Cover

In meinem Kopf tanzt die Fassungslosigkeit, meine Handfläche brennt wie Feuer. Rot sind die Abdrücke meiner Finger auf seiner Wange, rot tanzen Sterne vor meinen Augen, versuchen, das Bild zu vertreiben, das sich in meine Netzhaut eingebrannt hat.
Wie er da saß, mit dem Messer in der Hand, die schneeweiße Innenseite seines Unterarms anstarrend. Die absolute Leere in seinem Gesicht, als er sagte, dass er sich umbringen wolle. Das Leben sei zu schwer, der Schmerz nicht zu ertragen.
Meine Hand tut weh, ein echter Schmerz, real. Ich brülle ihn an, verzweifelt, suche nach dem Warum. Es kommen nur leere Phrasen.
In meinem Kopf tanzen Bruchstücke gegen den Takt. Kein Sinn, es macht keinen Sinn. Er ist achtzehn. Jung, klug, gutaussehend. Er wird geliebt, von seinen Eltern, seinen Geschwistern, von mir. Der Schmerz! Was weiß dieses Kind von Schmerz? Nie hat er Hunger leiden müssen, keine Faust hat jemals seine Würde betäubt. ´Ich ertrage es nicht mehr!´, jämmerlich. Ich sehe ihn an, er weint, macht mir Vorwürfe. Ich würde ihn nicht verstehen, klagt er an. Recht hat er, ich verstehe ihn nicht. Die selbstgeschaffenen Qualen eines egozentrischen Geistes kotzen mich an, jede einzelne Narbe auf seinem rechten Arm heißt ihn einen Schwächling. Ich hasse Schwäche. Meine Stimme klingt seltsam tonlos, doch ich erlaube ihr nicht, zu versagen.

„Es war genau 11 Uhr 57, ich stand seit acht Minuten am Gleis. Gleich würde der Zug kommen, dann wäre es vorbei. Kein Schmerz mehr. Meine gebrochenen Rippen, die Schnittwunde am Hals, das rohe, zerrissene Fleisch im Schritt – weg. Keine Qualen mehr, kein Ekel. Selbst der widerliche Geschmack nach dem Erbrechen überdeckte nicht den Gestank, der sich in meinen Poren festgesetzt zu haben schien. Ich zündete eine Zigarette an, meine letzte Zigarette, sog wie besessen das Gift in meine Lungen, besser diesen Dreck als jenen anderen. Ich war nur noch Scham, nur Ekel. Tot sein hieß frei sein. Frei von Schmerz, Scham, Ekel, Verzweiflung und Erklärungsnot. Was sollte ich meinen Eltern sagen? Meine Verletzungen wären kaum zu verheimlichen. Ich wusste, was passieren würde. Sie würden ausrasten, alle Beide. Mein Vater würde ihn umbringen. Das war mir völlig klar. Er würde seinen Schrank aufmachen, die Knarre einpacken und ihn um machen. Und er würde dafür in den Bau gehen. Das konnte ich nicht riskieren. Auf keinen Fall. Also musste ich es verheimlichen. Wenn ich tot wäre, würden sie nie herausfinden, wer es war, also müsste mein Vater nicht in den Knast. Was für eine kranke Logik!
Ich stand am Gleis. Der Zug kam näher, ich konnte ihn schon hören. Bald ist es vorbei, dachte ich. Mein Blick wanderte durch meine Umgebung. Da war keine Schönheit, kein verirrter Sonnenstrahl tanzte durch das trostlose Bahnhofsgrau, um mich Hollywood-artig aus der dramatisch-suizidalen Phase zu befreien. Statt dessen gestaltgewordene Alltagshäßlichkeit, der Gestank nach kaltem Rauch und alter Pisse. Das würde ich mit in den Tod nehmen. Er würde gewinnen.
Dieser Gedanke ließ mich aufschrecken. Er würde damit durchkommen! Ich war am Aufgeben, streckte die Waffen. Der Zug kam um die Kurve. „Sekunden der Entscheidung“, schoß es mir durch den Kopf, in Tonfall und Stimme passend zu einem Fußballkommentator. Verwirrt starrten die anderen Wartenden mich an, als ich laut lachend in den Zug stieg. ´Nur Schwächlinge fliehen feige´ rief ich ihnen zu.“

Ich drehe mich um und verlasse den Raum. Durch die sich schließende Tür höre ich leise seine Stimme: „Selbstmord ist Feigheit vor dem Feind.“ Ich lächle.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /