Cover

Farbenspiel der Träume (Neuauflage)

 

 

 

 

Farbenspiel der Träume

(Neuauflage)

 

Bettina Auer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für all diejenigen, die ihre Träume niemals vergessen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Triggerwarnung

 

 

Für dieses Buch wird eine Triggerwarnung ausgesprochen, da folgende Themen darin enthalten sind:

 

* - Suizidgedanken

* - Medikamentenmissbrauch

* - Angststörung / allgemeine psychische Störungen

* - Selbstverletzung

 

Solltest du als Leser mit derlei Themen ein Problem haben, empfehle ich dir, dieses Buch besser aus der Hand zu legen.

 

Vielen Dank!

Impressum

 

 

© Dezember 2021 Seidl, Bettina

Rosenstraße 2

93086 Wörth an der Donau

auer.bettina@web.de

www.bettinaauer.com

 

Lektorat/Korrektorat: Korrektur Seidl, www.bettinaauer.com

Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg, www.art-for-your-book.de
Illustrationen: Andrea Freytag

 

Alte Auflage: Farbenspiel der Träume, erschienen im Schwarzer Drachen Verlag, 2017

 

Alle Rechte vorbehalten. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

eBook - Vetrieb: bookrix.de

 

Erster Abschnitt

 

Erster Abschnitt

 

Traumwelt

 

Prolog

 

 

 

 

 

Schatten.

Nichts als Schatten.

Sie atmete heftig und versuchte, die dunklen Schemen, die sie umringten, zur Seite zu stoßen. Doch es war vergebens; der Kreis zog sich immer enger und Panik stieg in ihr auf.

»Bitte! Lasst mich!«, schrie sie und begann zu wimmern, als ihr bewusst wurde, dass sie gegen die Übermacht nicht ankam.

»Bitte«, flehte sie ein letztes Mal und sank erschöpft zu Boden. Das Mädchen kauerte sich zusammen und fing an, heftig zu zittern.

Die Schatten wichen ein wenig vor ihr zurück und sie sah ein helles, violettes Licht Traumlicht. Sie hob den Kopf und ihre braunen Augen weiteten sich, als sich aus der Helligkeit eine Gestalt löste und auf sie zukam.

»Du …« Mehr brachte sie nicht heraus, denn Tränen erschütterten sie und raubten ihr die nächsten Worte.

Er blickte sie starr an, seine Augen waren leer. »Es tut mir leid«, flüsterte er benommen. Er ging vor ihr in die Hocke, streckte die rechte Hand nach ihrem Kopf aus und dann gab es nichts anderes mehr, als das violette Licht, das sich in ihre Netzhaut brannte.

 

1. Kapitel

 

 

 

»Karlstraße.«

Die mechanische Stimme riss Fabienne aus dem Halbschlaf. Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch ihr schulterlanges, rotbraunes Haar. Ein kurzer Blick aus dem Fenster der Straßenbahn und sie verzog das Gesicht. Der Himmel war grau und kündigte Regen an.

Fabienne hasste Regen oder besser gesagt, ihre widerspenstige Haarpracht stand mit ihm auf dem Kriegsfuß. Sie brauchte jedes Mal Ewigkeiten, um ihre wilde Lockenpracht zu glatten Strähnen zu formen und sobald nur eine Winzigkeit an Niederschlag sie berührte, sah sie aus, wie ein explodierter Pudel. Und wie so oft hatte sie keinen Regenschirm dabei.

Noch einmal strich sie durch ihr Haar. Anschließend packte sie das Buch, das auf ihrem Schoß lag in ihre Schultasche, stand auf und stellte sich in die Nähe der Tür.

Mit einem Ruck blieb die Bahn stehen und der Ausstieg öffnete sich. Fabienne sprang hinaus und wandte sich nach links zu dem großen grauen Gebäude. Einige Schüler strömten noch in die Schule, sie war also nicht die Letzte.

Eigentlich kam sie nie zu spät zur Schule; sie traf sich täglich mit ihrer besten Freundin Tamara an der Haltestelle der Straßenbahn, um gemeinsam zum Unterricht zu erscheinen. Aber heute Morgen hatte sie verschlafen.

Fabienne musste unwillkürlich grinsen, als sie zurückdachte, weswegen sie so lange geschlafen hatte. Sie hatte sich wieder einmal dazu verleiten lassen, ihre Gabe zu benutzen.

Shawn, der Traumwächter, sah es zwar nicht gern, wenn sie das tat, um Schabernack zu treiben, aber sie gab schon lange nichts mehr auf seine Anstandspredigten. Im Endeffekt konnte er sowieso nichts dagegen unternehmen.

»Hey, Schlafmütze!«

Sie erschrak, als ihr jemand kurzerhand auf den Rücken schlug.

»Bist du wahnsinnig, Jannik!«, schrie Fabienne und ihre braunen Augen funkelten ihn an.

Er zuckte nur mit den Schultern und grinste. »Was kann ich dafür, wenn du so schreckhaft bist.«

»Ich habe dir schon zig Mal gesagt, du sollst das nicht machen!«, zeterte Fabienne weiter.

Hastig wechselte der Mitschüler das Thema. »Sag, welches Gefühl hattest du bei der letzten Deutscharbeit?«, wollte er wissen, während sie gemeinsam das Schulgebäude betraten.

Sie verdrehte die Augen. Wie galant er es wieder einmal schaffte, sich herauszureden. »Mhm, ich denke, ich habe gut abgeschnitten.«

Er stöhnte auf. »Das war ja wieder klar! Die Tochter des Bestsellerautors kann natürlich super mit Wörtern jonglieren.«

Es klang spöttisch, doch sie kannte Jannik seit der dritten Klasse und war ihm nicht böse. Er verhielt sich immer so, wenn jemand etwas sagte, das ihn eigentlich tief beeindruckte.

»Was kann ich denn dafür, wenn sie ihm die Bücher aus den Händen reißen?«, konterte Fabienne und blieb plötzlich, als sie die Steintreppe hinauf in den zweiten Stock stiegen, stehen. Jannik sah sie überrascht an und folgte ihrem Blick.

»Oh«, erwiderte er und verzog sein Gesicht zu einer mitleidigen Grimasse. »Hast du immer noch Stress mit ihr?«

Sie nickte leicht. Dort oben, am Ende der Treppe, standen Janika und ihre beiden Freundinnen. Schon seit dieses Schuljahr begonnen hatte, hatten die drei sie auf dem Kieker. Fabienne ahnte warum, aber sie sprach es ihren Freunden gegenüber nicht aus.

Sie hatten zusammen ein Projekt ausgearbeitet, das aus der letzten Jahrgangsstufe noch fehlte. Janika war für den Text verantwortlich gewesen und Fabienne hatte sich um das Material gekümmert.

Janika jedoch hatte es nicht für nötig gehalten, ihrer aufgezwungenen Projektpartnerin mitzuteilen, dass sie ihren Text aus dem Internet hatte. Dem Lehrer das aufgefallen war. Fabienne hatte jede Schuld von sich gewiesen und nach einigen Nachforschungen beweisen können, dass sie nichts davon gewusst hatte. So war alles an Janika hängen geblieben.

Da ihr Lehrer ihnen das Projekt in aller Diskretion aufgegeben hatte, um ihre Biologienote zu steigern, wussten die anderen Schüler nichts davon. Sie dachten wohl, Fabienne hätte Janika irgendwann einmal zu schief angeschaut, was bei ihr einem Todesurteil gleichkam.

»Gibt’s hier irgendwas Interessantes zu sehen?«

Nicolas stand plötzlich neben Fabienne und Jannik. Er musterte die beiden aufmerksam. Sie warf ihm einen raschen Blick zu. Jedes Mal schlich er sich an und erschreckte sie dabei beinahe zu Tode. Er war noch schlimmer als Jannik.

»Da oben«, wisperte sie dem Brillenträger zu.

Nicolas runzelte die Stirn. »Janika und ihre Freundinnen«, erwiderte er. »Na und? Die beißen doch nicht!«

»Sag mal, du kriegst wohl gar nichts mit, oder?«, fragte Jannik und boxte ihm gegen den Arm.

»Was soll ich nicht mitkriegen?«, hakte er nach und seine grüngrauen Augen spiegelten wider, dass er wirklich nichts wusste.

»Fabienne hat Ärger mit Janika«, erklärte Jannik und sah auf die Uhr, die an der Wand des Treppenhauses angebracht war. »In fünf Minuten beginnt der Unterricht! Jetzt kommt schon!«

Nicolas seufzte, rollte mit den Augen und ging nach oben.

Fabienne sah ihm nach. »Was hat er vor?«

Der Junge verwickelte die drei Mädchen in ein Gespräch und das war ihre Chance. Schnell huschten sie und Jannik an ihnen vorbei. Gerade noch so bekam Fabienne mit, dass Nicolas Janika auf ihre ältere Schwester ansprach, die als Model arbeitete, wobei er behauptete, ein großer Fan von ihr zu sein.

Ob das nun ernst gemeint oder schlichtweg gelogen war, war ihr schleierhaft, aber sie war ihm dankbar, dass er die Mädchen von ihr ablenkte. Jannik und sie eilten den Gang entlang, hinein ins Klassenzimmer und setzten sich auf ihre Plätze.

Fabiennes beste Freundin Tamara blickte von dem Buch auf, in dem sie gerade las. Sie legte es zur Seite und dabei erhaschte Fabienne einen Blick auf das Cover; dem Titel nach handelte es sich um eine esoterische Lektüre, die sie wohl aus dem Laden ihrer Mutter stibitzt hatte.

Tamara hatte ihre langen, schwarzen Haare zu einem Knoten nach oben gebunden, wobei ihre Tätowierung im Nacken zum Vorschein kam. Das Motiv waren zwei Drachenflügel. Wie immer war die Freundin stark geschminkt und ihre großen dunkelblauen Augen blitzten listig auf. Ihre Kleidung war in dunklen Tönen gehalten.

»Hatten wir heute nicht eine Verabredung, meine Liebe?«, fragte Tamara sie mit einem koketten Lächeln und schenkte ihr einen Augenaufschlag.

Fabienne zwang sich, das Lächeln zu erwidern. Ihr Gegenüber war sauer und das bedeutete nichts Gutes.

»Ich habe leider verschlafen. Bitte, Tamara. Verzeih mir«, bettelte sie die Freundin an, faltete ihre Hände wie zum Gebet zusammen und warf sich dramatisch auf die Tischplatte. »O große Tamara Reus! Ich weiß, ich bin nicht würdig, Euch um Verzeihung anzuflehen, ich als kleiner Wurm, aber bitte, schenkt mir noch eine einzige Chance!«

Tamara schürzte die Lippen, um nicht in Gelächter auszubrechen. Sie legte, mit gespielt hochnäsigem Blick, das Buch in ihre Schultasche.

»Gut, ich verzeihe dir ein letztes Mal! Bei deinem nächsten Fehltritt wirst du aber meine ganze Wut zu spüren bekommen.« Die Schwarzhaarige stieß ihr mit den Ellenbogen in die Seite und zwinkerte ihr zu.

Nicolas schlüpfte noch schnell zur Tür herein und nahm den leeren Platz hinter den beiden Freundinnen ein.

»Danke«, flüsterte Fabienne in seine Richtung, da trat auch schon die Lehrerin ein und begann mit dem Unterricht.

Nicolas schenkte ihr ein kurzes Lächeln und sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Schnell wandte sie den Blick wieder nach vorne.

 

 

 

2. Kapitel

 

 

 

»Warum hat es Janika eigentlich auf dich abgesehen?«

Fabienne sah überrascht von ihrem Mittagessen auf. Es war neu, dass Nicolas sich zu ihr an den Tisch in der Mensa setzte. Normalerweise hielt er sich nicht oft in ihrer Nähe auf. Wieso er das tat, darauf wusste sie sich keinen Reim zu machen, aber der Mitschüler war schon immer etwas eigen.

Er verbrachte die Pausen oft in der Bibliothek, um im Computerraum zu recherchieren, oder er setzte sich zu einer kleinen Gruppe von Schülern, die während des Mittagsessens ein Kartenspiel spielten, das den Namen Licht & Schatten trug.

Fabienne zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, sie mag mich halt einfach nicht.«

Nicolas runzelte die Stirn, wobei seine Brille ein Stück verrutschte. Fabienne stellte sich vor, wie er wohl ohne diese aussehen mochte, doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder.

»Dir ist schon bewusst, dass Janika dich mobbt?«, fragte er und das Mädchen rollte mit den Augen.

Das Essen vor ihr wurde langsam kalt. Zwar mochte sie Hackbraten mit Kartoffelbrei und Gemüse nicht sonderlich, aber mehr gab die Mensa heute nicht her. Und ihr Magen knurrte inzwischen verräterisch.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Tamara immer noch in der Schlange vor der Essenausgabe stand und nervös mit dem Fuß tippte; das tat sie stets, wenn ihr etwas gehörig auf die Nerven ging.

»Ach bitte, Nicolas! Übertreib nicht! Das ist doch kein Mobbing!«, konterte sie.

»Nun, das sehe ich nicht so! Du willst es nur nicht wahrhaben! Geh doch zu Frau Wagenrecht und erzähl es ihr. Sicherlich wird sie Janika und ihren Hühnern einen Dämpfer verpassen.«

Fabienne wusste, dass er recht hatte. Jedoch hatte sie nicht vor, mit ihrer Klassenlehrerin zu reden. Erstens waren Janika und ihre Spießgesellinnen in der Parallelklasse, zweitens hatten sie unterschiedliche Pausen und liefen sich daher nicht über den Weg. Außer natürlich morgens und beim nach Hause gehen und drittens … ja, was war eigentlich drittens?

Sie wollte einfach keinem Lehrer erzählen, dass Janika es auf sie abgesehen hatte.

»Okay. Kann sein, dass du recht hast«, erwiderte sie kleinlaut und warf ihrem Gegenüber einen Blick zu.

»Mhm«, machte er nur und Fabienne aß einige Bissen von ihrem kalten Hackbraten. Es schmeckte fade.

Zwischen ihr und Nicolas herrschte eine lange, bedrückende Stille und sie stellte sich die Frage, ob das alles gewesen war, was er ihr hatte sagen wollen. Sein stechender Blick lag weiterhin auf ihr.

»Du, Fabienne? Was ...?!«, fragte er sie plötzlich, und sie sah ihn aufmerksam an. Er öffnete den Mund, doch ehe er die nächsten Worte aussprechen konnte, knallte Tamara wütend ihr Tablett auf den Tisch. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihre beste Freundin und sah zornig drein.

»Diese elendigen Schmeißfliegen!«, schimpfte sie und stopfte sich hastig einige Gabeln ihres Essens in den Mund.

»Was ist los?«, fragte Fabienne erschrocken.

»Die sind wirklich zu dumm für alles!«, zeterte Tamara weiter. Aber um was es ging, wieso sie so schimpfte, sagte sie nicht.

Fabienne hatte sich längst daran gewöhnt, dass ihre Freundin ab und an zu solchen Ausbrüchen neigte. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Nicolas zu, jedoch saß der nicht mehr auf dem Stuhl.

Überrascht schaute sie sich um, doch sie konnte ihn nirgends in der Mensa entdecken. »Wo ist der denn jetzt hin?«, dachte sie laut und achtete nicht weiter auf Tamaras Gemecker.

Komisch

3. Kapitel

 

 

Fabienne öffnete die Haustür und spähte ins Innere der Wohnung. Nirgends brannte Licht; es schien niemand zu Hause zu sein. Sie seufzte und hängte ihre Jacke an der Garderobe auf.

Der schwarze Mantel ihres Vaters fehlte, sowie die rote Daunenjacke ihrer Mutter. Fabienne verzog das Gesicht. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter am Abend zuvor erwähnt hatte, dass sie für einige Wochen nach Spanien flog, um dort einem Kunden vor Ort zu helfen.

Ihrer Mutter gehörte eine Agentur, die sich um Gastronomen kümmerte. Sie half ihnen, ihr Konzept umzusetzen, Finanzpläne zu erarbeiten oder auch einfach nur beim Einstieg in die vielfältige Gourmetszene.

Vielleicht hat Papa sie zum Flughafen gefahren, dachte sie und betrat ihr Zimmer. Der Raum war verhältnismäßig klein; sie hatte neben den üblichen Möbeln, wie Schreibtisch und Bett, zwei vollbepackte Bücherregale und einen Sitzsack nächst dem Schreibtisch stehen.

Sie warf ihre Schultasche auf den Schreibtischstuhl, schmiss sich in den Sitzsack, in dem sie fast vollständig versank und sah aus dem Fenster, welches einen Blick auf den Park bot. Auf dem Sims standen einige Blumen, zwei Drachenfiguren und das Buch, das sie gerade las.

Die Häuser in dieser Gegend waren wie ein Kreis um die Grünanlage erbaut worden. Fabienne fragte sich oft, warum sie nicht in einem eigenen Haus wohnten. Leisten konnten sie sich das allemal, aber bis jetzt war das Thema immer wieder unter den Tisch gefallen, wenn sie es erwähnt hatte. Genauso wie die Frage nach Haustieren. Nicht einmal einen Hamster durfte sie halten.

Fabienne wünschte sich, mitten auf dem Land zu wohnen oder in der Vorstadt. So wie Tamara – dort, wo selten ein Auto vorbeifuhr, wo nur Grün war und wo kein Lärm der Busse, Züge und der Straßenbahn die Ruhe störte.

Gut, der Schulweg für Tamara war weit, aber ihre Freundin stand gern früh auf und daher machte es ihr nichts aus, etwas länger zur Schule zu brauchen.

Bevor Fabienne sich an die Hausaufgaben setzte, nahm sie gedankenverloren das Buch zur Hand, in dem sie gerade las. Sie musste grinsen, als sie den Titel und den Namen des Autors las.

Die Legende der Eisdrachen von Torsten Engels. Das neuste Buch ihres Vaters.

Eigentlich erschien es erst in zwei Monaten, aber sie hatte das Autorenexemplar von ihm bekommen und durfte es als Erste lesen! Natürlich erwartete er ihre ehrliche Meinung, wenn sie fertig war. Bis jetzt hatte ihr jedes seiner Bücher gefallen, außer das Letzte.

Ihr Vater hatte sich in dem Genre Dystopie versucht und somit einen Jugendroman geschrieben, der Fabienne überhaupt nicht begeistert hatte.

Es war so … unrealistisch gewesen und die Protagonistin hatte sie in den Wahnsinn getrieben mit ihrer Naivität und ihrer fast schon blinden Liebe, die sie dem unscheinbaren, aber hinterhältigen Lorenz geschenkt hatte.

Allerdings hatte der Roman sich sehr gut verkauft und der Verlag hatte bereits die Frage nach einem zweiten Teil fallen lassen. Fabienne hatte ihrem Vater gedroht, sollte er das tun, würde sie nie wieder ein Buch von ihm in die Hand nehmen. Da war er nochmal in sich gegangen und bis jetzt sah es gut danach aus, dass kein weiterer Teil davon erschien.

Fabienne fischte sich das Buch vom Fenster und begann aufmerksam das neue Kapitel zu lesen. Ihr Herz schlug mit jeder Zeile heftiger, jedes Wort fraß sich in ihre Gedanken. Der Hauptcharakter Seymir war gerade dabei, das dunkle Geheimnis seines Vaters aufzudecken, als eine Hand ihre Schulter berührte.

Sie schrie laut auf und das Buch flog im hohen Bogen durch die Luft. Die Hand, die sie gerade erschreckt hatte, fing den Roman geschickt auf, und sie nahm ein Zungenschnalzen wahr.

»So gehst du also mit meinen Büchern um. Schäme dich.«

Fabienne blickte zu ihrem Vater empor. Er sah sie tadelnd durch die schwarze Hornbrille an. Sein kurzes blondes Haar zeigte schon einige graue Strähnen und seine braunen Augen glänzten vor Listigkeit.

»Kannst du nicht klopfen?!«, fauchte sie ihn an und entriss ihm das Buch förmlich aus den Händen, tat das Lesezeichen hinein und legte es zurück auf die Fensterbank.

»Du solltest zum Ohrenarzt gehen«, erwiderte er und zwinkerte, »Ich habe geklopft.« Er half ihr auf.

Fabienne zog eine Schnute. »Jaja«, motzte sie und rollte mit den Augen.

Ihr Vater gab ihr einen sanften Klaps auf den Hinterkopf, woraufhin sie so tat, als würde sie furchtbare Schmerzen leiden. »Wenn du weiterhin so frech bist, bekommst du keine Pizza«, drohte er ihr übertrieben empört.

Fabienne machte ein erschrockenes Gesicht. »Nein! Das kannst du nicht machen!«

»Doch, das kann ich. Also, versprich mir jetzt, heute Abend lieb und brav zu sein, dann kriegst du deine Pizza. Wie weit bist du mit den Hausaufgaben?«

»Nun, ich wollte gerade damit anfangen.«

»Na dann; Arbeitende soll man nicht aufhalten!«, sagte er laut.

Fabienne runzelte die Stirn. »Ähm … heißt es nicht eigentlich Reisende?«

Eine Antwort blieb er ihr schuldig.

4. Kapitel

 

 

 

Nach dem Abendessen kuschelte Fabienne sich in ihre warme Decke. Aus dem Nebenzimmer war das stetige Tippen der Tastatur zu hören. Ihr Vater arbeitete an seinem neuen Manuskript. Um was es sich diesmal handelte, wusste sie nicht. Er erzählte es ihr immer, wenn sich sein Werk dem Ende näherte. Meistens jedoch schrieb er an Fortsetzungen. Ihr Vater liebte es, die Geschichten so weit wie möglich auszumalen, auch, wenn das bedeutete, dass er mehr als zehn Jahre an einer Reihe schrieb.

Doch heute Abend würde er wohl nicht mehr weiterschreiben. Er half vormittags ab und an in der Buchhandlung seiner Schwester aus und morgen würde es wieder so weit sein.

Fabienne musste darüber schmunzeln, als sie daran dachte, dass jedes Familienmitglied seitens ihres Vaters etwas mit Büchern zu tun hatte. Sie selbst hatte auch schon einige Versuche gewagt. Doch ihre ersten Entwürfe waren nicht der Hit gewesen und somit wartete sie lieber noch ein paar Jährchen ab, bis sie sich ganz sicher war, in dem, was sie da tat. Genug Ideen dafür hatte sie schon.

Jetzt schlaf endlich, dachte sie und zwang sich dazu, ihre Augen zu schließen.

Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, denn sie wusste, was sie erwarten würde, wenn sie in die Traumwelt glitt – in ihre Traumwelt.

 

Zartes violettes Licht umfing sie und verdrängte die Schwärze hinter ihren geschlossenen Lidern. Sie lächelte und öffnete die Augen. Traumkugeln, die aussahen wie Seifenblasen, flogen an ihr vorbei und schimmerten in alle möglichen Farben des Regenbogens.

In jeder dieser einzelnen Kugeln erkannte sie Schatten. Es waren die Träume der Menschen, die nicht solch eine Fähigkeit hatten wie sie.

Fabienne war eine Traumwanderin.

Sie konnte mithilfe ihrer Gabe in fremde Träume in die farbigen Traumkugeln eintauchen, und dort die stille Beobachterin spielen. Doch ab und an griff sie in das Geschehen ein, um sich einen Spaß zu erlauben. Sie wusste, dass es nicht gerade nett war, ihre Mitmenschen in der Nacht mit skurrilen Träumen zu beschenken, aber, nun ja, der Unterhaltungswert dabei war einfach nicht zu überbieten.

Shawn sah es nicht gern, wenn sie in fremde Träume eindrang. Er war ein Traumwächter, und wie es Fabienne schien, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen. Sie hatte ihn einmal gefragt, ob es nicht noch jemand anderen gab, den er nerven könnte, er jedoch hatte nur gelächelt.

Sie wusste ehrlich gesagt gar nicht, ob weitere Traumwächter existierten. Bisher war sie immer nur Shawn begegnet und der schwieg zu diesem Thema eisern.

Ihr Blick huschte flüchtig über die Traumblasen. Bis jetzt erspähte sie nichts, das ihr Interesse weckte. Jede dieser Blasen hatte eine unterschiedliche Farbe. Shawn hatte ihr einmal erklärt, dass das etwas über den Traum aussagte.

Rot zum Beispiel bedeutete, dass jemand von der Liebe träumte, aber Shawn hatte ihr deutlich verboten, solche Träume zu besuchen. Sie wäre angeblich noch zu jung dafür. Fabienne rollte mit den Augen.

Dann, aus dem Augenwinkel, sah sie eine schwarze Traumkugel. Sie grinste und schwebte darauf zu. Sie streckte die rechte Hand danach aus und ihre Fingerspitzen berührten fast die zerbrechliche Haut der Blase. Ein Räuspern ertönte und sie drehte sich um.

Shawn schwebte hinter ihr, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah sie tadelnd an.

»Fabienne«, sagte er. Shawn sah aus wie Anfang zwanzig, doch ob er wirklich so alt war, konnte sie nicht sagen. Er hatte dichtes schwarzes Haar, das ihm bis zu den Ohren ging. Seine schwarzbraunen Augen, die so dunkel wie die Nacht selbst waren, taxierten sie.

Sie seufzte. »Was?«, fragte sie ihn genervt.

»Was tust du da?«, stellte er die Gegenfrage und legte den Kopf leicht schräg.

»Ähm … ich möchte den Traum besuchen?«, erwiderte sie halb fragend.

Shawn schnaubte abfällig. »Fabienne, was habe ich dir zu Albträumen gesagt?«

»Dass ich davon die Finger lassen soll«, antwortete sie brav.

»Ja, genau. Du weißt es doch! Was also … hast du vor?«

Fabienne hasste die nervigen Fragen. Er fragte immer so dämlich. »Ich will es mir doch nur ansehen!«, hielt sie dagegen.

Shawn bemerkte anscheinend, dass er ihre Nerven sehr strapazierte.

»Fabienne, ich weiß, was du unter ›ansehen‹ verstehst und ich bin nicht damit ein …!« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn das Mädchen fasste bereits durch die dünne Haut der Traumblase hindurch und wurde hineingezogen.

 

Sie schlug mit dem Rücken hart auf den Asphalt und stöhnte gequält auf. Obwohl es nur ein Traum war, konnte sie sich dennoch schwer verletzen. Zwar konnte ihr Körper keine sichtbaren Wunden davontragen, aber dafür ihre Seele.

Fabienne rieb sich den Kopf, bevor sie sich umsah. Sie saß auf einer geteerten Hauptstraße, doch keine Menschenseele war zu sehen. Links und rechts wurde die Straße von Laternen flankiert.

Insgeheim wunderte sie sich, dass niemand unterwegs war. Sie sah auch kein Auto, das über den Asphalt fuhr. Inzwischen war sie aufgestanden und blickte sich um.

»Hallo?«, rief sie. Und dann sah sie endlich jemanden.

Die Person stand mit den Rücken zu ihr und Fabienne ging auf sie zu. Als sie sich hinter ihr befand, räusperte das Mädchen sich und die Gestalt drehte sich zu ihr um. Fabienne erschrak, als sie sein Gesicht erkannte.

Es war Nicolas.

Oh verdammt!, dachte sie im ersten Moment, doch dann besann sie sich, dass es nur ein Traum war. Was hier geschah, war nicht real.

»Was machst du hier?«, fragte er überrascht.

Fabienne schluckte schwer. Es war das erste Mal, dass sie einen ihrer Freunde im Traum besuchte, denn das war für sie bisher ein Tabu gewesen. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und der Szenerie fluchtartig den Rücken gekehrt, doch sie wusste nicht, was das für Auswirkungen auf Nicolas haben würde.

Schabernack zu treiben war okay, aber bis jetzt hatte sie keine Blase verlassen, wenn der Traum noch nicht beendet war.

Fabienne zuckte also nur mit den Schultern und antwortete ihm in der Form eines verkniffen Lächelns.

»Ach, egal«, erwiderte er und wandte seinen Blick wieder nach vorn. Sie folgte ihm und hielt die Luft an. Vor Nicolas auf der Straße lag ein lebloser Körper.

»Was?«, fragte sie kaum hörbar und schloss sich ihm an, als er auf die Leiche zu schritt.

Dann jedoch hielt sie Abstand. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen; auch, wenn er nicht echt war, bekam sie bei dem Anblick Panik.

Nicolas beugte sich zu dem Leichnam hinunter und strich ihm durchs Haar. Er sah dabei so traurig aus.

»Das ist – war – mein Bruder, Dennis. Er starb vor vier Jahren bei einem Autounfall. Ich … ich habe am Gehweg mit ihm Fußball gespielt, dabei rollte der Ball auf die Straße und ich eilte ihm hinterher; doch vergebens. Irgendwie typisch diese Szene, nicht? Er war sofort tot, man konnte nichts mehr für ihn tun.«

»Du träumst also öfter von ihm?«, fragte sie nach.

Ihr Mitschüler nickte. »Ja, sehr oft. Es ist mein schlimmster Albtraum. Immer und immer wieder muss ich diese Szene miterleben.«

Fabienne legte ihm behutsam ihre linke Hand auf den Rücken.»Es … es tut mir leid.«

»Du kannst doch nichts dafür«, erwiderte er schwach.

Sie entfernte ihre Hand wieder und stand auf. »Na, dann gehe ich wieder und lasse dich weiterträumen«, sagte sie mit einem Zwinkern und war gerade dabei, sich abzuwenden, als Nicolas sie am Handgelenk packte.

»Was heißt hier, weiterträumen?«, fragte er.

»Ja, das ist doch ein Traum, oder?«, versuchte sie es mit brüchiger Stimme, »Du träumst das doch alles hier? All das ist nicht real?« Noch nie hatte sie jemand berührt, während sie in einer Traumwelt war. Es fühlte sich so echt an, sie konnte die Wärme seiner Haut spüren.

Nicolas runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, du kannst durch Träume wandeln? Bist du also doch ein Traumwanderer?«

Eiskalt lief es ihren Rücken hinunter und sie riss ihre Augen weit auf. »Traumwanderer?«, fragte sie und versuchte, sich aus seinem Griff loszureißen, doch Nicolas verstärkte ihn noch. »Was ist das denn?«

»Spiel nicht die Dumme, Fabienne! Ich weiß, dass du eine Traumwanderin bist. Woher solltest du denn sonst auch wissen, dass das hier ein Traum ist? Jeder, der träumt, denkt zuerst, dass es Wirklichkeit wäre und erwacht, wenn ihm ins Bewusstsein dringt, dass es ein Traum ist. Wieso bist du dir also so sicher, dass dies einer ist? Zumal du immer noch hier bist und nicht längst aufgewacht! Ich kenne das Phänomen nur allzu gut; ein Cousin von mir ist ebenfalls ein Traumwanderer.«

Fabienne begann zu zittern und erneut versuchte sie, sich von ihm zu befreien, aber der Freund ließ immer noch nicht nach. »Nicolas, bitte! Lass mich gehen!«, flehte sie ihn an.

»Sag mir erst, ob ich recht habe!«, erwiderte er wütend.

Endlich konnte sich Fabienne von ihm losreißen. Sie rannte davon, so schnell es ihre Beine zuließen und hörte, dass Nicolas ihr folgte.

Er rief,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bettina Seidl
Bildmaterialien: Andrea Freytag
Cover: Sabrina Dahlenburg
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0210-7

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