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„Ach, komm schon, Laura! Es ist doch bloß ein Spiel. Bitte!“, bettelte meine beste Freundin Bettina.
Wir beide kannten uns schon seit dem Kindergarten und waren seit jeher unzertrennlich, obwohl wir eigentlich das genaue Gegenteil voneinander waren.
Ich war eher die Ruhige, Vernünftige und Schüchterne, was wahrscheinlich am frühen Tod meiner Eltern liegt. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich erst sieben Jahre alt war. Danach war ich aus Traurigkeit sehr schüchtern und verschlossen geworden, doch Bettina hatte mir auf die Beine geholfen. Sie war sowieso viel offener und mutiger als ich und hatte außerdem ein Faible für Übernatürliches.
Deshalb wollte sie mich an diesem Tag auch zum Gläserrücken überreden. Für sie war es bloß ein Spiel, mich aber erinnerte es immer schmerzhaft an meine verstorbenen Eltern.
Ich rollte zur Antwort genervt mit den Augen: „Och nöö!“ Doch mit dieser Antwort gab Bettina sich nicht zufrieden. Sie drehte sich zu mir und sah mich mit großen Augen an. Na toll! Ganz leise sagte sie „Bitte“ und zog einen Schmollmund. Und schon hatte sie mich am Haken: „Na gut.“ Doch das war zu laut gewesen.
„Könnten die Mädchen in der letzten Reihe bitte das Schwätzen unterlassen?“, forderte uns Herr Torf, der Mathematik-Lehrer, auf. Alle um uns herum kicherten. Mein Kopf nahm vor Verlegenheit eine satte, tomatenrote Farbe an. Anders als Bettinas, sie rief laut: „Aber klar doch, Herr Torf, kein Problem!“ Damit hatte sie den Lacher auf ihrer Seite.
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„Wir wissen noch immer nicht, wann und wo wir uns treffen“, wand ich mich an meine Freundin und blickte sie von der Seite an. Inzwischen war Pause und wir saßen im Schulhof in der prallen Mittagssonne.
Bettina sah mich bittend an: „Könnten wir uns vielleicht bei dir treffen? Du weißt doch, meine Eltern sind noch sauer vom letzten Mal, als ich das Kerzenwachs auf den neuen Teppich geschüttet habe.“ Sie sah mich so verlegen an, dass ich nicht anders konnte, als zu lachen. Schließlich stimmte auch sie mit ein. Das war mal wieder typisch für Bettina gewesen, sie war manchmal ziemlich tollpatschig und trat immer wieder in Fettnäpfchen. Trotzdem konnte sie stets darüber lachen.
Als ich endlich aufgehört hatte zu kichern, sagte ich ernst: „Naja, wir könnten es vielleicht bei mir machen.“ Da stieß Bettina einen leisen Schrei aus und drückte mich an sich: „Danke, danke, danke!“ Sie presste sich noch fester gegen mich. Zu fest meiner Meinung nach, langsam ging mir die Luft aus: „Ähm, du kannst mich jetzt..wieder..los..lassen!“ Entschuldigend löste sie ihre Arme von meinem Rücken und ich atmete tief die frische Luft ein. Verlegen zog ich an meinem T-Shirt herum.
Dann sahen wir uns an und begannen wieder zu lachen. „Wann treffen wir uns eigentlich?“, fragte ich schließlich in ihr Gekicher. Wir einigten uns auf acht Uhr. Immer noch unsere Bäuche haltend verschwanden wir nach dem Klingeln in einer Traube von Schülern, die unterwegs zum Unterricht waren.
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Es klingelte an der Türe. Zehn Minuten vor acht. Bettina war zu früh da.
Mit einem freundlichen „Hallo“ und einer kurzen Umarmung begrüßten wir uns. Dann drückte Bettina mir ein großes Blatt Papier in die Hand, es war bekritzelt mit Buchstaben und Zahlen. „Hier“, sagte sie, „das hab ich vorbereitet.“ Ich sah sie irritiert an. „Fürs Gläserrücken“, setzte sie zur Erklärung nach.
Bettina schlüpfte schnell aus ihren Sandalen und warf sie in die Ecke. Ich ging durch den hellen Flur voraus ins Esszimmer. Dort deutete ich mit einer Hand auf ein Dutzend brennende Kerzen am Esstisch: „Das hab ich vorbereitet.“
Wir kicherten und breiteten das Blatt Papier auf dem Tisch aus. Die Kerzen platzierten wir rundherum. Ich stieg auf die Eckbank, die direkt vor dem einzigen Fenster stand, und zog die Vorhänge zu. Als ich mich auf die Bank gleiten ließ, wurde der Raum nur noch von dem gespenstischen Kerzenschein beleuchtet. Dunkle Schatten warfen sich über Bettinas Gesicht und sie schnitt gruselige Grimassen. Es sah einfach zu komisch aus, ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.
„Wo ist das Glas?“, fragte Bettina dann. Ich murmelte: „Upps, vergessen..“ Sie seufzte und machte sich dann auf den kurzen Weg in die Küche. Ich hörte das leise Quietschen der Holztür und das Scharren der Regaltüren. Plötzlich klirrte es und Bettina schrie: „Mist!“ Das Licht ging an und ich rieb meine geblendeten Augen. Da sah ich das zerbrochene Glas am Boden. So was konnte auch nur Bettina passieren!
Plötzlich hörte ich eine unheimliche, tiefe Stimme in meinem Kopf: „Scherben bringen Pech!“ Ich schüttelte energisch den Kopf und drehte dann gedankenverloren an meinem Ring, er war golden mit einem rubinroten Stein, das einzige Erbstück meiner Mutter. Meine beunruhigenden Gedanken schob ich schnell weg. Dann half ich Bettina die Scherben aufzulesen. Sie holte vorsichtig ein neues Glas.
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Schließlich saßen wir im Kerzenlicht beisammen und schauten uns an. In die gespenstische Stille hinein, sprach Bettina mit fester Stimme: „Ich rufe den Geist vom Fliegenden Holländer.“ Ich kicherte. Sie deutete mir, still zu sein, doch ich glaubte, ein leichtes Lächeln in ihrem beschatteten Gesicht zu erkennen. Dann setzte sie das umgedrehte Glas auf das Blatt Papier.
Sie stellte die erste Frage: „Bist du da Geist?“ Wir beide hatten unsere Zeigefinger auf das Glas gelegt und warteten gespannt. Mein Herz machte einen leisen Hüpfer, als sich das Glas plötzlich ruckartig bewegte. Es blieb auf „Ja“ stehen. Wir hielten für einen Moment die Luft an. Es funktionierte.
Meine Gedanken schweiften ab zu meinen Eltern und ich wurde kurz traurig. Im Kerzenschein betrachtete ich gedankenverloren den Ring an meiner linken Hand. Dann erinnerte Bettina mich daran, eine Frage zu stellen. Ich überlegte kurz und fragte geradeheraus: „Geist, geht es meinen Eltern gut, dort wo sie sind?“
Da fuhr ein Windstoß durch das Zimmer und löschte einen Teil der Kerzen. Wir zogen erschrocken unsere Finger vom Glas zurück. Scheppernd fiel es um, rollte einmal im Kreis und blieb abrupt stehen.
„Was..?“, brachte Bettina nur heraus, sie war wie ich leichenblass. Ich schnupperte. Es roch verbrannt. Da sah ich in der Tür zur Küche die ersten Feuerzungen.
„FEUER!“, schrie ich. Bettina drehte mir den Rücken zu und sprang auf. Kaum hatte sie die hell lodernden Flammen gesehen, rannte sie schon los. Sie merkte nicht, dass ich ihr nicht in den Flur folgte.
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Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war. Ich wollte ihr folgen, wollte aufstehen und davonlaufen, aber eine Starre hielt mich zurück. Keine Starre, die ich selbst wollte, ich kämpfte gegen sie an. Doch es war, als würde ich gegen mich selbst kämpfen.
Verzweifelt sah ich, wie das Feuer auch die Türe zum Flur, meine Fluchtmöglichkeit, erreichte. Gefährlich loderten die rot-gelben Flammen und schlossen mich ein. „Laura?“, hörte ich Bettina verzweifelt schreien.
Mein Atem war flach, immer mehr giftige Dämpfe gelangten in meine Lungen. Mein Herz schlug wie wild. Langsam nahm mir auch die Panik den Atem. Meine Augen richteten sich auf die Feuerwand, die auf mich zukam. Nun musste ich handeln.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, um die Ursache meiner Starre zu finden. Doch so sehr ich auch in mich selbst ging, etwas verschloss mir die Wahrheit. Da fiel mir plötzlich auf, dass eine Hitze in meinem Körper wallte, nur eine Stelle war kühl. Der Finger an dem ich Mutters Ring trug. Ich riss meine Augen auf, verwundert. Was hatte der Ring mit all dem zu tun?
Nun galt ihm meine Aufmerksamkeit, aber ebenso der Feuerwand, die mir wieder näher gerückt war. Ich musste den Ring erreichen. Irgendetwas sagte mir, dass er meine Rettung sein würde. Also musste ich mich bewegen.
Meine ganze Willenskraft kam nicht gegen diese seltsame Starre an. Trotzdem musste ich es schaffen. Meine Muskeln verkrampften. Schon wollte ich den letzten Funken Hoffnung aufgeben, als sich mein Daumen plötzlich ein Stück weit bewegen ließ. Meine Augen, starr gegen die näherkommende Feuerwand gerichtet, leuchteten kurz auf. Mehr, da muss noch mehr sein, dachte ich. Ich stöhnte vor Anstrengung. Ein kleines Stück noch, dann würde mein Daumen den Ring berühren.
Plötzlich schien mir als würden Gestalten im Feuer erscheinen. Unheimliche, dunkle Gestalten. Ich hörte ein Lachen, zuerst in der einen, dann in der anderen Ecke des Raumes. Meine Augen bewegten sich panisch hin und her, konnten aber dennoch keinen Blick erhaschen. Es war unheimlich und Panik stieg in mir hoch.
Dann – endlich – hatte mein Daumen den Ring erreicht. Er war inzwischen brennend heiß und ich schrak kurz zurück. Doch ich wollte hier lebendig raus. Ich drückte meinen Daumen an den Ring, nichts passierte. Mein Mut sank. Das Feuer dagegen wuchs und wuchs.
Meine Augen wurden groß, Hitze schlug mir entgegen und mein Körper schien zu kochen. Heiße Tränen rannten meine Wangen herunter und landeten auf meinem T-Shirt. Sie hinterließen dunkle Flecken. „Laura“, hörte ich Bettina draußen weinend schreien.
Ich fasste neuen Mut. Mein Daumen strich über das heiße Metall des Ringes. Ich dachte an meine Mutter, es war ihr Ring gewesen. Allmählich fühlte ich, wie eine Kraft vom Ring in meinen Körper überging. Das lähmende Gefühl zog sich zurück, mein Körper regte sich langsam wieder. Schließlich, das Feuer erreichte bereits den Esstisch, konnte ich mich frei bewegen. Ein Feuerschein fiel auf den Ring und er leuchtete auf. Auch meine Augen spiegelten bereits den wilden Schein.
Ich sprang auf die Eckbank, drehte dem Feuer den Rücken zu und riss die Vorhänge mit einer Handbewegung weg. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Mit zitternden Händen griff ich auf die metallenen Fenstergriffe. Sie waren kochend heiß. Ich unterdrückte den Schmerz, zog sie nach oben, riss das Fenster auf und glitt über die Fensterbänke hinaus.
Hustend verweilte ich kurz am Boden, bevor ich aufstand. Doch nach wenigen Schritten war ich am Ende meiner Kräfte. Der violette Abendhimmel wurde von schwarzen Punkten überdeckt und ich fiel in eine selige Ohnmacht.
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Ich schlug die Augen auf. Helles Licht blendete mich. Ich schlug sie wieder zu und blinzelte gegen das Licht. Ein verschwommenes Gesicht schob sich in mein Blickfeld, Bettinas Gesicht.
„Sie ist wach.“, sagte sie. Erleichterung schwang in ihrer Stimme. Ich blickte mich um, kahle weiße Wände, ein Tropf neben dem Bett. Ich lag in einem Krankenhaus.
„Was..ist passiert?“, murmelte ich. Mein Mund war trocken. Bettina erzählte mir von dem Feuer. Stückweise kehrte meine Erinnerung zurück.
„Der..der Ring?“ Sie deutete auf das Bettkästchen, dort lag er und wartete. Dann meinte sie bekümmert, dass alles, was sich im Erdgeschoss des Hauses befunden hatte, zerstört war. Nichts war mehr übrig geblieben. Mir schossen Tränen in die Augen.
Bettina versprach: „Keine Sorge, Laura, das wird schon wieder. Hauptsache du bist gesund.“ Ich lächelte sie an und nahm dann den Ring in die Hand. Geschickt steckte ich ihn mir an den Finger.
„Danke“, flüsterte ich leise und beschloss, den Ring von nun an immer zu tragen. Er war mein Schatz.
Texte: B. Preinfalk
Bildmaterialien: Fotograf: martinak15, Bildname: Julia; Lizenzfrei: http://piqs.de/regeln-zur-verwendung-der-fotos/; Quelle: www.piqs.de;
Lektorat: Alexandra P.
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2012
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