sie sich in Zukunft nur noch auf Beziehungen einlassen würde, wenn sie sich absolut sicher war, dass die Gefühle, die sie hatte, auch auf Gegenseitigkeit beruhten.
Doch als sie jetzt wieder zu dem unverschämt gut aussehenden Kerl vor ihr aufblickte, bereute sie diesen Entschluß schon fast. Vielleicht war eine kurze Affäre doch nicht so schlimm, wenn man jemanden wie ihn haben konnte... Nein! Sie schob diesen Gedanken ganz schnell wieder bei Seite, das war gar keine gute Idee.
Als er plötzlich wieder etwas sagte wurde ihr siedend heiß bewusst, dass er die ganze Zeit über auf eine Erwiderung von ihr gewartet hatte. Jetzt fragte er grinsend: „Sag mal, was denkst du gerade?“
„Ich hab mich gerade gefragt, ob du wohl eine Freundin hast.“ Oh Mist! Das hatte sie doch gar nicht sagen wollen. Im Gegenteil, neben der Tatsache, dass sie sich gerade lächerlich machte, hatte sie doch beschlossen, die Finger von ihm zu lassen.
„Ach, so weit sind wir also schon?!“ gab er amüsiert zurück.
Sie lachte so unbeschwert sie konnte: „Mach dir lieber keine Hoffnungen, reine Neugier.“ Na, vielleicht war das nicht gerade glaubhaft, aber immerhin zog sie sich so einigermaßen aus der Affäre.
„Ach ja?“ er musterte sie dreist, von oben bis unten, dann meinte er: „Schade!“
Sie schlug mit ihrem Handtuch nach ihm, weil es das nächste war, was sie in die Hände bekam und er wich lachend aus.
Schweigend gingen sie nebeneinander her zurück zum Haus. Er hatte sich sein T-Shirt wieder übergezogen und den Rest seiner Sachen unter den Arm geklemmt. Als sie das Haus fast erreicht hatten, brach Rebecca das Schweigen: „Vielleicht würdest du es für uns alle etwas angenehmer machen, wenn du dich bei Paula entschuldigen würdest.“
„Vielleicht“, gab er zurück, dann fügte er mit einem schelmischen Blick zu ihr hinzu: „Aber weißt du, was das für meinen Stolz bedeuten würde…?“
Sie knuffte ihn leicht mit dem Ellbogen in die Seite: „Spinner!“
Timm und David waren nicht da, als sie ankamen. Die beiden waren in der Stadt irgendwas erledigen und der Rest der Truppe stürzte sich natürlich sofort mit Vorwürfen auf Oliver.
Rebecca bekam schon fast Mitleid mit ihm, doch sie wusste noch zu gut, wie sauer sie selbst vorhin gewesen war, deshalb konnte sie die Gefühle der anderen gut nachvollziehen.
Während Paula mit rot geränderten Augen auf der Terrasse saß, machten Stephan und Manu Oliver abwechselnd Vorwürfe und beschimpften ihn, weil er einfach abgehauen war. Er machte dieser Keiftirade ein Ende, in dem er kurz die Hand hob und dann ohne Umschweife erklärte: „Es tut mir leid, ok?!“, damit ging er zu seiner Schwester nach draußen.
Sie konnten nicht hören, was er sagte, aber es endete schließlich damit, dass Paula ihn umarmte. Er sagte noch etwas und sie nickte kurz.
Das also war Geschwisterliebe, dachte Rebecca bei sich und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück hatte Rebecca sich gerade am Teich unter der Trauerweide, oder was es auch immer war, niedergelassen, als Manuela zu ihr trat.
„Na, gestern Abend war´s doch ganz lustig, oder?“
Damit hatte sie definitiv Recht, dachte Rebecca. Der Abend war viel entspannter verlaufen, als die Abende zuvor und sie hatten sogar noch richtig lange zusammengesessen. David war irgendwann in seinem Stuhl eingeschlafen, was vermutlich sowohl an der späten Stunde, als auch an seinem nicht unbeträchtlichen Alkoholkonsum gelegen hatte.
„Wurde auch langsam Zeit“, antwortete Rebecca jetzt.
„Da hast du recht“, Manu zögerte einen Moment, dann fragte sie: „Wie hast du Oliver eigentlich dazu gekriegt sich zu entschuldigen?“
„Ich?!“ Rebecca sah verwirrt zu ihrer Freundin auf, „Ich hab ihn zu gar nichts gekriegt!“
„Oh“, Manu sah etwas betroffen aus, „Ich dachte nur, weil ihr gestern zusammen zurückkamt und...“ sie brach ab und machte eine wegwerfende Handbewegung, die ihre Rebecca etwas nervös machte.
„Und was?“ fragte sie deshalb jetzt, halb neugierig, halb beunruhigt.
„Nichts, nur...“, Manu zögerte wieder einen Moment und Rebecca wollte schon etwas sagen, als sie schließlich doch fortfuhr: „Nachdem du und ich im Bett waren hat er sich bei Timm noch nach dir erkundigt. Timm meinte, er hatte den Eindruck, als wäre da plötzlich ziemliches Interesse da.“
„Wir haben uns nur am Strand getroffen, haben ein bißchen geredet und so,... was heißt überhaupt, er hat sich nach mir erkundigt?!“
„Naja, ob du einen Freund hast und solche Sachen, nichts besonderes. Ich dachte nur, vielleicht hast du mir was nicht erzählt?“
Jetzt musste Rebecca grinsen: „Ach Quatsch, die heiße Nummer am Strand hätte ich dir doch nie verschwiegen!“
Manu lachte jetzt ebenfalls „Dann ist ja gut.“ Sie musterte Rebecca mit einem durchtriebenen Blick, dann fragte sie schnell: „Wie gefällt er dir denn?“
„Oliver?“ Rebecca brauchte einen Moment um ihre Gedanken zu ordnen. Es fühlte sich schon irgendwie gut an, zu hören, dass er nach ihr gefragt hatte. War ja irgendwie ein Kompliment. Doch sie beschloss, dass es das auch bleiben sollte, ein Kompliment und mehr nicht.
„Er ist schon nicht schlecht, aber sei doch ehrlich, der taugt höchstens für einen Urlaub, dann hat er die nächste, oder?“
„Und? Dann hattest du wenigstens einen schönen Urlaub!“ gab Manu unbekümmert zur Antwort.
Das versetzte Rebecca einen leichten Stich. Wenn Manuela ihr wenigstens widersprochen und gesagt hätte, Olli sei eigentlich ein netter Kerl. Dann hätte sie wenigstens eine Entschuldigung gehabt, wenn sie sich mit ihm einließ, aber so, mit dem Wissen, dass er sowieso kein längerfristiges Interesse an ihr hegte...
Sie schüttelte den Kopf, um Manu zu antworten: „Nein, da hab ich im Moment keinen Bock drauf.“
Sie konnte die Enttäuschung auf dem Gesicht der Freundin erkennen, wahrscheinlich hatte sie sich schon auf eine große Kuppelaktion gefreut. Tja, Pech, man konnte halt nicht alles haben.
Kapitel 3
Den Nachmittag verbrachte die gesamte Gruppe wieder am Strand, diesmal allerdings war die Stimmung viel entspannter und alle alberten ungezwungen herum. Trotzdem beschloss Rebecca, am Abend vorzuschlagen, dass sie am nächsten Tag mal in irgendeine Stadt oder wohin auch immer fahren könnten, irgend etwas musste es hier in der Nähe doch geben. Zum einen rührte diese Idee daher, dass das ewige Rumhängen ihr bereits langsam auf den Keks ging, zum anderen bemerkte sie, dass die viele freie Zeit ihr zu viele Möglichkeiten bot, über Oliver nachzudenken, und sie wusste, wenn sie erst ernsthaft anfinge zu denken, dann würde sie ihren Entschluß niemals durchhalten.
Es war ohnehin schon verdammt schwer, ihn nicht zu beachten, wenn er die ganze Zeit so dekorativ in der Gegend rumstand, oder wie jetzt mit Timm langsam ins Wasser watete. Auf halbem Weg drehten die beiden sich zum Strand um.
„Wollt ihr nicht auch reinkommen? Das Wasser ist wirklich warm!“ rief Timm mit einem Blick auf Manu. Die drehte sich zu Rebecca um: „Kommst du mit?“
Sie wollte schon den Kopf schütteln und sagen, dass sie keine Lust habe, doch dann entschied sie sich anders. Zum Teufel, schließlich war sie hier um Spaß zu haben, oder?! Die beiden Mädels nahmen sich an den Händen und rannten zusammen ins Wasser, das gegen alle Behauptungen doch ziemlich kalt war. Zumindest im Vergleich mit ihrer sonnengewärmten Haut. Die Jungs sahen ihnen mit offenem Mund hinterher, als sie geradewegs an ihnen vorbei liefen und sich in die Wellen warfen. Nach ein paar Schwimmzügen drehte Rebecca sich um. Als sie sah, dass die beiden immer noch nur bis knapp zu den Knien im Wasser waren, rief sie: „Ich dachte, dass Wasser wäre so warm, was seid ihr denn für Weicheier?!“
„Ganz eindeutig Warmduscher!“ rief Manu hinter ihr neckend.
Das ließen die Jungs sich natürlich nicht zweimal sagen. In wenigen Sekunden waren sie bei ihnen und augenblicklich spürte Rebecca, wie sie den Boden unter den Füßen verlor, als Oliver sie um die Taille packte und ohne große Schwierigkeiten mit dem Kopf voran ins Wasser beförderte. Den Geräuschen nach zu urteilen, erging es Manu hinter ihr nicht viel besser. Daraufhin entstand eine regelrechte Wasserschlacht, die einige Minuten später mit einem Ausruf von Oliver endete: „Hey, das ist nicht fair, das ist Bestechung!“
Rebecca folgte seinem Blick und sah, dass Manu und Timm dazu übergegangen waren, leidenschaftlich rumzuknutschen. Jetzt löste Timm sich kurz von seiner Freundin, grinste seinen Kumpel an und antwortete: „Dann lass dich doch auch ein bißchen bestechen...“, damit widmete er sich wieder Manu.
Oliver drehte sich zu ihr um, er musterte sie einen Moment, dann zog er eine Augenbraue fragend hoch und meinte: „Ich finde, das ist gar keine so schlechte Idee.“
„Ääh...“ was zum Teufel sollte sie jetzt tun? Das war mehr als eindeutig und sie hätte das Angebot gerne angenommen, aber...
Er trat einen Schritt auf sie zu und sie wusste, wenn er sich jetzt einfach herunter beugen und sie küssen würde, dann wäre sie verloren. Bei dem Gedanken wurde sie plötzlich wütend, was dachte dieser arrogante Fatzke eigentlich? Dass er einfach nur pfeifen musste und schon läge ihm jedes Mädchen zu Füßen? Und am meisten ärgerte sie, dass sie auch noch genau die richtige Beute war, da sie sich immer direkt einbildete, die Kerle, die so was machten, würden sich ernsthaft für sie interessieren. Nein, da hatte er sich geschnitten, sie würde er nicht so leicht kriegen, da musste er sich schon ein bißchen mehr einfallen lassen.
Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn kalt an: „Ich finde, das ist eine absolut bescheuerte Idee!“ Sie ging langsam an ihm vorbei auf den Strand zu. „Übrigens...“ fügte sie dann noch mit einem Schulterblick auf ihn an, „...ich weiß ja nicht, was du dir denkst, aber für mich musst du dir schon ein bißchen mehr einfallen lassen, als nur gut auszusehen!“
Oliver sah ihr nach, als sie auf den Strand zu watete und war wider Willen beeindruckt. Mit so einer Abfuhr hatte er nicht gerechnet. Im Gegenteil, er hatte sich eigentlich ganz gute Chancen ausgerechnet, schließlich war sie diejenige gewesen, die ihn gefragt hatte, ob er eine Freundin hätte.
Ok, er hatte ihr nicht geantwortet, lag vielleicht daran, dass er sich selbst nicht so ganz sicher war. Lisa und er hatten sich übel gestritten, er wusste allerdings schon fast nicht mehr worüber. Das war zu der Zeit gewesen, als Timm Manu angeschleppt hatte. Also vor etwas mehr als zwei Wochen.
Lisa hatte ihm gesagt, er könne sie mal kreuzweise, dann war sie abgedampft und hatte sich bis jetzt nicht mehr gemeldet. Er hatte sich allerdings auch nicht bei ihr gemeldet. Er war sich auch nicht sicher, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte, es noch mal miteinander zu versuchen. In letzter Zeit hatten sie sich ohnehin nur noch gestritten, das letzte Mal war eben bloß noch etwas heftiger gewesen, als die Male zuvor. Trotzdem wusste er nicht, ob es so gut war, sich hier direkt Ablenkung zu suchen.
Andererseits wollte er seinen Urlaub auch nicht damit verbringen, über Lisa nachzugrübeln, und wenn Rebecca doch hier war und nicht abgeneigt... Dabei fiel ihm wieder ein, dass er gerade eine Abfuhr bekommen hatte, also war sie wohl doch abgeneigt, oder? Er beschloss nicht zu schnell aufzugeben. Sie sah nicht übel aus, und er hatte am Vortag festgestellt, dass er sich auch gut mit ihr unterhalten konnte. Schade, dass die Sache mit Lisa noch so frisch war, sonst hätte er sich vielleicht sogar etwas Ernstes mit ihr vorstellen können.
Rebecca musste zugeben, dass sie stolz auf ihren Auftritt am Nachmittag war, irgendwie tat es gut, wenn man einem so gut aussehenden Typen einfach eine Abfuhr erteilen konnte. Obwohl sie auch ein bißchen wehmütig darüber war, dass er jetzt wohl nicht mehr versuchen würde, sich an sie ranzumachen, die Chance war also vertan. Hätte sie sie doch lieber nutzen sollen?
Nein, er hatte definitiv bekommen, was er verdient hatte.
Sie half Manu gerade dabei, das Essen vorzubereiten, Lasagne und Salat, einfach und italienisch. Als sie alleine in der Küche waren, erkundigte Manu sich danach, warum sie vorhin so schnell aus dem Wasser verschwunden war. „Hätte ich lieber mit Olli rumknutschen sollen?“ fragte sie trocken zurück. Schließlich hatte Timm ihr mit seinem Kommentar ja kaum eine andere Wahl gelassen.
„Ich weiß nicht“, begann Manu, „früher hättest du dir so ´ne Chance nicht entgehen lassen.“
„Stimmt und spätestens am Ende des Urlaubs wäre ich früher total fertig gewesen, weil ich mir was erhofft hätte, was sich nicht erfüllt.“
Manu stöhnte theatralisch auf: „Das ist wieder typisch, da erlebst du einmal eine Enttäuschung und dann hat nie wieder einer eine Chance bei dir.“
„Ach, das ist doch Quatsch. Und selbst wenn, glaubst du etwa, dass der auf mehr aus ist als nur eine kurze Affäre?“ fuhr Rebecca heftig auf.
Manu zuckte die Schultern: „Ich glaub, du hast ein falsches Bild von ihm, er ist wirklich ein netter Kerl.“
Rebecca wollte schon widersprechen, riss sich dann aber zusammen. Vielleicht irrte sie sich ja wirklich und er war tatsächlich kein so arroganter Playboy, wie sie dachte. Das wiederum eröffnete ihr ja dann doch neue Möglichkeiten. Dann fiel ihr wieder ein, dass Manu Oliver ja selbst kaum länger als zwei Wochen kannte. Somit war ihr Bild von ihm sicher nicht viel mehr wert, als das, das Rebecca sich selbst gemacht hatte. Trotzdem, eine Frage konnte Manu ihr sicher beantworten. Sie fand es nach wie vor seltsam, dass er ihr nicht darauf geantwortet hatte, ob er eine Freundin hätte, deshalb fragte sie nun kurzerhand Manuela danach.
Die runzelte kurz die Stirn und sagte dann: „Soviel ich weiß, hat er keine Freundin… Ja, Timm hat mir erzählt, dass er erst vor kurzem mit seiner letzten Freundin Schluß gemacht hat. Ich glaube, kurz bevor Timm und ich zusammen gekommen sind.“
„Das ist ja dann nicht gerade lang her“, gab Rebecca skeptisch zurück. Manu sah sie böse an und sie musste sich ein Grinsen verkneifen.
Später am Abend machte Rebecca dann den Vorschlag, am nächsten Tag ein bißchen die Gegend zu erkunden. Die Idee wurde von den anderen begeistert aufgenommen. Nur David wies immer wieder daraufhin, dass sie sich nicht all zu viele Hoffnungen machen sollten, da sie sich hier am Arsch der Welt befänden. Doch Rebecca ließ sich ihre Vorfreude davon nicht nehmen.
Kapitel 4
Mitten in der Nacht wachte Rebecca auf und war plötzlich hellwach. Nachdem sie sich eine halbe Stunde unruhig hin und her gewälzt hatte, beschloss sie aufzustehen und die Nacht ein wenig zu genießen.
Sie schlich sich die Treppe runter und erwog einen Moment in den Garten zu gehen, doch dann hätte sie durchs Wohnzimmer gehen müssen, in dem David und Oliver schliefen. Stattdessen verließ sie das Haus durch die Eingangstür und machte sich auf den Weg zum Strand. Sie hatte sich in ihrem Zimmer lediglich schnell ein kurzes Sommerkleid übergeworfen und stellte jetzt fest, dass die Nachtluft doch ziemlich kalt war. Sie fröstelte ein wenig, aber das war ihr egal, denn sie genoß viel zu sehr das Gefühl allein zu sein. Die Nacht ganz für sich zu haben. Sie wollte sich einfach in den Sand, ans Wasser setzen, sich die Wellen um die Füße spielen lassen und eine rauchen. Sie wusste, dass sie das mit dem Rauchen schon längst hätte aufgeben sollen. Als sie mit sechzehn angefangen hatte, hatte sie immer gedacht Mensch, ich bin jung, ich darf Spaß haben!
Mittlerweile stellte sich bei jeder Zigarette das schlechte Gewissen ein. Sie hätte sich selbst wohl auch nicht als abhängig bezeichnet. Sie schaffte es durchaus problemlos ein paar Wochen mit dem Rauchen aufzuhören, aber in manchen Situationen gehörte es für sie einfach dazu. Und so eine Situation war jetzt. Irgendwie verkörperte rauchen für sie eine bestimmte Art von Lebensgefühl, mit einem Schmunzeln dachte sie an die Marlborowerbung.
Sie stampfte barfuß durch den kühlen Sand auf das Meer zu und bemerkte erst, als sie fast schon am Wasser war, dass sie nicht alleine war.
Oliver saß da, ein Bein angewinkelt, eins ausgestreckt in die seichte Brandung, genauso, wie sie das hatte machen wollen. Sie blieb abrupt stehen, als sie ihn sah, doch er hatte ihre Schritte bereits gehört und drehte sich zu ihr um. Einen Moment sahen sie sich schweigend an, sie überlegte, ob es wohl besser wäre direkt wieder umzudrehen, und zu gehen. Doch er kam ihr zuvor und winkte sie heran.
Sie ließ sich neben ihn in den Sand sinken und beantwortete die Frage, ob sie auch nicht schlafen könne mit einem leichten Nicken. Sie schwiegen einen Moment und sie begann ihren Beschluß zum Strand zu gehen schon zu bereuen, an jedem anderen Ort hätte sie sich im Moment wohler gefühlt.
„Ich glaube, ich sollte mich für heute Nachmittag entschuldigen“, sagte er schließlich.
Sie warf ihm einen verwunderten Seitenblick zu und ihr fiel auf, dass seine Haare nass waren, also war er wahrscheinlich schon im Wasser gewesen.
„Warum?“ fragte sie lässig „Du hast es versucht und ich hab Nein gesagt, ist doch kein Problem.“ Seit wann konnte sie eigentlich so cool sein?
„Ich hatte den Eindruck, dass ich dich irgendwie beleidigt hab...“
Nicht du, wäre ihr fast heraus gerutscht, die fünf anderen vor dir. Sie riss sich zusammen: „Mach dir keine Gedanken, ich fand´s nur ein bißchen dreist.“ Und verdammt süß!
Sie wollte dieses Thema lieber nicht weiter verfolgen und bevor er weiter sprechen konnte, fragte sie: „Warum konntest du denn nicht schlafen?“
Er zuckte die Schultern: „Hab mir zu viele Gedanken gemacht.“
„Worüber?“
Er zögerte einen Moment: „Hauptsächlich darüber, dass meine Mutter nach Paulas Anruf wahrscheinlich keine Nacht mehr durchschläft, bis ich wieder zurück bin.“
Sie musste lächeln, und er bemerkte es: „Was?!“
„Ich hab nur gedacht, dass das nicht gerade zu dem Bild passt, das du sonst so abgibst.“ Sie zuckte entschuldigend die Schultern.
Er grinste leicht: „Kann sein.“
„Warst du deshalb so sauer auf deine Schwester?“ fragte sie dann ernst.
Er nickte, sagte aber nichts.
„Vielleicht hättest du dann lieber gar nicht erst springen sollen, oder eben nur dann, wenn sie´s nicht mitkriegt“, schlug Rebecca vorsichtig vor.
Er schnaubte verächtlich: „Was denkst du, warum ich jetzt hier bin?“
Sie sah ihn ungläubig an, „Bist du etwa heute Nacht wieder gesprungen? Im Dunkeln?“
„Wie du siehst bin ich noch am Leben, es ist also halb so wild“, antwortete er etwas gereizt, dann fügte er milder hinzu: „Weißt du, sowas gehört für mich einfach dazu, kennst du nicht diese Momente, in denen du die Lebenslust förmlich in deinen Adern kribbeln fühlen kannst? Dann muss man einfach sowas machen, so wie snowboarden oder surfen, oder eben...“, „...von irgend einem Felsen hüpfen“, beendete sie seinen Satz.
„Genau, du musst einfach spüren, dass du lebst.“
Sie konnte das gut nachfühlen, auch wenn sie wohl nie in ihrem Leben auf die Idee kommen würde wegen dieses Gefühls von einem zehn Meter hohen Felsen zu springen.
Sie lächelte: „Weißt du was? Gerade vorhin hab ich gedacht, dass es mir so ähnlich mit dem Rauchen geht. Ich meine, wenn ich so richtig zufrieden bin, dann rauch ich gerne eine, obwohl es total bekloppt ist...“ Sie brach ab und hielt ihm stattdessen fragend ihre Packung hin. Er griff lächelnd zu und meinte: „Komisch, dass man gerade die Sachen, die einem eventuell das Leben zerstören mit seinem Lebensglück verbindet.“ Sie schwiegen einen Moment und zündeten sich ihre Zigaretten an.
Schließlich fragte sie: „Ich will ja nicht neugierig sein, aber machst du dir wirklich solche Gedanken, weil deine Mutter jetzt Bescheid weiß? Ich meine, sie wird dich doch ganz gut kennen...“
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort: „Ja, aber, wenn sie einmal anfängt sich Sorgen zu machen, dann steigert sie sich immer schnell rein.“
„Haben Mütter das nicht generell so an sich?“ fragte sie lächelnd „Nicht unbedingt ein Grund für schlaflose Nächte, oder?“
„Du verstehst das nicht...“, er zögerte wieder und rieb sich mit der Hand über die Augen, als wäre er müde, oder hätte Kopfschmerzen, dann verlor er plötzlich seine Zurückhaltung und sagte offen: „Sie hat Depressionen. Das hat angefangen, als mein Vater gestorben ist.“
„Oh“, Rebecca kam sich plötzlich furchtbar unsensibel vor, weil sie ihn so ausgequetscht hatte und wollte schon sagen, dass er ihr das nicht erzählen müsste, wenn er nicht wollte, doch da sprach er bereits weiter.
„Anfangs hat sie nur ständig geweint, aber das war ja auch noch verständlich, schließlich war mein Vater gerade gestorben, aber irgendwann hat sie angefangen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Sie hat aufgehört zu kochen, die Wäsche zu waschen und all so was. Das hab ich dann irgendwann übernommen, deshalb fühle ich mich vielleicht auch immer noch so verantwortlich für meine Schwestern, weil ich mich damals um sie kümmern musste.“
Sie hatte den Eindruck, als würde es ihm nichts ausmachen darüber zu sprechen. Im Gegenteil, es schien ihm gut zu tun und sie fragte sich, ob er überhaupt schon mal mit jemandem so direkt darüber gesprochen hatte.
„Wie alt warst du denn damals?“ fragte sie jetzt.
„Sechzehn, also schon alt genug.“
Sie warf ihm einen traurigen Blick zu, „Glaubst du dafür gibt es eine Altersgrenze?“
Er atmete tief durch, bevor er antwortete und sie ahnte, dass eine weitere Enthüllung kommen würde, doch auf das was er jetzt sagte war sie nicht gefasst gewesen. „Sie hat versucht sich umzubringen. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Ich hab sie gefunden, als ich aus der Schule kam, und ich bin verdammt froh, dass meine kleinen Schwestern das nicht gesehen haben. Soviel also zur Altersgrenze, lieber ich mit 16 als meine 13- oder meine 11-jährige Schwester.“
Er hatte relativ gelassen gesprochen, doch als sie ihn jetzt ansah, sah sie, dass Tränen in seinen Augenwinkeln glitzerten. Er bemerkte, dass sie ihn beobachtete und wischte sich schnell mit dem Handrücken über die Augen. „Was soll ´s? Mittlerweile geht ´s ihr wieder besser, sie ist in Behandlung, und so.“
„Aber trotzdem hast du Angst, dass es wieder passieren könnte“, stellte Rebecca leise fest. Es musste sehr hart sein, erst seinen Vater zu verlieren, der ja immer eine Art Sicherheitsfaktor, einen Anker darstellte, und dann auch noch zusehen zu müssen, wie seine Mutter sich immer weiter von ihnen entfernte. Er hatte mit einem Mal ganz allein da gestanden, hatte jeden Halt verloren, den ihm seine Eltern zuvor geboten hatten. Im Gegenteil, er musste seiner Mutter von nun an Halt bieten. Und Rebecca ahnte, dass sich daran bis heute nichts geändert hatte. Vermutlich brachte er es einfach nicht mehr fertig, sich auf sie zu verlassen. Wie auch, wenn er immer von der Angst begleitet wurde, sie könnte einen Rückfall erleiden, und das könnte womöglich seine Schuld sein.
Bevor sie wusste was sie tat, hatte sie nach seiner Hand gegriffen und drückte sie leicht. Er blickte sie verwundert an, erwiderte dann aber den Druck ihrer Hand.
Oliver hatte keine Ahnung, warum er Rebecca das alles erzählte. Er kannte sie schließlich kaum. Der einzige, mit dem er jemals darüber gesprochen hatte, war Stephan gewesen und der hatte das ganze Drama damals ohnehin mitbekommen, so dass es nicht nötig gewesen war, ihm alles zu erklären. Das Seltsamste aber war, dass er sich wohl dabei fühlte, es ihr zu erzählen. Er hatte ein paar Mal überlegt, mit jemandem darüber zu reden, war sich aber jedesmal wie ein Verräter vorgekommen, gegenüber seiner Mutter. Doch jetzt gerade hatte er dieses Gefühl überhaupt nicht. Wahrscheinlich, weil sie ihm auf so natürliche Art zeigte, dass sie ihn verstand. Er spürte ihre Hand in der seinen und war einfach zufrieden, sogar ohne Zigarette .
Etwas später lagen sie beide auf dem Rücken im Sand und schauten zu den Sternen hoch. Oliver hielt immer noch ihre Hand und diese Verbindung war Rebecca gleichzeitig angenehm und machte sie nervös, doch sie wollte ihre Hand auf keinen Fall zurückziehen, noch nicht.
„Wie lebt es sich eigentlich als Einzelkind?“ erkundigte er sich mit einem Mal neugierig.
„Was?“ fragte sie verwirrt zurück.
„Wir haben die ganze Zeit über mich geredet, jetzt bist du mal dran!“
Zögernd fügte sich Rebecca in ihr Schicksal, das war wohl nur fair. „Also, ich schätze, ich bin das, was man ein verwöhntes Einzelkind nennt. Total behütet, ich hab nicht immer alles bekommen, was ich wollte, aber meine Eltern haben immer versucht, und das machen sie nebenbei gesagt auch heute noch, mir alles zu ermöglichen. Ich hab Freunde, die sagen, dass mir alles in den Arsch geschoben wird, und vielleicht haben sie recht, aber... es ist nicht so, dass meine Eltern besonders reich sind oder so. Ich mache mir genauso Gedanken über ´s Geld wie andere auch, nur das ich wahrscheinlich besser abgesichert bin, als die meisten anderen. Du siehst, über mich gibt´s nicht viel Interessantes zu sagen.“
„Da wär ich mir nicht so sicher.“ Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. „Aber bevor wir zu den interessanten Fragen kommen: Freunde, die dir so was sagen, also, dass du alles in den Arsch geschoben bekommst, die würde ich an deiner Stelle so schnell wie möglich abschießen.“
Sie zuckte leicht die Schultern: „Du beendest keine jahrelange Freundschaft wegen so einer Nichtigkeit. Außerdem, wie gesagt, irgendwie haben die Leute, die das behaupten ja Recht damit.“
„Nein, haben sie nicht!“ sagte er fest „Nur weil deine Eltern gut für dich sorgen, heißt das nicht, dass du verwöhnt bist, und wenn Leute so neidisch sind, dass sie das trotzdem behaupten, dann sind sie bestimmt nicht das was ich Freunde nennen würde.“
Sie zuckte zur Antwort nur noch leicht die Schultern. Dann fiel ihr etwas ein und sie sagte in ruhigem Ton: „Wie es aussieht, bedeuten mir Freundschaften einfach mehr als dir. Ich finde, einer guten Freundin sollte man ihre Fehler auch verzeihen können, oder einem guten Freund...“
Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah argwöhnisch auf sie runter: „Was soll das denn heißen?“ Sie stützte sich ebenfalls auf ihre Ellbogen, zum einen weil sie sich unwohl fühlte, wenn er so auf sie herab sah, zum anderen, weil es ihr so leichter fiel seine Hand in der ihren zu behalten. Dann antwortete sie ihm in besserwisserischem Ton, weil er sich so dumm stellte: „Was hat Stephan denn so Schreckliches getan, dass du ihm die Freundschaft kündigst?“
„Ich hab ihm nicht die Freundschaft gekündigt!“ antwortete er bestimmt.
Sie lachte kurz auf und meinte dann ironisch: „Nein, du haust sie ihm nur um die Ohren, seit wir hier sind.“
„Das hat er aber auch verdient“, gab Oliver fest zurück. Aus den darauf folgenden Erklärungen, die einigermaßen verworren waren, schloß Rebecca schließlich, dass es zum einen natürlich darum ging, dass Oliver nicht wollte, dass Paula weh getan wurde und zum anderen ging es ihm einfach gegen den Strich, seine kleine Schwester jetzt immer dabei zu haben.
„Es ist nicht, dass ich sie nicht dabei haben will, aber ich bin das ganze Jahr über für sie zuständig, kann ich nicht wenigstens in meinem Urlaub mal diese ganze scheiß Verantwortung hinter mir lassen?“
Sie musterte ihn nachdenklich: „Hör mal, ich glaube, dass ist alleine dein Problem. Deine Schwester ist volljährig und deiner Mutter geht es wieder gut, zumindest im Moment. Versuch doch einfach mal, dich nicht mehr für sie verantwortlich zu fühlen. Und wenn Paula hier doch einen Aufpasser brauchen sollte, dann hat sie ja immer noch Stephan.“
Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren, doch dann glätteten sich seine Gesichtszüge plötzlich: „Du hast Recht. Leider kann ich das nicht so einfach abstellen.“
„Das sollst du ja auch nicht, aber versuch doch einfach, dir nicht mehr ganz so viele Gedanken darüber zu machen.“
Er legte sich zurück in den Sand und gab ein Geräusch von sich, das nach widerwilliger Zustimmung klang.
„Und gib nicht Stephan an allem die Schuld.“ Setzte sie dann noch hinzu und ließ sich ebenfalls wieder neben ihm im Sand nieder.
Ihm fiel auf, dass sie es schon wieder geschafft hatte, von sich abzulenken, aber möglicherweise, war das gar nicht mal so schlecht. Er war vorhin nahe daran gewesen, sich nach ihrem Liebesleben zu erkundigen und vermutlich hätte er sich damit nur wieder eine Abfuhr eingehandelt, und dazu war er noch nicht bereit. Er wollte nicht, dass sie jetzt ihr Temperament auspackte und ihn allein hier sitzen ließ.
Trotzdem, er wollte mehr über sie erfahren, aber wie sollte er das anstellen, wenn sie ihm nur so einsilbig antwortete? Er durchforstete sein Hirn immer noch nach einem guten Thema, als sie plötzlich neben ihm wieder das Wort ergriff: „Was studierst du eigentlich? Ich hab zwar schon stundenlange Vorträge von David, über sein Studium ertragen, aber ich hab keine Ahnung, was du machst.“
Er lachte, als er an Davids Leidenschaft für langweilige Monologe über sich selbst dachte. Sie drehte sich verwirrt zu ihm um und er bemühte sich wieder ernst zu werden. „Ich studiere Architektur. Ist ganz interessant, aber auf dem Arbeitsmarkt sieht´s da im Moment ziemlich schlecht aus.“
„Wo sieht´s da im Moment nicht schlecht aus?“ fragte sie ironisch zurück und er schmunzelte.
„Tja, ich schätze unsere Generation hat die Arschkarte, wir Armen.“ Seine Stimme troff geradezu vor Ironie. Aber es stimmte doch, immer diese Schwarzseherei, klar ging es mit der Wirtschaft bergab, aber mal ehrlich gerade ihre Generation lebte doch im absoluten Überfluss, und schließlich musste es doch immer erst mal bergab gehen, bevor es wieder bergauf gehen konnte. Solange er noch nicht verhungerte, weigerte er sich sich selbst Leid zu tun, zumindest was seine Lebensumstände betraf.
Er besann sich darauf, dass er jetzt die Chance hatte endlich mal etwas über sie zu erfahren: „Und was studierst du?“
„Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaften. Und bevor du fragst, ich will Journalistin werden, wie so viele.“ Den letzten Teil setzte sie mit einer Art von trotzigem Widerspruch hinzu. Es hörte sich an, als würde sie sich darüber ärgern, mit so vielen anderen in einen Topf geworfen zu werden. Er reagierte mit seiner nächsten Frage auf diese indirekte Botschaft: „Und, warum willst du das machen, weil dir nichts besseres eingefallen ist, wie so vielen anderen, oder ist es so was wie Berufung?“
Scheinbar hatte er genau das Richtige gesagt, denn sie sprach nun wesentlich entspannter weiter: „Berufung würde ich es nicht gerade nennen. Aber seit ich denken kann will ich schreiben, und für Romane reicht meine Fantasie nicht. Das hab ich schon versucht...“ Ihr trockener Ton entlockte ihm ein Lächeln „Und wenn ich wieder irgendeinen Bericht über Kinder in der dritten Welt sehe, hab ich das Bedürfnis etwas zu verändern, und ich glaube nicht, dass Politik mein Ding wäre. Ich denke, dass Journalismus mir eine Möglichkeit bietet, Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen und sie damit vielleicht zu verändern, obwohl das wahrscheinlich eine sehr idealistische Vorstellung ist.“
Er zuckte die Schultern: „Selbst wenn du keinen Erfolg haben solltest, alles ist besser, als es gar nicht erst zu versuchen.“
Sie nickte.
Wieder versanken sie in Schweigen, und er spürte, wie er langsam müde wurde. Ihr ging es scheinbar nicht anders, denn kurz darauf hörte er sie leise gähnen und er dachte, dass sie wohl besser wieder reingehen sollten, denn die Nacht war recht frisch geworden. Doch bevor er diesen Gedanken ausführen konnte, war er auch schon eingeschlafen.
Rebecca erwachte vom Plätschern der Wellen und brauchte einen Moment um zu begreifen wo sie war. Dann spürte sie den Sand unter ihrem Körper und den Arm, der um ihre Taille lag und schlagartig fiel es ihr wieder ein. Sie war nachts aufgewacht und zum Strand gegangen, wo sie Oliver getroffen hatte, und scheinbar waren sie hier eingeschlafen. Sie spürte ein kurzes Kribbeln im Bauch, als ihr bewusst wurde, dass sie hier in seinem Arm lag. Doch ihr wurde eben so schnell klar, dass das eigentlich völlig unspektakulär war, da sie sich wahrscheinlich nur im Schlaf zu ihm gedreht hatte, und er war es eben noch gewohnt, mit seiner Freundin im Bett zu liegen...
Er regte sich hinter ihr und schien auch langsam aufzuwachen.
Sie spürte, wie er sie etwas enger an sich zog. „Guten Morgen“, flüsterte er. Es fühlte sich gut an. Doch sie wollte nicht Gefahr laufen, dass er wieder mehr versuchte und so schob sie seinen Arm von ihrer Taille und setzte sich langsam auf.
Ihre Haut fühlte sich kühl an und ihre Glieder waren steif gefroren. Sie sah zum Himmel, es war schon hell, aber den Temperaturen nach zu schließen, war es noch früh am Morgen. Sie drehte sich zu Oliver um, der sich ebenfalls aufgesetzt hatte: „Hast du eine Uhr an?“ Seine Haare waren verwuschelt und sandig, genau wie ihre vermutlich. Er nickte benommen und warf einen Blick auf sein Handgelenk. „Halb acht.“
Sie stand auf und versuchte, sich den Sand von den Beinen und von ihrem Kleid zu klopfen. „Wir sollten wohl besser zum Haus zurückgehen“, schlug sie vor und stellte fest, dass das mit dem Sand ein aussichtsloses Unterfangen war.
Er nickte nur zur Antwort und sie gingen nebeneinander her zurück zur Straße. Ihre Füße sanken tief in den kalten Sand ein. Bevor sie die Straße erreichten hielt er sie am Arm fest: „Hey, ich wollte dir nur sagen,...ich... ich fand es wirklich schön mit dir.“
Sie nickte ihm lächelnd zu: „Fand ich auch.“
Kapitel 5
Wieder im Haus stellte Rebecca sich erst einmal unter die warme Dusche. Sie musste ihre kalten Glieder etwas aufwärmen und wollte den Sand aus ihren Haaren bekommen. Nachdem sie im Bad fertig war, legte sie sich nochmal ins Bett.
Als sie schließlich wieder aufstand und nach unten ging war es bereits kurz nach zwölf. Die anderen begrüßten sie fröhlich und drängten sie, sich so schnell wie möglich fertig zu machen, damit sie losfahren könnten.
„Losfahren?“ fragte sie verwirrt und Manu lachte. „Ja, du hast doch selbst vorgeschlagen, dass wir mal einen Ausflug machen.“
Rebecca schlug sich leicht mit der flachen Hand an die Stirn: „Klar, hatte ich doch glatt vergessen.“
„Irgendwie bist du heute Morgen komisch...“, meinte Manu kopfschüttelnd.
„Ziemlich verpeilt“, gab Timm ihr grinsend recht. „Soviel hast du doch gestern Abend gar nicht getrunken, oder?“
Rebecca spürte, wie sie rot wurde und steckte schnell ihre Nase in die Kaffeetasse. Oliver hatte ihnen doch wohl nichts erzählt. „Hab schlecht geschlafen“, murmelte sie schließlich zur Antwort, und da die beiden es dabei bewenden ließen, dachte sie sich, dass Oliver wohl doch den Mund gehalten hatte.
Leider mussten sie später feststellen, dass David Recht gehabt hatte. Die einzige Stadt, in der Nähe war ein winziges Touristenkaff. Dennoch verbrachten sie den Nachmittag dort, gingen essen, bummelten durch die drei oder vier kleinen Geschäfte und sahen sich den winzigen Fischerhafen an.
Erstaunlicherweise war das Wasser hier türkisblau und glasklar. Nicht zu vergleichen mit der dreckigen Brühe, die man sonst aus Hafenbecken kannte.
„Da kriegt man direkt Lust reinzuspringen!“ meinte Rebecca unbedacht. Oliver musterte sie mit einem berechnenden Blick. „Ach ja? Na, das lässt sich machen!“, doch bevor er sie packen und ins Wasser werfen konnte, war sie ihm ausgewichen. „Vergiss es, wenn du das machst, gibt´s Ärger!“ rief sie ihm grinsend zu. „Soll das eine Drohung sein?“ fragte er ebenfalls mit einem dreisten Grinsen zurück, doch er ließ es für ´s erste gut sein.
Gegen Abend, bevor sie fahren wollten, beschlossen Manu und Timm, dass sie sich nochmal in den Geschäften umsehen wollten. Die anderen setzten sich mit einem Eis an den Hafen und ließen die Beine baumeln.
Rebecca saß zwischen David und Olli und warf Oliver direkt einen warnenden Blick zu, er sollte bloß nicht auf blöde Ideen kommen. Zunächst war er auch friedlich, doch Rebecca traute ihm nicht und blieb wachsam. Sie hatten mit Manu und Timm ausgemacht, dass die beiden zum Hafen kommen sollten, wenn sie fertig waren. So warteten sie nun, nachdem das Eis aufgegessen war und selbst Rebecca merkte, dass sie sich langsam doch auf Zuhause freute. Da spürte sie auf einmal einen Arm um ihre Taille und wurde auch schon ins Wasser befördert. Geistesgegenwärtig drehte sie sich aber um und hielt sich an dem Arm fest, so dass sie nicht alleine im Wasser landete.
Prustend und lachend tauchte sie wieder auf und wich aus, als Oliver sich wie ein Hund schüttelte, um das Wasser aus den Haaren zu bekommen.
Er lachte sie an: „Du Biest, ich hätte wissen müssen, dass du das probierst.“
„Tja, ich hab doch gesagt, du kriegst Ärger, wenn du das machst!“
In dem Moment kamen Manu und Timm, mit einem Blick erfasste Timm die Situation: „Man, müsst ihr so kindisch sein?!“ Doch er lachte dabei, genau wie die anderen auch.
Rebecca wandte sich wieder zu Oliver um: „Und wie kommen wir jetzt wieder hier raus?“
„Willst du schon wieder raus? Ich dachte, du wolltest unbedingt schwimmen?“
Sie holte aus und spritze ihn ordentlich nass. Er tauchte unter und zog sie unter Wasser, als sie etwas später wieder an die Oberfläche kam, hörte sie Timms Stimme, diesmal schon in etwas genervterem Ton: „Wenn ihr fertig seid mit euren Kindereien, dann könntet ihr vielleicht mal aus dem Wasser kommen, wir warten!“
Oliver sah zu ihm hoch und murmelte etwas von „Spielverderber“, doch dann hellte sich seine Miene auf: „Warum fahrt ihr nicht einfach schon mal vor, und wir kommen dann mit meinem Auto nach?“
Die anderen willigten ein und verschwanden. Rebecca ärgerte sich ein bißchen, dass er einfach über ihren Kopf hinweg entschied, doch sie hatte keinen Grund das Arrangement abzulehnen. Als die Anderen verschwunden waren, sah sie Oliver fragend an: „Und jetzt?“
Er zuckte die Schultern, so gut das eben im Wasser ging: „Kommt darauf an, bist du genug geschwommen, oder willst du noch ein bißchen?“
„Haha! Als wäre das hier meine Idee gewesen!“ gab sie schnippisch zurück.
„Na dann, würde ich sagen, raus aus dem Wasser.“ Er drehte sich um und schwamm ein Stück an der Hafenmauer entlang bis zu einer Stelle, an der eine kleine Steintreppe eingelassen war. Sie folgte ihm langsamer und er saß schon auf der untersten Stufe und half ihr aus dem Wasser, als sie die Stelle erreichte. So gut es ging wrang sie ihr Kleid aus, doch sie war klatschnass, und da die Luft schon wieder abkühlte bestand auch nicht die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch von selbst trocknen würde. Nachdem sie ihre Schuhe geholt hatten, die immer noch an der Stelle standen, an der sie zuvor gesessen hatten, gingen sie langsam zurück zu seinem Auto.
Er schloß auf und kletterte hinten in den Bus, um gleich darauf mit zwei frischen Handtüchern wieder aufzutauchen. „Hier.“ Er reichte ihr eins und sie begann langsam sich die Haare trocken zu rubbeln. Im Gegensatz zu ihren eigenen langen Haaren waren seine kurzen nach ein paar Minuten trocken und er hängte sich das Handtuch um den Hals und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an. Dann musterte er sie: „Du hast schon Gänsehaut an den Armen, wenn du willst, kannst du ein trockenes T-Shirt von mir haben...“
Zögernd willigte sie ein. Er holte ihr sein Ersatz T-Shirt und sie stieg in den Wagen und schloß die Tür hinter sich um sich umzuziehen. Es war gemütlich hier drinnen stellte sie fest. Obwohl es im hinteren Bereich keine Fenster gab, drang doch genug Licht durch den Vorhang, der diesen Teil des Wagens von den Fahrersitzen abtrennte. Es gab ein breites Bett, kaum mehr als eine etwas erhöhte Matratze und ein paar verschließbare Schrankfächer. Die Wände waren mit zwei, drei Filmpostern verschönert.
Sie schlüpfte schnell aus ihrem nassen Kleid und zog sein T-Shirt über, es reichte fast bis über ihre Oberschenkel, was ihr aber nicht sehr viel ausmachte, wieso auch, schließlich hatte er sie auch schon im Bikini gesehen, und dieser Aufzug war bestimmt nicht freizügiger als ihr Bikini. Sie überlegte einen Moment, dann zog sie auch ihren nassen BH unter dem T-Shirt aus, der Vorteil, wenn man nur Körbchengröße B hatte, und wickelte ihn in ihr Kleid ein. Dann ging sie wieder zu ihm raus. Er hatte seine Zigarette mittlerweile ausgemacht und warf ihr einen fragenden Blick zu: „Können wir los?“
„Von mir aus immer, Schatz!“ gab sie lässig zurück, und genoß sein darauffolgendes Lachen.
Als sie schweigend nebeneinander im Auto saßen, merkte Rebecca, dass die Vertrautheit, die sie am vorigen Abend mit ihm gespürt hatte noch immer da war. Sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart, selbst wenn sie, wie jetzt, nur wortlos nebeneinander saßen.
Kapitel 6
Die beiden darauffolgenden Tage waren relativ ereignislos. Sie verbrachten die meiste Zeit am Strand und die Abende auf der Terrasse. In der dritten Nacht nach ihrem Ausflug hörte Rebecca ein Geräusch vor ihrem Fenster, als sie sich gerade ins Bett legen wollte. Zuerst dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet, doch dann hörte sie es erneut, ein Klacken, als würde... ja genau, da warf jemand Steinchen gegen ihr Fenster. Sie zögerte einen Moment, dachte dann aber, dass es wohl kaum gefährlich sein könnte, aus dem Fenster zu sehen, schließlich schlief sie im ersten Stock, und wer auch immer da ihre Aufmerksamkeit erregen wollte, er konnte bestimmt nicht fliegen.
Als sie den Kopf aus dem Fenster streckte, sah sie, dass der Störenfried kein anderer war, als Oliver.
„Was zum Teufel machst du da?!“ zischte sie ihn gedämpft an. „Kannst du nicht wie jeder normale Mensch einfach an meine Tür klopfen?“
Er legte kurz den Zeigefinger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, dass sie leise sein sollte. „Zieh dich an und pack ein paar Klamotten ein, ich erklär´ es dir, wenn du rauskommst.“
Sie musste dem Impuls widerstehen, ihn sofort und lautstark zur Rede zu stellen. Stattdessen knallte sie das Fenster vielleicht etwas zu fest zu und trat zurück in ihr Zimmer. Was hatte er gesagt? Sie sollte sich anziehen und ein paar Klamotten einpacken. Sie erwog einen Moment, ihm die kalte Schulter zu zeigen und gar nicht erst runter zu gehen, doch sie war zu neugierig, was er von ihr wollte. Obwohl sie es sich schon fast denken konnte. Sie stopfte einen Rock, ein Kleid und zwei Oberteile in ihren Rucksack, noch etwas Unterwäsche und ihren Bikini. Dann fiel ihr ein, dass Zahnbürste und Shampoo wahrscheinlich auch nicht so verkehrt waren, wenn er wirklich das vorhatte, was sie vermutete.
Ein paar Minuten später stand sie in Jeans und Top vor ihm, mit gepacktem Rucksack und hatte ihre Jeansjacke unterm Arm, gegen eventuelle Kälteeinbrüche.
„So, kannst du mir jetzt endlich sagen was eigentlich los ist?“ Obwohl sie nicht wütend war, gab sie ihrer Stimme einen gereizten Ton. Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, dass sie sofort angelaufen käme, wenn er nach ihr rief.
„Ich entführe dich!“ sagte er fröhlich.
Sie blickte ihn mit gehobenen Brauen an: „Was?!“
„Komm schon, noch zwei Tage hier und wir gehen ein vor Langeweile.“ Er drehte sich um und ging zu seinem Bus, offensichtlich war die Diskussion für ihn damit beendet.
„Warte mal!“ rief sie ihm scharf nach: „Was ist mit den anderen?“
Er stand mittlerweile an der Beifahrertür und wartete darauf, dass sie einstieg. „Keine Sorge, denen hab ich einen Zettel geschrieben.“
„Aha, einen Zettel...“, brummelte sie leise, doch sie stieg ein, ohne sich weiter zu wehren. Ihr kam der Gedanke, dass das jetzt doch langsam ziemlich nach einer Urlaubsaffäre aussah. Erst die gemeinsame Nacht am Strand, gut, es war nichts passiert, aber trotzdem, und jetzt diese Entführung...
Sie wusste, dass sie wieder einmal mit ihren Gefühlen spielte, aber wer konnte das schon so genau wissen. Vielleicht hatte Manu ja auch recht, warum sollte keiner mehr eine Chance bei ihr haben, nur weil sie früher enttäuscht worden war. Und immerhin hatte sie mittlerweile den Eindruck, dass er ein ganz netter Kerl war, vielleicht ein bißchen zu selbstbewusst, aber das machte ihn ja gerade so attraktiv.
Sie verließen das Dorf in dem ihr Ferienhaus stand, als ihr auffiel, dass sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wohin die Fahrt eigentlich gehen sollte.
„Wohin fahren wir denn?“
Er warf ihr ein kurzes charmantes Lächeln zu: „Seit wann sagt man Leuten, die entführt werden, wohin man sie bringt?“
Im Prinzip hatte er nichts dagegen, ihr zu sagen, wo sie hin fuhren, doch es machte ihm zuviel Spaß, sie ein bißchen zu necken, als dass er ihr die Information kampflos gegeben hätte.
Entgegen seiner Erwartungen wurde sie jedoch nicht wütend. Im Gegenteil, er sah aus dem Augenwinkel, dass sie langsam nickte. „Ja, das sehe ich ein. Aber wie steht es mit den Gründen für diese Entführung, oder sind die auch top secret?“
Ihm lagen mehrere Antworten auf der Zunge, doch er entschied sich für die zurückhaltendste: „Hab ich dir doch schon gesagt, mir war langweilig.“
Wieder nickte sie: „Dann hättest du auch David entführen können. Hätte bestimmt weniger Mühe gemacht... Dabei fällt mir ein, was sollte das mit den Steinchen, du hättest auch einfach an meine Tür klopfen können.“
„Erstens David redet zu viel“, begann er ernsthaft, „und zweitens, das mit den Steinchen wollte ich schon immer mal machen.“
„Aha, David redet zuviel... und ich nicht?“ sie warf ihm einen skeptischen Blick zu.
„Doch, langsam glaube ich es kommt auf dasselbe raus, aber du siehst definitiv besser aus als David!“ Ihm fiel auf, dass sie ein bißchen rot wurde, was er irgendwie süß fand, doch sie überspielte ihre Verlegenheit und meinte ironisch: „Ja, ja, wer braucht schon einen guten Charakter, wenn er ein gutes Aussehen hat?“
Er grinste vor sich hin, da ihm gerade etwas einfiel, er wollte es erst nicht sagen, doch dann konnte er sich nicht zurückhalten: „Ich scheinbar. Schließlich hast du selber gesagt: für dich muss ich mir schon ein bißchen mehr einfallen lassen, als nur gut auszusehen.“
Sie lachte kurz auf: „Ach so, dann willst du mich hiermit“, sie machte eine ausschweifende Handbewegung, „also beeindrucken?“
„Ich bezweifle, dass das ausreichen würde, um dich verwöhntes Einzelkind zu beeindrucken. Ich schätze, da muss ich mir noch einiges einfallen lassen.“
Sie nickte: „Ja, das glaube ich auch!“
Sie fuhren noch ein bißchen damit fort, sich zu necken und gut gemeinte Beleidigungen auszutauschen. Rebecca war sehr froh darüber, da sie es im Moment leichter fand, mit ihm herum zu witzeln, als ein ernsthaftes Gespräch zu führen.
Irgendwann merkte sie jedoch, wie die Müdigkeit zurückkehrte und sie wickelte sich in ihre Jacke und kuschelte sich in den Sitz.
Oliver überlegte, ob er sie wecken und ihr sagen sollte, dass sie sich nach hinten auf das Bett legen konnte, doch er war zu egoistisch. Er genoß es sie in seiner Nähe zu haben. Aber es verwirrte ihn ein wenig, dass er so für sie empfand. Er versuchte vergeblich, sich einzureden, dass er an ihr bloß ein oberflächliches Interesse hatte. Anfangs war es vielleicht noch so gewesen, aber seit dieser gemeinsamen Nacht am Strand fühlte er sich ihr auf eine seltsame Art verbunden. Gleichzeitig aber sagte er sich, dass er verrückt war. Sie hatten sich einfach nur gut unterhalten und er sollte nicht zuviel da rein interpretieren. Dennoch, die letzten beiden Nächte hatte er lange wach gelegen und nachgedacht, über sie und über alles, worüber sie gesprochen hatten. Und die Tage hatten ihm nicht eben eine gute Ablenkung von seinen Gedanken beschert. So hatte er beschlossen, dass er mal raus musste. Seine Freunde waren es gewohnt, dass er manchmal solche Aktionen riss, seine Schwester würde vielleicht ein bißchen Stress machen, aber das war erstmal Stephans Problem. Er hatte sein Handy zwar mitgenommen, aber er hatte es ausgeschaltet. Es schadete bestimmt nichts, wenn er ein paar Tage lang einfach mal nicht erreichbar war.
Langsam begann es zu dämmern. Noch ungefähr zwei Stunden, bis Neapel, sie würden pünktlich zum Frühstück dort ankommen.
Er fragte sich, ob sie diese Verbundenheit wohl auch spürte. Quatsch, wahrscheinlich redete er sich das einfach nur ein. Andererseits war sie, ohne viel Theater zu machen, direkt in sein Auto eingestiegen...
Er würde sehen, was die nächsten Tage brachten.
Sie hatten den Bus an der ersten Parkmöglichkeit abgestellt und waren zu Fuß in Richtung der Innenstadt geschlendert. Unglaublich, dachte Rebecca, obwohl es noch so früh am Morgen war, waren die Straßen schon total verstopft. Ihr fiel auf, dass man kaum ein Auto neueren Datums sah. Fast alle Autos hatten Roststellen, Schrammen und Dellen, aber das wunderte sie auch nicht mehr, nachdem sie gesehen hatte, wie hier gefahren wurde.
Sie frühstückten in einem Straßencafe und genossen es, die vorübereilenden Leute zu beobachten.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich es mal irgendwann so toll finden würde, einfach nur Menschen um mich zu haben“, meinte Rebecca irgendwann, es hörte sich an, als wäre sie über sich selbst überrascht.
Aber Oliver musste ihr recht geben: „Ja, eigentlich bin ich nicht der Typ der ständig Unterhaltung und Party braucht, aber wenn ich noch einen Tag lang in dieser Einöde hätte verbringen müssen...“
Sie lachte: „Oh ja! Vor allem weil wir wirklich alle die ganze Zeit aufeinander hängen. Es ist doch klar, dass man sich dann schnell ankotzt.“
Er nickte, dann wechselte er zu einem anderen Thema: „Also, was wollen wir heute machen?“
„Gute Frage!“ sie überlegte, was wollte sie gerne machen? Ein bißchen Bummeln gehen wäre nicht schlecht, ob es hier irgendwelche interessanten Sehenswürdigkeiten gab?
„Du hast nicht zufällig einen Reiseführer dabei, oder?“ Oliver verneinte lachend. Da kam ihr eine Idee. „Aber hier gibt es doch bestimmt einen Strand, oder?“
Er starrte sie mit offenem Mund an und brauchte einen Moment, bis er seine Sprache wieder gefunden hatte: „Das ist nicht dein Ernst, oder? Willst du wirklich an den Strand? Da hätten wir ja gleich Zuhause bleiben können!“
Sie musste fast lachen, so lustig fand sie seine offene Entrüstung, doch sie riss sich zusammen und versuchte es zu erklären: „Nein, ich meine, ich würde einmal in diesem Urlaub gerne an einem Strand liegen, der voll mit Menschen ist. Ich weiß, das ist bescheuert, alle anderen wünschen sich immer, dass sie mal ´nen Strand für sich alleine haben, aber ich will einfach nur da liegen, die anderen Leute beobachten und vielleicht ein bißchen über die lästern, die dicker sind als ich.“
Er sah sie einen Moment an, dann nickte er: „Ok, ich bin dabei.“
„Super!“ Sie freute sich wie ein kleines Kind und wäre am liebsten aufgestanden und ein bißchen durch die Gegend gehüpft.
„Übrigens glaube ich nicht, dass es eine große Kunst ist dicker zu sein als du“, sagte er mit einem mal ernsthaft.
Sie warf ihm einen Blick zu, der so etwas sagte wie: entweder bist du ein bißchen verwirrt, oder hast absolut keine Ahnung, worum es hier geht. Entsprechend fiel dann auch ihre Antwort aus: „Danke, aber ich glaube, du brauchst eine Brille, du kannst eindeutig nicht besonders gut sehen.“ Das sagte sie in einem derart mitleidigen Ton, dass er laut lachen musste.
Bevor er jedoch noch etwas dazu sagen konnte, wechselte sie das Thema: „Sollten wir eigentlich die anderen nicht mal anrufen? Nur um kurz Bescheid zu sagen.“
Er schüttelte den Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung: „Das können wir auch heute Abend noch machen, oder morgen, oder irgendwann anders.“
„Ich seh´ schon, du befolgst meinen Rat, was die Verantwortung betrifft.“
„Wird schon nicht die Welt untergehen, wenn die mich mal ein paar Tage nicht erreichen können“, stimmte er ihr zu.
Am Strand stellte Oliver fest, dass das körperliche Interesse, das er von Anfang an an ihr gehabt hatte, keineswegs kleiner geworden war. Im Gegenteil, er musste sich immer wieder zwingen den Blick von ihr abzuwenden. Sie hatte wirklich einen Knall, wenn sie dachte, dass sie zu dick wäre. Ihre langen, schlanken und braungebrannten Beine waren einfach der Hammer und ihr Hintern sah in der kleinen roten Bikinihose perfekt aus. Gut, ihr Busen hatte nicht gerade Dolly-Buster-Format, aber es war definitiv genug.
Was ihn aber wirklich fast verrückt machte, waren ihre glänzenden braunen Haare, die ihr im Moment noch offen auf die Schultern herabhingen. Er konnte dem Verlangen, einfach die Hand auszustrecken und darin herum zu wühlen kaum widerstehen. Gerade stützte sie sich auf ihre Ellbogen auf und schenkte ihm ein Lächeln aus ihren wahnsinnig dunklen Augen: „Ich frage mich gerade, was die anderen wohl darüber denken werden, dass wir zusammen abgehauen sind.“
Er lehnte sich zurück und legte einen Arm über die Augen. „Was sollen die schon denken? Wahrscheinlich, dass wir miteinander schlafen.“
Er musste sich zusammenreißen, um die Augen nicht zu öffnen und zu sehen, welche Wirkung seine Worte auf sie hatten. Er schockierte sie gerne ein bißchen, aber diesmal war ja auch ein Stück Wahrheit dabei. Timm und Stephan würden sich nur einmal angucken und hätten ihr Urteil gefällt und er kannte sie gut genug um zu wissen, wie dieses Urteil ausfallen würde.
„Tja, und wieder denken alle nur an das eine“, sagte sie resigniert.
Er setzte sich auf: „Komm, lass uns ins Wasser gehen!“
Später überlegte Rebecca, ob es wohl Berechnung von ihm gewesen war, von dem Sex-Thema abzulenken, in dem er sie aufforderte mit ihm ins Wasser zu kommen. Wollte er ihr damit irgendetwas sagen, so in die Richtung, dass er nicht zu denen gehörte, die nur auf das Eine aus waren. Nein, das war wahrscheinlich eher ein Wunschtraum von ihr.
Am Nachmittag packten sie ihre Sachen zusammen. Sie schlüpfte in ihre Jeans und ein weißes Top mit V-Ausschnitt, das für ihre Verhältnisse ziemlich tief ausgeschnitten war. Da es immer noch warm war, krempelte sie die Jeans so gut es ging hoch. Er trug kurze Hosen, die eigentlich nicht wirklich kurz waren, da sie ihm immer noch bis über die Knie reichten und ein matschgrünes T-Shirt mit irgendeiner Aufschrift, die Rebecca nicht sehr viel sagte. Aber sie fand, dass er toll aussah. Sportlich, mit seinem hübschen Gesicht und den faszinierenden blauen Augen.
Sie trug ihre Flip Flops in der Hand und ging barfuß durch den heißen Sand. Als sie die Strandpromenade erreichten, brannten ihre Fußsohlen und sie klatschte die Schuhe so schnell wie möglich auf den Boden und schlüpfte rein. Da hörte sie plötzlich wie jemand von der Straße her ihren Namen rief. Verwirrt sah sie sich um.
Ein Pärchen steuerte direkt auf sie zu. Das durfte doch nicht wahr sein! Björn, der Kerl, mit dem sie ein halbes Jahr lang keine Beziehung gehabt hatte. Und vermutlich war das zierliche blonde Geschöpf an seiner Hand die Glückliche mit der er jetzt eine Beziehung hatte.
Sie drehte sich schnell nach Oliver um, der ihr einen fragenden Blick zu warf und neben sie trat. „Freunde von dir?“ fragte er leise.
„So ´ne Art Exfreund“, antwortete sie, da sie nicht wusste, wie sie es anders beschreiben sollte. Er zog fragend die Brauen hoch, doch sie hatte keine Zeit mehr für weitere Erklärungen, da Björn und seine Freundin gerade vor ihnen zum Stehen kamen.
„Rebecca, hallo! Wie geht´s dir? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.“ Er umarmte sie mit einem strahlenden Lächeln.
„Hi Björn.“ Sie löste sich so schnell wie möglich von ihm und setzte ein höfliches, aber distanziertes Lächeln auf.
„Ist ja krass“, begann er direkt wieder, „da haben wir uns in Köln schon seit mindestens ein, zwei Monaten nicht mehr gesehen und jetzt treffe wir uns hier.“
Sie nickte, wenig begeistert, aber zu höflich um ihn einfach stehen zu lassen. Er besann sich auf das Mädchen neben ihm und zog sie ein Stück nach vorne. „Das ist Lena, meine Freundin.“
Rebecca hätte kotzen können, stattdessen setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf und schüttelte der anderen die Hand. Zu ihrem Entsetzen lächelte diese Lena ebenfalls freundlich zurück, was Björn ihr wohl so alles von ihren Vorgängerinnen erzählt hatte? Sie wollte lieber gar nicht darüber nachdenken. Naja, vielleicht war sie ja auch einfach nur nett, das wäre dann doppelt ärgerlich, der Kerl hatte kein so hübsches Mädel verdient und wenn, dann sollte sie doch wenigstens total unsympathisch sein!
Ihr wurde bewusst, dass sie Oliver vorstellen musste. Doch er reagierte schneller als sie. Er hob kurz die Hand zum Gruß und sagte: „Hi. Ich bin Oliver,...Rebeccas Freund.“ Dabei nahm er mit der Anderen ihre Hand. Vor Überraschung wäre ihr fast die Kinnlade runtergesackt, doch sie riss sich schnell zusammen und setzte wieder ein unverbindliches Lächeln auf.
Es bereitete ihr Genugtuung zu sehen, dass Björn Oliver mit einem Blick musterte, den man durchaus als eifersüchtig bis feindselig hätte einstufen können. Sie tauschte noch ein paar Neuigkeiten mit ihm aus, hauptsächlich über gemeinsame Bekannte, bis Oliver schließlich meinte, sie müssten jetzt langsam los.
Sie verabschiedete sich hastig, bevor die beiden auf die Idee kommen konnten, zu fragen, ob sie nicht mal Zeit hätten, sich mit ihnen zu treffen.
Als sie ein paar Schritte gegangen waren und nicht mehr die Gefahr bestand, dass Lena oder Björn sie hören konnten, atmete Rebecca erstmal tief durch und bedankte sich dann bei Oliver für seine Hilfe.
„Kein Problem“, meinte er lächelnd. „Und jetzt erzähl mir mal bitte, was so ´ne Art Exfreund ist.“
Er hielt immer noch ihre Hand. Sie drehte sich um und als sie feststellte, dass Björn nirgendwo mehr zu sehen war zog sie ihre Hand zurück.
„So eine Art Exfreund ist jemand, mit dem man zwar zusammen war, aber keine Beziehung hatte“, meinte sie schnell, und hoffte, dass er nicht weiter nachfragen würde. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht, jetzt hatte er einmal Lunte gerochen und wollte es genau wissen. „Wie geht das denn? Zusammen sein aber keine Beziehung haben`“
Sie spürte, wie sie langsam rot wurde und das ärgerte sie, schließlich war sie doch keine vierzehn mehr. Nicht dass sie sich mit zwanzig viel reifer fühlte, als mit vierzehn, aber trotzdem! Warum sollte sie also um den heißen Brei herum reden? Schließlich waren sie beide mehr oder weniger erwachsene Menschen.
Und so biß sie halt in den sauren Apfel: „Wenn du es unbedingt wissen musst, wir haben ein halbes Jahr lang miteinander geschlafen, aber mehr nicht.“
Er pfiff neben ihr leise durch die Zähne. „Hätte ich gar nicht von dir gedacht.“
Sie sah ihn wütend an: „Danke, das hört man doch gern!“
„So war das jetzt nicht gemeint“, erklärte er schnell, „Ich dachte nur, nachdem du mir letztens so eine Abfuhr erteilt hast...“
„Oh.“ Sie war ein wenig peinlich berührt, als er ihr Verhalten ihm gegenüber erwähnte.
Sie steuerte die nächste Strandkneipe an: „Komm wir gehen was trinken, dann können wir meinetwegen über sämtliche Arten von Exfreunden reden!“
Ein paar Minuten später saßen sie an einem Tisch im Freien und hatten ihre Bestellung aufgegeben, Oliver lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Rebecca fragend an: „Du wolltest mir doch irgendwas erzählen.“
Sie nickte: „Ja,... eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass... diese Abfuhr letztens, das hatte eigentlich nichts mit dir zu tun.“
„Das freut mich aber!“ sagte er trocken.
Sie streckte ihm die Zunge heraus, weil sie das Gefühl hatte, dass er es ihr noch schwerer machte. Aber jetzt hatte sie einmal angefangen, da konnte sie auch gleich ganz ehrlich sein, und er wusste dann immerhin, woran er war. Zumindest, falls er wirklich ein, wie auch immer geartetes, Interesse an ihr hatte.
„Nein, ich meine, nach der Sache mit Björn hab ich mir vorgenommen, dass ich nichts mehr mit jemandem anfangen will, dem nichts an mir liegt.“ Sie machte eine Pause und sah ihn Verständnis heischend an. „Du hast das also gar nicht so falsch verstanden, ich bin nicht mehr für eine Nacht zu haben.“
Er nickte. „Wahrscheinlich keine schlechte Entscheidung.“ Er überlegte einen Moment, dann fragte er sie direkt: „Warst du in ihn verliebt?“
„Ja.“ Sie lächelte ein bißchen traurig. „Deshalb tat es ja so weh. Er hat unsere... Affäre beendet, weil er dann doch lieber eine feste Freundin wollte.“
„Autsch!“ Oliver kniff die Augen zusammen „Das tut wirklich weh.“
Sie zuckte die Schultern: „Und wie sieht das bei dir aus? Eher Herzen, die du gebrochen hast, oder umgekehrt?“
Sie blieben noch bis Spätabends sitzen und redeten. Irgendwann meinte Oliver aber doch, dass es langsam an der Zeit wäre zum Bus zurück zu gehen. Nachdem sie aufgestanden war, bemerkte Rebecca erst, wieviel Alkohol sie eigentlich getrunken hatte und sie musste sich sehr bemühen, um nicht zu sehr zu schwanken. Plötzlich griff Oliver wieder nach ihrer Hand. „Ich fühle mich besser, wenn ich dich irgendwie davon abhalten kann, versehentlich auf die Straße zu torkeln.“
Sie blickte zu ihm auf und versuchte einen Moment lang vergeblich, ihren Kopf ganz klar zu bekommen, dann sagte sie so würdevoll sie konnte: „So betrunken bin ich nun auch nicht.“
„Hab ich ja auch nicht gesagt, oder?“
Als sie den Bus endlich wieder gefunden hatten, kein besonders einfaches Unterfangen, war Rebecca so müde und erledigt, dass sie sich direkt auf die Matratze fallen ließ und am liebsten gar nicht mehr aufgestanden wäre.
Sie raffte sich dann doch nochmal auf, weil sie keine Lust hatte in Jeans zu schlafen. Allerdings war sie schon so erschöpft, dass es ihr egal war, dass Oliver ihr gerade zusah. Er hatte sie ohnehin schon im Bikini gesehen. Sie schlüpfte schnell aus ihrer Jeans und ihrem Top, doch als sie gerade nach ihrem T-Shirt greifen wollte sah sie auf und begegnete seinem Blick. Oliver stand vielleicht zwei Schritte von ihr entfernt. Sie wusste, dass es besser gewesen wäre, den Blick abzuwenden, doch sie schaffte es nicht, und plötzlich trat er nach vorne und beugte sich zu ihr herunter.
Sanft strichen seine Lippen über ihre, sie kam ihm etwas entgegen und spürte seine Zunge in ihrem Mund. Seine Hände zogen sie näher an seinen Körper und sie spürte, wie ihr Herz zu hämmern begann und ihr Bauch kribbelte. Als sie merkte, wie seine Hände zum Verschluß ihres BHs wanderten, wurde ihr bewusst, dass sie das eigentlich nicht wollte. Sie schob ihn sanft aber bestimmt ein Stück von sich weg.
Er sah fragend auf sie herunter.
„Ich will das jetzt noch nicht“, flüsterte sie leise. Er strich ihr nachdenklich mit dem Handrücken über die Wange und schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann bückte er sich und reichte ihr ihr T-Shirt.
Sie schlüpfte rein und krabbelte dann zu ihm ins Bett. Unter der dünnen Decke griff sie nach seiner Hand. Zu ihrer Verwunderung zog er sie jedoch wieder weg, doch nur um sich auf die Seite zu drehen und Rebecca in seinen Arm zu ziehen. „Ich wollte dir noch sagen“, begann er leise, „mir liegt was an dir. Und ich kann warten.“
Sie schmiegte sich noch enger an ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke!“
Als Rebecca morgens aufwachte, hätte sie die ganze Welt umarmen können. Dann fiel ihr ein, warum sie so glücklich war und fast augenblicklich stellten sich Zweifel ein. Sie war ziemlich betrunken gewesen, das wusste sie noch, und sie merkte es auch daran, dass ihr Magen sich noch etwas wund anfühlte. Und wenn sie so betrunken gewesen war, dann war Oliver sicher auch nicht mehr nüchtern gewesen. Was wenn er das alles gar nicht so gemeint hatte. Und war sie jetzt eigentlich mit ihm zusammen? Sie beschloss ihn danach zu fragen, doch das erübrigte sich, als er schließlich aufwachte. Er zog sie an sich und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Schulter. „Hey Süße!“
Ihr Herz machte einen angenehmen Hüpfer und sie war wieder glücklich.
Den Tag verbrachten sie damit, durch die vielen kleinen Geschäfte zu bummeln. Mittags aßen sie in einem Fischrestaurant am Hafen und schlenderten dann Hand in Hand an den großen und kleinen Fischerbooten und Touristenschiffen vorbei.
Ein alter Italiener, wahrscheinlich ein Fischer, sah ihnen interessiert nach und rief dann theatralisch: „Ah, Amore, amore!“, was Rebecca sehr erheiternd fand.
Sie wollten früh am nächsten Morgen wieder zurück fahren und blieben deshalb am Abend nicht so lange aus wie am Vortag. Als sie wieder am Bus waren drängte Rebecca Oliver, sein Handy endlich wieder einzuschalten und seine Schwester anzurufen. Doch noch bevor er die Nummer wählen konnte, klingelte es.
Rebecca bekam nur die eine Seite dieses Gespräches mit:
„Hallo?“
„Ja.“
„Nein, mir geht´s gut.“
leicht genervt „Ja, wirklich!“
eindeutig sauer „Warum hat Sie dich überhaupt angerufen?!“
„Nein, ich wollte nur nicht, dass du dir Sorgen machst.“
wieder genervt „Ja, ich melde mich.“
Rebecca sah ihn fragend an. „Deine Mutter?“
Er nickte. „Paula konnte ihren Mund mal wieder nicht halten!“
Er wählte die Nummer seiner Schwester. Rebecca trat neben ihn und legte ihm den Arm um die Taille, er lächelte auf sie herab.
„Hi Paula, ich bin´s.“
„Ja, stell dir vor, wir leben noch. Du hättest nicht gleich hysterisch werden müssen.“
„Ja, sie hat mich eben angerufen.“
„Dann hättest du vielleicht auf ihn hören sollen.“
„Also, hör zu, ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir morgen wieder kommen.“
plötzlich sehr sanft „Ich dich auch. Bis dann.“
Bei seinen letzten Worten musste Rebecca lächeln: Geschwisterliebe halt!
Kapitel 7
Sie schlief wieder nicht mit ihm, aber damit hatte er gerechnet. Es wäre gelogen, zu sagen, dass es ihm nichts ausmachte, er hätte wahnsinnig gern mit ihr geschlafen, aber er verstand ihre Gründe und er wollte sie nicht drängen. Sie war der Meinung, dass sie als Mädchen immer aufpassen müsste, nicht direkt als Schlampe abgestempelt zu werden und sie wollte nicht die Achtung vor sich selbst verlieren, weil sie sich wirklich wie eine verhielt. Er fand das zwar ein bißchen albern, musste aber auch zugeben, dass er es als Kerl leichter hatte, wenn er viele Mädels abschleppte, war er keine Schlampe, sondern ein Held. Unfair, aber wahr.
Mitten in der Nacht wachte Oliver auf und war Schweiß gebadet. Er setzte sich auf. Rebecca neben ihm regte sich und fragte schlaftrunken was los wäre. Er sagte es sei alles in Ordnung, er bräuchte nur mal frische Luft. Draußen atmete er erstmal tief durch, dann zündete er sich eine Zigarette an. Bekloppt, aber in solchen Momenten brauchte er eine.
Er konnte sich noch an den Traum erinnern, aus dem er aufgeschreckt war. Es war derselbe Traum den er immer wieder hatte. In letzter Zeit war es seltener gewesen, aber er nahm an, dass er ihn heute wieder gehabt hatte, weil er mit seiner Mutter telefoniert hatte. Das zeigte ihm nur wieder überdeutlich, dass er sein Verantwortungsbewusstsein nicht einfach so abstellen konnte, egal was Rebecca sagte. Er lebte schon zu lange damit, als das er es noch hätte ablegen können, dass er sich immer Gedanken machte.
Er schrak kurz zusammen als Rebecca leise die Tür aufschob und barfuß aus dem Bus trat. Sie rieb sich verschlafen die Augen. „Was ist denn los?“
„Ach nichts, ich konnte nur nicht mehr schlafen.“
Er konnte ihr ansehen, dass sie ihm nicht glaubte, sah er so fertig aus?
„Komm schon, du hast irgendwas geträumt, oder?“ Woher wusste sie das? Konnte sie seine Gedanken lesen?
Er nickte ihr zur Antwort nur zu, da er sich nicht sicher war, was er ihr davon erzählen sollte.
„Hat das mit deiner Mutter zu tun?“ Sie konnte wirklich Gedanken lesen, zumindest seine. Er wägte seine Worte einen Moment ab, dann schlug er alle Vorbehalte in den Wind, er hatte ihr schon so viel erzählt, wieso nicht auch noch das? Außerdem drängte es ihn mit einem Mal, sich alles von der Seele zu reden.
„Ja, ich hab immer den gleichen Traum, obwohl eigentlich ist es kein Traum, sondern vielmehr eine Erinnerung.“ Er setzte sich in die Tür des Busses und sie hockte sich hinter ihn und schlang die Arme um seine Schultern.
„Die Erinnerung, wie du deine Mutter gefunden hast, als sie...?“ fragte sie leise.
Er nickte leicht. „Sie lag im Badezimmer. Alles war voller Blut, zumindest ist es in meiner Erinnerung so, ich weiß nicht ob es wirklich so schlimm war. Ich... im Traum steh ich immer einfach da. Wahrscheinlich hab ich in Echt auch erstmal nur dagestanden. ... auf jeden Fall steh ich da und sehe nur auf sie runter. Sie ist ...ganz bleich und dann...“ er schluckte schwer und er spürte wie er anfing zu zittern und versuchte sich zusammen zu reißen. „...dann kommt langsam die Gewissheit, dass sie tot ist, und ich stehe da... und glotze meine tote Mutter an...“
Er konnte es nicht mehr aufhalten und begann hemmungslos zu zittern. Rebecca schob sich neben ihn und zog ihn in ihren Arm. Sie hielt ihn fest und er spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen, dabei hatte er nicht mal bemerkt, dass er weinte. Er wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatten, wie lange er sich bei ihr ausgeheult hatte. Doch als das Zittern irgendwann wieder nachließ hörte er ihre Stimme, leise, aber mit Nachdruck: „Aber sie ist am Leben, deine Mutter lebt!“ und nach kurzem Schweigen fügte sie noch hinzu: „Und das ist vermutlich dein Verdienst. Oliver, du hast nicht daneben gestanden und zugesehen, wie sie stirbt.“
Er wusste, sie hatte recht, und trotzdem dieser Traum war immer wieder so real... „Es ist egal, wie lange es her ist und überhaupt, ich mache mir trotzdem Vorwürfe. Vielleicht hätte ich es verhindern können, wenn ich mich anders verhalten hätte.“
Sie schüttelte energisch den Kopf: „Nein, das hatte nichts mit dir zu tun. Ich bin mir sicher, dass es passiert wäre, egal was du getan oder nicht getan hättest.“
Es war tröstlich, das von jemand anderem zu hören, aber es änderte nicht viel an seinen Gefühlen. Ihm fiel noch etwas ein, jetzt war er schon so weit gekommen, da konnte er das auch noch loswerden. Obwohl er ein bißchen Angst hatte, sie würde ihn dann vielleicht mit anderen Augen sehen, aber er vertraute einfach darauf, dass sie verstehen würde, was er meinte.
„Manchmal denke ich,...vielleicht hätte ich sie besser sterben lassen sollen. Ich meine, das war es doch, was sie wollte.“ Sie schwieg und er sah zu ihr rüber. Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Er bereute, dass er es gesagt hatte. Er hatte sich doch geirrt, sie verstand es nicht, wie auch? Er hatte gerade sowas gesagt wie: Vielleicht sollte ich meine Mutter umbringen. Naja, ganz so heftig war es nicht gewesen, aber ob sie den Unterschied sehen würde?
Dann fragte sie plötzlich ganz leise: „Oh mein Gott, hat sie dir Vorwürfe gemacht?“ Er sah verwundert auf, war es möglich, dass sie ihn doch verstand, hatte er ihre Reaktion einfach nur falsch gedeutet? Er schüttelte den Kopf: „Nein, nicht direkt Vorwürfe. Ich hab mal gehört, wie sie hinterher gesagt hat, sie wünschte ich hätte sie sterben lassen, sie sei die ganze Last leid. Aber sie wusste nicht, dass ich es gehört habe.“
„Hast du jemals mit ihr darüber gesprochen?“ Rebecca wusste genau, wie die Antwort lautete, doch sie musste es von ihm hören. „Hast du überhaupt jemals mit irgendjemandem darüber gesprochen?“
Er zögerte: „Ich hab mal mit Stephan drüber gesprochen, aber das war ... nicht so wie jetzt mit dir.“
„Kann ich mir vorstellen“, gab Rebecca trocken zurück.
Eine seiner Hände lag auf ihrem Rücken, er ließ sie langsam nach oben wandern, bis sie auf ihrem Nacken lag. Mit sanftem Druck brachte er sie dazu sich zu ihm herüber zu beugen, damit er sie küssen konnte. Er strich kurz mit den Fingern durch ihr weiches braunes Haar, bevor er sie wieder los ließ.
„Du solltest mit deiner Mutter darüber reden“, sagte sie schließlich. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass wirklich niemand mit ihm über dieses traumatische Erlebnis gesprochen hatte. Dass seine Mutter es nicht getan hatte war ja noch verständlich, wahrscheinlich hätte ihm das damals auch wenig gebracht. Aber irgendwer musste doch auf die Idee gekommen sein, mal mit ihm darüber zu reden. Seine Großeltern zum Beispiel, er hatte erzählt, dass sie vorübergehend bei ihnen gewohnt hatten, nachdem ihre Mutter ins Krankenhaus gekommen war. Oder die Therapeuten, die seine Mutter behandelten, waren die nie auf die Idee gekommen mal nach den genaueren Umständen des Selbstmordversuches zu fragen? Jetzt, nachdem er so viele Jahre mit den Selbstzweifeln und Ängsten gelebt hatte würde wohl nur noch seine Mutter ihm helfen können. Doch Rebecca befürchtete, dass er die niemals von sich aus ansprechen würde. Diese Befürchtung wurde auch prompt bestätigt, als er jetzt heftig den Kopf schüttelte.
„Bist du verrückt? Meine Mutter würde nur wieder anfangen, sich Vorwürfe zu machen und depressiv werden.“
„Das ist es ja eben!“ versuchte Rebecca es nochmal eindringlicher „Hör auf dir einzureden, dass deine Mutter immer noch labil ist, du hast doch selbst gesagt, es geht ihr gut! Und vor allem, denk mal drüber nach: Sie hat das damals nicht wegen dir oder deinen Schwestern gemacht, sondern nur, weil sie fertig war und allein, nach dem Tod deines Vaters.“
„Und weil wir ihr eine Last waren, das hat sie doch selber gesagt!“ fuhr er sie an.
Sie bemühte sich ruhig zu bleiben: „Vielleicht war ihr damals einfach alles zu viel. Aber ich glaube kaum, dass sie euch heute auch noch als Last bezeichnen würde.“ Sie spürte, dass er ihr widersprechen wollte und hob schnell die Stimme: „Aber das wirst du nie einwandfrei wissen, wenn du sie nicht fragst!“
Er hatte schon den Mund geöffnet um etwas zu sagen, doch nun klappte er ihn wieder zu und starrte einen Moment wortlos vor sich hin.
Schließlich stand er auf und zog sie hoch. „Ich kann jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen, lass uns einfach wieder schlafen gehen, ja.“
Das war wohl das Vernünftigste und Rebecca lächelte zustimmend.
Am nächsten Morgen kamen sie nicht so früh aus dem Bett, wie sie es eigentlich vorgehabt hatten. Oliver fühlte sich wie gerädert, doch als sie unterwegs waren, kam die gute Laune zurück. Rebecca saß neben ihm und hatte die Beine ausgestreckt und auf das offene Fenster gelegt.
Dazu noch mit ihrer Sonnenbrille auf der Nase sah sie aus wie die perfekte Urlauberin. Als sie etwas länger als zwei Stunden unterwegs waren, wurde ihre Fahrt jäh durch eine kleine Schafherde gestoppt, die gerade die Straße überquerte.
Oliver fluchte leise. Sie waren ohnehin schon spät dran und in der Mittagshitze unterwegs, und er hatte keine Lust in der Hitze im Auto einzugehen, wegen ein paar Schafen, die ihren Arsch nicht voran bewegten. Das sagte er auch. Rebecca schwieg einen Moment, dann meinte sie: „Ok, dann fahr einfach rechts ran.“ Er warf ihr einen entnervten Blick zu: „Was soll denn das dann bringen?“
Sie hatte ihre Beine bereits wieder auf den Boden gestellt, was er schade fand, da sie seine Aussicht wesentlich verschönert hatten, und wühlte in ihrem Rucksack herum. „Wir machen ein Picknick!“
„Aha.“ Er parkte am Straßenrand und ehe das Auto richtig stand, war sie schon raus gesprungen und rief ihm nur noch über die Schulter zu: „Ich hab alles in meinem Rucksack, aber nimm noch eine Decke mit!“
Na toll! Das war ja schon wie bei einem alten Ehepaar. Er sah ihr nach und musste lächeln.
Sie hatten ihre Decke unter einem der wenigen knorrigen, alten Olivenbäume ausgebreitet, der wenigstens ein bißchen Schatten spendete. Um weder der Schafherde, noch sonst irgendwem in die Quere zu kommen, hatten sie sich ein ganzes Stück von der Straße entfernt.
Nach dem verspäteten Frühstück, das aus fertig belegtem Ciabatta und einer Schale Trauben bestanden hatte, streckte Rebecca sich gemütlich im hohen Gras aus. Sie pflückte sich einen Halm und steckte ihn lässig in den Mund. Dabei kam sie sich vor, wie ein ziemlich weiblicher Huck Finn. Sie hatte die Augen geschlossen, doch sie konnte fühlen, wie ein Schatten auf ihr Gesicht fiel, als Oliver sich über sie beugte. Sie spürte seine Hand, die langsam ihren Oberschenkel entlang glitt und ihr Kleid hoch schob. Doch bevor die Hand so weit kam, dass sie eine Entscheidung treffen musste, löste sie sich von ihr. Sanft zog er ihr den Grashalm aus dem Mund und küsste sie. Sie spürte, wie es in ihrem Bauch kribbelte und ihr schoß durch den Kopf, dass sie jetzt genau das hatte, was sie eigentlich vermeiden wollte: sie war verliebt. Aber immerhin hatte sie diesmal die Hoffnung, dass es ihm ähnlich ging. Schließlich hatte er ihr gesagt, dass sie ihm etwas bedeutete und er hatte ihr Dinge anvertraut, über die er bis jetzt mit niemandem gesprochen hatte.
Sein Kuss wurde drängender und die Hand war mittlerweile doch bis zu ihrem Po gewandert. Sie spürte, wie auch ihr eigenes Verlangen wuchs und sie wusste, sie wäre bereit gewesen, aber so weit waren sie nun auch wieder nicht von der Straße entfernt...
Sie löste sich von ihm. Er stöhnte leise auf und ließ sich zurück auf die Decke fallen. „Du bringst mich um!“
„Tut mir leid“, antwortete sie lächelnd, „Aber ich wollte dich fragen, ob du heute Nacht mit mir zum Strand kommst?“ Sie warf ihm einen unschuldigen Blick zu.
Er sah sie forschend an. Dann nickte er, schloss die Augen und murmelte leise etwas vor sich hin.
„Was hast du gesagt?“
Seine Stimme klang gleichzeitig ärgerlich und amüsiert: „Dass ich jetzt gern eine kalte Dusche hätte!“
Kapitel 8
Die restliche Fahrt verlief ziemlich harmonisch. Sie sprachen über dies und das, und Rebecca genoß es, die schöne, aber karge, Landschaft Süditaliens vorbeiziehen zu sehen.
„Als dein Vater noch am Leben war, haben deine Eltern sich da oft gestritten?“
Oliver sah sie erstaunt an: „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, kam nur gerade so.“
Er zuckte ebenfalls die Schultern. „Ich kann mich nicht dran erinnern, dass sie sich überhaupt mal gestritten haben. Sie waren immer ein Team, und immer gegen mich... Aber es kann auch sein, dass ich es einfach nur verdrängt hab. Weißt du, mit der Zeit vergißt man die Macken, die er hatte. Ich kann mich, glaub ich, fast nur noch an die guten Sachen erinnern. Selbst wenn ich Ärger mit ihm hatte, dann ist es jetzt für mich absolut sicher, dass er immer im Recht war.“ Er schnaubte kurz. „Obwohl das sogar der Wahrheit entsprechen könnte.“
Sie lachte leise: „Hört sich an, als hättest du eine schöne Kindheit gehabt.“
„Ich kann mich nicht beschweren.“ Er sah sie an. „Und bei dir? Wie sieht´s mit deinen Eltern aus?“
„Getrennte Schlafzimmer, seit ich denken kann.“
„Ich nehme nicht an, dass das daran liegt, dass dein Vater schnarcht, oder?“ fragte Oliver verständnisvoll.
Sie schüttelte den Kopf und lachte leise: „Nein, das nehme ich auch nicht an.“
Er dachte schon, dass Thema wäre abgehakt, da sie nichts mehr sagte, doch ein paar Kilometer weiter meinte sie plötzlich: „Ich glaube, ich war ein Ausrutscher. Sie haben geheiratet, weil sich das halt so gehört, aber sie hatten nie besonders viel für einander übrig.“
„Haben sie sich oft gestritten, als du klein warst?“
Sie dachte daran, wie bei ihnen Zuhause manchmal die Fetzen geflogen waren. Ihre Mutter hatte mehr als einmal erklärt, sie habe ihren Vater nie heiraten wollen. Ihr Vater hatte ihr im Zorn, dann immer vorgeschlagen, dass sie gern gehen könne. Aber sie hatte es nie getan.
„Es war schon manchmal heftig, aber für mich wollten sie immer nur das Beste, und sie lieben mich beide über alles. Vielleicht trennen sie sich irgendwann, wenn sie denken, dass ich alt genug bin es zu verstehen.“ Sie grinste über beide Ohren.
„Stimmt, jetzt könnte dich das wirklich noch zu sehr mitnehmen“, antwortete Oliver ironisch. „Man könnte fast meinen, du wünschst dir, dass sie sich trennen.“
„Wieso nicht?“ Rebecca dachte einen Moment nach. „Sie wären bestimmt glücklicher und sie könnten sich dann neue Partner suchen. Sie haben doch lange genug miteinander gelitten, jetzt haben sie sich auch mal ein bißchen Glück verdient. Außerdem“, sie grinste fatalistisch, „hätten dann alle ein schlechtes Gewissen und würden sich bei mir ein schleimen, da könnte ich richtig was bei verdienen.“
Er lachte: „Ach, da haben wir wieder das verwöhnte Einzelkind.“ Doch er sagte es in einem so liebevollen, neckenden Ton, dass sie sich nicht angegriffen fühlte.
Gegen vier Uhr hielten sie schließlich vor ihrem Ferienhaus. Sie blieben einen Moment sitzen und sahen sich an. „Da sind wir also wieder.“
Rebecca nickte und wollte etwas sagen, doch dann zögerte sie. Oliver lächelte sie ermunternd an.
„Versteh mich jetzt nicht falsch, aber könnten wir das...“, sie ließ ihren Zeigefinger zwischen ihnen hin und her schnellen, „erstmal für uns behalten?“
Er nickte. Er wusste zwar nicht, warum sie noch nichts sagen wollte, doch er hatte seine eigenen Gründe, diesen Vorschlag nicht abzulehnen. Er hatte in den letzten Tagen nicht mehr an Lisa gedacht. Nur kurz, als sie über Exfreunde gesprochen hatten. Er hatte in Erwägung gezogen, Rebecca von ihr zu erzählen, doch er war sich sicher gewesen, dass er dann keine Chance mehr bei ihr gehabt hätte.
Eigentlich war es für ihn auch nicht mehr von Belang. Selbst wenn ihre Beziehung für Lisa noch nicht beendet war, für ihn war sie es nach diesem Urlaub definitiv. Nur wusste sie das noch nicht. Und Paula wusste es auch noch nicht, und er konnte sich vorstellen, dass seine so hoch moralische Schwester ihm eine Szene machen würde, wenn er jetzt Hand in Hand mit Rebecca aufkreuzte.
Er schob diese unerfreulichen Gedanken beiseite und stieg aus. Als sie nebeneinander auf das Haus zugingen, stellt er überrascht fest, dass es ihm bereits schwerfiel, nicht direkt nach ihrer Hand zu greifen.
Bevor sie rein gingen hielt er sie noch einen Moment zurück: „Aber bei unserem Date heute Abend bleibt es trotzdem, oder?“
Sie nickte ihm mit einem verheißungsvollen Lächeln zu.
Im Haus war es angenehm kühl, im Vergleich zu draußen. Paula und Manu saßen auf der Terrasse und schlürften etwas, das verdächtig nach Tequilla Sunrise aussah. Oliver und Rebecca traten auf die Terrasse und die beiden sahen sich überrascht um. „Da seid ihr ja wieder“, stellte Manu lächelnd, aber überflüssigerweise, fest.
„Ja, da sind wir wieder. Und wo sind die Jungs?“ erkundigte Oliver sich, während er sich lässig auf der Lehne von Paulas Stuhl niederließ.
„Schwimmen!“ antwortete Manu, während sie ihn gleichzeitig interessiert musterte. Es war offensichtlich, dass sie auf Anzeichen dafür hoffte, dass Rebecca und Oliver zusammen waren, oder zumindest etwas miteinander gehabt hatten. Rebecca musste sich ein Lachen verkneifen und sich zwingen, nicht zu Oliver rüber zu sehen.
Der Abend verlief ganz genau so. Rebecca spürte die ganze Zeit die forschenden Blicke der anderen auf sich, doch keiner traute sich direkt zu fragen. Manu hätte sie wohl gefragt, wenn sie sie irgendwann alleine erwischt hätte, doch es ergab sich keine Gelegenheit. Rebecca wusste auch gar nicht, was sie ihr gesagt hätte. Vielleicht hätte sie Oliver gar nicht zu dieser Geheimniskrämerei überreden sollen. Sie wusste auch nicht, warum ihr diese Idee gekommen war, die anderen rechneten doch offensichtlich ohnehin damit.
Wieder einmal musste sie sich zwingen nicht zu offensichtlich zu Oliver rüber zu sehen. Stattdessen drehte sie sich zu Manu um, die neben ihr saß. „Rate mal, wen wir in Neapel getroffen haben?!“
Manu sah sie verständnislos an: „Den Papst?“
Sie lachte: „Was soll denn der Papst in Neapel, der hängt doch in Rom rum. Nein, ich meine einen gemeinsamen Bekannten von uns...“
„Jetzt spann mich nicht so auf die Folter!“ drängte Manu sie.
Rebecca lächelte und kostete einen Moment ihre eigene Klatschsucht aus, bevor sie die Bombe platzen ließ: „Björn.“
Manu ließ einen leisen Schrei los: „Was?! Dieses Arschloch?“
Rebecca nickte: „Ja, und zwar mit seiner Freundin!“
Manu ließ sich die ganze Geschichte bis ins Detail beschreiben, allerdings sparte Rebecca Olivers Rolle dabei aus.
Zum Schluß fragte sie: „Und, wie sah diese Lena denn jetzt aus?“
Oliver, der sich gerade mit David unterhielt, hatte scheinbar mit einem Ohr zugehört, denn er drehte sich kurz zu ihnen um und sagte zu Manu: „Sie sah absolut scheiße aus.“ Damit wandte er sich wieder David zu.
„Er übertreibt“, raunte Rebecca Manu zu, doch sie freute sich trotzdem darüber, dass er so dreist für sie log.
Sie mussten lange durchhalten, bis endlich alle anderen zu Bett gegangen waren. Da es der letzte Abend war, an dem sie richtig feiern konnten, wollten das alle nochmal ordentlich ausnutzen. Sobald die Luft rein war schlichen Oliver und Rebecca sich unbemerkt aus dem Haus.
Er nahm die Decke mit, die sie schon am Nachmittag für ihr Picknick benutzt hatten. Am Strand breiteten sie, sie auf dem kühlen Sand aus und ließen sich dann nebeneinander darauf nieder. Rebecca fühlte sich irgendwie seltsam verlegen. Oliver ergriff ihre Hand. „Komische Situation, oder?“
Sie nickte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Er drehte sich halb zu ihr um und küsste sie auf den Mund, dann flüsterte er: „Komm, wir gehen schwimmen.“
Ohne auf ihre Antwort zu warten stand er auf und zog sie mit hoch. Dann legte er den Arm um sie und küsste sie erneut. Mit der anderen Hand schob er ihr Kleid hoch und zog es ihr schließlich über den Kopf, so dass sie in ihrer Unterwäsche vor ihm stand. Doch auch diesen Umstand schien er so schnell wie möglich beheben zu wollen, denn seine Hände machten sich unverzüglich am Verschluß ihres BHs zu schaffen. Als sie auch den noch los war, beschloss sie, dass er jetzt dran wäre. Sie ließ die Hände unter sein T-Shirt gleiten und half ihm dabei es auszuziehen. Dann strich sie ihm sanft mit den Fingernägeln über die Brust, so dass er eine Gänsehaut bekam.
Sie genoß es seinen durchtrainierten Körper zu berühren.
Mit jedem Kleidungsstück, das sie ablegten, schoben sie sich näher ans Wasser, bis sie schließlich nackt in den Wellen standen. Er zog sie an sich und küsste sie lange. Sie ging langsam rückwärts, ins tiefere Wasser und zwang ihn ihr zu folgen. Dann löste sie ihre Lippen von den seinen und lehnte sich zurück, bis sie die Wellen in ihrem offenen Haar spürte. Er hielt sie, mit einem Arm in ihrem Rücken und strich mit der anderen Hand an ihrer Taille entlang, bis er ihre Brust berührte. Langsam senkte er den Kopf und strich sanft mit den Lippen über ihre salzige Brustwarze. Sie erschauerte, als er nun den Mund öffnete und zart zu saugen begann. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie das Gefühl, sich aufzulösen. Sie war halb enttäuscht, halb erleichtert, als er seine Lippen wieder von ihr löste und sie zu sich hoch zog. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und schlang ihre Beine um seine Hüften. Als sie spürte, was sie bereits bei ihm ausgelöst hatte, musste sie lächeln.
Sie blieben noch eine Zeit im Wasser und wurden langsam vertrauter mit dem Körper des anderen.
Als er es dann nicht mehr aushielt, hob er sie hoch und trug sie zurück zum Strand. Auf der Decke sank er langsam in die Knie und legte sie sanft hin. Zärtlich glitt er über sie und streichelte sie sanft, bis sie sich ihm langsam öffnete. Er machte es sich zwischen ihren Beinen bequem und hob eines ihrer Knie ein wenig an, um seinen Kopf an die Innenseite ihres Oberschenkels zu schmiegen. Sanft küsste er ihre weiche Haut. Sie stöhnte leise auf und zog kraftlos an seinem Arm, um ihm zu bedeuten, dass er endlich zum wesentlichen Teil kommen sollte. Doch er ließ sich nicht hetzen.
Als er schließlich endlich zu ihr kam, zitterte er fast, von der Anstrengung sich zurückzuhalten. Sie schlang ihm die Beine um die Hüften, um ihn ganz in sich aufzunehmen und hielt ihn dann einen Moment dort, bevor sie ihm erlaubte sich in ihr zu bewegen. Als sie langsam einen gemeinsamen Rhythmus fanden, genoß sie das Gefühl, ihn ganz für sich zu haben.
Sie näherten sich schließlich gemeinsam dem Höhepunkt und er drang immer tiefer und härter in sie ein, bis es ihr fast Schmerzen verursachte. Sie wollte ihn schon bremsen, als der Schmerz sie beinah zu zerreißen drohte, da zersprang ihr Herz. Zumindest fühlte es sich so an. Sie kam so schnell und heftig, dass sie glaubte, die Orientierung zu verlieren und zu schweben.
Ihm schien es ähnlich zu gehen, und ihre Schreie vermischten sich in der Dunkelheit mit dem Rauschen des Meeres.
Hinterher lag sie schwer atmend in seinem Arm und schmeckte immer noch das Salz auf seiner Haut, als sie ihm einen Kuss auf die nackte Schulter drückte.
„Wir hätten was zu trinken mitnehmen sollen, das Meerwasser ist echt fies“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Hmm.“ Sie gähnte und spürte, dass sie schläfrig wurde. „Vielleicht sollten wir zurück gehen“, schlug Rebecca vor und kuschelte sich dabei enger an ihn.
„Ja vielleicht.... Nur will ich dich noch nicht loslassen.“
Sie lächelte bei seinen Worten und dachte, dass sie schon lange nicht mehr so glücklich gewesen war.
Rebecca wusste, dass sie bald aufstehen musste, sonst würde sie unweigerlich einschlafen. Plötzlich hörte sie Olivers besorgte Stimme, nah an ihrem Ohr: „Noch einen Tag und eine Nacht, bis wir wieder zurück fahren. Ich wollte nur wissen, das mit uns wird dann nicht zu Ende sein, oder?“ Ihr Herz hüpfte, das war mehr als der Beweis, dass ihre Gefühle diesmal erwidert wurden!
„Glaubst du, sonst läge ich jetzt mit dir hier?“ fragte sie ernst zurück.
Sie spürte, wie er den Kopf schüttelte: „Nicht wirklich. Ich wollte nur sicher sein.“
Sie stützte sich auf einen Ellbogen und küsste ihn. Beide verzogen das Gesicht. „Bäh, wir müssen wirklich was trinken, das ist ja eklig mit dem Salzwasser im Mund“, dann wurde sie wieder ernst, „Was ich noch sagen wollte: du kannst dir sicher sein.“
„Gut, ich will dich nämlich nicht wieder verlieren.“
Sie sammelten schließlich ihre Kleider im Sand auf und machten sich auf den Rückweg. So leise sie konnten, schlüpften sie in die Küche. Im Licht musste sie über ihr Aussehen lachen. Sie waren beide so sandig und ihre Klamotten so zerknittert, dass sie nichts hätten abstreiten können, wenn einer von den anderen sie jetzt gesehen hätte.
Rebecca kippte schweigend zwei Gläser Wasser runter, dann bemerkte sie, dass Oliver sie mit seltsamem Blick musterte.
„Was denkst du?“ fragte sie langsam.
„Ich hab gerade überlegt, dass ich eine Dusche vertragen könnte“, sie sah an sich selbst runter und wollte schon sagen, dass sie auch nicht viel besser aussah, als er seinen Gedankengang beendete: „...und du auch!“
Daher wehte der Wind. Sie grinste ihn an, sagte aber: „Das können wir nicht machen.“
„Ach, die schlafen alle“, antwortete Oliver mit einer wegwerfenden Handbewegung, „und selbst wenn es einer mitkriegt, mir wäre es egal.“ Er sah sie herausfordernd an. Sie musste zugeben, dass die Vorstellung ihre Reize hatte und noch bevor sie wusste, dass sie einen Entschluß gefasst hatte, hatte sie seine Hand ergriffen und marschierte auf die Tür des Badezimmers im Erdgeschoß zu.
Sie schloss die Tür hinter sich ab und drehte sich um. Oliver stand ganz dicht vor ihr und drängte sie langsam gegen die Tür. Sein Kuss war nicht mehr so salzig, und sie ging ganz darin auf. Diesmal dauerte es nur ein paar Sekunden, bis sie ihre Kleider los waren und gemeinsam unter dem heißen Wasserstrahl standen. Bis dahin hatte Rebecca gar nicht gemerkt, dass ihr kalt war, doch jetzt spürte sie plötzlich, wie sich ihre Glieder wieder aufwärmten.
Oliver küsste sie leidenschaftlich und wühlte mit den Händen in ihrem nassen Haar. Sie vergrub ihre Fingernägel in seinen Pobacken und presste ihre Hüften enger an seine. Er stöhnte auf und hob sie hoch. Sie schlang ihm die Beine um die Hüften und er drängte sie mit dem Rücken an die Wand.
Diesmal drang er direkt tief und hart ein und sie glaubte sofort den Anfang ihres Höhepunktes zu spüren. Als sie dann kam biss sie in seine nasse Schulter, um die Geräusche zu dämpfen.
Danach stellte er sie langsam auf den Boden, ihre Knie gaben fast nach, so wackelig waren sie. Oliver drehte das Wasser ab und angelte nach einem Handtuch, in das er sie einwickelte. Sie schmiegte sich an ihn und er rieb ihr fest über den Rücken, bevor er aus der Dusche stieg und sich ebenfalls ein Handtuch schnappte.
„Gehst du zuerst?“ fragte er leise. Sie hatte bereits ihre Kleider eingesammelt und wollte gerade die Tür aufschließen, als er sie noch einmal zurückzog.
Er küsste sie fest und flüsterte dann: „Schlaf gut.“
Rebecca tappte leise die Treppe rauf, in ihr Zimmer, und hatte das Gefühl neben sich zu stehen. Es kam auf einmal soviel zusammen, die Müdigkeit, der plötzlich Ansturm ihrer Gefühle, die heiße Dusche und Olivers überzeugende Vorstellung darunter...
Sie sank in ihr Bett und war eingeschlafen, noch bevor sie sich aus dem Handtuch ausgewickelt hatte.
Kapitel 9
Oliver blieb noch ein paar Minuten im Badezimmer stehen. Nicht weil er Angst hatte, jemand könnte sie zusammen sehen; wenn er ehrlich war, war ihm das im Moment ziemlich schnuppe, er brauchte einfach einen Augenblick um seine Gedanken zu ordnen.
Es ging ihm gegen den Strich, dass er sie alleine gehen lassen musste. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, einfach mit ihr zu kommen, doch als er gesehen hatte, wie müde sie war, wollte er sie nicht bedrängen.
Das Warten hatte sich wirklich gelohnt. Es war nur schade, dass sie übermorgen, oder wohl eher morgen, schon wieder abfahren würden.
Aber ihre Beziehung wäre damit nicht beendet. Er hatte sie einfach danach fragen müssen. Obwohl er sich eigentlich sicher gewesen war, nachdem was sie ihm in Neapel erzählt hatte. Aber Tatsache war, dass er auf einmal dieses Gefühl hatte, dass er sie auf keinen Fall wieder verlieren durfte. Möglicherweise war ihm das mittlerweile sogar wichtiger als ihr. Er hätte nie gedacht, dass er sich einmal so auf einen Menschen einlassen würde. Vor allem nicht in so kurzer Zeit. Gut, sie hatten über vieles geredet, und er hatte das Gefühl sie wirklich gut zu kennen, aber er kannte sie doch noch nicht mal zwei Wochen lang. Andererseits, Manu und Timm waren auch erst zwei Wochen zusammen gewesen, als sie hier her in Urlaub gefahren waren.
Seufzend öffnete er die Tür und schlich ins Wohnzimmer rüber. Er wusste genau, dass er noch eine Zeitlang wach liegen und grübeln würde.
Rebecca fühlte sich am nächsten Morgen schon viel wohler und erholter.
Um halb zehn stand sie unten in der Küche und kochte Kaffee. Der erste der kam, um ihr Gesellschaft zu leisten, war David. Selbst sein Anblick, bzw. seine Anwesenheit, konnte ihre Laune nicht trüben. Er sah aber auch ziemlich erbärmlich aus. Er nuschelte was von einem Kater und ignorierte vorerst die Tasse Kaffee, die sie ihm hingestellt hatte, um seinen Brand mit Wasser zu löschen.
Ein paar Minuten später tauchten Paula und Stephan auf. Er schien ebenfalls leicht verkatert zu sein, allerdings längst nicht so schlimm wie David. Paula dagegen hüpfte herum wie das blühende Leben.
„Deine Laune ist echt ätzend!“ murrte Stephan sie an.
„Du bist ja nur sauer, weil ich mehr vertrage, als du!“ gab sie grinsend zurück und schnippte mit den Fingern vor seiner Nasenspitze.
„Ja klar...“ sagte er und nickte ironisch.
Rebecca beugte sich vertraulich zu Paula rüber. „Sei vorsichtig, es könnte nach hinten los gehen, wenn du ihn in seinem Stolz kränkst. Männer sind da empfindlich!“
Von Paula erntete sie ein herzliches Lachen, von Stephan einen bösen Blick und David zeigte keine erkennbare Reaktion.
Bei Manu und Timm schien es genau umgekehrt zu sein, wie bei Stephan und Paula. Manu bat alle leise zu reden und war ziemlich blass, während Timm fröhlich den Arm um sie legte und ihr einen Schmatzer auf die Wange drückte. Manu sah aus, als müsste sie sich jeden Moment übergeben. Rebecca hoffte für Timm, dass das wirklich nur dem Alkohol zuzuschreiben war.
„Das kann doch gar nicht sein“, Manu sah Paula mit widerwilligem Respekt an, „du hast doch mindestens soviel getrunken, wie ich.“
„Jetzt bestärk´ sie auch noch in ihrer Überzeugung, dass sie so viel verträgt“, brummte Stephan böse.
Mittlerweile war es schon fast elf Uhr und Rebecca wunderte sich langsam, wo Oliver blieb. Er war sicher nicht betrunken gewesen, das wusste sie und sie selbst war schließlich auch schon wach.
Sie wäre gerne rüber gegangen um ihn zu wecken, doch sie dachte, wenn sie sich schon vor den anderen outeten, dann sollte er wenigstens wach sein dabei. Sie fand die Vorstellung jetzt sogar sehr reizvoll, wie die anderen gucken würden, wenn er reinkäme und ihr einen Kuss geben würde. Typisch Verliebtsein, diese ewigen Tagträumereien.
Schließlich hüpfte Paula rüber, um nachzusehen, ob er nicht langsam wach würde. Doch sie kam unverrichteter Dinge zurück und machte ein etwas ratloses Gesicht. „Der schläft wie ein Stein. Aber soviel hat er doch gar nicht getrunken...“
Rebecca musste in sich rein grinsen, denn sie ahnte ziemlich genau, was ihn so fertig gemacht hatte.
„Mach dir um deinen Bruder keine Sorgen“, sagte Stephan gerade, „Der kann saufen wie ein Loch, ohne irgendwelche Schäden davon zu tragen.“ Er musterte seine Freundin beinahe angeekelt. „Scheiße, ich glaube, das liegt bei euch in der Familie.“
„Endlich siehst du es ein!“ lobte Paula ihn und wuschelte ihm neckend mit der Hand durch die Haare.
Eine halbe Stunde später erschien Oliver dann doch noch aus freien Stücken in der Küche.
Er sah verpennt, aber nicht so mitgenommen wie Manu oder David aus, die sich mittlerweile jeweils unter eine Dusche verpisst hatten.
Timm fragte ihn trotzdem, mit einem frechen Grinsen, seit wann er so lange brauchen würde um sich vom Alkohol zu erholen.
„Alkohol? Welcher Alkohol?“ fragte Oliver grinsend zurück. „Hab bloß schlecht geschlafen“, behauptete er und warf Rebecca einen kurzen, durchtriebenen Blick zu.
Sie drehte sich um und schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein, denn sie wollte nicht, dass die anderen das breite Grinsen sahen, dass sie nicht unterdrücken konnte, nachdem sie das schelmische Glitzern, in seinen Augen, gesehen hatte.
Er stellte sich neben sie an die Anrichte und ihre Arme streiften sich kurz. Die Berührung elektrisierte sie fast und sie konnte sich kaum zurückhalten ihn zu berühren.
Glücklicherweise rief Manu in diesem Moment von oben, dass das Badezimmer jetzt frei wäre. Paula schnappte sich mit der einen Hand ihren Kaffee und mit der anderen ihren Freund. „Komm duschen!“
Stephan tapste brav hinter ihr her, doch bevor sie aus der Küche waren, drehte er sich noch einmal um und warf Oliver einen belustigten Blick zu: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass deine Schwester fast so nerven kann wie du?“
Oliver zuckte die Achseln: „Tja, das wusste ich schon…, aber das Gute ist, jetzt nervt sie nicht mehr mich, sondern dich!“
Es war schön, dass Oliver sich wenigstens in dieser Sache etwas entspannt hatte, dachte Rebecca.
Im nächsten Moment konnte sie ihr Glück kaum fassen. Timm stand von seinem Stuhl auf und verkündete, er würde jetzt erstmal eine rauchen gehen. Er fragte, ob jemand mit kommen wolle, doch Oliver sagte, er würde später rauskommen und Rebecca schüttelte nur den Kopf. Sobald Timm die Küche verlassen hatte knallte Oliver seine Tasse auf die Anrichte und zog Rebecca an sich. Nach einem stürmischen Kuss lösten sie sich, etwas atemlos, voneinander. „Wir müssen es ihnen sagen, ich halte das nicht aus!“ flüsterte Rebecca.
Oliver nickte: „Machen wir nachher.“ Dann küsste er sie wieder.
Kurz darauf schraken sie auseinander, als es an der Tür klingelte. Paula, die gerade aus dem Bad kam, rief von der Treppe, dass sie aufmachen würde. Rebecca warf Oliver einen verständnislosen Blick zu, wer sollte sie hier schon besuchen kommen? Timm kam gerade zurück in die Küche, von dem Klingeln angelockt, als Paula mit dem Besuch zur Tür rein spazierte.
„Lisa, hi! Was machst du denn hier?!“ rief er erfreut und Rebecca sah, wie Olivers Kopf herum fuhr. Die unbekannte Besucherin lächelte freundlich. Sie war mittelgroß und ihr dunkelblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden. Sie trug relativ weite drei viertel Jeans und ein enges Spaghettiträgeroberteil. Sie wirkte sehr sportlich.
„Ich bin natürlich nur wegen dir hier, Schatz!“ mit einem charmanten Lächeln umarmte sie Timm. Dann wandte sie sich Oliver zu, und plötzlich war ihr Lächeln nicht mehr ganz so selbstsicher. Rebecca fiel auf, dass Oliver völlig erstarrt war und sie wunderte sich über diese seltsame Reaktion.
Das war der Moment, dachte Oliver, an dem normalerweise sein Leben, vor seinem inneren Auge, ablaufen sollte. Leider passierte das nicht. Was vor seinen Augen ablief, war der absolut falsche Film.
Lisa machte langsam ein, zwei Schritte auf ihn zu: „Ich bin her geflogen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich hab dich vermisst und es tut mir leid, ich weiß nicht mal mehr, worüber wir uns gestritten haben.“ Sie machte auch noch den letzten Schritt, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Aus reiner Gewohnheit reagierte er darauf, und gleichzeitig schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, dass das so ziemlich das Letzte war, was er gerade tun wollte.
Leider hatte er nicht den blassesten Schimmer, was er jetzt machen sollte. Er löste sich, so schnell er konnte, von Lisa und warf einen schnellen Blick zu Rebecca rüber. Sie starrte ihn bleich und verständnislos an. Er wünschte sich fast, dass sie ausrasten und ihm eine Szene machen würde, dann könnte er ihr wenigstens alles erklären. Er sah wieder in Lisas Gesicht und wusste, dass er nicht so brutal sein und ihr die Wahrheit von sich aus einfach so an den Kopf knallen konnte. Er würde sie vor allen bloßstellen und das hatte sie nicht verdient. Zumindest soviel schuldete er ihr nach einer anderthalb jährigen Beziehung.
Rebecca fühlte sich, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Das war seine Freundin. Er hatte eine Freundin. Was hatte Manu gesagt? Vor kurzem Schluß gemacht? Tja, scheinbar war diese Information falsch gewesen. Sie hätte ihn gerne angeschrien, dass er ein Arsch war, das Allerletzte, doch sie stand irgendwie neben sich. Ähnlich wie gestern Abend, nur fühlte es sich diesmal kein bißchen gut an.
Das schlimmste war, schoß es ihr durch den Kopf, dass es schon wieder ihre eigene Schuld war. Sie hatte sich von Anfang an gesagt, sie sollte besser die Finger von ihm lassen, aber hatte sie sich daran gehalten? Nein, im Gegenteil, sie hatte sich total von ihm einwickeln lassen. Hatte ihm sogar so sehr vertraut, dass sie ihm zeigte, wo sie am verletzlichsten war und er hatte das natürlich sofort ausgenutzt.
Mir liegt was an dir. Ja, ihm lag soviel an ihr, dass er sie unbedingt ist Bett kriegen musste. Am liebsten wäre sie mit dem Kopf gegen eine Wand gerannt. Wieso hatte sie ihn nicht noch etwas hingehalten? Dann hätte sie sich wenigstens sagen können, dass sie ihren Stolz bewahrt hatte, dass er sie wenigstens nicht rumgekriegt hatte. Sie hatte sich bei keinem ihrer Freunde, oder Affären, so sicher, so vertraut gefühlt wie bei ihm. Und gerade der, dem sie am meisten von sich gegeben hatte, fügte ihr die größte Demütigung zu.
Sie musste hier raus! Diese große Versöhnung konnte sie sich nicht länger ansehen.
„Ich verdrücke mich mal grade und gucke, ob das Bad frei ist“, murmelte sie und verschwand schnurstracks aus der Küche. Oben an der Treppe traf sie Stephan. „Kann ich ins Bad?“ fragte sie der Höflichkeit halber. Er nickte. „Klar. Was ist denn da unten los?“
„Olivers Freundin ist gekommen“, brachte Rebecca gerade noch so hervor, dann stürmte sie ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Obwohl sie hörte, dass Stephan noch einen Moment am Treppenansatz stehenblieb, begann sie hemmungslos zu schluchzen. Das passte ja wieder super. Eben war sie wenigstens nur vor Oliver gedemütigt gewesen, aber jetzt wusste Stephan garantiert auch schon Bescheid. Obwohl, dachte sie, zwischen zwei Schluchzern, schlimmer weh tun konnte es sowieso nicht mehr, also war es auch egal. Sie blockierte das Bad fast eine Stunde lang, aber es war ihr egal. Es dauerte, bis sie mit dem Heulen aufhören konnte, und dann musste sie irgendwie dafür sorgen, dass man ihr das alles nicht sofort ansah. Diese Blöße würde sie sich nicht auch noch geben. Wenn sie eben keine Szene gemacht hatte, dann würde sie das jetzt auch nicht mehr tun. Außerdem, dachte sie vage, war sie ja irgendwie die andere Frau. Wenn sie erst eine Szene machte, wie würde dann diese Lisa reagieren? Oder war die es vielleicht gewohnt, dass er ab und zu mal eine andere hatte? Das wäre ja noch schöner, sie würde eine Szene machen und seine Freundin würde sagen: Hey, nimm´s locker, ich bin seine Freundin, und ich schrei´ auch nicht rum!
Als sie schließlich runter ging, warteten die anderen schon auf sie.
Selbst die beiden Katertypen Manu und David hatten sich wieder eingefunden. Die ganze Gesellschaft befand sich in der Küche. Oliver und seine Lisa standen an der Anrichte, da wo sie vorhin noch mit ihm gestanden hatte. Das war ja schon fast ekelhaft, wie er sie einfach durch eine andere ersetzte. Ob es ihm auffallen würde, wenn man zum Beispiel seine kleine Schwester dort hin stellte, oder würde er sie genauso abschlecken, wie jede andere?
Er fing ihren Blick auf. Was wollte er? Sie beschwören, dass sie ja nichts sagte? Da brauchte er keine Angst zu haben, sie würde ihm den Spaß nicht verderben. Schließlich hatte sie ja auch genug Übung im sitzengelassen werden und trotzdem cool wirken. Allerdings sah er nicht besonders amüsiert aus, na es geschah ihm recht, wenn er ein bißchen Angst hatte, dass sie ihn verraten würde, das gab ihr ein gewisses Machtgefühl.
„Bitte?“ sie war so in Gedanken gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, was Manu zu ihr sagte.
„Wir haben auf dich gewartet, wir wollen zum Strand gehen.“
„Oh.“ Da konnte sie jetzt auf keinen Fall hin. An den Ort, an dem sie gestern Abend mit ihm... Und dann zusehen, wie er mit seiner Freundin rumknutschte? „Es ist lieb, das ihr gewartet habt, aber ich komme nicht mit. Ich hab rasende Kopfschmerzen.“
„Was, dir ging es doch heute morgen noch gut?“ fragte Manu erstaunt.
Rebecca versuchte leidend auszusehen, was ihr nicht sehr viel Mühe machte. „Ja, ich weiß auch nicht. Gibt´s sowas wie einen verspäteten Kater?“
Stephan war schließlich so freundlich, die anderen ein bißchen anzutreiben: „Dann können wir ja jetzt gehen und Rebecca ihre Ruhe lassen!“ Als er an ihr vorbei ging sagte er leise: „Leg dich am besten nochmal hin, du siehst wirklich ein bißchen blass aus.“
In dem Moment war sie sich sicher, dass er es wusste, oder zumindest ahnte. Immerhin war er so nett gewesen, sie vor der Gegenwart der anderen zu retten. Sie folgte seinem Rat und legte sich auf ihr Bett. Leider war an Schlafen gar nicht zu denken. Ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe. Immer wieder ließ sie die letzten Tage mit Oliver Revue passieren. Und dann diese schreckliche Szene in der Küche, als seine Freundin ihm um den Hals gefallen war. Spätestens als sie gesehen hatte, wie er ihren Kuss erwiderte, war ihr klar geworden, was da gerade vor sich ging. Zwischendurch malte sie sich aus, wie er das alles geplant hatte. Vielleicht hatte er sich schon darauf gefreut, sie und diese Lisa Zuhause ein bißchen parallel laufen zu lassen. Schade daraus wurde jetzt wohl nichts.
Ihr stand ein Nachmittag in der Hölle bevor und das Schlimmste daran: nur sie konnte so blöd sein und sich so verlieben, dass es schon nach ein paar Tagen so weh tat.
Der Nachmittag war schrecklich gewesen. Oliver hatte für Lisa so tun müssen, als wäre alles ganz normal und hätte ihr gleichzeitig am liebsten alles vor die Füße geworfen, um so schnell wie möglich zu Rebecca zu kommen.
Als sie wieder im Haus gewesen waren, hatte er keine Chance gehabt, wenigstens kurz, mit Rebecca, unter vier Augen, zu sprechen.
Sie war schon vor über einer Stunde zu Bett gegangen. Er wusste gar nicht, warum er noch hier saß. Wahrscheinlich, weil er nicht zu Lisa in den Bus gehen wollte. Sie würden gemeinsam dort übernachten, weil im Haus ja kein Bett mehr frei war.
Gerade hatte auch Paula aufgegeben und war gähnend aufgestanden, um zu Bett zu gehen. Er blieb mit Stephan alleine zurück. Sie schwiegen eine Weile, wie nur gute Freunde sich anschweigen können. Dann fragte Stephan plötzlich: „Hast du immer noch was dagegen, dass ich mit Paula zusammen bin?“
Hatte er nicht schon genug am Hals, dachte Oliver. Naja, vielleicht tat ihm die Ablenkung ja ganz gut.
Er schüttelte den Kopf: „Nein, es ist ihre Entscheidung. Aber du weißt, wenn du ihr weh tust, muss ich dir leider die Fresse polieren!“
Stephan grinste: „Kein Problem.“ Dann wurde er ernst: „Ich wollte dir nur sagen, es war keine Berechnung, oder so was. Es ist einfach passiert, sonst hätte ich nie was mit deiner Schwester angefangen.“
Gerade konnte Oliver das sehr gut verstehen, genau das hatte er mit Rebecca auch erlebt. Leider war er drauf und dran es wieder kaputt zu machen. Er besann sich auf das Gespräch mit seinem besten Freund.
„Ist schon in Ordnung.“
Wieder schwiegen sie und wieder war es Stephan, der das Schweigen brach: „Hast du mit Rebecca geschlafen?“
Oliver sah verwundert auf. „Wie kommst du darauf?“
„Kuck sie dir doch mal an. Sie ist das heulende Elend. Sie... wusste nichts von Lisa, oder?“
Oliver schüttelte den Kopf: „Ich hab totale Scheiße gebaut.“
Stephan musterte ihn interessiert: „Sag bloß du bist verliebt?“
„Leider nicht in meine Freundin...“
Stephan versuchte Oliver davon zu überzeugen, dass er sofort reinen Tisch machen sollte: „Wenn dir wirklich soviel an Rebecca liegt, dann musst du Lisa sofort sagen, was Sache ist. Überleg doch mal, wie das für Rebecca aussieht, wenn du´s nicht machst!“
Oliver erklärte, dass er das Lisa nicht antun könnte, nicht nach ihrer relativ langen gemeinsamen Zeit.
„Es ist deine Sache“, sagte Stephan schließlich, „aber du solltest es Rebecca so schnell wie möglich erklären, solange sie dir noch zuhört. Und ich wette, wenn sie nur zwei Tage Zeit hat drüber nachzudenken, dann wird sie dir nie wieder zuhören.“
Das schlimme daran war, dass Stephan recht hatte. Rebecca war die, die bleiben sollte, Lisa war hinter her sowieso weg. Und Rebecca war ihm definitiv wichtiger. Er wollte sie nicht verlieren. Trotzdem, er konnte sich nicht dazu durchringen Lisa absichtlich so zu demütigen.
Manu weckte Rebecca am nächsten Morgen schon um halb sechs. Sie wollten so früh wie möglich losfahren. Doch Rebecca war erst vor anderthalb Stunden eingeschlafen und war demzufolge noch sehr verpennt.
Müde schlüpfte sie in ihre Klamotten, putze sich die Zähne und stiefelte mit ihrem Gepäck nach unten. Als sie sah, dass alle noch ziemlich müde waren, fühlte sie sich schon etwas besser. Das hielt leider nur so lange an, bis Oliver die Küche betrat, dicht gefolgt von einer strahlenden Lisa. Kotz!
Der einzige Lichtblick war, dass sie nicht mit ihnen in einem Auto fahren musste und wenn sie erst Zuhause waren, dann musste sie die beiden nie wieder sehen.
Als sie an die lange Fahrt dachte, die vor ihr lag spürte sie einen kleinen Stich in der Brust. Gestern Morgen hatte sie sich noch ausgemalt, dass die Rückfahrt wesentlich schöner werden würde, als die Hinfahrt, da sie vorhatte mit Oliver zusammen zurück zu fahren. Tja, so konnte man sich irren. Wenn sie Glück hatte, würde sie es in ein paar Monaten schaffen auf diesen Urlaub zurück zu blicken und zu denken, wenigstens habe sie guten Sex und ein paar schöne Tage gehabt, und der Rest wäre nicht mehr von Belang.
Wie sie erwartet hatte war die Fahrt eine einzige Tortur. Ihr war die ganze Zeit zum heulen, doch sie konnte dem Drang nicht nachgeben, da sie ja nie alleine war. Sie entdeckte dann, dass die beste Methode war, sich einfach schlafend zu stellen. So musste sie auch nicht befürchten in ein Gespräch verwickelt zu werden, auf das sie sich ohnehin nicht konzentrieren konnte.
Dasselbe machte sie, um Oliver bei der Rast aus dem Weg zu gehen. Entweder sie stieg gar nicht erst aus, oder sie ging schnell zur Toilette und verzog sich dann mit der Begründung, sie wäre müde, wieder ins Auto. Wenn die anderen ihr Verhalten seltsam fanden, so sagten sie nichts und es war ihr im Endeffekt auch herzlich egal, was sie dachten. Das einzig Positive an ihrem Zustand war, dass sie keinen Hunger mehr verspürte. Wenn jemand, meistens Manu ihr etwas zu Essen in die Hand drückte kaute sie lustlos daran herum und entsorgte es, sofern sie gerade Rast machten, im nächsten Mülleimer.
Dieses Essverhalten hielt auch noch an, als sie wieder Zuhause war.
Sie hatte sich nicht, wie ursprünglich geplant, bei ihren Eltern absetzten lassen, sondern war sofort wieder in ihre eigene kleine Studentenbude zurückgekehrt. Ihre Mitbewohnerin war in den Ferien zu ihren Eltern gefahren, so dass sie die Wohnung ganz für sich hatte und niemandem lästige Erklärungen abgeben musste. Ihren Eltern erzählte sie am Telefon, dass sie noch etwas für die Uni erledigen musste, was sie total vergessen habe und sie deshalb erst in ein paar Tagen nach Hause kommen würde.
Dann schaltete sie ihr Handy ab, zog den Telefonstecker aus der Dose und begann zu weinen.
Kapitel 10
Als sie ungefähr um drei Uhr nachts Zuhause ankamen, hatte Oliver Stephan und Lisa nach Hause gefahren. Lisa hatte sich ein bißchen gewundert, aber nicht protestiert.
Er brauchte erstmal eine Nacht, um in Ruhe durchzuschlafen, bevor er sich daran geben konnte Ordnung in seine Angelegenheiten zu bringen.
Rebecca hatte ihn auf der Rückfahrt permanent ignoriert, was er ihr kaum übelnehmen konnte. Er wollte am nächsten Morgen zuerst seine Beziehung mit Lisa endgültig beenden und dann würde er sofort bei Rebecca anrufen und ihr alles erklären.
Leider musste er feststellen, dass das alles nicht so glatt ablief, wie er es geplant hatte.
Lisa hatte erstmal einen Moment gebraucht um zu kapieren, was eigentlich los war. Dann war sie wütend geworden und sie hatten sich heftig gefetzt. Er musste zugeben, dass er das nicht mal so schlimm fand. Er war daran gewöhnt mit ihr zu streiten, und er hatte kein Problem damit zurück zu brüllen, doch dann hatte sie irgendwann angefangen zu weinen. Damit konnte er schon wesentlich schlechter umgehen. Sie tat ihm leid, und er nahm sie in den Arm um sie zu trösten und murmelte etwas davon, dass er mit ihr befreundet bleiben wollte und das sie ihm, trotz allem, viel bedeutete. Es war nicht so, dass er das nicht ernst meinte, nur bezweifelte er ernsthaft, dass es ihnen gelingen würde befreundet zu bleiben.
Als er sich schließlich von Lisa verabschiedete war es bereits fünf Uhr und er brannte darauf Rebecca anzurufen. Zuhause schnappte er sich sofort das Telefon und wählte ihre Handynummer. Er befürchtete, dass sie ihn sofort wegdrücken würde, musste jedoch feststellen, dass sie das gar nicht brauchte, da ihr Handy ohnehin ausgeschaltet war.
Er versuchte es noch ein paar Mal, hatte aber nicht mehr Erfolg, als beim erstenmal. Dann wählte er ohne zu zögern Manus Nummer.
„Hallo?“
„Hallo, Manu? Hier ist Oliver.“
„Hi, was kann ich für dich tun?“
„Du kannst mir Rebeccas Nummer von Zuhause geben. Ihr Handy ist aus.“
„Rebeccas Nummer?“ sie klang überrascht und auch etwas misstrauisch. Wahrscheinlich dachte sie sich gerade ihren Teil. Es wäre ein Wunder, wenn sie sich nicht schon ein paar Gedanken gemacht hätte, so wie Rebecca sich verhalten hatte. „Warte mal einen Moment.“
Ein paar Sekunden später meldete sie sich wieder: „Ich weiß nicht, ob sie noch in ihrer Wohnung ist, oder schon bei ihren Eltern. Ich gebe dir mal beide Nummern.“
Er notierte sich die Nummern, bedankte sich bei Manu und legte auf.
In der Wohnung nahm niemand ab, so versuchte er es bei ihren Eltern.
„Annika Holtmann“, meldete sich eine Frauenstimme.
„Hallo, hier ist Oliver“, es kam bei den meisten Eltern ganz gut an, wenn man erstmal seinen Namen nannte, auch wenn sie einen gar nicht kannten, „ich wollte Rebecca sprechen.“
„Oh“, die Stimme nahm einen bedauernden Klang an, „das tut mir leid, sie ist nicht da. Sie ist in ihrer Wohnung. Soll ich ihnen die Nummer geben?“
Na toll, wenn sie nicht ans Telefon ging und ihr Handy abgeschaltet hatte, dann hatte er keine Chance sie heute noch zu erreichen. Stephans Worte schossen ihm durch den Kopf: wenn sie zwei Tage Zeit hat drüber nachzudenken, dann wird sie dir nie wieder zuhören. Er musste das so schnell wie möglich mit ihr klären, sonst würde sie ihm bestimmt nicht glauben, dass er es ernst mit ihr gemeint hatte. Da kam ihm die rettende Idee.
„Danke, die Nummer hab ich, aber sie geht nicht ran. Vielleicht könnten sie mir einfach ihre Adresse geben. Ich wollte ihr nur was vorbei bringen, wenn sie nicht da ist kann ich es ihr ja einfach in den Briefkasten werfen.“ Sie zögerte einen Moment und er betete, dass sie nicht eine von diesen übervorsichtigen Müttern wäre.
„Natürlich. Ich gebe ihnen die Adresse.“
Er atmete erleichtert auf.
Bevor er sich auf den Weg machte, versuchte er noch einmal sie telefonisch zu erreichen, mehr pro Forma, er hatte vor, auf jeden Fall zu ihr zu fahren, egal was sie am Telefon zu ihm sagen würde. Doch sie war noch immer nicht zu erreichen.
Da er mit seinem Bus in der Stadt nur schlecht einen Parkplatz fand, schnappte er sich den Golf seiner Mutter. Er überlegte einen Moment, ob er sie fragen sollte, doch er hatte es eilig und sie würde schon nichts dagegen haben.
Es dauerte etwas, bis er die Straße gefunden hatte, Rebecca wohnte mitten in der Kölner Innenstadt, aber schließlich stand er vor ihrem Haus.
Er sah die Klingelschilder durch. R. Holtmann und E. Unger, das musste sie sein. Er hatte nicht gewusst, dass sie mit jemandem zusammen wohnte und er fragte sich, ob das für ihn wohl eher positiv oder negativ war. Es könnte sein, dass eine andere Person ihm eher die Tür öffnen würde, es konnte aber genauso gut sein, dass diese Person ihn hochkant rausschmiss, wenn sie bemerkte wer er war.
Seufzend drückte er auf die Klingel und hoffte das Beste. Wenigstens gab es keine Sprechanlage, so konnte Rebecca ihn nicht schon unten an der Türe aussperren, sie wusste ja nicht, dass er es war. Außer natürlich sie öffnete gar nicht erst, und danach sah es im Moment aus. Oder war sie vielleicht wirklich nicht da?
Er klingelte noch einmal, sie war bestimmt nicht weggegangen. So wie sie die letzten Tage ausgesehen hatte, würde sie sich eher Zuhause verkriechen. Dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich. Es war seine Schuld. Plötzlich wurde ihm zum erstenmal, in voller Härte, bewusst, wie sehr er sie verletzt haben musste. Zuvor hatte er soviel anderes im Kopf gehabt, dass er sich kaum Gedanken darüber gemacht hatte, wie schlecht es ihr eigentlich ging. In diesem Augenblick ging ihm auf, dass Stephan vermutlich recht gehabt hatte. Vielleicht hatte er wirklich den falschen Weg gewählt. Er hatte es vorher gewusst, doch er hatte die Konsequenzen, die sein Handeln haben könnte verdrängt, er hatte es gewusst, aber wirklich bewusst war es ihm nicht gewesen.
Rebecca lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Doch sie sah nicht die weiße Decke, vor ihrem inneren Auge tauchten immer wieder Bilder von Oliver auf. Schon den ganzen Tag hatte sie so dagelegen. Schlafen hatte gar keinen Sinn, sie konnte nicht schlafen, auf den Fernseher konnte sie sich auch nicht konzentrieren. So hatte sie beschlossen einfach dazuliegen. Vielleicht musste man diese Gefühlsachterbahn von Trauer, Wut und Eifersucht ja mitmachen, um die Situation zu verarbeiten.
Es klingelte an der Tür. Sie ignorierte es. Warum sollte sie aufmachen, sie wollte niemanden sehen, wahrscheinlich war es ohnehin nur der Postbote.
Als die Klingel zum zweitenmal ging wurde ihr bewusst, dass der Postbote so spät am Abend nicht mehr kommen würde. Was wenn es Manu, oder ihre Eltern waren, die sich Sorgen machten, weil sie sie nicht erreichen konnten? Bestimmt nicht, beruhigte sie sich. Die würden denken, sie wäre unterwegs und hätte vergessen ihr Handy aufzuladen.
Es klingelte nochmal. Jemand, der spontan hätte vorbei kommen wollen, hätte doch wohl schon aufgegeben, oder? Sie krabbelte mühsam aus dem Bett, mit dem festen Vorsatz, jeden, der ihr Selbstmitleid unterbrechen wollte, sofort abzuwimmeln.
Er fing schon an, sich wirklich Sorgen zu machen, als plötzlich doch noch der Summer ertönte. Erleichtert drückte er die Tür auf und nahm die ersten Treppenstufen im Laufschritt. Sie wohnte im dritten Stock und stand in der offenen Tür, als er raufkam. Blass und mit rot verquollenen Augen starrte sie ihn überrascht an.
Einen Moment war sie sprachlos, dann fragte sie wütend: „Was willst du hier?“
Er blieb ein paar Schritte vor ihr stehen. „Ich muss mit dir reden.“
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Mit mir reden? Worüber? Wenn du dich entschuldigen willst, ist schon in Ordnung, ich nehme an, du hast nicht geplant, dass sie vorbei kommt, dummer Zufall...“ Sie zuckte die Schultern, als wäre ihr das alles egal. Ihr Gesicht zeigte ihm jedoch überdeutlich, dass es nicht so war.
„Es tut mir leid“, begann er, „ich wollte...“
Sie beendete seinen Satz für ihn, statt ihn ausreden zu lassen: „...die Chance nutzen? Ist schon in Ordnung, ich hab dir doch erzählt, dass ich das schon öfter erlebt habe. Ich komm schon drüber weg.“
Ihre Worte taten ihm weh. Nicht nur der Vergleich mit diesem Björn. Auch das sie es so leichtfertig abtat, selbst wenn er ihr das nicht abnahm.
„Nein. Bitte lass es mich dir erklären“, versuchte er es noch einmal.
Sie lächelte unglücklich. „Was willst du mir denn daran noch erklären? Du hast eine Freundin! Und ich nehme an du hattest sie schon, als du mich kennengelernt hast. Du hättest sie also leicht mal erwähnen können, vor allem, weil ich dich danach gefragt hab...“
Es lief nicht sehr gut für ihn. Er musste sie doch irgendwie dazu bringen können, dass sie ihm mal eine Minute lang zuhörte. „Für mich war die Beziehung beendet. Das musst du mir glauben! Ich hätte es dir trotzdem erzählen sollen, aber...“
„Ach, für dich war die Beziehung beendet? Schade, dass sie davon nichts wusste! Und du hattest es wohl auch gerade vergessen, als du sie mit offenen Armen empfangen hast!“ erwiderte Rebecca höhnisch.
„Ich hab sie nicht mit offenen Armen empfangen!“ langsam wurde auch er wütend. Konnte sie ihm nicht wenigstens eine kleine Chance lassen? Schon der Nachmittag bei Lisa hatte ihn mitgenommen und Rebecca jetzt hier so zu sehen, gab ihm fast den Rest. Er war mittlerweile am Ende seiner Geduld.
„Ach nein? Wenn mein Exfreund mich mit so einem Kuss begrüßen würde, würde ich mir aber schon Gedanken machen!“ sagte sie gerade.
Der Kuss, den hatte er ja völlig vergessen. „Was hätte ich den machen sollen?“ fragte er sie jetzt. „Hätte ich vor euch allen sagen sollen, hey Lisa, tut mir leid, aber ich hab schon ´ne Neue!? Entschuldigung, aber so bin ich nicht!“
Sie schwieg einen Moment und starrte vor sich auf den Boden, dann richtete sie den Blick auf einen Punkt an der Wand hinter ihm und sagte leise: „Nein, das hättest du nicht machen sollen. Du hättest zu mir ehrlich sein sollen.“ Sie sah ihn an und ihr stiegen Tränen in die Augen: „Bitte geh. Es tut schon weh genug.“
„Aber, ich will dich nicht verlieren,... das ist mein Ernst.“ Er trat einen Schritt auf sie zu, doch sie wich zurück, als hätte sie Angst vor ihm.
„Tut mir leid, aber es ist zu spät“, damit schloß sie leise die Tür.
Er stand alleine in dem dunklen Hausflur und wusste nicht, ob er ihrem Wunsch folgen, oder hartnäckig sein und es noch einmal versuchen sollte. Er wollte ihre Entscheidung nicht akzeptieren, konnte sie nicht akzeptieren. Doch im Moment blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er hatte sie verraten um Lisas Stolz zu bewahren, und vielleicht, so gestand er sich jetzt ein, auch ein bißchen seinen eigenen. Er drehte sich langsam um und stieg die Stufen hinunter. Er musste einen Weg finden zu ihr durchzudringen. Er hatte ihr nicht einmal gesagt, dass er nicht mehr mit Lisa zusammen war. Woher sollte sie auch wissen, dass er es ernst mit ihr meinte, wenn sie dachte, er hätte noch immer eine Freundin?
Die ganze Fahrt über grübelte er darüber nach, was er tun könnte, um sie zurück zu bekommen. Grübeln war besser, als die Verzweiflung zuzulassen, die ihn bei ihren Worten gepackt hatte.
Tut mir leid, aber es ist zu spät. Die traurige Resignation, mit der sie gesprochen hatte, ließ es noch endgültiger erscheinen. Aber das wollte er nicht zulassen. Diese Vertrautheit, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, obwohl sie nur ein paar Tage zusammen verbracht hatten, das wollte er nicht so einfach aufgeben. Und er wusste, dass sie für ihn das Gleiche empfinden musste. Sonst hätte er sie nie so sehr verletzten können. Sie hatte zwar gesagt, sie würde sich immer schnell verlieben, aber was er in ihren Augen gesehen hatte, war nicht nur der verletzte Stolz, den fünf Tage enttäuschte Verliebtheit hinterließen. Es war mehr.
Das Gefühl, verraten worden zu sein, von jemandem, dem man vertraut hatte.
Die Einsamkeit, wenn man plötzlich glaubte ganz alleine da zu stehen.
Die Trauer, die Wut und die Selbstvorwürfe.
Das Wissen, das man selbst die Schuld trug, ohne die Art dieser Schuld überhaupt zu kennen.
Es war ähnlich wie das, was er nach dem Selbstmordversuch seiner Mutter gespürt hatte.
Er schrak zusammen, als ihm das bewusst wurde. Es war das, was Rebecca ihm hatte sagen wollen. Er hatte keine Schuld an dem, was seine Mutter getan hatte. Und sie hatte ihn nicht alleine gelassen. Sie hatte es vielleicht versucht, und damit hatte sie ihn verraten, aber sie war wieder zurück gekehrt. Sie war am Leben und er war nicht allein. Sie sorgte sich um ihn, und dass sie das tat hieß nicht, wie er sich in den letzten Jahren eingeredet hatte, dass sie immer noch gefährdet sei, es hieß, dass sie wieder für ihn da sein wollte.
Zum erstenmal begriff er, dass seine Mutter ihn nicht hatte verletzen wollen, genauso wenig, wie er Rebecca hatte verletzen wollen. Es war vielmehr eine Randerscheinung, ein Nebeneffekt von etwas ganz anderem gewesen. Und die Gründe für ihre Tat hatten nicht bei ihm gelegen.
Kapitel 11
Er kam Zuhause zur Tür herein und seine Mutter empfing ihn mit einem bitter bösen Blick.
„Sag mal, was denkst du dir eigentlich dabei, so einfach mit meinem Auto ab zu hauen?! Dir geht´s wohl zu gut?!“
Plötzlich sah er seine Mutter mit ganz anderen Augen. Sie konnte ziemlich energisch sein und sie wusste, was sie wollte und sie konnte sich durchsetzen. Wieso war ihm das so lange nicht aufgefallen? Er musste ganz bestimmt keine Angst haben, dass diese Frau nochmal auf die Idee kam sich etwas anzutun. Diese Erkenntnis entlockte ihm leider ein kleines Grinsen.
„Findest du das auch noch lustig?! Egal, ich hab es eilig, ich muss zu einem Geschäftsessen. Wir reden später! Auch über euren Urlaub!“ sie schnappte ihm den Schlüssel aus der Hand und war auch schon draußen, bevor er etwas erwidern konnte. Na gut, mit ihrer Strafpredigt konnte er sich später auseinander setzen. Jetzt sollte er sich erstmal überlegen, wie er Rebecca klar machen konnte, was eigentlich passiert war. Da sie ihm nicht zu hörte, zog er es kurz in Erwägung eine andere Person zu schicken. Aber dann bezweifelte er, dass ihm das viel nützen würde, es würde nur feige wirken, und noch unehrlicher, als er ohnehin schon erschien.
Langsam bekam er Kopfschmerzen, gute Ideen kamen ihm leider nicht.
Er beschloss am nächsten Tag weiter nach einer Lösung zu suchen und wenn ihm nichts Besseres einfiel, dann würde er eben so lange vor ihrer Tür warten, bis sie bereit war ihm zuzuhören.
Nachdem er sich in der Küche etwas zu Essen organisiert hatte, ging er ins Wohnzimmer um es sich auf dem Sofa vorm Fernseher bequem zu machen. Seine kleinere Schwester, Sophie, sah sich gerade irgendeine Schnulze an. Danach stand ihm der Sinn nun überhaupt nicht. Schnell schnappte er sich die Fernbedienung und ließ sich auf ´s Sofa fallen. Er fing an zu zappen.
„Hey, ich will das sehen!“ rief sie entrüstet.
Er ignorierte sie.
„Hallooo?! Schalt gefälligst wieder um!“ Er musste zugeben, dass es ihm Spaß machte, sie ein bißchen zu ärgern, auch wenn es fies war. Es war eine gelungene Ablenkung.
„Ich schalt ganz bestimmt nicht wieder um!“
Sie versuchte ihm die Fernbedienung wegzuschnappen, aber er hatte die größere Reichweite und war stärker als sie.
„Mensch, kannst du nicht wen anders nerven?! Deine Freundin, oder so?!“
Autsch, dass hatte gesessen.
„Welche Freundin?“ fragte er in gespielter Überraschung zurück. Irgendwann musste er es ihnen ja doch erzählen. Nach anderthalb Jahren würde es auffallen, wenn Lisa plötzlich nicht mehr auftauchte. Das war der Vorteil, dachte er ein wenig amüsiert, wenn man mit drei Frauen zusammen wohnte. Es reichte einer von ihnen die Neuigkeiten zu erzählen und die anderen beiden würden es schneller wissen, als er gucken konnte.
„Na Lisa!...Oh“, Sophie hielt verwirrt inne und schien die Fernbedienung plötzlich vergessen zu haben, „seid ihr etwa nicht mehr zusammen?“
Ha, das Mittel, mit dem man jede Frau dazu brachte, zu vergessen was sie eigentlich wollte: man musste sie nur neugierig machen.
„Nein“, sagte er knapp.
„Aber, ich dachte, alles ist wieder in Ordnung. Paula hat gesagt, Lisa wäre dir sogar bis nach Italien nach geflogen.“ Wenn es eine weiß wissen es alle... Er musste sich ein Grinsen verkneifen.
„Ist sie“, gab er ruhig zu.
„Also hast du Schluß gemacht?“ fragte die kleine Kröte neugierig.
„Ja.“
Sie verdrehte genervt die Augen: „Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Warum hast du Schluß gemacht. Ich mochte Lisa.“
Er lächelte seine Schwester freundlich an: „Ich mag sie auch.“
Plötzlich grinste sie triumphierend: „Ich weiß es, es hat was mit diesem anderen Mädchen zu tun, richtig?!“
Er sah überrascht auf. „Was?!“
„Ha, ich hatte Recht!“ rief sie erfreut. Er hätte sich ohrfeigen können. Das hatten seine drei Damen noch nicht wissen sollen. „Stephan war vorhin hier“, begann Sophie gerade, „Er und Paula haben irgendwas von dir und... Re...bla, bla, bla, geredet.“
Stephan, der Verräter, das durfte doch nicht wahr sein! Er wusste schon, warum er nicht gewollt hatte, dass seine Schwester und sein bester Freund zusammen kamen. Verdammte Scheiße, jetzt konnte er sich wirklich auf was gefasst machen. Als hätte er nicht schon genug Probleme.
Sophie musterte ihn kopfschüttelnd. „Männer sind wirklich Schweine!“
„Hey!“ na das fehlte ja noch, dass er sich jetzt schon vor der Kleinen rechtfertigen musste, „Das geht dich mal überhaupt nichts an!“
Sie zuckte die Schultern: „Man denkt immer, die Jungs, die man selber kennt wären anders, scheinbar ein Irrtum. Und wieder hast du mir ein Stück meiner gesunden Naivität geraubt.“
„Haha, gesunde Naivität! Das ich nicht lache!“ gab er wütend zurück und warf ein Kissen nach ihr. Sie kicherte, was ihm ebenfalls ein Lächeln entlockte. Warum lag ihm eigentlich soviel an diesem Quälgeist? Vielleicht gerade deshalb, weil sie ihn trotz allem immer wieder zum Lachen bringen konnte.
Seine Mutter ließ sich leider nicht so leicht bändigen. Um kurz vor neun stürmte sie ins Wohnzimmer. Oliver hatte die Fernbedienung zum Schluß doch eingebüßt, kleine Schwestern konnten so penetrant sein! Und musste nun doch irgendeine amerikanische Schnulze über sich ergehen lassen. Freilich hätte er auch nach oben in sein Zimmer gehen können, aber er hatte so eine Vorahnung, dass er wohl schnell wieder ans Grübeln kommen würde, wenn er alleine war.
So lag er nun auf der Couch und versuchte Sophie mit dämlichen Kommentaren, über diesen noch dämlicheren Film, auf die Palme zu bringen. Er hatte gehofft, seine Mutter würde sich im Laufe des Abends etwas abregen, aber scheinbar war eher das Gegenteil der Fall.
„Setz dich hin, ich muss mit dir reden“, sagte sie barsch. Er sah aus dem Augenwinkel, wie Sophie in ihrem Sessel sich ebenfalls neugierig aufsetzte. Seine Mutter hatte es auch bemerkt und drehte sich um. „Lässt du uns bitte mal alleine? Wenn du willst kannst du den Film bei mir zu Ende sehen.“ Sophie zog eine beleidigte Schnute, aber sie widersprach nicht. Wäre auch zwecklos gewesen. Als sie weg war setzte seine Mutter sich in den Sessel, ihm schräg gegenüber. „Also erstmal, was sollte das mit dem Auto, heute Nachmittag? Du weißt, dass ich es brauche und du kannst wenigstens fragen, bevor du es nimmst.“
Er nickte: „Es tut mir leid, ich hatte was zu erledigen, in der Stadt, und keine Zeit zu fragen.“
„In Ordnung, aber was hattest du denn so wichtiges zu erledigen?“ fragte sie skeptisch. Er dachte einen Moment nach, wie sagte er das jetzt am besten ohne dass sie hinterher beleidigt wäre? Ach was sollten die Feinheiten, das war nun mal seine Sache, sollte sie es akzeptieren, oder lassen: „Darüber möchte ich nicht sprechen.“
Sie legte den Kopf schief und sah ihn forschend an: „Ich bitte dich jetzt, mir ehrlich zu antworten. War es etwas, was mir nicht gefallen würde?“
„Nein, wie kommst du denn darauf?“ fragte er heftig zurück.
„Vielleicht durch diesen Italienurlaub?!“ antwortete sie in gespielt überraschtem Ton, „Womit wir beim nächsten Thema wären.“
Er seufzte innerlich auf, und schwor sich nie wieder mit einer seiner Schwestern in Urlaub zu fahren.
Plötzlich beugte seine Mutter sich vor und musterte ihn besorgt: „Machst du so was öfter, ich meine solche... leichtsinnigen Sachen?“
So ganz konnte er das ungute Gefühl nicht abschütteln, dass ihn erfasste, als er die Sorge in ihrem Gesicht sah. „Es war nicht so leichtsinnig, wie Paula es wahrscheinlich dargestellt hat.“
„Sie meinte, die anderen wären auch nicht begeistert gewesen“, sagte seine Mutter scharf.
Er schnaubte verächtlich. „Klar, soll ich dir was sagen? Die wären alle Drei mit mir gesprungen, wenn die Mädels nicht so ein Theater gemacht hätten!“
„Dann darf ich das wohl als Antwort werten“, sagte sie hart, „du machst so was öfter!“
„Ich mach doch nichts, was wirklich gefährlich wäre“, er hob abwehrend die Hände, „ich meine, ich würde mich nie aus ´ner fahrenden Straßenbahn hängen, oder so.“
„Das beruhigt mich aber“, antwortete sie trocken, „Und wieso verschweigst du mir so was? Auch diesen Ausflug nach Neapel, wieso sagst du mir so was nicht? Und noch schlimmer, wieso willst du nicht mal, dass deine Schwester mir etwas davon erzählt?“
Er machte eine umfassende Geste: „Deshalb?! Ich bin 21, ich will diese Diskussion nicht nach jedem Urlaub führen!“
„Hast du so wenig vertrauen zu mir? Wenn du mir selbst davon erzählen würdest, dann würde ich mir vielleicht gar nicht solche Sorgen machen, aber wenn du es mir verschweigst, dann mache ich mir erst wirklich Gedanken.“ Sie lächelte leicht. „Du erinnerst mich an deinen Vater. Er war genauso in deinem Alter.“
Er sprang auf: „Hör auf! Ich will dich nicht an ihn erinnern!“
„Was?“ fragte sie tonlos, sie blickte ihn erschrocken an: „Warum willst du nicht...?“
Er setzte sich zittrig wieder hin, und stützte kurz den Kopf in die Hände bevor er sie ansah: “Ich will dich nicht an ihn erinnern, weil ich Angst habe, dass es dich traurig macht und ich habe Angst, dass du dir dann etwas antust.“
Sie sah bestürzt aus, aber sie wirkte nicht im Geringsten traurig, zumindest nicht auf diese gefährliche Art, die sie nach dem Tod seines Vaters erfasst hatte. Er hatte es ihr eigentlich nicht so sagen wollen. Er hatte es ihr gar nicht sagen wollen, gerade nachdem er geglaubt hatte endlich damit umgehen zu können. Aber scheinbar hatten seine Gespräche mit Rebecca eine Tür in ihm geöffnet. Sie ermöglichte es ihm, darüber zu sprechen. Und scheinbar musste er es endlich loswerden.
„Wie kommst du denn darauf, dass ich mir etwas antun könnte?“ fragte sie schließlich.
Jetzt war er an der Reihe, sie fassungslos anzusehen: „Weil“, er stockte einen Moment, und wusste nicht, ob er es wirklich sagen konnte, dann kamen die Worte wie von selbst aus seinem Mund: „weil ich bis heute Alpträume davon habe, wie du im Badezimmer lagst, mit aufgeschlitzten Handgelenken und alles war voller Blut...“ Es half ihm, dass er schon einmal mit Rebecca darüber gesprochen hatte. Diesmal hatte er sich im Griff, nur seine Hände zitterten leicht.
„Oh mein Gott!“ sie legte ihre Hand leicht auf seinen Arm „Warum hast du mir das denn nie erzählt?“
„Ich wollte dir nicht zur Last fallen, es war dir doch damals alles zuviel. Wir waren dir zu viel“, sagte er achselzuckend.
Sie beugte sich vor und nahm seine Hände zwischen ihre. Sie waren klein und schlank, mit schmalen Fingern. „Hör mir zu. Ihr wart mir nie zuviel. Ich war damals... nicht ganz bei mir, aber ich verspreche dir, das wird sich nie, nie wiederholen“, sagte sie fest. Jetzt kam er sich fast ein bißchen albern vor. Sicher würde das nicht mehr passieren, aber...
„Woher soll ich das denn wissen, du hättest uns einmal im Stich gelassen...“ er brach ab, dann fügte er langsam hinzu: „Ich weiß, ich bin keine 16 mehr, aber, es ist einfach so in mir drin.“
Sie drückte seine Hände: „Ich weiß nicht genau, was damals mit mir los war, aber es wird nicht mehr passieren, denn wenn es mir wieder so gehen sollte, dann weiß ich, was ich dagegen tun kann.“
Sie schwiegen einen Moment, dann fragte sie besorgt: „Diese Alpträume, hast du die oft?“
„Kurz danach hatte ich sie jede Nacht“, sagte er langsam, „aber jetzt nicht mehr so oft.“
„Wie oft?“ wollte sie wissen.
Er zuckte die Schultern: „Keine Ahnung, im Urlaub nur einmal.“
Sie sah auf: „Nachdem wir... telefoniert haben?“
Er sah ihr einen Moment lang in die Augen, erwog schon wieder, ob er ihr das zumuten durfte.
„Sag es mir!“ forderte sie. Er nickte: „Nachdem du mich in Neapel angerufen hast.“
„Deshalb hast du versucht mir so wenig wie möglich zu erzählen, damit ich mir keine Sorgen mache, weil du dir sonst auch Sorgen gemacht hättest...“ sagte sie leise.
Er wusste nicht mehr was er noch sagen sollte, und da sie ebenfalls in Gedanken versunken schien, schwiegen sie eine ganze Weile. Als es ihm schließlich zu dumm wurde, meinte er: „Sag mal, brauchst du mich noch, oder hast du alle Punkte abgehakt?“
Sie sah ihn böse an, was ihn beruhigte und sagte: „Eine Frage hab ich noch, du Großmaul, warum kommt das gerade jetzt?“
Mist, darüber wollte er nun wirklich nicht sprechen. Erstens war Rebecca seine Privatsache, zumindest mehr oder weniger und zweitens wollte er seiner Mutter nicht erzählen, dass er einem Dritten davon erzählt hatte.
„Ich weiß nicht, warum gerade jetzt“, sagte er wahrheitsgemäß, „Ich kann es mir vielleicht denken, aber das ist meine Sache.“
Sie sah ihn lange an: „Ok, du kannst mir Dinge verschweigen, das ist dein gutes Recht. Jeder hat seine Privatsphäre, ich erzähle dir auch nicht alles. Aber versprich mir, dass du mir nichts verschweigst, weil du dir Sorgen um mich machst.“
„Ich verspreche es dir“, sagte er fest.
Dann stand er auf, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und ging. In der Tür drehte er sich noch einmal um: „Übrigens, bevor du es von Sophie erfährst, Lisa und ich sind nicht mehr zusammen.“
Er verließ das Wohnzimmer, mit einem breiten Grinsen, nachdem er die Neugier auf dem Gesicht seiner Mutter gesehen hatte.
Nach Olivers Besuch ging es Rebecca noch schlechter als zuvor, obwohl sie nicht gedacht hatte, dass das überhaupt möglich wäre. Was hatte er mit diesem Besuch nur bezwecken wollen? Wollte er sie sich warmhalten, falls Lisa mal keine Zeit hatte? Das hieße dann wenigstens, dass sie gut im Bett gewesen war. Nein, wenn sie fair blieb, dann musste sie zugeben, dass er relativ ehrlich gewirkt hatte, als er sagte, dass er sie nicht verlieren wollte. Vielleicht hatte er wirklich nur ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber wie konnte er nur glauben, dass sie nach allem was passiert war mit ihm befreundet sein wollte, oder konnte? Da musste er schon sehr naiv sein. Sie grübelte die halbe Nacht und kam zu keinem Ergebnis. Das einzige, was sie wusste war, dass sie aus seiner Nähe weg musste. Aber wohin? In ihrer Wohnung war sie offenbar nicht mehr sicher. Ihre Eltern wohnten auch ganz in der Nähe, also kam das auch nicht in Frage. Schließlich fiel ihr ein, dass ihre Großeltern schon seit längerem darauf drängten, dass sie sie noch einmal besuchte. Die beiden waren die Eltern ihrer Mutter und wohnten auf dem Land. Nicht weit entfernt, vielleicht anderthalb Stunden mit dem Auto, aber das dürfte wohl reichen. Es war auf jeden Fall eine andere Welt. Sie würde sich ein bißchen umsorgen lassen und hätte ihre Ruhe.
Sie beschloß am nächsten Morgen schon früh mit der Bahn zu ihren Eltern raus zu fahren und dort das Auto zu holen, dann würde sie einfach losfahren. Ihre Großmutter hatte schon öfter gesagt, dass sie sich freuen würde, wenn die Enkelin spontan vorbei käme. Nachdem sie diesen Entschluß gefasst hatte, verspürte sie fast so etwas wie Auftrieb. Sie schaffte es dann sogar, in dieser Nacht, noch ein wenig zu schlafen
Kapitel 11
Oliver schlief sich am nächsten Morgen richtig aus, er hatte einiges nachzuholen, von den letzten Urlaubsnächten, der Rückfahrt und der gestrige Tag war auch nicht gerade entspannt gewesen. Um zwölf Uhr tappte er schließlich verschlafen in die Küche. Als er sah, dass alle seine drei Frauen am Tisch saßen, wurde er schon etwas misstrauisch. Er schnappte sich erstmal einen Kaffee und blieb, mit der Zeitung, an der Anrichte stehen.
„Jetzt guckt ihn euch an, unseren Casanova, wie er da so lässig steht, der Traum aller einsamen Frauenherzen!“ begann Paula trocken.
Er sah kurz von der Zeitung auf, ließ sich aber sonst nicht beeindrucken.
„Wohl eher der Alptraum!“ meinte Sophie grinsend.
„Jetzt lasst euren Bruder in Ruhe, das ist seine Sache!“ Das war seine Mutter und er glaubte ihr nicht eine Sekunde, dass sie das ernst meinte, sie war genauso neugierig wie seine Schwestern, da war er sich sicher.
„Ich will doch nur wissen, warum er so plötzlich mit Lisa Schluss gemacht hat“, maulte Sophie.
„Ja, und gerade jetzt, wo sie ihm sogar nach Italien nach geflogen ist“, fügte Paula noch hinzu.
Er ignorierte sie, die einzige Chance, sie möglicherweise loszuwerden.
„Und was ist eigentlich mit diesem anderen Mädchen? Wie hieß sie noch?“
„Rebecca. Stephan hat so komische Andeutungen gemacht, was sie betraf...“
Konnte der Idiot nicht einfach seine Fresse halten. Wenn er den das nächste Mal in die Finger bekam...
„Ach, das war die Frau aus Neapel, richtig?“ mischte seine Mutter sich jetzt wieder ein. Er hatte es doch gewusst. Die drei würden garantiert nicht locker lassen. In solchen Momenten wünschte er sich seinen Vater am meisten zurück. Wenigstens eine männliche Unterstützung sollte er doch haben.
Aber das war zwecklos, er war eingesperrt mit diesen drei klatschsüchtigen Weibern.
„Aber du hast doch gesagt, da war nichts mit dieser Rebecca, oder?“ fragte seine hinterhältige Mutter gerade.
Paula zuckte die Schultern: „Ich war ja nicht in Neapel dabei.“
Er wollte nicht, dass sie über Rebecca sprachen. Es ging sie nichts an, was zwischen ihnen war, aber er wusste, sie würden dieses Spiel zur Not auch ein paar Tage lang durchhalten. Wahrscheinlich war es doch ein Fehler gewesen, zu sagen, dass er nicht mehr mit Lisa zusammen war.
„Ist Neapel eigentlich eine schöne Stadt?“ fragte Sophie jetzt in aller Unschuld.
„Ich spendier euch gerne einen Flug dahin, aber nur wenn ihr einfach Tickets nehmt!“ antwortete er bissig.
„Ach komm schon, wir sind doch nur ein bißchen neugierig!“ rief seine Mutter.
„Ein bißchen neugierig? Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts!“ gab er zurück.
Die drei kicherten wie hysterische Hyänen auf Beutefang. Leider war er die Beute, und sie waren verdammt zähe Jäger.
„Wir können uns das meiste doch sowieso schon denken!“ setzte Paula ihm nochmal zu. Damit hatte sie sogar nicht mal Unrecht. Doch so lange er nichts sagte, waren das alles nur Vermutungen, und es war ein großer Unterschied, ob sie etwas nur vermuteten oder es wussten. Das hatte ihn die Erfahrung gelehrt. Mehr als eine seiner Exfreundinnen hatte ihr Fett wegbekommen, wenn er ehrlich genug gewesen war, ihnen ein paar Dinge über sie zu erzählen.
„Ach Scheiße!“ er warf die Zeitung auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust „Ihr lasst ja eh nicht locker.“ Die drei Gesichter die ihm zugewandt waren hatten alle dasselbe sensationslüsterne Lächeln auf den Lippen. Weiber!
„Ich hab mit Lisa Schluß gemacht, weil es einfach nicht mehr lief, OK? Ganz unspektakulär. Wir haben uns nur noch gestritten, aber das werdet ihr ja wohl mitbekommen haben! Und wenn ihr das auch noch wissen müsst: Es geht ihr ziemlich schlecht. So, jetzt könnt ihr mich gerne fertig machen!“ Er hätte es sogar verdient, allerdings nicht wegen Lisa.
„Aber Schatz, es will dich doch niemand fertig machen“, sagte seine Mutter beschwichtigend.
„Kommt ganz drauf an...“ warf Paula dazwischen „Was war denn mit Rebecca?“
„Das“, sagte er langsam, „geht dich einen feuchten Dreck an! Und wenn dir diese Auskunft nicht reicht, dann frag doch deinen Freund!“
Rebecca war um acht Uhr morgens aufgewacht. Sie hatte von Oliver geträumt. Von ihrer gemeinsamen Nacht am Strand. Sie war aufgewacht und glücklich gewesen. Leider nur so lange, bis ihr bewusst war, was wirklich passiert war. Sie schalt sich selbst eine dumme Kuh. Nach gerade mal zwei Wochen stellte sie sich schon so an. Was würden andere sagen, die Jahrelang mit ihren Freunden zusammen gewesen waren?
Doch sie konnte nichts dagegen tun. Das einzige, was half war Ablenkung, also begann sie ein paar Sachen zusammen zu packen. Drei Stunden später saß sie auf der Gartenbank, hinter dem Haus ihrer Oma und sah zu wie die alte Frau Bohnen in eine Schüssel schnippelte.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel und wahrscheinlich wäre sie glücklich gewesen, wenn ihre Gedanken nicht immer wieder zu Oliver gewandert wären.
„Ach Kindchen, ich freu mich so, dass du gekommen bist“, sagte ihre Oma gerade zum dritten Mal. Sie würde die Zeit hier einfach genießen. Zumindest konnte sie sich hier ein bißchen im Selbstmitleid suhlen, ohne dass es jemanden stören würde.
Nach dem Mittagessen, pünktlich um zwölf, genoß sie noch ein wenig die Sonne im Garten. Sie breitete sich eine Decke auf der Wiese aus und machte es sich darauf mit einem Buch gemütlich. Seltsamerweise konnte sie sich damit tatsächlich einigermaßen ablenken. Es war nicht so, dass sie Oliver ganz vergessen konnte, doch für ein paar Minuten hatte sie andere Dinge im Kopf.
Oliver hatte noch mehrmals versucht, Rebecca anzurufen. In ihrer Wohnung ging der Anrufbeantworter ran und das Handy hatte sie einmal abgehoben, aber als er sich meldete, hatte sie ihn weggedrückt und danach das Handy ausgeschaltet.
Ob sie bei ihren Eltern war. Er wollte nicht schon wieder bei denen anrufen. Wie sollte er auch erklären, dass er schon wieder wissen wollte, wo sie war? Das würde ihnen sicher auch langsam seltsam vorkommen. Er überlegte, ob er Manu anrufen sollte, aber das wollte er auch nicht so recht. Vielleicht sollte er einfach ihren Wunsch akzeptieren und sie ein paar Tage lang in Ruhe lassen, dann würde sie möglicherweise auch ans Handy gehen, wenn er anrief. Es widerstrebte ihm zwar nichts zu tun, doch im Moment hatte er keine große Wahl.
Ein paar Tage später traf er sich mit Tim, David und Manu. Sie gingen abends was trinken, und im Laufe des Gespräches erzählte Manu, Rebecca sei zu ihren Großeltern gefahren.
„Hat ihre Mutter zumindest gesagt“, sagte Manu schulterzuckend, „Sie hat mich vorher nicht mal angerufen, um Bescheid zu sagen.“ Sie schien etwas verärgert, und er hatte den Eindruck, als hätte sie nicht den blassesten Schimmer, was mit Rebecca los war. Er dagegen wusste es ziemlich genau. Nur schade, dass er keine Möglichkeit hatte, an die Adresse dieser Großeltern zu kommen. Er schüttelte über sich selbst den Kopf, er würde ihr zu Opa und Oma nachfahren, wenn es sein müsste. Hatte er sich da nicht doch ein bißchen rein gesteigert? Nach den paar Tagen konnte er doch wohl kaum so starke Gefühle für sie haben, wie er es sich einredete. Trotzdem brachte er es nicht fertig seine Gedanken von ihr abzulenken. Wenigstens hatten seine Schwestern vorübergehen aufgehört ihn zu nerven, nachdem er ihnen das mit Lisa gesagt hatte.
Es verging etwas mehr als eine Woche, seit er bei Rebecca gewesen war und Seltsamerweise wurde seine Sehnsucht nach ihr nicht kleiner, wie er es erwartet hatte, sie wurde größer. Er konnte nachts kaum noch schlafen, weil er dauernd an sie denken musste. Zwei Wochen nachdem er sie zuletzt gesehen hatte, hielt er es schließlich nicht mehr aus. Er griff zum Telefon und rief bei ihren Eltern an.
Rebecca war jetzt schon zwei Wochen bei den Großeltern und sie merkte, dass es langsam an der Zeit war, wieder nachhause zu fahren. Nicht dass die beiden wollten, dass sie fuhr. Sie selbst hatte das Gefühl, dass ein Luftwechsel längst wieder überfällig sei. Sie wurde immer ruheloser. Weil ihr Hungergefühl sich immer noch nicht wieder richtig eingestellt hatte, hatte sie auch schon ein paar Kilo abgenommen. Ihre Oma nahm das nur kopfschüttelnd zur Kenntnis: „Mädelchen, du musst doch was essen. Guck mal, an dir ist ja nichts mehr dran.“
Rebecca winkte ab: „Keine Angst Oma, ich werde schon nicht im Nichts verschwinden.
Ihre Oma setzte sich zu ihr an den Küchentisch, wieder einmal mit einer ihrer unzähligen Arbeiten beschäftigt.
„Sag mal Rebecca, ist es ein Bub, der dir so zu schaffen macht?“ fragte ihre Oma beiläufig.
„Wie kommst du denn darauf?“ fragte Rebecca überrascht zurück.
„Das kann man doch sehen, seit zwei Wochen sitzt du hier wie das leidende Elend. Ich sag dir was“, sie legte Rebecca die Hand vertraulich auf den Arm, „die, die was zum verlieben sind, die sind nichts zum heiraten. Also schlag dir den Kerl ganz schnell aus dem Kopf und guck nach was Vernünftigem.“ Sie wandte sich wieder ihrer Stopfarbeit zu. „Deine Mutter und ich haben es ja auch so gemacht. Wir haben beide keine Männer zum verlieben, aber wir haben ein Dach über dem Kopf und sind zufrieden.“
Rebecca dachte an die häufigen Streitereien Zuhause und überlegte, dass diese Ansicht wohl eher die verquere Meinung einer alten Frau widerspiegelte. Sie glaubte nicht, dass ihre Mutter sehr zufrieden war und bestimmt hätte sie sich ihr Leben schon ein bisschen anders vorgestellt, wenn sie ehrlich war.
Trotzdem nickte Rebecca, da sie schon vor Jahren festgestellt hatte, dass es ohnehin nichts brachte zu widersprechen.
„Na, das wird schon“, sagte ihre Oma tröstend und tätschelte ihr kurz den Arm.
Am nächsten Tag fuhr Rebecca wieder nach Hause.
Oliver hatte mit Rebeccas Mutter telefoniert und ihr zu erklären versucht, was er von ihr wollte. Sie beendete das Gespräch schließlich mit den Worten: „Wissen sie was, junger Mann, kommen sie doch einfach mal vorbei und erklären sie mir das alles in Ruhe.“
Na toll, jetzt hatte er auch noch einen Elternbesuch an der Backe. Diese Frau verlangte wirklich wesentlich mehr von ihm, als nur gutes Aussehen.
Nachdem er sich ihre Adresse aus dem Telefonbuch besorgt hatte, machte er sich auf den Weg.
Rebeccas Mutter hatte auf den ersten Blick überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrer Tochter, fand Oliver.
Sie war groß, schon etwas älter und eine von diesen Frauen, die immer Perfekt aussehen und so eine Ruhe ausstrahlten. Seine Mutter war quirlig, und immer auf Achse. Rebeccas Mutter wirkte so, als würde sie sich höchstens mal mit ihren Freundinnen zum Tee verabreden. Trotzdem war sie ihm nicht unsympathisch. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und sie bedeutete ihm Platz zu nehmen und setzte sich selbst ihm gegenüber.
„So, sie wollten mir etwas erzählen“, Sie sah ihn mit einer Mischung aus Strenge und Interesse an.
„Eigentlich wollte ich nur wissen, wo Rebecca im Moment ist“, erwiderte er freundlich.
Sie lächelte ein wenig: „Ok, was wollen sie von meiner Tochter?“
„Ich habe ihnen doch schon erklärt, dass ich nur mit ihr reden möchte.“ Er konnte kaum glauben, was er hier tat. Er saß bei der Mutter seiner..., was auch immer Rebecca für ihn war, auf dem Sofa und ließ sich verhören und zwar freiwillig!
„Und worüber möchten sie mit ihr reden? Oder anders gefragt, warum können sie nicht warten, bis sie zurück kommt?“ Sie war nicht dumm. Er fasste sich ein Herz, ein paar Wahrheiten musste er wohl los werden, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Also erzählte er der Frau vor ihm, dass er mit Rebecca im Italienurlaub gewesen war, und dass es dort zu einem Missverständnis gekommen war, dass er so schnell wie möglich aus der Welt schaffen wollte.
Sie nickte erst, dann fragte sie plötzlich scharf: „Hat dieses Missverständnis vielleicht damit zu tun, dass Rebecca hier vor zwei Wochen mit rotgeweinten Augen aufgetaucht ist und so schnell wie möglich weg wollte?!“ Puuh, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Was sollte er jetzt sagen? Es war zweifelhaft, ob die Wahrheit ihn weiter bringen würde. Trotzdem, eine andere Wahl hatte er ja kaum. Also biss er eben in den sauren Apfel: „Vermutlich schon. Ich wollte das nicht, es war ein... Irrtum. Mir liegt wirklich was an Rebecca.“
Sie ließ sich etwas Zeit zum überlegen, dann warf sie ihm einen warnenden Blick zu: „Ich werde ihnen die Adresse geben. Aber ich hoffe für sie, dass es sich wirklich um ein Missverständnis gehandelt hat.“
Er verließ das Haus und hatte das Gefühl einer großen Gefahr entronnen zu sein. Ähnlich, wie wenn man vom Zahnarzt kommt. Sobald man die Praxis verlässt, hat man das Gefühl etwas geschafft zu haben, und die Laune bessert sich direkt auf.
Es war schon wieder fast acht Uhr, als er Zuhause ankam. Gut, es war Sommer und lange hell, trotzdem hatte er das Gefühl, für heute genug erreicht zu haben. Er beschloss, am nächsten Morgen erst raus zu Rebeccas Großeltern zu fahren. Die eine Nacht würde er jetzt auch noch überstehen, vor allem mit der Aussicht, sie dann endlich wiederzusehen.
Es war kurz nach eins am nächsten Tag, als er schließlich vor dem Haus ihrer Großeltern anhielt. Es war ein niedliches kleines Hexenhäuschen, mit einem großen Garten, voller Wildblumen und hochstehendem Gras. Zu seiner Verwunderung sah er ein paar kleinere Kinder in dieser Oase spielen. Er öffnete das Gartentürchen und ging den Weg hinauf zum Haus.
Oliver klingelte, und überprüfte noch einmal, ob der Name auf dem Klingelschild mit dem auf seinem Zettel übereinstimmte. Die Tür öffnete sich, und eine hübsche rothaarige Frau stand vor ihm. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. Hatte er sich vielleicht doch im Haus geirrt?
„Frau Weißinger?“ fragte er trotzdem unsicher.
Sie nickte „Ja, aber sie suchen bestimmt meine Schwiegermutter.“ Schwiegermutter, ihm ging ein Licht auf. Die Kinder im Garten waren vermutlich Rebeccas Cousins und Cousinen.
„Genau genommen suche ich Rebecca Holtmann“, sagte er schnell. Er war sich nicht sicher, ob er gerne mit ihr ins Haus kommen wollte, mit zwei alten Leutchen wurde er vielleicht noch fertig, aber wenn da drinnen noch mehr Onkels und Tanten warteten könnte es schwer werden, an Rebecca ranzukommen. Vor allem, weil sie sich wahrscheinlich nicht so einfach dazu überreden lassen würde ihm endlich zuzuhören.
Die Frau sah ihn etwas verwirrt an, dann meinte sie: „Oh, das tut mir leid, aber Rebecca ist vor einer halben Stunde abgefahren.“
„Nicht schon wieder!“ rutschte ihm heraus.
Die Frau lächelte „Kommen sie doch erstmal rein“, damit zog sie ihn resolut über die Schwelle.
Kapitel 12
Rebecca war gleich nach dem Mittagessen gefahren. Sie wäre gerne noch ein bißchen geblieben, um mit ihren beiden kleinen Cousins und ihrer Cousine zu spielen. Ihr Onkel und seine Frau waren mit den Kindern vorbei gekommen. Die kleine Hanna war zwei, und ein niedlicher Goldschatz. Die Jungs Matthias und Frederik waren sechs und vier, und zwei richtige kleine Racker.
Trotzdem hatte sie nicht mehr länger bleiben wollen. Sie hatte gestern Abend einen Blick in ihren Kalender geworfen und einen Schreck bekommen. Sie war bereits eine Woche überfällig. Jetzt wollte sie einfach nur noch nach Hause und überprüfen, ob wirklich etwas nicht stimmte. Eigentlich konnte es nicht sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie nahm schließlich die Pille. Im Nachhinein hatte sie sich ohnehin gescholten, dass sie Oliver so sehr vertraut hatte, dass sie ohne Kondom mit ihm schlief. Aber sie hatte sich keine Sorgen über eine eventuelle Schwangerschaft gemacht. Jetzt überlegte sie die ganze Zeit fieberhaft, ob sie die Pille irgendwann vergessen hatte. Sie war sich nicht ganz sicher. Sie konnte sich an einmal erinnern, als sie, sie zu spät genommen hatte, aber sie hatte gedacht, das wäre im letzten Monat gewesen. Es war zum verzweifeln, sie konnte sich einfach nicht genau darauf besinnen.
Am schlimmsten war, dass sie zuerst auch noch bei ihren Eltern vorbei musste um das Auto abzugeben. Bei ihrer Wohnung, in der Innenstadt gab es zwar Parkplätze, aber man musste überall bezahlen und das sah sie ja gar nicht ein, wenn sie auch kostenlos mit der Bahn rein fahren konnte.
Als sie endlich bei ihren Eltern ankam, hievte sie ihre Tasche aus dem Auto und lief zum Haus. Wenigstens konnte sie ihre Wäsche hier lassen. Sie rannte direkt in den Keller und schmiß ihre Tasche einfach in den Waschraum. Als sie wieder nach oben kam trat ihre Mutter gerade aus dem Wohnzimmer. „Kommst du mich nicht mal mehr begrüßen?“ fragte die beleidigt.
„Doch!“ sie umarmte ihre Mutter kurz. „Aber ich muss gleich wieder weiter, in die Wohnung. Ich habe einer Freundin versprochen, dass ich mich mit ihr treffe und wir einen Kafffee trinken gehen“, log sie ohne rot zu werden.
Ihre Mutter lächelte verschmitzt: „Das hat aber nicht zufällig mit diesem Oliver zu tun, oder?“
Rebecca, die gerade ein paar Sachen aus ihrem Rucksack in ihre Handtasche gepackt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne: „Woher weißt du von Oliver?“
„Er war gestern hier“, erzählte ihre Mutter verwundert. „Hat er das denn nicht gesagt? Woher hätte er denn sonst die Adresse haben sollen?“
„Welche Adresse?!“ fragte Rebecca, auf ´s höchste alarmiert.
„Na, die von Oma…, ist er denn nicht vorbei gekommen?“ Ihre Mutter sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
„Er war hier und hat sich die Adresse von Oma besorgt?!“ Das war ja unglaublich, dass er diese Unverfrorenheit besaß! Was wollte er damit nun überhaupt wieder bezwecken?
Ihre Mutter meinte gerade, er wäre ihr ganz nett vorgekommen - ja mir auch, aber wenn du wüsstest - und dann sagte sie noch, er habe ein Missverständnis mit ihr klären wollen.
„Ein Missverständnis?!“ das war ja die Höhe, Rebecca erstickte fast an ihrer Wut, „Das Missverständnis hieß Lisa und war seine Freundin!“ Sie drehte sich noch einmal um, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und meinte: „Ich muss jetzt los.“
Während sie auf die Bahn wartete und auch noch während der Fahrt konnte sie kaum glauben, wie unverschämt er war. Aber sie konnte sich absolut nicht erklären, was er sich davon versprach. Ein leichter Hoffnungsschimmer drang an die Oberfläche ihrer Gedanken, was wenn es wirklich ein Irrtum gewesen war? Aber wie sollte das gehen?, schalt sie sich danach. Das hätte er doch sofort sagen können. Jetzt mach dir bloß nicht wieder Hoffnungen, du blöde Kuh, sagte sie zu sich selbst, sonst fängt das ganze nur wieder von vorne an.
Dann kam ihr ein lustiger Gedanke, was wenn Oliver heute zu ihren Großeltern gefahren war und sie schon nicht mehr da war? Sie würde gerne sein Gesicht sehen, wenn er erfuhr, dass sie ihm wieder entwischt war.
Dieser Gedanke brachte sie tatsächlich zum lächeln.
Er konnte es kaum fassen. Er wurde in die Küche geschleift, wo Rebeccas Großeltern und ihr Onkel saßen. Die alte Frau, die über einem Topf kauerte und scheinbar Essensreste kleinschnitt hatte so gar nichts gemein, mit Annika Holtmann, der perfekt zurechtgemachten Dame der Gesellschaft. Nur an dem scharfen Blick, mit dem die Alte ihn musterte erkannte man, dass sie deren Mutter war. „Du bist also der Bub, der unserer Rebecca soviel Kummer macht“, sagte die Oma unverblümt.
„Bitte?!“ er war noch fassungsloser, als er es bei ihrer Tochter gewesen war.
„Ach, achte nicht darauf“, fuhr die Schwiegertochter dazwischen. „Ich bin übrigens die Elke und das ist mein Mann, der Richard.“ Sie zeigte auf den ziemlich rundlichen Mann, der gegenüber der Oma am Küchentisch saß und freundlich nickte.
„Ich bin Oliver“, murmelte er, weil ihm nichts anderes übrig blieb, obwohl er sich wesentlich lieber umgedreht hätte und raus gerannt wäre.
„So, jetzt erzähl mal, warum du die Rebecca suchst.“
Wow, die Familie hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf, das musste man ihnen lassen. Er hatte das vage Gefühl, dass hier gerade was ganz mächtig schief lief. Sollte diese Vorstellungsrunde bei der Familie nicht normalerweise ziemlich viel später kommen. So vor der Hochzeit, zum Beispiel? Und die strebte er nun ja doch noch nicht an. Da er hier gefangen zu sein schien, blieb ihm allerdings kaum etwas anderes übrig als ihnen eine weitere Version der Geschichte zu erzählen, die er schon Rebeccas Mutter aufgetischt hatte.
„Ich bin nur hier, weil ich mit ihr reden wollte, aber sie macht´s mir verdammt schwer!“ schloß er schließlich seine Erzählung.
Elke lächelte ihn an: „Oh, ich könnte mir vorstellen, dass du´s verdient hast, aber...“ Sie wurde von einem kleinen Jungen unterbrochen, der in die Küche gerannt kam und sich an ihr Bein klammerte: „Kommst du jetzt spielen, Mama?!“
„Warte einen Moment, Matthias, ich unterhalte mich gerade.“ Sie wandte sich wieder Oliver zu: „Was wollte ich jetzt sagen?“
„Ich glaube, ich sollte gerade eine Standpauke bekommen“, erwiderte er trocken, was die konnten, konnte er schon lange. Sie lachte: „Nein, eigentlich wollte ich dir anbieten, dass ich ihr etwas von dir ausrichten könnte. Wahrscheinlich werde ich wesentlich früher wieder mit ihr sprechen, als du. Aber das mit der Standpauke überlege ich mir noch.“
Er erwog einen Moment ihr Angebot anzunehmen, aber dann fiel ihm auf, dass er ihr gar nichts sagen konnte. Oder sollte er ihr vielleicht auftragen Rebecca in seinem Namen zu sagen: Ich bin nicht mehr mit Lisa zusammen und geschlafen hab ich auch nicht mehr mit ihr?
Nein, das musste er Rebecca schon selber erklären.
„Das ist nett, aber ich fürchte, das muss ich selbst machen.“
Sie schmunzelte: „Gute Antwort.“
Der Kleine an ihrer Seite begann wieder zu quengeln. Seufzend bückte sie sich zu ihm herunter. Dabei fiel ihr Blick noch einmal auf Oliver und sie richtete sich wieder ein Stück auf. „Ich glaube, ich habe eine gute Idee. Schau mal Schätzchen, das ist der Oliver, der spielt bestimmt gerne ein bißchen Fußball mit dir.
Er traute seinen Ohren kaum, war das ihr Ernst? Also soviel hatte er definitiv noch nie getan um eine Frau zu erobern.
Der Kleine betrachtete ihn einen Moment, dann ergriff er ohne viel Federlesens seine Hand und zog ihn hinter sich her in den Garten.
Rebecca war direkt bei der Apotheke vorbei gegangen, als sie von der Bahn kam. Das war der Vorteil in einer Großstadt, man brauchte keine Angst zu haben, dass der Apotheker einem Bekannten erzählte, was man gekauft hatte. Es war alles viel anonymer und es würde bestimmt kein Gerede geben.
Als sie nachhause kam stellte sie erleichtert fest, dass Eva mittlerweile auch zurück war. Anders als Manu, die ja oft sehr überdreht sein konnte, war Eva meistens ruhig und bedacht. Außerdem kannte Eva die ganze Clique um Oliver nicht und so gab Rebecca endlich dem Drang nach sich jemandem anzuvertrauen. Sie fing vorne an, erzählte, wie Oliver und sie sich näher gekommen waren. Sie erzählte nichts über Olivers Gefühle, seiner Mutter gegenüber. Das ging niemanden etwas an und sie wollte es irgendwie für sich behalten, wie ein Geheimnis, das nur sie mit ihm teilte. Dann erzählte sie von Lisas Erscheinen und schließlich davon, wie Oliver hergekommen war, um mit ihr zu reden. Ganz zum Schluß legte sie die Tüte mit dem Schwangerschaftstest auf den Tisch.
Eva sah sie mit großen Augen an: „Glaubst du wirklich, dass du schwanger bist?“
Rebecca zuckte die Schultern: „Ich weiß es nicht, deshalb hab ich ja diesen blöden Test gekauft.“
„Dir ist aber schon klar, dass du dann mit ihm reden müsstest...“ sagte Eva in ihrer gewohnten ruhigen Art, mit der sie einem wirklich eine Stütze sein konnte.
Rebecca schluckte: „Ja.“
„Weißt du denn, ob er noch mit dieser Lisa zusammen ist? Ich meine, ich will dir ja keine falschen Hoffnungen machen, aber nachdem, was du erzählt hast, dass er sogar bei deiner Mutter war, ich kann mir nicht vorstellen, dass er das machen würde, wenn er es nicht irgendwie ernst mit dir meint.“
Rebecca schnaubte: „Dann hättest du ihn erstmal reden hören sollen. Ich hab schon mal gedacht, dass er es ernst meint, so schnell nehme ich ihm das wirklich nicht mehr ab!“
Eva ließ es gut sein, da sie wusste, dass solche Diskussionen ohnehin ins Nichts führen mussten. Stattdessen schnippte sie mit dem Finger gegen die Tüte von der Apotheke. „Also, was meinst du, je früher desto besser, oder?“
Rebecca nickte. Allerdings war das leichter gesagt, als getan. Es kostete ganz schön viel Mut, der Wahrheit ins Auge zu schauen.
Bevor sie jedoch ins Bad verschwinden konnte, klingelte es an der Tür. Sie schmiß den Test zurück auf den Tisch und ging zur Tür. Eva saß immer noch in der Küche und sah ihr interessiert nach.
Zu Rebeccas großem Erstaunen war es Stephan, der da die Treppe herauf gestiefelt kam.
„Hallo, was machst du denn hier?“ begrüßte sie ihn überrascht.
„Ich wollte mit dir reden, kann ich rein kommen?“ damit war er auch schon drinnen. Fast wäre ihr raus gerutscht: Nicht du auch noch! Doch sie konnte es sich gerade noch so verkneifen. Stephan strebte schnell auf die offene Küchentür zu, und zu spät fiel ihr ein, dass der Test ja noch auf dem Tisch lag. Doch Eva war echt toll. Sie warf Stephan einen interessierten Blick zu, stand auf und sagte: „Ok, wir können ja gleich weiter reden.“ Damit schnappte sie sich den Test vom Tisch, als wäre es das normalste der Welt und marschierte raus.
Stephan sah ihr etwas irritiert nach, doch dann besann er sich wieder darauf, warum er eigentlich hier war. Er schnappte sich einen Stuhl und setzte sich falsch herum drauf, so dass er die Arme über der Lehne verschränken konnte. Rebecca sank ihm gegenüber auf einen Stuhl. „Also, was gibt´s?“ fragte sie dann betont locker.
„Ich hab eine Bitte“, begann er, „könntest du diese Sache mit Oliver vielleicht endlich klären?“
Sie sah ihn entgeistert an: „Was?! Was soll ich denn da klären? Er hat eine Freundin!“
Stephan schüttelte den Kopf: „Nein, er hat mit Lisa noch an dem Tag Schluß gemacht, als wir aus dem Urlaub zurück kamen.“
„Das ist nicht dein Ernst!“ sie schüttelte ungläubig den Kopf „Willst du mir jetzt auch noch erzählen, er hat das wegen mir gemacht?“
Er nickte heftig: „Klar. Er wollte es nicht im Urlaub machen, weil,... die beiden waren anderthalb Jahre zusammen, er wollte sie nach der langen Zeit nicht so demütigen, aber es ist ihm schwer gefallen, das kannst du mir glauben.“
Sie sah ihn skeptisch an: „Hat er dich her geschickt.“
„Nein“, Stephan grinste leicht, „im Moment redet er nicht viel mit mir. Er hat mir erzählt, was zwischen euch war, zumindest mehr oder weniger“, fügte er hastig hinzu, als er ihren Gesichtsausdruck sah, „auf jeden Fall, hatte Paula natürlich so ihren Verdacht und sie versucht die ganze Zeit, was aus mir rauszukriegen. Oliver denkt, ich hätte ihr schon irgendwas erzählt. Du siehst, ich stehe voll zwischen den Fronten.“ Er faltete die Hände, und bettelte sie theatralisch an: „Bitte hilf mir, ich bin verzweifelt!“
Sie lachte und schlug leicht nach seinen Händen. „Spinner!“
Sie musste zugeben, dass das aufgeregte Kribbeln in ihren Bauch zurück gekehrt war, seit er gesagt hatte, Oliver und Lisa wären nicht mehr zusammen. Doch ganz so schnell würde sie sich nun doch nicht rum kriegen lassen.
„Da du für alles eine Erklärung hast, kannst du mir bestimmt auch sagen, warum er mir vorher nichts von Lisa erzählt hat, wenn er doch sowieso davon überzeugt war, dass sie nicht mehr zusammen waren!“
Stephan grinste: „Kein Problem. Erstens, er war nicht überzeugt davon, dass sie nicht mehr zusammen waren. Sie haben sich zwei Wochen vor dem Urlaub total gefetzt und danach kein Wort mehr miteinander gewechselt. Oliver war es, glaub ich, sowieso schon zu stressig mit ihr, und er hat die Funkstille einfach als Zeichen dafür genommen, dass ihre Beziehung mehr oder weniger beendet war. Sie haben aber nicht wirklich Schluß gemacht. Zweitens, da kamst du daher, und es passte ihm einfach viel besser in den Kram zu sagen er hätte keine Freundin, als die Wahrheit aufzudröseln. Seien wir ehrlich, du hättest es ihm schwerer gemacht, wenn er dir gesagt hätte, wie es wirklich war. Also hat er sich wahrscheinlich einfach selber eingeredet, dass seine Beziehung mit Lisa sowieso beendet wäre. Ich wette, er bereut es jetzt, dass er dir nicht die Wahrheit gesagt hat.“
Rebeccas Herz hüpfte vor Aufregung und Freude, es passte alles so gut zusammen. Aber was, wenn es doch nicht stimmte. Sie wusste, dass ihre Zweifel noch nicht vollkommen ausgeräumt waren, doch daran konnte Stephan nichts ändern. Sie wollte nicht zu zuversichtlich erscheinen, schließlich war sie so leicht auch wieder nicht zu haben, oder?
Sie bedankte sich bei ihm und versprach noch mal über alles nachzudenken. So bald er die Wohnung verlassen hatte rannte sie zu Eva ins Zimmer und erzählt ihr grinsend alles, was Stephan gesagt hatte.
Eva hörte ihr zu und schien sich für sie zu freuen, doch dann zeigte sie auf den Schwangerschaftstest, der auf ihrem Bett lag. „Den musst du aber trotzdem noch machen.“
In ihrer Euphorie hatte Rebecca das fast vergessen. Sie hatte Angst vor dem Ergebnis, dass der Test bringen würde, aber jetzt fühlte sie sich schon etwas mutiger.
Oliver war mal wieder total alle. Diese Kinder hatten ihn wirklich fertig gemacht. Aber er musste zugeben, dass er schon lange keinen so unterhaltsamen Nachmittag mehr erlebt hatte. Die beiden Jungs, Matthias und Frederik, wie er mittlerweile wusste, hatten gar nicht genug von Ballspielen und Huckepack bekommen können. Und die zweijährige Hanna war wirklich ein niedliches Kind. Obwohl man mit ihr noch nicht sehr viel anfangen konnte. Aber wenn sie auf einen zu kam, die speckigen kleinen Ärmchen in die Luft gestreckt und wollte, dass man sie hochnahm, wer konnte da schon widerstehen.
Am späten Nachmittag hatte er sich dann aber doch abgeseilt. Die Kinder waren ja gut und schön, aber die ständige Überwachung der Erwachsenen... Nur Rebeccas Opa schien kein Interesse daran zu haben, ihn auszufragen. Er hatte sich irgendwann auf eine Bank in den Garten gesetzt, sich seine Pfeife angemacht und den Kindern beim spielen zu gesehen. Als seine Frau herauskam, hatte er die Pfeife schnell verschwinden lassen und Oliver verschwörerisch angegrinst.
Oliver war gerade Zuhause angekommen und wollte nur schnell duschen gehen und frische Sachen anziehen, dann würde er zu Rebecca fahren, diesmal würde er ihr nicht wieder so viel Zeit lassen, dass sie verschwinden konnte. So nett ihre Verwandten auch waren, er konnte doch für ´s erste darauf verzichten noch mehr von ihnen kennenzulernen.
Rebecca sah gerade zum dritten Mal auf die Uhr und musste feststellen, dass es immer noch fünf Minuten dauerte, bis der Schwangerschaftstest ein Urteil abgeben würde. Dieses Warten, das war echt das schlimmste. Wahrscheinlich schlimmer, als das Ergebnis am Ende. Wenigstens wusste sie dann woran sie war.
Das Telefon klingelte, doch Eva, die mit ihr zusammen wartete ging ran, da sie sich wohl denken konnte, dass Rebecca jetzt keine Lust zum telefonieren hatten. Leider war der Anruf aber für sie.
Sie nahm Eva den Hörer ab: „Hallo?“
„Hallo Rebecca, hier ist Elke.“ Elke war die Frau ihres Onkels Richard. Die beiden, die heute Morgen mit den Kindern zur Oma gekommen waren. „Rate mal, wo ich gerade bin!“
Rebecca stöhnte innerlich auf, für sowas hatte sie jetzt überhaupt keinen Sinn. „Bei Oma?“ riet sie halbherzig.
Zum Glück wollte Elke die Neuigkeiten so schnell wie möglich loswerden und ließ sie nicht weiter raten. „Ich stehen an der Gartentür im Haus deiner Oma. Und ich werde dir auch sagen, warum ich so ungestört mit dir reden kann, der Grund dafür ist, dass dein Oliver gerade total süß mit meinen Kindern spielt.“ Sie machte eine Pause und Rebecca hörte sie lächeln: „Ich sag dir was Rebecca, halt dir den warm! Toller Junge!“
„Elke!“ rief Rebecca halb belustigt, halb entrüstet, jetzt fehlte es ja nur noch, dass sie seinen Hintern lobte.
„Und einen tollen Hintern hat er auch“, kam es in diesem Moment, wie auf Bestellung.
„Ok, danke für deinen Anruf, liebe Tante! Guck dir noch einen bißchen den Knackarsch an, dann hast du was zu tun!“ damit legte Rebecca auf. War es zu fassen? Er war wirklich zu ihren Großeltern gefahren und jetzt spielte er dort mit den Kindern, wow. Das konnte doch wirklich nur ihr passieren, dass sie sich immer wieder so in den Kerlen irrte...
Gerade kam Eva aus dem Bad, mit dem Test in der Hand. Sie beugte sich vor und hielt ihn Rebecca vor die Nase.
Oliver hatte sich gerade in der Küche noch etwas zu trinken geholt und wollte jetzt eigentlich duschen gehen, als es an der Tür klingelte. Er hörte, wie seine Mutter aus ihrem Arbeitszimmer kam und die Haustür öffnete. Dann rief sie seinen Namen. Wer konnte das denn wieder sein. Scheinbar hatte irgendeine höhere Macht beschlossen, ihn von Rebecca fernzuhalten. Aber...
„Rebecca...?“ da stand sie vor ihm auf dem Flur.
„Jetzt muss ich mit dir reden...“ begann sie und versuchte ein Lächeln, das allerdings ziemlich zittrig ausfiel.
Der Blick seiner Mutter wanderte interessiert zwischen Rebecca und ihm hin und her. Das war wieder ein gefundenes Fressen für die Klatschweiber. Nein, diesmal nicht. Er überwand seine momentane Unfähigkeit sich zu bewegen und ging auf sie zu. „Komm, wir gehen in mein Zimmer.“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Er hätte nicht gedacht, dass es sich so gut anfühlen konnte, einfach nur ihre Hand zu halten. Vor allem, da sie sie nicht sofort wieder weg zog.
Oben im Flur streckte Paula neugierig ihren Kopf aus der Tür. Als sie Rebecca sah, stieß sie ein überraschtes „Hi!“ aus. Rebecca erwiderte es lediglich mit einem kurzen Nicken. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage war zu sprechen oder ob ihre Stimme zu sehr zittern würde.
Sein Zimmer war groß und hell, einfach eingerichtet, mit einem breiten Bett, einem Schreibtisch und einem Schrank. Das war alles, worauf Rebecca achten konnte. Sie war so aufgeregt, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug, dabei war es doch eigentlich total unnötig. Das war doch nur Oliver. Der Junge, nachdem sie sich die letzten zwei Wochen so sehr gesehnt hatte.
So bald die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, drehte er sich zu ihr um. Sie sah die Hoffnung in seinem Gesicht, zumindest bildete sie sich das ein, und begann langsam: „Bevor ich mit dir reden will, beantworte mir bitte eine Frage und sei ehrlich: Bist du noch mit Lisa zusammen?“ Sie musste es einfach von ihm hören, das hatte sie gemerkt, nachdem Stephan vorhin gegangen war.
Oliver atmete tief durch: „Nein, ich hab ihr gesagt, dass ich nichts mehr für sie empfinde, und zwar direkt, als wir aus dem Urlaub wiederkamen. Noch bevor ich zu dir gekommen bin.“
Ihr traten Tränen in die Augen. „Und... empfindest du was für mich?“
Statt zu antworten trat er einen Schritt nach vorne. Er strich ihr zart mit der Hand über die Wange, dann beugte er den Kopf und küsste sie. Es war so schön und neu und gleichzeitig so vertraut, dass es Rebecca beinah den Atem raubte.
Schließlich trat er einen Schritt zurück. „Kannst du mir mal sagen, wie es kommt, dass du plötzlich hier auftauchst? Ich meine, nachdem ich in den letzten Wochen nicht die kleinste Chance hatte überhaupt in deine Nähe zu kommen.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, um sich selbst ein wenig zu stützen. „Ich würde sagen, hauptsächlich hast du das Stephan zu verdanken.“
„Stephan?!“ er war überrascht. Ein weiterer Beweis für sie, er hatte Stephan wirklich nicht vorgeschickt.
„Er ist heute zu mir gekommen und hat mir alles erzählt. Es hat ihn ein bißchen gestört, dass er hier so zwischen den Fronten stand, denke ich.“ Sie grinste ihn an, als wollte sie sagen, ja, ja, du kannst es einfach nicht lassen...
„Aber… es gibt da noch einen Grund, warum ich herkommen musste.“ Sie schwieg und er sah sie ermutigend an. „Äh,...vielleicht solltest du dich besser hinsetzen...“ Sie deutete auf sein Bett. Er warf ihr einen seltsamen Blick zu, machte dann aber kehrt und setzte sich. Dann verzog er das Gesicht und wühlte in seiner Hosentasche, bis er schließlich einen klebrigen, schmutzigen Schnuller hervorzog. Er hielt ihn etwas angewidert, mit spitzen Fingern in die Höhe, und ihr kamen schon wieder die Tränen. Sie ging auf ihn zu und ihre Knie zitterten, deshalb ließ sie sich neben ihn auf das Bett sinken. Sie nahm ihm den Schnuller aus der Hand. „Der gehört wohl meiner Cousine.“ Beim Klang ihrer Stimme sah er sie aufmerksam an. „Ich hab gehört, dass du heute mit meinen Cousins und meiner Cousine gespielt hast.“ Er nickte leicht, und sie spürte, wie er die Luft anhielt, er ahnte, was sie ihm jetzt sagen würde.
Sie riss sich zusammen und sah ihm in die Augen: „Ich wollte dir sagen, dass du vielleicht bald mit deinem eigenen Kind spielen kannst.“
Oliver war sprachlos. Er spürte, wie ihre Hand sich in seine schob. Und er drückte sie leicht, aber er brauchte einen Moment, bis er sprechen konnte. Schließlich klang seine Stimme ebenfalls ziemlich zittrig: „Bist du... du bist schwanger?“
Sie nickte: „Ich war noch nicht beim Arzt, aber ich habe einen Test gemacht.“
Diese Tests waren unsicher, schoß es ihm durch den Kopf. Vielleicht war es ja nur falscher Alarm. Aber...
„Wenn du wirklich... willst du, würdest du es abtreiben lassen?“ fragte er zögernd.
Sie fuhr auf und sah ihn entsetzt an. „Willst du das etwa?!“ fragte sie bestürzt. Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. „Nein...“ begann er „...ich weiß nicht,... eigentlich wollte ich nur fragen, ob du es in Erwägung ziehst.“
„Ich... weiß nicht“, stotterte sie, „Was ist denn, wenn ich es nicht will?“
„Dann werden wir auch eine Lösung finden“, sagte er fest.
Epilog
Verschlafen setzte Rebecca sich auf. Sie hörte das leise Wimmern des Babys. Es war das dritte Mal in dieser Nacht. Sie fühlte sich ausgelaugt und lustlos, da sie selten mehr als zwei Stunden Schlaf am Stück bekam. Ob sie es schaffen würde, die Beine unter der warmen Bettdecke hervor zu schieben? Sie hatte keine Wahl, aber es war schön, sich wenigstens einzubilden, dass sie eine hätte.
Sie spürte, wie Oliver sich im Schlaf bewegte. Obwohl er unruhig schlief war sein Gesicht entspannt. Kein Wunder, schoß es ihr durch den Kopf, er durfte die Nächte ja auch durchschlafen. Doch schnell unterdrückte sie die unfreundlichen Gedanken. Er tat wirklich genug. Neben seinem Studium hatte er sich noch einen Aushilfsjob als Kellner gesucht. Nicht, dass sie das Geld unbedingt gebraucht hätten. Ihre Eltern unterstützten sie großzügig, ein Glück, dass sie es sich leisten konnten. Außerdem sparten sie das Geld für die Miete. Olivers Mutter hatte ihm das Erbe seines Vaters ausbezahlt, und sie hatten die, nicht unbeträchtliche, Summe in eine 3-Zimmer-Eigentumswohnung investiert. Rebecca zwang sich, endlich das Bett zu verlassen und schlurfte müde ins Kinderzimmer rüber.
Der kleine Jan beruhigte sich sofort, als seine Mutter ihn aus dem Gitterbettchen hob.
Langsam setzte sie sich mit ihm in den gemütlichen Kordsessel und griff unter ihr T-Shirt. Eins, von Olivers Alten, weil die bei ihr so schön weit und schlabberig waren. Jan begann gierig zu trinken, und sie zog die Beine an und sah sich verschlafen im Zimmer um. Oliver und sie hatten es zusammen gestrichen. Sie war im fünften Monat schwanger gewesen, und er hatte ihr so gut wie alle Arbeiten abgenommen. Sie hatte ihn ausgelacht, weil er so vorsichtig war und ihm einen Farbtupfer auf der Wange verpasst. Das Ganze endete damit, dass sie beide farbverschmiert auf dem Boden knieten und knutschten. Sie lächelte.
Der warme Champagner Ton, den sie für die Wände gewählt hatten gefiel ihr immer noch. Etwa in ihrer Augenhöhe zog sich eine blaue Bordüre über die Wand. Sie hatten nicht gewusst, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde, doch sie hatte auf Blau bestanden. Diese ganze alberne Farben-Geschlechter-Trennung fand sie ohnehin blöde und sie mochte Blau.
Sanft strich sie über das flaumige Köpfchen. Jan war blond, wie Oliver, aber seine Augen begannen schon so dunkel wie ihre zu werden.
Er hatte die erste Brust getrunken und gekonnt drehte sie ihn auf die andere Seite. Sofort saugte er sich wieder fest und als sie das leichte Ziehen spürte, lehnte sie sich entspannt zurück. Sie war glücklich. Obwohl sie ihr Studium hatte abbrechen müssen und seit Jan kaum noch aus dem Haus kam.
Manchmal nahm sie es Oliver ein wenig übel, dass er so viel Abwechslung hatte. Sein Studium und den Job. Sie wusste, dass es hart war, wenn er um 1:30, 2:30 Uhr nach hause kam und unter Umständen am nächsten Morgen um Neun in der Uni sein musste. Aber es war schließlich seine eigene Entscheidung gewesen. Ihre Eltern bezahlten genug und auch seine Mutter steuerte einen Teil bei, aber er wollte eben nicht nur vom Geld ihrer Eltern leben. Irgendwie konnte sie ihn ja auch verstehen. Es war wohl so eine Sache des Stolzes. Trotzdem war sie gelegentlich eifersüchtig auf ihn. Er kam abends raus, wenn er auch arbeiten musste, so war er doch unter jungen Leuten. Natürlich besuchten auch ihre Freunde sie, aber es war nicht dasselbe, da sie mit Jan nicht in der Lage war sehr viel zu unternehmen.
Paula und Sophie hatten sich sofort zum Babysitten angeboten. Beide waren geradezu vernarrt in ihren Neffen, aber so lange er noch so klein war wollte Rebecca ihn nicht alleine lassen. Wenn er größer war, und nicht mehr gestillt wurde, vielleicht...
Vielleicht konnte sie dann sogar ihr Studium wieder aufnehmen, aber da war sie sich keineswegs sicher. Sie hatte mit einigen jungen, studierenden Müttern gesprochen und entgegen dem positiven Eindruck, den unzählige Broschüren zu diesem Thema vermittelten, hatten alle gemeint, dass es sehr hart wäre. Man musste sehen, wie man die Zeit zwischen Kind, Studium, Lernen und Haushalt aufteilte; Freizeit blieb da nicht mehr.
Aber bis dahin war es noch lange hin. Jan war gerade mal (und schon) zwei Monate alt und im Moment konnte sie sich nicht vorstellen ihn alleine zu lassen. Nicht einmal bei ihrer eigenen Mutter, die ihre Hilfe bereits angeboten hatte.
Ihre Eltern liebten den Kleinen, genau wie sie sie immer geliebt hatten. Allerdings hatten sie, gelinde gesagt, sauer reagiert, als Oliver und Rebecca ihnen eröffnet hatten, dass sie schwanger war. Da es aber nicht mehr zu ändern war, hatten sie sich schließlich an den Gedanken gewöhnt.
Was ihnen aber nach wie vor zu schaffen machte, genau wie Olivers Familie und auch Oliver selbst, war die Tatsache, dass sie nicht verheiratet waren. Oliver hatte ihr keinen richtigen Antrag gemacht, er hatte irgendwie damit gerechnet, dass sie ihn heiraten würde. Doch als die Sprache dann darauf kam, hatte Rebecca schonungslos erklärt, dass sie nicht die Absicht hatte seine Frau zu werden.
„Es geht nicht darum, ob ich dich liebe, oder nicht“, hatte sie ihm erklärt, „ich will einfach nicht nur wegen dem Kind heiraten. Überleg´ doch mal, wenn ich nicht schwanger wäre, dann würden wir auch nicht auf die Idee kommen, zu heiraten! Ich will erst dann heiraten, wenn wir wirklich beide so weit sind.“
Er hatte es akzeptiert, doch sie wusste, dass er nicht glücklich darüber war. Er hieß Oliver Spengler, während sie und Jan weiterhin Holtmann hießen. Faktisch hatte er keinen Anspruch auf seinen Sohn, und könnte nicht einmal eine Einverständniserklärung unterschreiben.
Sie verstand, dass ihn das störte, aber noch wollte sie nichts daran ändern. Sie würde nicht denselben Fehler begehen, wie ihre Eltern.
Langsam wurde sie wieder schläfrig, und das leise Schmatzen des Babys lullte sie ein.
Unbewusst hatte Oliver wohl mitbekommen, dass Rebecca aufgestanden war, denn er wurde richtig wach, als er registrierte, dass sie nicht wieder kam. 5:45 Uhr.
Er überlegte, ob er liegen bleiben sollte, aber er spürte, dass er jetzt, da er einmal wach war, ohnehin nicht wieder würde einschlafen können.
Er ging leise ins Kinderzimmer hinüber. Die Tür war nur angelehnt, und er stieß sie geräuschlos auf. Sie war eingeschlafen, auf ihrem Sessel, den Kleinen immer noch an der Brust. Er genoß den Anblick, und das Bauchkribbeln, das sich dabei einstellte.
Seine kleine Familie. Er hätte nicht glücklicher sein können. Es tat ihm nur leid, dass sie so müde war. Sie hatte schon seit Tagen dunkle Ringe unter den Augen, und er wusste, dass sie kaum zwei Stunden durchschlafen konnte. Andererseits war es ihre eigene Entscheidung gewesen. Sie wollte Jan unbedingt stillen, wäre sie auf Fläschen umgestiegen, er hätte ihr gerne die ein oder andere Nachtschicht abgenommen.
Allerdings musste er gerade in diesem Augenblick zugeben, dass ihm der Anblick gefiel, wie sie seinem kleinen Sohn die Brust gab.
Trotzdem wusste er, dass sie ihren Schlaf brauchte. Er trat ins Zimmer und löste das schlafende Baby vorsichtig aus ihrem Arm.
Sie zuckte zusammen, als das Gewicht plötzlich von ihr genommen war. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte beruhigend: „Ist gut, ich hab ihn.“
Augenblicklich war sie wieder eingeschlafen und in seiner Brust breitete sich die übliche Wärme aus, die er verspürte, wenn er sah, wie sehr sie ihm vertraute.
Nachdem das Baby friedlich in seinem Bettchen weiterschlief, wandte Oliver sich erneut Rebecca zu. Einen Moment zu lang blieb sein Blick auf ihrer entblößten Brust hängen, dann zog er ihr sanft das T-Shirt herunter. Eins von seinen alten, er erkannte es wieder. Ihr stand es wesentlich besser, stellte er grinsend fest.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, schob er einen Arm unter ihre angezogenen Knie, den anderen hinter ihren Rücken, und hob sie hoch. Sie hatte kein Gramm zu genommen, durch die Schwangerschaft. Im Gegenteil, am Anfang hatte sie fast keinen Appetit gehabt und wenn sie dann doch etwas gegessen hatte, hatte es meistens direkt wieder den Rückweg angetreten, so dass sie sogar abgenommen hatte.
Er hatte sich ein bißchen Sorgen gemacht, aber die Schwangerschaft war nie gefährdet gewesen. Rebecca hatte ihn jedes Mal ausgelacht, wenn er sie aus irgendeinem Grund gebeten hatte vorsichtig zu sein. Im Nachhinein fand er sich selbst albern, aber damals...
Er trug sie zurück ins Schlafzimmer und nahm sie in den Arm. Bis halb acht ungefähr, würde der Kleine jetzt schlafen, wenigstens ein bißchen Schlaf sollte auch seine Mutter bekommen.
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2010
Alle Rechte vorbehalten