Cover

Als ich die Buchhandlung betrat, leckte ich gerade vorsichtig den letzten Milchschaum von meiner Lippe. Wie immer, wenn ich das kleine Café an der Ecke betrat, hatte der zuständige Kellner mein Getränk schon servierfertig, es gelang ihnen jedes Mal, mich rechtzeitig zu bemerken. Ärgerlicherweise hatte auch der alte Buchhändler nicht nur mein Eintreten, sondern auch meinen undamenhaften Fauxpas bemerkt und grinste mich breit an. Hochmütig warf ich meinen Kopf in den Nacken, dass die roten Haare nur so flogen! Wirklich kein Gentleman, dieser Buchhändler. Ein solcher würde eine Dame niemals so frech anzwinkern. Aber er roch so gut! Diese Mischung aus Bücherstaub, altem Leder und honigsüßen Pfeifentabak verwirrte doch jedes Mal meine Sinne. Alleine dafür lohnte sich der Weg zu dem kleinen, verborgen liegenden Antiquariat, das kaum jemals von einem Kunden betreten wurde. Was vermutlich auch besser war, denn auch wenn ich nur selten hierher kam, so hatte ich doch bei einigen Besuchen schon erlebt, wie schwer sich der Buchhändler von seinen Schätzen trennen konnte.

Mittlerweile hatte er seine blitzeblauen Augen wieder von mir ab- und seinem Buch zugewandt. Ich beschloss, ihn seinerseits zu ignorieren, und schlenderte mit schwingenden Hüften die Regalreihen entlang. Alle vier Wände waren bis zur Decke mit Einbauregalen versehen, in denen sich mehrreihig die Schätze des alten Mannes stapelten. Zusätzlich stand in der Mitte des kleinen Raumes ein wackliger Holztisch, der sich unter seiner Last, die fast bis zur Decke zu reichen schien, bedrohlich bog. Direkt gegenüber der Eingangstür, die natürlich ebenfalls von vollgestopften Regalen flankiert wurde, befand sich ein kleiner Durchgang zu einem winzigen Raum, der von einer Theke halbiert wurde. Auf dieser stand die antik anmutende Registrierkasse, dahinter ein wie aus der Zukunft importiert scheinender, chromblitzender Kaffeevollautomat. Der war noch nicht allzu lange hier, bei meinem letzten Besuch hatte mich der fauchende, zischende Lärm dieses Höllengeräts fast zu Tode erschreckt. Mittlerweile hatte mich aber die Tatsache, dass es Milchschaum zu produzieren imstande war, mit seiner Existenz versöhnt. Allerdings empfand ich es immer noch als empörend, dass das Ding ausgerechnet auf dem schweren Tresor stand, auf dem ich vor seiner Anschaffung immer zu hocken pflegte, das ganze kleine Geschäft im Blickfeld. Aus schmalen Augenschlitzen beäugte ich das funkelnde Ding, bereit, die Flucht zu ergreifen, sollte es wieder loszischen, aber es blieb still.

Trotzdem trieb mir ein unerwartetes Geräusch in diesem Moment den Atem aus der Lunge. Erschreckt hüpfte ich hinter den schmalen Vorhang, mit dem der alte Mann sein Nebenzimmer abends zu verdunkeln pflegte, und lugte vorsichtig um die Ecke, um die Quelle des unerwarteten Lärms ausfindig zu machen. Entgeistert schaute ich zu, wie die Eingangstür, die klemmende, schwergängige Eingangstür, mit Schwung gegen die dahinter stehenden Regale flog. Im Türrahmen stand, entgegen meiner Erwartungen, kein Furcht einflößender Riese vor einem gewittrigen Abendhimmel, sondern ein kleiner, fast zierlich wirkender Mann im weißen Leinenanzug. Und der Himmel, vom dem erstaunlich viel zu sehen war, hatte nicht den Anstand den dramatischen Auftritt donnertosend zu untermalen, sondern zeigte sich strahlend blau und wolkenfrei. Der weißgekleidete Herr schien den Buchhändler mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, so dass ich mich hinter dem Vorhang hervorwagte und auf leisen Sohlen zu dem Tisch in der Mitte des Raumes schlich. Den Effekt seines schwungvollen Eintretens ein wenig ramponierend, trat der weiße Mann mit kleinen, fast tippelnden Schritten in den Laden und verschloss sorgsam die Tür hinter sich. Dem Buchhändler indes standen dicke Tropfen auf der Stirn, in seinen süßen Duft mischte sich eine scharfe Spur Angst. Ich war verwirrt! Aus meiner Deckung hinter dem Tisch konnte ich nicht mehr erkennen, was zwischen den Beiden vorfiel, da der unerwartete Gast sich auf geradem Wege zum Buchhändler begab. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, traf ich meinen Entschluss und setzte ihn ohne zu Zögern in die Tat um. Dank meiner sprichwörtlichen Eleganz gelang es mir, den vom statischen Standpunkt aus betrachtet völlig inakzeptablen Stapel auf dem Tisch zu erklimmen und vorsichtig darüber zu blinzeln. Das Bild, das sich mir bot, war entschieden unspektakulär: der weiße Mann stand vor dem Sessel des Buchhändlers, in dem dieser nach wie vor saß, sein Buch in Händen, den fleckigen Zeigefinger wie üblich als Lesezeichen nutzend. Sie sprachen leise.

Hatte mich mein Instinkt getrogen? Gab es keine Bedrohung hier, an meinem Ort der Behaglichkeit? Staub kitzelte in meiner Nase, unwirsch drehte ich den Kopf, um das unbehagliche Gefühl zu vertreiben. Dabei fiel mein Blick auf eines der Bücher, hinter denen ich mich verbarg, und mir blieb fast das Herz stehen! Noch nie in meinem Leben hatte ich es so sehr bereut, niemals Lesen gelernt zu haben wie in jenem Augenblick. Das Buch, überformatig und unvorstellbar dick, war in schwarzes Leder gebunden und mit Messingecken eingefasst, was ihm an sich schon ein bedrohliches Aussehen verlieh. Doch es war das Cover, das meine Nackenhaare dazu brachte, sich senkrecht aufzustellen, denn in der Mitte der nachtschwarzen Fläche starrte mich ein einziges, gelbes Auge so durchdringend an, dass mir Angst und Bange wurde. Ein Wolfsauge, so detailgetreu, so lebensecht, dass mir der durchdringende Gestank des dazugehörigen Ungetüms in der Nase zu toben schien. Impulskontrolle war noch nie meine Stärke, ebenso wenig wie Besonnenheit, beides liegt nicht in meiner Natur. Eben dieser ließ ich nun freien Lauf, die beiden Männer zu meinen Füßen ignorierend, fauchte ich das schreckliche Buch aus voller Kehle an, drehte mich im Sprung, stieß mich mit den Hinterpfoten ab und rannte wie von Furien gehetzt aus meiner Buchhandlung auf die sonnenbesprenkelte Straße.

Erst in meinen eigenen vier Wänden, auf der Bettdecke, die nach Veilchen und Blaubeeren roch, erlaubte ich es mir, wieder zu innerer Ruhe zu finden und begann, meine vom Straßenstaub stumpf gewordenen weiß-roten Locken mit der Zunge zu glätten.


„Haben Sie schon eine Erklärung für den Vorfall, Maston?“
„Nein, Herr Kommissar. Meine erste Vermutung war, dass der Unbekannte im weißen Leinenanzug den Antiquar wohl mit einem Messer bedroht haben muss, dann aber die schwere Sonderausgabe, die wir neben seiner Leiche gefunden haben, ihm auf den Kopf gefallen ist. Die Messingbeschläge haben, zusammen mit dem Gewicht, seinen Schädel eingedrückt und zum Tode geführt. Der Mann klappte in sich zusammen und fiel auf den Besitzer der Buchhandlung, durchbohrte in dabei mit dem Messer, was schlussendlich auch den alten Mann tötete.“
„Na, Maston, das klingt zwar arg slapstick-artig, aber es es ist vorstellbar. Was also bringt Sie dazu, von dieser Vermutung abzuweichen?“
„Zum einen das Buch. Es handelt sich, wie ich zwischenzeitlich feststellen konnte, um eine niegelnagelneue Sonderausgabe eines Fantasy-Romans, geschrieben von einem polnischen Autor namens Sapkowski. Der Titel lautet „Zeit der Verachtung“. Es ist gebunden in schwarzes Handschuhleder, was an sich schon mal ungewöhnlich ist, da für solche Einbände normalerweise stabileres Nappa, wenn nicht gar Schweineleder verwendet wird. Auf dem Cover sieht man einen perfekt aufgetragenen Digitaldruck eines einzelnen Wolfsauges, was zum Inhalt zu passen scheint, da der Protagonist des Buches ein Hexer ist, genannt der „Weiße Wolf“. Außerdem ist es seltsam, einen Roman, der erst kürzlich als Taschenbuch erschienen ist, in einer solchen Aufmachung vorzufinden, denn es handelt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um eine Lizenzausgabe, sondern um einen illegalen Nachdruck. Dies führt schon zu mehreren Fragen: was macht ein Fantasy-Roman in diesem auf Klassiker spezialisierten Antiquariat? Wer hat diese Ausgabe anfertigen lassen und warum? Wenn schon Fantasy, warum dann dieses Buch? „Zeit der Verachtung“, hat das etwas zu bedeuten?“
Maston bemerkte, dass sein Vorgesetzter dabei war, die Geduld zu verlieren.
„Einen kurzen Augenblick noch, bitte! Zu all diesen Fragen kommt noch die Tatsache, dass das betreffende Buch dort oben auf dem Stapel gelegen hat. Wie Sie sehen können, ist der Stapel an sich zwar relativ instabil, die Fläche, auf der dieses Werk gelegen hat, aber ausreichend groß. Warum ist also nur das eine Buch gefallen?“
Zu seiner Zufriedenheit stellte Maston fest, dass die Wirkung seines Einwands auf den Kommissar nicht ausblieb. Ein Lächeln unterdrückend, fuhr er fort:
„Herr Kommissar, ich glaube, es handelt sich hier um einen Doppelmord. Und er Täter war eine Frau, eine Rothaarige.“
Noch bevor der Kommissar seiner Verwirrung Ausdruck verleihen konnte, setzte Maston endlich seine lange vorbereitete Pointe:
„Die letzten Worte des Opfers waren: `Was hat Dich so erschreckt, Feuerhaar?´“



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Thema: "Sie liebte Buchhandlungen über alles, obwohl sie niemals lesen gelernt hatte. Als sie das Werk auf dem meterhohen Bestsellerstapel in der Raummitte ihrer Lieblingsbuchhandlung sah, traute sie ihren Augen kaum. Ihre Entdeckung setzte eine Kettenreaktion in Gang."

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