Für Katrin,
(*1992 – †2007)
den hellsten Stern am Nachthimmel.
© Oktober 2021 Seidl, Bettina
Rosenstraße 2
93086 Wörth an der Donau
auer.bettina@web.de
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Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk - Lektorat Gwynnys Lesezauber, www.gwynnys-lesezauber.de
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Bildmaterial: @ilya7775, @jag_cz, @mythja/Depositphotos.com, @Fernando Gregory Milan/123rf.com
Illustrationen: Andrea Hagenauer
eBook-Vertrieb: BookRix
- Eine Legende besagt, dass die Sternensammlerin das Licht zurück in unsere Welt bringt. Damit die Dunkelheit auf ewig verdrängt wird. -
Das lautstarke Klirren von runterfallendem Geschirr riss Lys aus dem Schlaf. Sie wartete einige Atemzüge lang, und als sie nichts Weiteres hörte, kuschelte sie sich wieder in die warme Decke.
Ein hoher Schrei hallte durch das Haus, so gellend, dass ihr das Blut in den Adern gefror. Mit einem Satz war sie auf den Beinen, schlüpfte im Rennen in ihren Morgenmantel und polterte die Treppe hinunter.
»Mama!«, schrie sie.
Lys übersprang die letzte Treppenstufe, bog um die Ecke und wollte in die Küche stürmen, doch plötzlich wurde sie am Arm gepackt, unter die Stiege gezogen und jemand presste eine Hand auf ihren Mund.
»Sei still!«, flüsterte ihr Emiras ins Ohr und seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu, während Lys’ Herz so heftig schlug, dass sie glaubte, es würde gleich zerspringen.
Die Küchentür wurde aufgestoßen, sie vernahm das Wimmern ihrer Mutter. »Bitte! Ich habe Euch doch schon gesagt, dass er nicht da ist!«
Das Geräusch einer Ohrfeige erklang, gefolgt von einem schmerzerfüllten Aufschrei.
»Miststück!«, zischte eine kühle Stimme.
Lys erkannte sie. Es war die des Hauptmanns, der im Namen des Dunklen Königs das Dorf bewachte.
»Nichtswürdige!«, keifte er, und als er an der Treppe unter dem Versteck der Geschwister vorbeiging, zog Emiras sie tiefer in den Schatten.
Die Stiefelschritte hallten an den Holzwänden wider und Lys erkannte den wallenden roten Umhang mit dem goldenen Saum. Schließlich verschwand der Soldat durch die Haustür, indem er sie mit einem Knall ins Schloss warf.
Die Geschwister horchten in die Dunkelheit hinein und kamen erst aus ihrem Versteck hervor, als sie sicher waren, dass der Mann nicht mehr zurückkehrte.
»Mama!«, rief Lys, und die beiden Kinder rannten gemeinsam zur Küche, doch im Türrahmen blieben sie stehen.
Der Holztisch lag auf der Tischplatte und hatte zwei Beine eingebüßt. Die Stühle waren nur noch als Trümmerhaufen zu erkennen, aber die restliche Einrichtung war intakt.
Ihre Mutter saß am Boden, das Kleid an vielen Stellen gerissen, das schulterlange blonde Haare wirr vom Kopf abstehend und in den grauen Augen lag ein gebrochener Ausdruck, als sie ihre Kinder ansah.
»Mama!«
Lys rannte auf sie zu und legte die Hände um ihre Schultern.
»Er ist weg, Mama«, raunte sie ihrer Mutter Anra zu und schmiegte sich enger an sie.
Diese schlang die Arme um ihre Tochter und sah zu ihrem Sohn. Direkt in seine blaugrauen Augen, die ihren so ähnlich waren.
»Was wollte er?«, fragte Emiras ernst und Lys wusste, dass ihr Bruder als einziger versuchte die Situation mit nüchternem Blick zu betrachten.
Sie waren beide acht Zyklen alt, wobei Emiras nicht nur zwei Minuten älter, sondern auch um einiges reifer im Denken war, als seine Schwester. Insgeheim beneidete Lys ihren Bruder darum und schämte sich, dass sie im Gegensatz zu ihm offen ihre Tränen zeigte.
»Er hat euren Vater gesucht«, erwiderte Anra mit zitternder Stimme und Lys spürte, wie sie durch tiefe Atemzüge um ihre Fassung rang.
Das Geräusch der sich öffnenden Haustür drang an ihre Ohren, gefolgt von dumpfen Schritten. Lys drehte den Kopf – Fanras, ihr Vater, stand unvermittelt im Türrahmen.
Der ausdruckslose Blick des hochgewachsenen Mannes traf den aufgewühlten seiner Frau. In dem weißblonden Haar sah Lys einige verfangene Blätter, ein Bogen ragte am Rücken über die rechte Schulter hervor und die braunen Stiefel waren von schlammiger Erde verdreckt.
»Was ist passiert?« Fanras Stimme klang nüchtern, die blauen Augen huschten suchend durch den Raum.
»Der Hauptmann war hier. Er hat nach dir gesucht«, gestand ihm seine Ehefrau und Lys löste sich ein wenig von ihrer Mutter.
»Hat er gesagt, was er wollte?« Fanras schenkte dem Sohn ein schmales Lächeln, wuschelte ihm durchs Haar und half dann seiner Frau, aufzustehen. Diese warf sich ihm in die Arme und begann bitterlich zu weinen.
»Was hat er dir angetan?«, raunte er ihr zu und Lys bemerkte, wie sehr sich ihr Vater plötzlich anspannte.
»Er hat mich geschlagen. Mehr ist nicht passiert«, wimmerte sie.
Es war deutlich zu hören, wie Fanras wütend mit dem Kiefer mahlte. Er war zornig, ja, aber ebenso gut darin, seine Wut hinunterzuschlucken.
»Es ist gut. Es ist vorbei«, flüsterte er.
»Nein! Es wird niemals vorbei sein, das weißt du!«, hörte Lys ihre Mutter leise jammern.
Der Vater sah die beide Kinder an.
»Da irrst du dich, Anra. Eines Tages wird sich das Blatt wenden. Das Licht wird die Dunkelheit verdrängen.« Dabei fixierte er mit seinen Augen Lys.
Niemals zuvor hatte er sie so angesehen, eine Gänsehaut kroch über ihren Körper. Die Kälte drang bis in ihr Herz, griff zu, zerdrückte es und raubte ihr den Atem. Dazu mischte sich eine Ahnung, dass sie diese Worte ihr ganzes Leben lang verfolgen würden ...
»Lys!« Kaum hörbar war die Stimme, die nach ihr rief.
Sie kniete am Boden vor dem aufgehäuften Hügel und starrte auf den schlichten Grabstein. Zwei Efeuranken schlängelten sich um den Namen.
Fanras Arry
* 3. 04. 3764
† 19. 08 3809
Dein Licht wird niemals in der Dunkelheit erlöschen.
»Lys!«
»Was?«, keifte sie ihren Bruder an, der wenige Schritte hinter ihr stand. Der Wind spielte mit Emiras’ kurzen weißblonden Haaren und er sah sie mit seinen blaugrauen Augen fest an. »Komm nach Hause, Mutter wartet mit dem Essen«, sagte er ruhig.
Sie biss sich auf die Unterlippe, legte den Blumenstrauß auf das Grab und stand auf. Ihr Bruder hatte sich inzwischen abgewandt und sie warf einen letzten Blick auf die Grabstelle, ehe sie ihm folgte.
Die beiden stiegen den niedrigen Hügel hinab, der hinter ihrem Zuhause lag. Ihr Haus war abseits vom Dorf auf einer Anhöhe erbaut worden, von der aus man einen malerischen Blick auf die rund vierzig anderen Holzbauten des Ortes hatte. Sie standen kreuz und quer verteilt auf dem lichten Platz inmitten eines Waldes.
Jeder Bewohner des Dorfes hatte Blumen und Sträucher auf sein eingezäuntes Grundstück gepflanzt und Lehmwege führten von einem Haus zum anderen.
In der Mitte der Waldlichtung war ein großes, steinernes Gebäude errichtet worden. Die Kaserne war erst wenige Zyklen alt und die einzige ihrer Art. Der Hauptmann und seine Soldaten lebten dort und überwachten das Dorf im Auftrag des dunklen Königs. Jeder in der Siedlung hasste sie - doch Lys‘ Familie verabscheute sie am meisten.
Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten, während brennende Wut durch ihre Adern strömte.
»Hör auf zu trödeln!«, rief Emiras, der bereits fast unten bei ihrem Elternhaus war und den Kopf schüttelte.
Sie atmete tief ein und folgte ihm schließlich. Ihr Bruder öffnete die Hintertür und trat ins Innere der Behausung.
Der Geruch nach Essen und dem Pfeifenkraut ihres Vaters schlug den Geschwistern entgegen, Lys fühlte sich gleich entspannter. Sie schloss die Tür und ging in die Küche zu ihrer Mutter, die bereits am fertig gedeckten Tisch auf beide wartete. Sorgenfältchen umspielten das schwache Lächeln auf ihren Lippen.
»Da seid ihr ja«, begrüßte sie ihre Kinder.
Emiras nickte ihr zu, während seine Schwester ihr den Ansatz eines Lächelns schenkte, ehe sie sich setzten.
Mit wenig Begeisterung stocherte sie in ihrem Essen herum und beobachtete dabei verstohlen ihre Familie, die lautstark miteinander schwatzte und genüsslich speiste.
Sie hingegen warf einen abschätzigen Blick auf ihren Teller und widerstand dem Drang, die nächste volle Gabel wieder auszuspucken.
Es war nicht so, dass ihr das Essen ihrer Mutter nicht schmeckte, aber seit dem Tod ihres Vaters hatte sie keinen wirklichen Appetit mehr. Und wenn sie einmal Hunger verspürte, stopfte sie alles lieblos in sich hinein.
Sie nahm zwei weitere Happen von dem Hühnchen, dann rührte sie abermals in dem Kartoffelbrei herum. Der besorgte Blick ihrer Mutter entging ihr nicht.
»Lys, Liebes. Hast du wieder keinen Hunger? Ich habe mir solche Mühe gegeben und dein Vater würde sicher nicht wollen, dass du bei vollen Tellern hungerst«, versuchte Anra sie zum Essen zu ermuntern.
Emiras nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Lass sie. Ich denke, ihr wird sowieso gleich der Hunger vergehen, wenn ich mich ausgesprochen habe.«
Lys taxierte ihren Bruder. Emiras’ Züge strahlten Ernst und seine Augen Entschlossenheit aus. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Er erinnerte sie zu sehr an Vater, war so erwachsen – während sie sich noch oft wie ein kleines Kind vorkam.
Fanras war seit knapp zwei Zyklen tot und seitdem hatte ihr Bruder die Rolle des Mannes im Haus übernommen. Viel zu früh hatte er lernen müssen, was es bedeutete, für eine Familie zu sorgen – und Emiras schlug sich wacker darin.
Lys bewunderte ihn für diese Stärke. Sie liebte ihn abgöttisch, aber es gab Momente, da regten sie seine Sturheit und Kälte auf.
Anra runzelte die Stirn, als ahnte sie Unheil. »Was ist los?«
Er legte das Besteck zur Seite, schob den Stuhl zurück, faltete die Hände ineinander und blickte dann von seiner Mutter zu seiner Schwester.
»Ich werde in die Armee des Waldfürsten eintreten.«
Lys fiel die Gabel auf den Boden und die Unterlippe ihrer Mutter zitterte verdächtig. Beide starrten ihn fassungslos und mit weit aufgerissenen Augen an.
»Das ist ein schlechter Scherz.« Lys fand ihre Stimme zuerst wieder. »Sag, dass es nicht wahr ist! Sag, dass du dich nicht freiwillig bei diesen Fanatikern gemeldet hast!« Mit jedem Wort gewann ihre Stimme an Festigkeit und die letzten schrie sie sogar.
Der Waldfürst – war er von Sinnen?! Dieser Mann war ein Nachfahre des alten Königs, den der Dunkle Herrscher vor mehr als tausend Zyklen getötet hatte. Überall scharte er Leute um sich, für den Kampf gegen den selbst ernannten Monarchen – bisher mit mäßigem Erfolg. Doch was erwartete er auch?
Yoru, der Dunkle König, war ein mächtiger Schwarzmagier. Er hatte mit seiner Macht die Sterne zum Erlöschen gebracht, und somit die lichte Magie für immer von dieser Welt verbannt. Denn ohne die freundliche Kraft der Sterne gab es keine weiße Zauberei.
Ebenso wenig ohne die Elben, die er ausgerottet hatte und die einst für den Erhalt der Gestirne verantwortlich gewesen waren. Es gab keinerlei Himmelssterne mehr in dieser abgrundtief schwarzen Welt.
Und ein dahergelaufener Prinz fand, er könnte das vollbringen, was seine Vorfahren so viele Zyklen zuvor niemals geschafft hatten – Yoru zu stürzen.
Es war Wahnsinn.
»Ja, ich habe mich freiwillig gemeldet und diesen Schritt vorher ausgiebig durchdacht.«
Anra barg ihren Kopf zwischen ihren Händen. »Nein, das darf nicht wahr sein«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. Ihre Schultern bebten und sie schluchzte verzweifelt auf.
»Wieso tust du das? Willst du endgültig alles zerstören?« Lys’ Hände zitterten vor Wut und ihr Gesicht glühte zornesrot.
»Ich vernichte nichts, Lys. Ich möchte meinen eigenen Weg gehen - eine Aufgabe in dieser Welt finden. Im Gegensatz zu dir. Seit Vaters Tod bist du ein Schatten deiner Selbst. Ich will mein Leben nicht in Trauer verbringen, ich kann hier nicht so reglos verharren wie du.«
Sie sah in seine Augen und die Eiseskälte darin schnürte ihr den Hals zu. Er war längst nicht mehr der liebevolle Bruder, den sie aus vergangenen Kindertagen kannte. Alles hatte sich in den letzten zwei Zyklen zum Schlechten geändert.
»I-ich …«, begann sie stotternd.
Unterdessen stand Emiras von seinem Platz auf und strich sich durch sein Haar.
»Ja, du. Etwas anderes hat dich die letzten Zyklen nicht interessiert. Weder wie es Mutter ergangen ist, noch was ich alles durchmachen musste. Nur du warst dir wichtig und jetzt lebe damit. Meine Entscheidung ist unumstößlich. In zwei Tagen werde ich mich zum Sammelpunkt außerhalb der Wälder begeben.«
Emiras strich seiner Mutter sanft über den Rücken und drückte ihr einen Kuss auf den Haaransatz. Ohne Lys eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er.
Sie blieb erstarrt zurück und stierte auf ihren vollen Teller. Ihr Gegenüber saß ihre weinende Mutter – und sie war nicht im Stande sie zu trösten. In ihrem Herzen war für Anra kein Mitleid zu finden. Ja, sie war abgestumpft geworden.
Als ihr das bewusst wurde, zerbrach tief in ihrem Inneren der Rest ihres Herzens und zerfiel in Abertausende Splitter, die unbarmherzig in ihre Brust stachen.
Gedankenverloren blickte Lys in die Nacht. Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Fensterbrett ihres Zimmers und starrte hinaus. Sie musste sich zusammenkauern, da sich die Fensteröffnung genau unter dem Dachgiebel befand, aber es war ihr liebster Platz im ganzen Haus. Der Himmel war nachtschwarz und klar – doch leer, ohne einen einzigen Stern.
Sie kannte nur vage die Legende darüber, wie der Dunkle König die Elben getötet hatte, die für die Himmelslichter verantwortlich gewesen waren. Es gab keine reinen Nachfahren ihrer Art mehr und ihre Nachkommen wurden noch immer erbittert gejagt.
Einmal hatte Lys einen Lichtfunken am Himmel gesehen. Es war der Tag gewesen, an dem ihr Vater seinen Verletzungen erlegen war.
Ein kleiner, leuchtender Punkt am nachtschwarzen Himmelszelt. Sie würde diesen Tag niemals vergessen, war er doch der bisher schrecklichste in ihrem Leben.
Dorfbewohner hatten ihren Vater nahe dem Waldrand schwer verwundet vorgefunden. Sie hatten alles Erdenkliche getan, um ihn zu retten, doch vergebens. Eine Woche später war er an seinen Verletzungen gestorben. Lys dachte viel zu oft daran und jedes Mal schnürte es ihr die Kehle zu.
Sie war nicht wie Emiras, der alles einfach hinunterschluckte und so seine Stärke bewahrte. Oder wie Mutter, die einige Wochen getrauert und dann plötzlich wieder zur Normalität zurückgefunden hatte. Sie war schon immer sensibler gewesen.
Ihre Gedanken kreisten um die Wunden, die ihr Vater gehabt hatte. Sie hatten nicht von einem Tier gestammt, auch wenn der Heiler das noch immer behauptete. Nur Waffen konnten solch tiefe Schnitte verursachen. Schwerter, wie sie die Männer des Königs trugen.
Mehr als einmal hatte sie versucht, ihre Familie davon zu überzeugen; vergeblich. Ihre Mutter wollte es nicht hören und ihr Bruder tadelte sie jedes Mal dafür, sich solche Verrücktheiten auszudenken. Er mochte die Männer des Königs genauso wenig wie alle anderen im Dorf, doch er traute ihnen derartige Abscheulichkeiten nicht zu. Die Bewohner zu verprügeln, ja, das war keine Seltenheit, aber jemanden zu töten, nein. Davon war er zutiefst überzeugt.
Sie jedoch war nicht blind. Lys wusste, dass es die Wahrheit war.
Schritte waren zu hören, sie kamen die Treppe nach oben in ihr kleines Reich. Hastig sprang sie von ihrem Platz, huschte in ihr Bett und stellte sich schlafend. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, als die Tür mit einem leisen Knarzen aufging.
Sie hörte Emiras’ raunende Stimme, dann spürte sie sein Gewicht, als er sich neben sie auf das Bett setzte.
»Lys«, sprach er flüsternd und hob behutsam die Hand, mit der er ihr sanft über das Haar strich. Sie rührte sich nicht. Stur hielt sie die Augen geschlossen.
»Ich weiß, dass du wach bist, Schwesterchen«, sagte er etwas lauter.
Genervt schlug sie die Augen auf, drehte sich zu ihrem Bruder um, dessen Hände nun gefaltet in seinem Schoß lagen.
»Was willst du?«, fragte sie bissig und sah ihn beleidigt an.
»Lys, es tut mir leid, dich und Mutter alleine zu lassen, ich mache es nicht gerne. Das musst du mir glauben«, begann er leise und sie schnaubte verächtlich.
»Das klingt ja fast so, als wärst du zum Dienst gezwungen worden!«, erwiderte sie scharf.
»Ich muss es tun, verstehst du? Ich kenne nichts anderes als dieses Dorf. Ich möchte die Welt sehen und mein Volk verteidigen, dich und Mutter schützen.«
»Er hat immer gesagt, dass derjenige ein Mondkalb ist, der die Weiten der Welt sucht«, gab Lys die Worte ihres Vaters tonlos wieder.
»Ich weiß. Aber es ist das, was ich will. Ich möchte mein Leben nicht ewig hier verbringen. Es gibt in diesem Dasein so viele Dinge, die es zu sehen und zu erleben gilt. Jedoch werde ich zurückkommen Lys, versprochen.«
Sie atmete tief durch und wandte demonstrativ den Kopf ab.
»Es gibt noch etwas, das ich dir sagen muss«, setzte Emiras an und seine Schwester merkte, dass ihm die nächsten Worte schwerfielen: »Sénom wird mit mir gehen.«
Lys war zum zweiten Mal an diesem Tag zutiefst erschüttert.
»Nein. Wieso?«, hauchte sie aufgewühlt und legte die rechte Hand vor den Mund.
»Sénom denkt wie ich. Er hat lange mit sich gerungen, doch er wird mit mir kommen. Er möchte ein Soldat werden, der seinesgleichen beschützen kann. Es tut mir leid. Er wollte es dir morgen sagen.«
Lys traten Tränen in die Augen und sie vergrub das Gesicht in ihrer Decke. Ihr Herz zerbrach erneut in Tausende Scherben. Zuerst ihr Vater, dann ihr Bruder und jetzt noch Sénom - alle verließen sie. Gerade war ihr allerletzter Splitter Glück zerstört worden.
Emiras umarmte seine Schwester und drückte sie an sich. Zuerst wollte sie ihn wegschieben, erwiderte aber nach kurzem Zögern die Geste.
»Warum? Er hat doch gesagt, dass er mich nächsten Sommer heiraten will. Das ist … nicht fair!«, schluchzte sie und krallte sich an den Schultern ihres Bruders fest.
»Lys. Die Ausbildung dauert drei Zyklen, anschließend kommen zwei weitere verpflichtender Dienst – danach könnt ihr noch immer heiraten.« Er versuchte sie zu beruhigen, doch Lys hörte den leisen Zweifel aus seiner Stimme heraus.
»Fünf Zyklen? Denkst du, er will mich danach noch? Er wird eine andere in dieser Zeit kennenlernen und ich werde nicht so dumm sein und vergeblich auf ihn warten, um schließlich doch nur enttäuscht zu werden!«, zischte sie erzürnt und atmete wieder tief durch.
»Es tut mir leid.«
Sie schloss die Augen.
Lange saßen die beiden Geschwister so da, bis sich Emiras von ihr löste. Er strich seiner Schwester sanft mit den Fingern über ihre rechte Wange und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Versuche zu schlafen. Bitte glaube mir, ich wollte nicht, dass alles so endet. Verzeih mir«, entschuldigte er sich erneut.
Lys schüttelte abwehrend den Kopf. »Das ist mir gerade zu viel, Emiras. Geh bitte.«
Er schenkte ihr ein letztes trauriges Lächeln, dann ließ er sie alleine in ihrer Kammer. Lys biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte, grub sich in ihre Bettdecke zurück und begann bitterlich zu weinen.
Ihr Kummer über den Tod ihres Vaters, das Verlassenwerden und die Ungerechtigkeit des Lebens sickerten mit unzähligen Tränen in ihre Laken.
Lys hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während sie mit dem Rücken zu der großen alten Eiche stand. Seit unzähligen Zyklen wuchs hier der Baum, der sich auf einem niedrigen Berg befand, von dem aus man das ganze Dorf überblicken konnte. Überall um die Ortschaft herum gab es bewaldete Anhöhen, doch diese hier beherbergte nur diesen einen Baum und war die Größte von allen.
Lys verbrachte hier sehr viel Zeit, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielt oder sich mit Sénom treffen wollte. Ihr Herz zog sich voller Kummer zusammen, als sie an ihn dachte, und ihre rot geäderten Augen drohten erneut vor Tränen überzuquellen.
Emiras und Sénom werden mich alleine lassen.
Diese Erkenntnis schwirrte wie ein Wirbelsturm durch ihren Kopf und hinterließ tief in ihrem Inneren ein Chaos aus Gefühlen. Sollte sie lachen, weinen oder schreien, um sich danach besser zu fühlen?
Nein. Die Erleichterung würde nur von kurzer Dauer sein.
»Wartest du schon lange?« Sie vernahm Sénoms Stimme hinter sich und wandte sich langsam zu ihm um.
Er war zwei Köpfe größer als Lys, das schwarze Haar trug er an den Seiten ausrasiert und hinten am Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Seine dunkelgrünen Augen strahlten und um seine Mundwinkel hatten sich kleine Lachgrübchen gebildet.
Er trat einen Schritt näher, die Hände für eine Umarmung ausgebreitet, doch Lys wich zurück. Ihre ganze Körperhaltung erinnerte an einen gespannten Bogen.
»Was ist?«, in seiner Stimme schwang Besorgnis mit.
»Du gehst weg«, erwiderte sie fest, dabei sah sie ihn herausfordernd an und presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
Er blinzelte, dann seufzte er tief. »Lys … es tut mir leid. Ich hätte…«
»Ja, du hättest es mir sagen sollen! Seit fast vier Zyklen sind wir einander versprochen und ich hätte erwartet, dass du mir solch eine Entscheidung persönlich mitteilst! Stattdessen erfahre ich es von meinem Bruder! Gib es zu: Du hättest dich heimlich davongestohlen, wenn Emiras gestern nichts gesagt hätte.« Ihre Stimme war mit jedem Wort leiser geworden und Tränen liefen ihr über die Wange, fielen hinab ins Gras.
Sénom überbrückte die wenigen Schritte zu ihr und drückte sie an sich. Sie hasste es, zu weinen. Doch seit dem Tod ihres Vaters brachte sie jede erdenkliche Kleinigkeit aus der Fassung und langsam glaubte sie selbst daran, dass diese Eigenschaft fest in ihrem Sein verankert war.
»Lys«, flüsterte er ihren Namen und strich ihr sanft über den Rücken. »Ich weiß, ich hätte es dir sagen müssen. Aber ich hatte Angst, dass du es nicht verstehen und mich verurteilen würdest«, verteidigte er sich er und sein warmer Atem strich über ihre Halsbeuge. »Verzeih mir, Lys. Ich liebe dich.«
Sie atmete tief aus und dabei stieg ihr sein vertrauter Duft nach Wald in die Nase. Sie liebte diesen Geruch, der an ihm haftete. Mochte ihn sogar mehr, als den Mann vor ihr. Das war ihr heute schmerzlich bewusst geworden.
Sie löste sich ein wenig von ihm und sah in sein Gesicht. Er war besorgt, ein wenig ängstlich, und strich über ihre tränennassen Wangen.
»Ich werde wiederkommen und dann wirst du meine Ehefrau, versprochen«, wisperte er ihr zu und küsste sie sanft auf die Stirn.
»Sénom …«, begann sie, doch seine Lippen versiegelten die ihren. Es war ein achtsamer, liebevoller Kuss. Lys‘ Herz schlug schneller in ihrer Brust und in ihrem Magen kribbelte es.
Er lehnte die Stirn gegen ihre und schloss die Augen. »Ich werde zurückkommen, dann heiraten wir«, wiederholte er.
Lys hatte nicht wie er die Lider geschlossen und sah in sein angespanntes Antlitz. »Nein. Das werden wir nicht.«
Er schlug die Augen auf und sie sah das Entsetzen darin aufleuchten. »Was?«
»Fünf Zyklen sind lang. Wir wissen nicht, was in dieser Zeit alles passieren wird. Wir können uns neu verlieben, sterben oder Neues entdecken und uns darin verlieren. Ich will nicht warten, Sénom. Warten auf etwas, von dem ich nicht weiß, ob es das wert ist. Ob unsere Liebe all das überstehen kann.«
Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und ihre Worte mit Bedacht gewählt. Sie wollte nicht stammelnd und stotternd vor ihm stehen. Kurze Zeit hatte sie sogar in ihrem Vorhaben geschwankt. Doch sie musste mit ihm darüber sprechen. Sie wollte sich nicht selbst belügen.
»Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe, aber deswegen gleich unser Verlöbnis zu lösen, ist lächerlich. Lys, wir können es schaffen. Ich weiß das. Wir können trotzdem glücklich sein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht.«
Ich kann es nicht, wenn ich weiß, dass du dich in Gefahr begibst. Verzeih mir.
Plötzlich ließ er von ihr ab und trat einen Schritt zurück. Seine Wärme verschwand mit dieser Handlung und sie erkannte an seinem geröteten Gesicht, dass die Wut in ihm hochkochte.
»Das ist nicht alles, richtig? Du zweifelst an mir, dass ich dir treu bleibe. Hier geht es nicht um uns, sondern um mich!«
»Du missverstehst…«, begann sie, doch er zeigte ihr mit einer harschen Handbewegung, dass sie schweigen sollte.
»Nein, ich missdeute es nicht! Du unterstellst mir, dass ich dich betrügen könnte. Dass ich dich vergesse, sobald ich mit deinem Bruder die Grenze des Dorfes überschreite. Hältst du mich wirklich für so eine Art Mann? Denkst du, mir macht es Spaß, fünf Zyklen zu warten? Nein! Aber ich muss es tun, verstehst du? Ich will meine Heimat beschützen – und das kann ich nicht, wenn ich hier sitze, Däumchen drehe und mich um das Land meines Vaters kümmere. Ich will mehr sein als dein Ehemann, Lys. Ich will jemand sein, auf den man stolz sein kann.«
»Aber ich bin stolz auf dich. Egal, was du tust. Bitte, versteh auch mich. Ich will keinen Soldaten, ich will … ich …«, sie brach ab und senkte den Blick.
Ja, was wünschte sie sich? Lys hatte keine Ahnung. Sie hatte immer geglaubt, Sénoms Frau zu werden wäre das, was sie wollte, weil ihr Vater es sich gewünscht hatte. Ihr ganzes Leben mit ihm zu verbringen kam ihr auf einmal so erdrückend vor, als würde man sie lebendig begraben.
»Ich will nicht mehr deine Frau werden. Ich möchte ein solches Dasein nicht.«
Sie sah deutlich in Sénoms Gesicht, wie seine Welt zerbrach. Ihr Herz blutete bei diesem Anblick, es war jedoch der einzige Ausweg. Sie wollte nicht die Frau eines Soldaten werden, konnte nicht ständig in der Angst leben, dass er starb.
Er schnaubte abfällig. »Du willst die Verlobung wirklich lösen? Unsere Väter haben diese Verbindung begünstigt! Es ist eine Beleidigung gegenüber Fanras, wenn du das tust!«
»Ich weiß«, erwiderte sie gefasst. »Aber mein Vater ist tot und es ist meine eigene Entscheidung. Ich glaubte, dich zu lieben, jedoch kann ich es nicht. Nicht, wenn du gehst und mich hier zurücklässt. Und selbst wenn du bleibst, kann ich dir nicht versprechen, dass ich mit dieser Lüge leben kann.«
»Hast du mich jemals ernsthaft geliebt? War all das zwischen uns etwa ein Lügengespinst?«, wollte er erbost wissen.
»Ich weiß es nicht. Ich glaubte, dass ich dich liebte, jedoch ... Sénom, bitte. Es tut mir leid; alles. Niemals wollte ich, dass es so endet.«
Er schüttelte den Kopf. »Dann war‘s das? Willst du mir das damit sagen, Lys? Einfach so, all die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, war für nichts?«, seine Stimme bebte zornerfüllt und in seinen Augen funkelte ein verletzter Schmerz.
»Ja«, war ihre knappe Antwort.
Ein kühler Wind zog auf und bewegte ihr Kleid leicht hin und her. Ein Vogel im Geäst der Eiche begann sein Lied zu trällern.
»Du bist undankbar. Weißt du das? Ich hätte alles für dich getan! Ich liebe dich, Lys, und ich wäre durch die Hölle gegangen, um dich und meine Familie zu beschützen. Aber wenn du meinst, du bist ohne mich besser dran, soll es so sein. Ich hindere dich nicht an deiner Entscheidung, jedoch solltest du eins wissen: Meine Gefühle waren nie gespielt. Auch wenn du so kalt bist wie ein Schneesturm, ich werde dich immer lieben.«
Sénom trat einen Schritt auf sie zu und Lys wusste, er wollte sie küssen. Demonstrativ drehte sie ihren Kopf zur Seite.
»Geh«, flüsterte sie.
»Na gut. Wie du wünschst.«
Sie hörte, wie er sich entfernte, und sie wagte es, ihm hinterherzusehen. Er rannte regelrecht die Anhöhe hinunter – sie fühlte dabei nichts. Rein gar nichts.
»Warum hast du das getan, Lys?« Die Stimme ihrer Mutter erklang vorwurfsvoll, während sie am Küchentisch saß und gedankenverloren einen Kartoffelknödel drehte.
»Es war das einzig Richtige. Ich werde nicht fünf Zyklen darauf warten, dass er zurückkommt - wenn er überhaupt jemals wiederkehrt«, erwiderte sie in einem Tonfall, der deutlich machte, dass ihre Entscheidung feststand. Sie legte den fertigen Kloß in eine Schüssel neben sich, in der bereits andere darauf warteten, in heißem Wasser zu baden.
»Wie kannst du nur so dumm sein? Fast alle Mädchen im Dorf sind verlobt oder verheiratet! Du wirst niemanden mehr finden, der dich nimmt! Sénom war perfekt … und du? Du wirfst alles weg, wegen fünf Zyklen und deiner Hirngespinste, er könnte dich betrügen!«, warf Anra ihr fassungslos vor.
Lys biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte ihrer Mutter nicht verraten, dass sie sich unsicher war, Sénom jemals geliebt zu haben. Wenn sie davon erfuhr, würde Anra ihr eine noch schärfere Standpauke halten.
»Es gibt andere Dörfer. Und was ist, wenn er stirbt? Falls wir Kinder haben und er ums Leben kommt? Ich kann mich nicht alleine darum kümmern! Ich bin nicht so stark wie du!«, entgegnete sie scharf.
Ihre Mutter ließ den Kohlkopf, den sie für den Salat in der Hand hielt, wütend auf die Küchenablage knallen.
»Andere Dörfer?! Du kennst niemanden aus fremden Siedlungen! Und wenn er stirbt, dann ist das so! Er ist Soldat, damit muss man rechnen. Aber es kann auch sein, dass ihm nie etwas passieren wird. Lys, gehe zu Sénom und entschuldige dich, er wird sicher deine Abbitte akzeptieren. Vielleicht könnt ihr in einem seiner freien Zeiten heiraten? Emiras hat gesagt, sie haben viermal im Zyklus ganze sieben Tage frei. Ihr könntet euch in dieser Zeit trauen lassen, wäre das nichts?«
Lys warf den Teig, den sie in der Hand hielt, wütend auf die Tischplatte. »Nein! Ich werde Sénom nicht heiraten. Nicht jetzt, nicht in einem halben Zyklus und auch nicht in fünf! Ich gehe zu Bett. Ich habe keinen Hunger.« Sie stürmte nach oben und schlug die Tür hinter sich zu.
»Lys!«, schrie ihre Mutter, doch sie hörte das bereits nicht mehr.
Anra stieß einen frustrierten Laut aus.
»Was ist los?«
Emiras trat durch die Hintertür in die Küche und klopfte den Dreck seiner Schuhe auf dem dafür vorgesehenen Teppich ab.
»Lys. Sie, ach … Manchmal wünsche ich mir, sie wäre umgänglicher, so wie du«, erklärte sie ihrem Sohn und lächelte ihn an.
»Sénom ist am Boden zerstört. Er denkt darüber nach, hierzubleiben, um sie damit zu besänftigen.« Er ließ sich auf dem Stuhl fallen, auf dem zuvor Lys gesessen hatte, und legte den Kopf in den Nacken.
»Ich hätte meine Pläne ihm gegenüber nie erwähnen sollen. Es war falsch. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er sich so leicht dafür begeistert. Ich bin an dieser ganzen Misere schuld.«
Seine Mutter nahm ein großes Messer und begann den Kohlkopf zu zerschneiden.
»Es liegt nicht in deiner Verantwortung. Du hättest es ihr nur früher sagen sollen. Ich bin froh darüber, dass sie mir meine Reaktion geglaubt hat. Sie wäre furchtbar wütend auf mich, würde sie erfahren, dass ich seit einem Jahr von deinen Plänen weiß.«
»Es tut weh, sie anzulügen. Aber es ist besser.« Er nahm die Arbeit seiner Schwester auf.
»Sie wird es eines Tages verstehen. Glaube mir.«
»Sie war schon immer stur, doch seit dem Tod von Vater ist sie noch verschlossener geworden. Ich dachte, es würde sich mit der Zeit ändern, aber sie wird wohl nie wieder die Alte sein.« Niedergeschlagen ließ Emiras den Kopf hängen.
»Du musst auch sie verstehen. Sie hat Vater Tag und Nacht gepflegt, sie war bei ihm, als er starb. Sie … ihre ganze Stärke ist an diesem einen Tag zerbrochen.«
Anra hatte sich zu Emiras umgedreht, betrübt lag ihr Blick auf ihm.
»Sie wird nie wieder das arglose Mädchen aus vergangenen Tagen sein. Vater nannte sie immer seinen kleinen Stern. Aber ihr Licht ist zusammen mit ihm verloschen.«
Nebel hüllte das Tal ein und seine grauen Dunstschleier ließen kaum die eigene Hand vor Augen erkennen.
Lys hatte sich eine alte Decke um die Schultern gelegt, während sie ein Stück abseits stand und ihre Mutter dabei beobachtete, wie sie Emiras verabschiedete. Fest hatte die ihren einzigen Sohn an sich gedrückt und weinte.
»Ich komme doch wieder«, versuchte er sie zu beschwichtigen. Ihm war der Abschied sichtlich unangenehm. Sein Plan war es gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen, wenn alle schliefen, aber Sénom hatte darauf bestanden, bis zum Morgengrauen zu warten.
»Ich weiß doch …«, begann Anra, allerdings unterbrach Emiras sie, indem er sich aus ihrer Umklammerung löste und ihr fest in die Augen sah.
»Hab keine Angst um mich, Mutter. Ich komme wieder, die Zeit wird wie im Flug vergehen.«
Er sah seine Schwester an. Lys schnaubte abfällig, als er vor ihr stand und sie in die Arme nehmen wollte.
»Bitte, sei nicht mehr wütend auf mich. Ich weiß nicht, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen, und ich möchte dich nicht mit diesem verbitterten Ausdruck auf deinem hübschen Gesicht in Erinnerung behalten.«
Sie seufzte und zwang sich zu einem Lächeln. »Zufrieden?«, fragte sie mit einem bissigen Unterton, der gar nicht zu ihrer Miene passte.
»Lys!«
»Ein fröhlicheres Gesicht wirst du heute nicht mehr von mir sehen.«
Er beließ es dabei und die beiden Geschwister umarmten sich. »Wirst du mir irgendwann verzeihen?«, flüsterte er und seine Schwester löste sich von ihm. Er sah den Kummer in ihrem Gesicht und es brach ihm fast das Herz.
»Vielleicht. Ich kann es dir nicht versprechen«, sagte sie und er nickte schwach.
Er drückte ihr einen letzten Kuss auf die Stirn. »Ich werde dich immer im Herzen tragen, kleine Schwester.«
Dann umarmte er noch einmal seine Mutter, die ihn erneut widerwillig gehen ließ.
Sénom trat plötzlich vor Lys. Sie wandte hastig den Blick ab, als er ihre Hand ergriff. Er flüsterte ihr etwas zu, das Emiras nicht hören konnte.
Sofort entzog sie sich ihm und zischte laut: »Nein! Und nochmals nein!«
Wie ein geprügelter Hund ließ sein bester Freund den Kopf hängen und wandte sich von ihr ab. »Gehen wir«, sagte er tonlos und Emiras nickte.
Ein letztes Mal sah er zu seiner Familie und winkte ihnen zu. Fortwährend liefen Tränen über Anras Gesicht und auch in Lys’ Augen konnte er sie glitzern sehen.
»Ich komme bald wieder!«, rief er zum Abschied, dann wandte er sich um.
Emiras und Sénom machten sich gemeinsam auf den Weg in eine neue ungewisse Zukunft.
Emiras’ Abreise lag schon eine ganze Zeit in der Vergangenheit und der Alltag war bei Mutter und Tochter eingekehrt. Anra kümmerte sich weiterhin um den Haushalt und das wenige Vieh im Stall, Lys hing ihren eigenen Gedanken nach. Sie verbrachte mehr Zeit als üblich am Grab ihres Vaters oder auf dem Hügel, auf dem sie sich früher mit Sénom getroffen hatte.
Eines Abends, an dem sie längst zu Hause hätte sein sollen, sah sie es. Ein Heer von Reitern tauchte am Horizont auf, steuerte auf das Dorf zu und badete im Licht der untergehenden Sonne.
Zuerst hielt sie es für eine Sinnestäuschung, immerhin hatte sie seit den frühen Morgenstunden nichts mehr gegessen und der fortwährende Streit mit ihrer Mutter lag ihr ebenfalls schwer im Magen. Doch je näher die Masse aus Schwarz herankam, desto genauer erkannte sie das Siegel des dunklen Magiers. Ein silberner Halbmond, von blauen Flammen umgeben.
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als die ersten Bäume des Waldes Feuer fingen. Die Untergebenen des Königs zögerten nicht lange in ihrer Zerstörungswut.
Lys rannte hinunter zu ihrer Mutter, stürzte, rappelte sich wieder auf und hechtete weiter. Der beißende Geruch von Rauch kroch in ihre Nase und vermischte sich mit dem sauren Gestank schwarzer Magie.
Da, sie hörte bereits die ersten Schreie. Die Dorfbewohner hatten die Armee entdeckt.
»Mama!«, rief sie, riss die Hintertür auf und stürmte zu Anra, die gerade zwei Umhängetaschen packte.
»Mama! Sie sind hier. Die Schergen des Magiers!«
»Ich weiß. Wir müssen verschwinden, sofort!« Sie warf Lys eine der Taschen zu. »Komm!«
Sie nahm ihre Tochter bei der Hand und zusammen stürmten sie aus dem Haus.
Die Dämmerung war vorangeschritten, die Nacht beinahe hereingebrochen und die Soldaten waren mit den Schatten verschmolzen. Die Feuer und die Schreie der Sterbenden verrieten sie. Ebenso der beißende Geruch nach Magie, der an verdorbenes, schimmliges Fleisch erinnerte.
Anra wandte sich gen Westen, weg von dem Feuermeer, doch wie aus dem Nichts tauchte ein Mann vor ihnen auf. Er war in eine schwarzpolierte Rüstung gekleidet. Das Siegel des Königs prangte auf Brusthöhe und er hatte ein silbernes Schwert in der Hand.
»Nicht weglaufen.« Der Mann lächelte breit. Er hob seinen rechten Arm und blaue Flammen tanzten auf seiner Hand.
»Lys, lauf!« Anra drückte die Hand ihrer Tochter fester.
»Mama …«
»Lys! Lauf weg und drehe dich nicht um, verstanden?«
Panik erfasste die junge Frau, als ihre Mutter sie plötzlich losließ und von sich stieß. Der Soldat schoss vor und Lys war dazu verdammt, zuzusehen.
Flammen fraßen sich in Anras Haut, ihre Haare, ihre Kleidung und sie brannte lichterloh.
Lys blickte zu dem Mann, verständnislos und voller Abscheu, ohne richtig erfassen zu können, was mit ihrer Mutter geschehen war. Dann rannte sie davon. Weit weg, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Die Schreie der Sterbenden begleiteten sie bis tief in den Wald hinein.
Kälte lähmte ihren Körper, als sie erwachte. Sie lag im Schnee, ihr Gesicht in das eisige Weiß gepresst. Mühsam rappelte sie sich auf und blickte umher. Sie kannte diesen Teil des Waldes nicht. War es überhaupt noch der Forst, in dem sie gelebt hatte?
Lys war die ganze Nacht hindurch gerannt, bis die Erschöpfung obsiegt hatte. Sie war an Ort und Stelle umgefallen, als ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht gewesen waren.
Schnee … Woher kommt er so plötzlich? Zuhause ist gerade erst der Frühling eingekehrt, wieso herrscht hier Winter?
Ihre Beine schienen sie kaum tragen zu wollen, dennoch stand sie auf und humpelte einige Schritte weiter. Das Laufen war allerdings so mühsam und sie fiel wieder in das kalte Weiß. Ein Zittern erfasste ihren Körper und ein Schluchzen drang hervor. Sie weinte. Um all das, was sie verloren hatte.
Ihre Heimat, ihre Familie.
Den letzten Rest ihrer kleinen Welt.
Sie schrie auf und hoffte, so den inneren Schmerz zu besiegen. Doch war es vergebens. Er war unbarmherzig wie eine Schlange, die sich um die hilflose, mickrige Maus wand, bevor sie den Nager mit ihren Giftzähnen packte und dann hinterschluckte.
Als Lys glaubte, alle Tränen dieser Welt vergossen zu haben, richtete sie sich abermals auf. Sie atmete die klare Luft ein, die wie Rasierklingen in ihre Lunge schnitten. Sie begann in ihrer Umhängetasche zu wühlen, musste sich ablenken, durfte nicht den Verstand verlieren.
Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie die Dinge sah, die ihre Mutter gepackt hatte. Sie fand einen halben Laib Brot, Trockenfleisch, zwei Äpfel und einen abgegriffenen Brief, der ihre Neugierde weckte. Mit bebenden Fingern holte sie das Schriftstück hervor und schnappte laut nach Luft.
Es war eine Botschaft an sie – von ihrem Vater. Sie riss den Umschlag auf und nahm das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bettina Seidl, Rosenstraße 2, 93086 Wörth an der Donau, www.bettinaauer.com, auer.bettina@web.de
Cover: Melanie Popp/MP-Buchcoverdesign & mehr, www.mpbuchcoverdesign.com
Lektorat: Teja Ciolczyk - Lektorat Gwynnys Lesezauber, www.gwynnys-lesezauber.de
Korrektorat: Teja Ciolczyk - Lektorat Gwynnys Lesezauber, www.gwynnys-lesezauber.de
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2022
ISBN: 978-3-7554-1874-0
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