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Nyktophobie

 

»Jack?... Bist du noch dran?«

»Gib’ mir einen Moment..., bitte«, antwortete Jack. Er hatte das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt und klickte sich gerade durch die unzähligen Menüs seines neuen E-Mail Programms, um den Kalender zu öffnen. Bis jetzt erfolglos.

»Du weißt, wie enttäuscht er wäre, wenn du absagen würdest.«

»Ja-«

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Was soll das Sarah?«

»Was?«

Wütend umklammerte Jack das Telefon.

»Dieses sinnlose Frage-Antwort Spiel, das uns beide nicht weiterbringt! Ich weiß genau so gut wie du, dass ich Ethan viel zu selten sehe und würde ich das gerne ändern? Ja würde ich. Aber wir wissen beide, dass ich hundert Meilen entfernt wohne und meine Zeit am Wochenende auch begrenzt ist! Wenn du mir also bitte eine Minute Zeit geben würdest, damit ich meine Termine finden kann...«

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Such’ dir doch wieder einen Job hier in der Gegend...«

Jacks Knöchel wurden weiß und der Klammergriff um den Telefonhörer verstärkte sich.

»Du warst doch diejenige, die gesagt hat, ich soll mich verpissen, am besten über die Staatsgrenze ziehen und nie wieder kommen!«

Erneutes Schweigen.

»Ja..., das war vor vier Jahren. Ich war wütend und enttäuscht..., ich konnte dir einfach nicht mehr in die Augen sehen, nachdem ich dich mit diesem Flitt-«

»und für mich war das in Ordnung, deswegen bin ich ja auch weggezogen...«, fuhr Jack mit ruhiger Stimme fort. »Sarah, mir geht’s gut hier, ich hab’ einen neuen Freundeskreis und ich bin seit drei Jahren trocken... Ich habe einfach Angst wieder in alte Muster zu verfallen, wenn ich zurückziehe. Und du weißt, dass wir beide das nicht wollen. Ich brauche diesen Ort, den Abstand und es tut mir gut, auch wenn ich weiß, dass mein Sohn anderswo gerne öfter seinen Vater sehen würde.«

»Denk’ einfach darüber nach, ok? Ich werde dir keinen Vorwurf machen, falls du dich dagegen entscheidest..., schließlich habe ich dich ja weggeschickt.«

»Ich denke darüber nach...«, antwortete Jack, öffnete den Kalender, den er nach intensivem Suchen endlich gefunden hatte. »Ich bin um halb acht da, dann komme ich noch vor Sonnenuntergang wieder hier an.«

»Ist in Ordnung, und Jack? Pass auf dich auf, es soll Hitzegewitter geben.«

* * *

Es war neunzehn Uhr, und Jack quälte seinen Dodge Challenger über die spiegelglatten Straßen der Interstate 71 in Richtung Louisville. Seit das Hitzegewitter die Sonne ausgesperrt hatte, klammerte er sich krampfhaft an sein Lenkrad und versuchte nicht die Nerven zu verlieren.

Mehrmals war er bereits an die Seite gefahren, hatte den Motor ausgeschaltet und die Augen geschlossen. Manchmal hatte er die Scheinwerfer angelassen, manchmal ausgeschaltet, das Ergebnis - nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte -, war jedes Mal dasselbe gewesen. Ewige Dunkelheit vor und hinter ihm, und gelegentlich ein greller Blitz am Horizont. Dadurch aufgehalten, war er bereits hinter seinem Zeitplan, und als er Sarah darüber informieren wollte, hatte er feststellen müssen, dass sein Handy dieselbe ewige Schwärze bereithielt...

Ein McDonald’s Schild leuchtete ihm wie eine Laterne aus der Ferne entgegen.

Sollte er-?

»Nein du fährst zu deinem Sohn und hast dich gefälligst im Griff!«, fluchte Jack und schlug dabei mit seinem Handballen auf das Lenkrad. Er wollte nicht erneut anhalten - der letzte Stopp war gerade einmal wenige Minuten her -, also fuhr er weiter und unterdrückte die Anspannung, die inzwischen seinen gesamten Körper geißelte.

Am Straßenrand zog Wind durch die Baumreihen, wobei die Äste wie dürre Arme wirkten, die nach Jack griffen, um ihn in die unendliche Finsternis außerhalb der Straße zu ziehen und sie schleuderten seine Gedanken zurück in eine unerfreuliche Kindheit...

er stand in einem Wald, einige Meter entfernt schien das Mondlicht auf einen See und formte eine lächelnde Grimasse auf dessen Oberfläche. Wie eine Patrouille von Soldaten standen eine Vielzahl an Bäumen vor ihm in Reih und Glied. Sie schienen sich zu bewegen und in ihren Stämmen zeichneten sich Gesichter ab. Alte, knorrige Gesichter, deren Mund sich zu einem diabolischen Grinsen verzog und ein Gelächter durch den Wald jagte, dass ihn auf der Stelle Wurzeln schlagen ließ. Ihre dürren Äste wollten gerade nach ihm greifen, als ein Paar kräftige Hände an seiner Schulter zogen und ihn schüttelten. Dumpf hörte er sein eigenes Kreischen und dann wieder die dröhnende Stimme seines Vaters...

Ein Sirene riss ihn aus seiner Trance. Verzweifelt konzentrierte er sich auf die Straße vor ihm, die die schwachen Lichtstrahlen seiner Scheinwerfer reflektierte. In der Ferne sah er rotierende blaue und rote Lichter aufblitzen. Gerade noch rechtzeitig zog er das Lenkrad nach rechts, als die entgegenkommende State Police an ihm vorbei fuhr. Sein Wagen fing für einen kurzen Moment an heftig zu schlingern, rutschte auf der Fahrbahn unbeholfen nach rechts und links, bevor Jack ihn mit quietschenden Reifen zum Halten brachte.

Erst jetzt bemerkte Jack, dass sein Atem sehr schnell ging. Zu schnell. Er fühlte sich wie ein dickes Kind, das gerade einen Asthmaanfall erlitt.

Die Stimme seines Psychologen Dr. Anderson hallte in seinem Kopf wieder: »Sie haben Angst vor der Dunkelheit Mr. Young, auch Nyktophobie genannt.« Diese Worte waren mit der simplen Selbstverständlichkeit über seine Lippen gekommen, mit der ein Gerichtsmediziner eine Leichenbeschauung vornahm. Obwohl Jack die (nicht selten) kühle Art von Ärzten (und für ihn waren Psychologen die Schlimmsten von allen) hasste, begab er sich in seine Hände, schwor dem Alkohol ab - seinem treuen Begleiter und Freund in schlechten Zeiten -, lernte mit der Angst umzugehen und sie nicht zu ertränken.

Er hatte damit die Gründe für seine Trennung hinter sich gelassen, aber er akzeptierte den status quo, und hatte sich mit Sarah daher nie über die tiefliegenden Gründe für seine Ausschweifungen während ihrer Ehe unterhalten. Er wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten, ihr klar machen, dass er einfach fehlgeleitet worden war, und seine Probleme nun im Griff hatte.

Am Telefon hatte er es nicht gespürt, zumindest nicht so wie er es jetzt tat, aber etwas hatte sich geändert. Der Zeitpunkt schien gekommen zu sein.

Er merkte es, weil seine Hände ruhig waren, nicht nur seine Hände, sein gesamter Geist hatte einen Zustand innerer Zufriedenheit erreicht, den er seit der Geburt seines Sohnes nicht mehr erlebt hatte.

»Endlich, ENDLICH!«, rief er aus und brach schluchzend zusammen. Freudentränen flossen über das Lenkrad und ein Strom von Bildern seiner Kindheit wanderten vor seinem Auge vorbei, und verschwanden im dunklen Nichts.

Als er wieder aufschaute, sah er die Leuchtreklame im Rückspiegel und Bäume, alte, knorrige Bäume... und sie lächelten ihn an und ihre Äste zeigten nach Westen - in Richtung Louisville.

* * *

Jack hob den letzten Karton auf und verließ die Ladefläche des LKW’s. Er schlenderte über die Rasenfläche seines Zuhauses und blickte - bevor er hinter der Haustür verschwinden würde - über seine Schulter. Am Ende des Grundstücks stand eine junge Frau mit blondem, schulterlangen Haar, die einen neunjährigen Jungen an der Hand hielt. Ethan.

Jack wusste nicht wo es enden würde, aber als er das Lächeln auf ihren Gesichtern sah, wusste er, es fing hier an. Es war noch ein weiter Weg, aber die Bäume hatten ihm den Weg gewiesen und er war gekommen, alles andere lag jetzt in seiner Hand.

 

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Tag der Veröffentlichung: 08.05.2014

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