Ich mag rote Haare und Rosen.
Meine beste Freundin Natalie hat rote Haare, die sie gerne zu Zöpfen flicht und sie riecht immer nach ihrem geliebten Rosenparfum. Manchmal tupft sie mir einen kleinen Tropfen hinter die Ohren. Dann rieche ich wie sie. Überhaupt haben wir viel gemeinsam. Wir arbeiten beide als Verkäuferinnen bei einem großen Unternehmen und besuchen die Abendschule. Heute duftet es nicht nach Rosen an meiner Seite, denn Natalie ist krank, liegt mit Fieber im Bett. Sie hat mich angerufen und gebeten, für sie beim Unterricht mitzuschreiben, deshalb verlasse ich erst als Letzte das Gebäude. Es ist bereits ziemlich dunkel. Deutlich erkenne ich am Himmel die vielen hellen Sterne, die ich als Kind immer zählen wollte. Eigentlich bin ich ein ganz normaler Mensch, es ist nichts Besonderes an mir, doch das stört mich nicht. Im Gegenteil, ich mag es, nicht immer aufzufallen. Vielleicht liegt das an meiner Mutter, die immerzu auffällt, ob mit Alkoholproblemen, Nikotinsucht oder immerwährender Arbeitslosigkeit. Ich hab sie schon als Kind selten nüchtern erlebt. Mein oberstes Ziel war: anders als sie zu werden. Ich bin stolz darauf, genau das geschafft zu haben.
Meine Eltern wohnten auch vor meiner Geburt schon in Wien. Sie mögen die Stadt und kennen hier viele Leute. Ich habe seit 20 Jahren nirgendwo anders gelebt. Auch Oma und Opa wohnen hier, sie waren immer nett zu mir. Wir treffen uns manchmal und reden stundenlang. Sie sind die einzigen, mit denen ich gerne rede. Sie und Natalie.
Bis letzte Woche hatte ich auch einen Freund, doch er hat sich von mir getrennt. Meine Mutter sagt immer, man solle sich den Männern unterordnen. Ich mag meine Mutter und ihre konservative Weltsicht nicht. Doch nicht nur deshalb ist unser Verhältnis sehr angespannt. Auch die Trennung von meinem Vater, wegen ihres Ehebruches, hat uns entzweit.
Mit 18 Jahren zog ich aus, ich floh von zuhause in eine eigene Wohnung. Heute gehe ich damit anders um, ich weiche Gesprächen mit meiner Mutter aus. Zu meinem Vater habe ich überhaupt keinen Kontakt mehr. Er hat mittlerweile eine andere Frau geheiratet.
Obwohl ich sicher kein Genie in der Schule war und keines der Fächer besonders gut beherrschte, will ich meine Matura nachholen. Das ist auch der Grund, warum ich in die Abendschule gehe. Ich glaube, man muss Bildung haben, um eine anständige Anstellung zu bekommen. Natalie ist da zwar anderer Meinung und sagt, ich würde das auch ohne Matura schaffen. Sie tröstet mich immer, wenn ich wieder eine Prüfung nicht bestehe.
In meiner Kindheit habe ich noch nicht viel erlebt. Weil meine Eltern sparen wollten, waren wir nie in den Sommerferien im Ausland. Wenn alle meine Mitschüler in Spanien, Italien oder der Türkei waren, waren wir in Niederösterreich. Denn mehr als eine Stunde Fahrt durfte es nicht sein. Wie gern hätte ich das Meer gesehen oder darin gebadet. Manchmal habe ich meine Eltern gehasst und geglaubt, sie haben absichtlich mein Leben ruinieren wollen.
Der Weg nach Hause ist nur wenig beleuchtet, denn es ist schon spät. Ich versinke in meinen Gedanken und werde ganz müde. Normalerweise gehe ich mit Natalie heim, sie würde ununterbrochen reden und ich hätte keine Zeit an Schlaf zu denken. Ein lauter Schrei weckt mich aus meinen Gedanken. Ich erschrecke und blicke auf. Noch einmal höre ich genau hin. Nur ein Auto fährt mit leisem Plätschern durch eine Wasserpfütze. Doch da höre ich wieder einen Schrei. Eine Frau. Es hört sich an, als ob sie Hilfe braucht. Ich kenne mich in Wiens Gassen gut aus. Schließlich habe ich früher hier oft genug Fangen gespielt. Ich weiß genau, woher der Schrei kommt. Ich denke kurz nach und habe plötzlich ein mulmiges Gefühl. Eigentlich will ich ja ins Bett. Dann denke ich an Natalie, sie würde mir raten, dass ich zumindest nachschauen sollte. Die Sackgasse, in die ich eile, ist unbeleuchtet, meine Augen müssen sich erst im Dunkeln zurechtfinden. Ich rümpfe die Nase, ein seltsamer Geruch liegt in der Luft, der Geruch von Müll und Moder. Dann erkenne ich etwas schemenhaft im Dunkeln. Eine große Silhouette steht neben dem alten, baufälligen Gasthaus, in der linken Hand hält sie etwas. Ich konzentriere mich, aber ich kann es nicht erkennen. Auch das Gesicht ist von Schatten verhängt, Wolken verdecken den Mond. Am Boden liegt eine Frau, sie fleht um Gnade, beinahe winselt sie. Ich mache einen Schritt, zu laut. Bevor mich jemand entdeckt verstecke ich mich hinter einer Mülltonne. Mein Herz klopft und sagt mir „Gefahr“. Mein Kopf versucht mir einzureden, dass das nur ein Ehestreit ist, der mich nichts angeht. Plötzlich dringt Mondlicht in die Gasse und ich sehe, dass der Mann eine Pistole in der Hand hält und damit auf die Frau am Boden zielt. Für einen kurzen Moment scheint die Zeit stillzustehen und damit auch mein Herz. Der Mann hält inne, er drückt ab. Die Frau wimmert. Doch kein Schuss hat sich aus der Pistole gelöst. Der Mann flucht, wirft die Pistole weg und zieht blitzschnell ein Messer aus seiner Hosentasche und sticht damit zu. Genau ins Herz. Vor Schreck erstarre ich. Die Frau liegt am Boden, bewegt sich nicht. Ich fasse nicht, was ich gerade gesehen habe. Wie kann man jemanden töten und dabei so kalt sein? Das Blut gefriert mir in den Adern. Sekunden verstreichen, lautlos, bis ich realisiere, dass ich soeben einen Mord beobachtet habe. Der Mann betrachtet still sein Opfer. Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Doch ich weiß, wenn ich nicht sofort losrenne, wird er mich entdecken. Die Starre, die mich übermannt hat, macht es mir schwierig, mich leise zu entfernen. Rückwärts taumelnd, schleiche ich davon. Plötzlich fallen direkt hinter mir laut scheppernd Mülltonnen um. Das Geräusch lässt mich hochfahren. Jetzt laufe ich los. So schnell ich kann.
Keuchender Atem dringt an mein Ohr. Er ist dicht hinter mir. Ein Geschäft nach dem andern zieht an mir vorüber. Die Straßen sind menschenleer. Meinen Bauch quält ein Seitenstechen. Die Tasche baumelt und stößt bei jedem Schritt schmerzhaft an meinen Oberschenkel. Ich will anhalten, doch dann würde er mich schnappen. Wieder vernehme ich sein Keuchen. Ich verfluche mich dafür, nie Sport getrieben zu haben. Seine Schritte hallen durch die Nacht. Gerade dann beginnt es zu regnen. Ich renne und renne, verliere das Zeitgefühl und spüre nicht einmal das schmerzende Pochen in meinem Knöchel. Schon nach den ersten Regentropfen hängen mir braune Haarsträhnen nass ins Gesicht. Mein Herz schlägt so heftig, als ob es jeden Moment explodieren würde. Wer ist er? Welcher Mensch kann so etwas machen? Warum hat er das gemacht? Fragen über Fragen kreisen in meinem Kopf, während ich um mein Leben laufe. Werde ich die Antworten je erfahren? Nach Minuten, die mir wie Stunden vorkommen, erreiche ich mein Wohnhaus.
Hals über Kopf und durchnässt stürze ich ins Haus und schließe mit klappernden Fingern ab, während Wassertropfen von meinem Mantel auf dem Boden aufklatschen. Beinahe lasse ich den Schlüssel fallen, denn der Schock macht es mir fast unmöglich meine zitternden Hände unter Kontrolle zu halten. Endlich habe ich es geschafft. Erleichtert sinke ich zu Boden. Nur Sekunden später rüttelt jemand vergeblich an der Tür und flucht lauthals. Meine Augen weiten sich. Ist er es? Mit dem Wissen, dass es noch nicht vorbei ist, laufe ich in meine Wohnung bis zu meinem Sofa, dort sinke ich zusammen. Immer wieder kommen mir die Bilder, die ich beobachtet habe, in den Sinn. Ich weine. Mit jeder Träne wird mein Herzschlag ruhiger. Einem so skrupellosen Menschen bin ich noch nie begegnet. Kann man wirklich ohne schlechtes Gewissen einen anderen Menschen töten?
Beruhige dich, befehle ich meinem zitternden, verschwitzten Körper. Dann reiße ich mein Handy aus der Tasche und wähle 133.
„Hallo, hier Polizeistation Wien-West, was ist passiert?“ Die Stimme des Polizisten klingt gelangweilt.
„Ich..ich habe einen Mord gesehen!“, stottere ich in mein Handy, noch unter Schock stehend und durcheinander.
„Wie heißen Sie?“
„Lara Staller.“
„Wo ist es passiert?“
Ich überlege kurz. Dann fällt mir der Name der Gasse ein.
„Birkengasse, beim alten Gasthaus Möwe.“
„Haben Sie den Täter gesehen?“
„Er ist mir gefolgt. Beinahe hat er mich…“
Er wird bestimmt wieder kommen. Um mich zu beseitigen. Mich, die einzige Zeugin.
„Können Sie ihn identifizieren?“
„Es war ein Mann, er hat der Frau ein Messer ins Herz...“
Das ist zu viel, ich will nicht so wie sie enden. Allein, in einer Gasse, ein Messer im Herzen. Verzweiflung steigt in mir hoch. Ich breche weinend am Telefon zusammen. Der Polizist verspricht mir, mich zu informieren, falls sie etwas herausfinden. Er bietet mir an, einen Psychiater vorbeizuschicken, doch ich will einfach nur alleine sein. Er spricht einfühlsam mit mir, vertrauensvoll.
Die ganze Nacht mache ich kaum ein Auge zu, Bilder rotieren in meinem Kopf wie bunte Kreisel und lassen mir keine Ruhe. Ich habe Angst. Angst, dass er wieder kommt und mich tötet. Ich habe ihn zwar nicht erkannt, dennoch hat er sehr bedrohlich und gefährlich gewirkt. Das Licht brennt, im Dunkeln halte ich es nicht aus. Schließlich schlafe ich frühmorgens endlich ein und verfalle in einen unruhigen Schlaf.
Ich gähne. Mein Wecker hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich schaue auf das Ziffernblatt und springe erschrocken aus dem Bett. Es ist bereits elf Uhr, in einer halben Stunde soll ich schon arbeiten. Schnell ziehe ich meine Kleidung über, nebenbei streiche ich mir ein Honigbrot. Da draußen schon Schnee liegt, ziehe ich meine schwarzen Lederstiefel und den hübschen, weißen Trenchcoat an. Mein Handy, das auf der Kommode liegt, darf ich auf keinen Fall vergessen, ich erwarte nämlich noch einen Anruf. Den Autoschlüssel reiße ich vom Bord, dann stoße ich die schwere Eichentüre auf. Im Eiltempo stürze ich das Treppenhaus hinunter, um mich dann endlich ins Auto fallen zu lassen. Ohne das bei der Fahrprüfung Gelernte zu beachten, rase ich im Affentempo zur Arbeit. Nichts kann mich stoppen, außer der roten Ampel vor der Kreuzung, die muss eingehalten werden. Erst da denke ich zum ersten Mal an den gestrigen Tag, ein Zittern übermannt mich. Doch ich kann es mir nicht leisten einen Arbeitstag zu verpassen.
Zehn Minuten zu spät komme ich an meiner Arbeitsstelle an. Doch niemand sagt etwas zu mir, niemand tadelt mich, denn ich sehe müde und überanstrengt aus. Mein Gesicht verrät die Schlaflosigkeit der vergangenen Nacht. Ich löse meine Kollegin ab und stelle mich an die Kasse. Der Nachmittag geht an mir vorüber, als wäre nichts geschehen. Doch es ist etwas passiert, ich will mich nur nicht erinnern. Schließlich ist heute Samstag, der Shoppingtag schlechthin, an dem Ablenkung von der Arbeit nicht erwünscht ist, denn es warten immer ungeduldige Kunden darauf, bedient zu werden. Erst als abends das Geschäft schließt, denke ich wieder an gestern, an ihn. Er wird mich bestimmt holen. Ich muss vorsichtig sein.
Als ich mein Brieffach zuhause öffne, finde ich Rechnungen, Werbungen und einen sonderbaren gelben Brief. Neugierig gehe ich in meine Wohnung. Ich entsorge nervige Werbungen, öffne lange Rechnungen, und schließlich reiße ich auch den gelben Umschlag auf. Gespannt und beunruhigend öffne ich ihn. In großen Buchstaben, aus Zeitungen ausgeschnitten, steht dort auf einem weißen Blatt Papier
DU WEISST ZU VIEL!
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Er kennt meinen Namen, er weiß, wo ich wohne. Wie soll ich ihm entkommen? Ich werde sterben. Nur noch mein lautes Schluchzen ist in meiner Wohnung zu hören. Plötzlich, noch ein anderes Geräusch. Ich wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augenwinkeln und höre noch einmal genau hin. Was ist das? Automatisch steigt mein Adrenalinspiegel. Mein Blick erstarrt. Ist er es? Erleichtert erkenne ich, dass nur das Telefon klingelt. Es ist wieder der nette Polizist.
„Guten Tag, Frau Staller“, begrüßt er mich.
„Hallo“, sage ich leise und verängstigt.
„Frau Staller, die Frau ist an Herzinfarkt gestorben, niemand hat sie ermordet.“
Stille.
„Ich habe den Mann doch gesehen, er hat mich verfolgt und ich habe seinen Atem gespürt. Die Frau blutete ja auch.“
„Ja, sie hat sich, als sie zu Boden gefallen ist, verletzt. Frau Staller, hatten Sie früher einmal Wahnvorstellungen?“
„Nein! Warum glauben Sie mir nicht?“
Meine Stimme überschlägt sich. Ich klinge aggressiv und gereizt.
„Frau Staller, wir werden Ihnen einen Termin beim Psychiater beschaffen“, meint der Polizist.
„Ich brauche keinen Psychiater.“
Mit diesen Worten lege ich wütend und verwirrt auf. Wie ist das möglich? Ich habe gesehen, wie die Frau erstochen wurde. Was ist bloß los mit mir? Mein Kopf schmerzt und ich drücke mit den Zeigefingern gegen meine Schläfen, um ihn zu besänftigen. Plötzlich werden alle meine Fragen weggeweht, nur mehr eine ist in meinem Kopf. Wer ist dieser seltsame Mann, den ich bei der Frau gesehen habe?
Wie hypnotisiert erlebe ich die nächsten Tage. Die Arbeit erledige ich in Trance. Nach der Schule fahre ich mit dem Auto bis kurz vor den Eingang des Hauses. Ich zittere am ganzen Körper, wenn ich nur an ihn denke. Obwohl ich mich mit meiner Mutter nicht allzu gut verstehe, ist sie die Einzige, der ich es erzählen will. Nicht einmal meine Freundin soll davon erfahren, sie soll mich schließlich nicht für verrückt halten.
„Hallo Mutter“, spreche ich zaghaft in den Hörer.
„Lara-Schätzchen, damit habe ich jetzt gar nicht gerechnet“, sagt meine Mutter in ihrem sarkastischen Tonfall und seufzt.
„Mutter, ich kann dir vertrauen, oder? Und du wirst mich nicht auslachen. Versprich es mir.“
„Was ist denn so wichtig, dass du mich beim Fernsehen unterbrichst. Du weißt genau wie sehr ich das hasse.“
„Mutter, ich habe einen Mord beobachtet. Zumindest denke ich das. Ich habe die Polizei verständigt. Die Frau soll an einem Herzinfarkt gestorben sein. Doch ich habe gesehen, wie ein Mann mit dem Messer zugestochen hat.“
„Ach, du willst deine alte Mutter wohl reinlegen. Nicht mit mir, ich glaube dir nicht. Mich legst du nicht rein, nein. Die Geschichte hast du dir nur ausgedacht, um mich zu veräppeln. Du willst mich dafür bestrafen, dass ich nie für dich da war.“
Dann legt sie auf. Nicht einmal meine eigene Mutter versteht mich. Wer soll mir dann noch glauben? Ich fasse nicht mehr den Mut, es jemand anderem zu erzählen. Ich weiß ja, dass es wahr ist. Aber weiß ich es wirklich? Ich bin mir nicht mehr sicher, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich traue mir selbst nicht mehr. Was, wenn ich verrückt bin und es nicht einmal bemerke. Kann ich mir noch vertrauen?
Das Telefon läutet. Ich bin gerade aufgestanden. Die Nummer meiner Mutter leuchtet auf dem Display auf und ich beschließe abzuheben. Soll dies vielleicht eine Entschuldigung werden?
„Hallo, Lara. Immer noch Wahnvorstellungen?“, spricht sie spöttisch am anderen Ende der Leitung.
„Nein“, entgegne ich kühl. Meine Mutter ist eindeutig betrunken und will sich bestimmt nicht für ihr gestriges Verhalten entschuldigen.
„Ach, Schätzchen, lass dich nicht unterkriegen. Du bist zwar schwach, aber du bist auch ein Starrkopf. Lara, du hättest dich als Kind kennen sollen, du warst äußerst nervig.“
„Mutter, du bist betrunken.“
„Lara-Maus, ich bin doch nüchterner als der Papst.“
„Mutter, ich kenne dich und ich weiß, dass du getrunken hast.“
„Nein, Lara-Maus, ich habe nichts getrunken. Eigentlich will ich dich nur fragen, was dich so an mir stört, dass du mich anlügen musstest?“
Meine Mutter lallt beinahe.
„Mutter, du hast mich als Kind immer nur angeschrien, warst selten nüchtern und hast Papa betrogen. Ich hasse dich und habe dich trotzdem nicht belogen!“
„Jetzt reicht’s aber, so kommst du mir nicht. Na gut, ich habe ein paar Mal zur Flasche gegriffen und ich habe Papa betrogen. Das ist lange her.Wirst du mir denn nie verzeihen?“
„Nein, so etwas ist nicht so leicht verzeihbar.“
Damit lege ich auf. Ich kauere mich heulend auf mein Bett. Schon als Kind habe ich meine Mutter oft betrunken zu sehen bekommen. Wie bin ich froh gewesen, wenn sie einmal nüchtern war. Extra früh bin ich ins Bett gekrochen, nur damit ich ihr nicht mehr begegnen musste. Andere Kinder sind stundenlang vor dem Fernseher gesessen, wenn die Eltern nicht zuhause waren, auch wenn deren Eltern nicht die halbe Nacht in einer Bar verbrachten. Doch meine Mutter duldete kein TV-Gerät in der Wohnung. Ich habe gelernt sie einfach nicht zu beachten, ihr aus dem Weg zu gehen. Ich habe gelernt, sie zu hassen.
Die Makkaroni riechen großartig, die Tomatensoße frisch und fruchtig. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich bereite mir einen Teller vor. Zusammen mit der Flasche Rotburgunder schmeckt das Abendessen wunderbar und verdrängt für ein paar Momente meine Angst. Ich räume den Tisch ab und platziere das schmutzige Geschirr im Spüler. Dann genieße ich die letzten warmen Sonnenstrahlen über der Stadt und beobachte das Menschengewimmel am Domplatz. Ich schließe meine Augen. Doch plötzlich überkommt mich ein seltsames Gefühl, ich blinzele. Da ist er. Schweiß perlt von meiner Stirn. Ein Tropfen landet auf meiner Hand, ich bemerke ihn nicht. Denn er ist dort. Er. Ich habe ihn mir nicht eingebildet. Ich nehme das Telefon.
„Polizeistation Wien-West. Was kann ich für Sie tun?“, sagt der nette Polizist. Er hat wieder Dienst.
„Er verfolgt mich. Der Mann ist wieder hier“, stammle ich.
„Frau Staller? Sind Sie es? Es gibt den Mann nicht!“
„Ich sehe ihn doch.“
Abermals schaue ich aus dem Fenster. Doch er ist nicht mehr da. Einfach weg.
„Er war doch da“, sage ich verwirrt.
„Sie müssen zum Psychiater, Frau Staller.“
„Nein!“
Das letzte Wort schreie ich schon fast ins Telefon, dann lege ich auf. Ich fühle mich einsam und verlassen. Niemand ist da. Niemand hilft mir. Niemand glaubt mir. Meine Knie zittern. Das Schlimmste aber ist, dass ich mir selbst nicht mehr glaube. Ich habe kein Vertrauen mehr in mich.
Ich hätte gerne jemanden zum Reden, einen der mir zuhört, mir Mut macht, mich aufmuntert und mich versteht. Doch diesen Einen gibt es nicht. Zumindest nicht für mich. Ich möchte auch jemanden, der mit mir Zeit verbringt, mir hilft und mir das Gefühl von Schutz und Geborgenheit verleiht. Nur ein starker Arm um meine Schultern.
Oftmals stelle ich mir die Frage, wie ich weiterleben soll, wo ich doch schon weiß, dass ich sterben werde. Ich recherchiere im Internet über Selbstmord. Er ist grausam, viel zu grausam. Ich werde nie den Mut aufbringen, mich zu erhängen, mir Medikamente einzuflößen, die mir einen langen, grauenvollen Tod bescheren oder andere qualvolle Methoden. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Angst bekomme ich davor.
Eine lange Woche vergeht, bis ich wieder eine Nachricht bekomme, in der steht:
SEI AUF DER HUT!
Nun bin ich absolut sicher. Er hat es auf mein Leben abgesehen und ich kann es nicht verhindern. Ein Umzug ist unnötig, er wird mich überall finden, da bin ich sicher. Ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr erlebt habe. Ich bin meinem Schicksal ausgeliefert. Ich kann ihm nicht mehr entkommen. Er spielt mit mir, dessen bin ich mir bewusst. Doch beruhigen kann mich das nicht, im Gegenteil, es beunruhigt mich eher.
Wenn man dem Tod sehr nahe ist, sieht man sein Umfeld viel bewusster, viel genauer. Ich versuche mir alles einzuprägen. Den Duft der frischen Orchideen, die prachtvoll gegen die Sonne wachsen, oder den eines alten dicken Schmökers in der Bibliothek, den tausende Hände schon liebkost haben. Wie hat mir der große Ahorn mit seinen vielen so unterschiedlichen Blättern im Park nur entgehen können, oder der duftende Holunderbusch im Schrebergarten. Wie blind bin ich durch die Welt gegangen, um das zu übersehen?
Abends, wenn ich müde aus dem Auto aussteige, renne ich schnell in meine Wohnung und sperre hinter mir sorgfältig zu. Ich bin vorsichtig. Zuhause im Bett kann ich kaum schlafen. Ich liege wach im Bett und werde terrorisiert von der Vorstellung, ermordet zu werden. Die Dunkelheit verstärkt meine Unsicherheit nur. Sie saugt alle Hoffnung und Leben in sich auf. Es könnte meine letzte Nacht sein. Jede könnte es sein.
Doch manchmal erwische ich mich dabei, mich auf den Tod zu freuen. Nein, ich will es sogar. Mein Leben ist nie toll gewesen, ich habe es gehasst. Warum soll ich denn noch leben? Welchen Grund habe ich? Ich weiß genau, dass mich nicht viele Menschen vermissen werden. Ich habe auch nicht das Gefühl etwas verpasst zu haben. Nein, mein Leben ist ohnehin schon sinnlos gewesen. Doch das nimmt mir nicht die Angst vor dem Tod, dem Sterben. Angst kann man nie entkommen. Ich weiß auch, dass ich dem Tod nicht entkommen kann. Ich hatte nie eine Wahl.
Ich renne um mein Leben, er ist hinter mir. Er will mich, mein Leben. Ich bleibe stehen. Warum?
Schweißgebadet erwache ich aus meinem Traum. Ich habe Angst. Mein Herz rast, mein Kopf pocht. Wie lange noch? Ich bin verzweifelt, doch gleichermaßen voller Sehnsucht. Wann? Wann wird er mich erlösen? Erlösen von meinem Leben. Von all dem Hass, der Trauer. Doch schmerzlich erinnere ich mich auch an das Gute, an Natalie und meine Großeltern.
Das Telefon klingelt. Diesmal weiß ich, er ist es. Ich kann es spüren. Angst und Vertrauen erfüllen meinen Körper. Ich kenne ihn nicht und doch habe ich das Gefühl, ihn zu kennen.
„Hallo?“, sage ich zaghaft, fast weinerlich. Mein Herz klopft laut.
Keine Antwort, nur ein Piepen, das signalisiert, dass er aufgelegt hat.
Ein seltsames Gefühl macht sich in meinem Bauch breit. Es ist die Angst, die mir in alle Zellen kriecht, sie verschlingt mich. Ich sehe dem Tod in die Augen. Sie wirken vertrauensvoll, nett und doch gefährlich. Es ist ein Spiel. Ein Spiel um Leben und Tod. Ich kaue an meinen Fingernägeln und blicke mich um. Es kann nur einen Gewinner geben, den Tod. Ich habe bereits vor Schluss des Spieles verloren. Ich schließe meine Augen, spüre, wie ein Lufthauch von der Türe durch meine Haare weht. Er ist hier. Der Tod, mein Mörder.
Ich werde mir dessen bewusst, dass er nicht ein Mörder ist, nein, er ist der Tod selbst. Nur ich sehe ihn. Ich sehe ihn, weil ich ihm nahe bin. Weil ich dem Tod nahe bin. Ich weiß, ich kann nicht mehr um Gnade flehen. Es ist zu spät, es ist mein Schicksal. Dem Tod kann man nicht entkommen. Das letzte Mal blicke ich in meine Wohnung, bevor ich in seine blaugrünen Augen sehe. Er hat die Gestalt eines jungen charmanten Mannes, seine Hand streckt er mir einladend zu. Ich wehre mich nicht, nehme sie und folge ihm in einen langen, dunklen Tunnel. Mein Leben spielt sich wie in einem Film vor meinen Augen ab. Ich schließe sie, will es nicht noch einmal erleben. Dann, endlich, erreichen wir ein grelles Licht. Als ich meine Augen öffne, ist er verschwunden. Die letzte Entscheidung liegt bei mir, doch einen Rückweg gibt es nicht mehr. Ich gebe mich ohne Zögern dem Schein hin, schließe meine Augen und spüre, wie ich vom Boden abhebe.
Texte: Barbara Preinfalk
Bildmaterialien: Selbstgemalt.. :)
Lektorat: Talenteakademie OÖ :D
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2012
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