Cover

Der kalte Nieselregen macht mich wahnsinnig. Es scheint mir, als würde ich schon seit Stunden durch ein Niemandsland laufen: graue Plattenbauten, bleierner Himmel, bewölkte Gesichter. Wo ist das Licht hin, wann ist es verschwunden? Die Stadt trägt meine Trauer.

Ich kapituliere vor dem Wetter, trete an die Straße und winke mir ein Taxi herbei. So leicht werden gute Vorsätze über Bord geworfen! Niemals wieder wollte ich mein Leben einem Prager Taxifahrer anvertrauen, das hatte ich mir geschworen. Vor über fünfzig Jahren. Wie hätte ich mit 18 Jahren auch wissen können, wie sehr die Arthrose alten Knochen zusetzen kann? Was für abstruse Gedanken! Ich schüttele den Kopf über meinen eigenen Irrsinn und bitte den Fahrer, mich in die Innenstadt zu bringen. Er fährt vorsichtig, achtsam, als sei die alte Dame auf der Rückbank ein zerbrechliches Gefahrengut. Ich starre aus dem Fenster in das allumfassende Grau. In jedem Regentropfen sehe ich Dein Gesicht.

Trotz des unangenehmen Wetters hilft mir der junge Fahrer beim Aussteigen. Ein deutliches Zeichen meiner Gebrechlichkeit, denke ich zynisch und gebe ihm trotzdem ein großzügiges Trinkgeld. Er fährt winkend davon, sein Lächeln brachte ein kleines Leuchten in diesen trüben Tag. Doch als ich mich umdrehe und meinen Blick über den Wenzelsplatz streifen lasse, schießen Tränen in meine Augen. Alles grau in grau! Verzweifelt versuche ich, den trostlosen Anblick mit den goldenen Bildern meiner Erinnerung zu überlagern. Es gelingt mir nicht. Ich überlege, mir im Hotel Europa eine Tasse heiße Schokolade zu gönnen. Fast kann ich das zartbittere Aroma auf der Zunge spüren, meine Füße wenden sich wie von allein dem liebevoll restaurierten Gebäude zu. Ich sehe hinter dem Fenster ein junges Pärchen, sie wischt ihm mit zärtlicher Geste einen Kakaorest von den Lippen und mir will das Herz im Leibe bersten. Nein, kein Aufschub mehr. Entschlossenen Schrittes wende ich mich ab und der Altstadt zu.

Kein Leben ist heute in diesen Gassen, die ich von Frohsinn und Lebensfreude überschäumend in meinem Gedächtnis trage. Der kalte Novemberwind hat die Kunden verjagt, die fliegenden Händler hatten keinen Grund zu bleiben. Nur Einsamkeit finde ich hier.

Ich erreiche die Karlsbrücke und die Stiche in meinen Knien treiben mir, der Kälte zum Trotz, den Schweiß auf die Stirn. Hier über der Moldau scheint der Wind einen letzten Kampf mit mir ausfechten zu wollen. Er reißt mir einzelne Strähnen weißen Haares aus dem strengen Knoten an meinem Hinterkopf, lässt sie um mein Gesicht wirbeln, wie kleine Peitschen in meine Augen schlagen. Nur einmal, in der Mitte der Brücke, streiche ich das Gewirr energisch aus dem Weg und blicke über die Moldau. Kein goldener Schein entsteigt ihren grünen Tiefen, sie tarnt sich im Nebel, gönnt mir keinen letzten Blick. So will ich ihr auch keine Worte gönnen! Schweigend ziehe ich den schmalen Ring vom Finger und werfe ihn über die steinerne Brüstung. Kein Blick mehr zurück. Ich gehe weiter.

Meine Erinnerungen füllen die stillen, toten Straßen mit plaudernden Menschen, Gespenstern gleich in dieser Öde. Wie sehr wünsche ich mir, ein letztes Mal diesen Schein zu sehen, dieses Leuchten! Das goldene Licht von Prag. Das goldene Prag. Die Leinwand, auf die wir unsere Träume malten. Hier waren wir glücklich, vor all dieser Zeit. Eine Woche, eine einzige Woche nur, von Liebe und Glück ausgedehnt in die Unendlichkeit.
Ein kurzer Blick nach oben zeigt die schwarzen Türme vor dem Grau des Winterhimmels. Es ist nicht mehr weit. Jetzt nicht mehr.

Nicht ganz ein Jahr währte unser Glück. Elf Monate, eine Woche und drei Tage. Dass ich das noch weiß! Meine Hochzeitstage habe ich vergessen, so oft die Geburtstage meiner Lieben, einmal sogar den meines Sohnes. Ein knappes Jahr des Glücks und fünfzig Jahre der Sehnsucht.
Endlich erreiche ich den Platz. Der Regen ist stärker geworden, ich bin bis auf die Haut durchnässt. Damals hast du mich auf deinen Armen zurück ins Hotel getragen, meine Kleider beiseite geworfen und jeden einzelnen Tropfen von meiner Haut geleckt. Ich erröte bei der Vorstellung, wie sich meine faltige Haut wohl heute unter deiner Zunge anfühlen würde und kichere bei dem Gedanken, wie du mit knackenden Gelenken versuchst, vor mir auf die Knie zu gehen. Der Tod ist barmherzig.
Im Hauptschiff des Doms setze ich mich in eine leere Bank, senke den Kopf wie zum Gebet. Ich denke nicht an Gott, an den ich nie geglaubt habe, ich denke an dich.

Nur mit Mühe kann ich mich aus meinen Erinnerungen lösen. Wenn ich ihnen weiter folge, wird mich bald der Schlaf übermannen. Der lange Weg hat mich erschöpft. Dabei steht mir der anstrengendste Teil noch bevor. Ächzend erhebe ich mich von der harten Kirchenbank und versuche die unheilvollen Geräusche, die meine Knie von sich geben, zu ignorieren. Dann wende ich mich entschlossen dem Aufgang zu. Über 500 Steinstufen freuen sich darauf, ihrem Gelenkknorpel den Rest zu geben! Wieder einer dieser sarkastischen Hirnblitze, die von dir zu kommen scheinen. Ich beiße die Zähne zusammen und mache mich an den Aufstieg.

Auf dem Weg hinauf bereue ich jede einzelne Zigarette meines Lebens. Die Schmerzen in meinen Beinen sind unerträglich, aber ich gebe nicht auf. Jede einzelne Stufe trägt deinen Namen, jede Stufe steht für eine gemeinsame Erinnerung. Die Treppe nach oben wird für mich zu einem Fenster in eine tot geglaubte Vergangenheit. Ich genieße jeden Schritt.

Der Blick von der Aussichtsplattform des Doms über die Stadt ist atemberaubend. Nicht, dass mir noch Atem zum rauben geblieben wäre. Trotz des Regens, des Nebels und des Graus ist Prag wunderschön. Trotz des Alters, der Falten und des Schmerzes warst du wunderschön.

An deiner Beerdigung teilzunehmen wurde mir verwehrt. Dein Sohn brachte mir die Nachricht, dass seine Mutter mich nicht zu sehen wünschte. Ihre späte Rache, mir den Abschied von dir zu verweigern, diesen letzten Kuss. Hätten wir sie nur betrogen! habe ich gedacht und mich gleich darauf geschämt. Dein Sprössling, der dir glücklicherweise überhaupt nicht ähnlich sieht, brachte mir meine Briefe. Vier Schuhkartons, die Sammlung eines halben Jahrhunderts. Gemeinsam mit den deinen habe ich sie verbrannt, unter der alten Ulme am Fluss, dort wo wir gemeinsam in der Sonne tanzten.

Meine Hände zittern nur wenig, als ich das kleine Kästchen mit der Asche aus meiner Tasche krame. Ich starre hinauf zu den Wolken, die langsam auseinander wehen. Die Stadt zu meinen Füßen verwandelt sich in eine Zauberwelt aus gleißendem Gold.
Die Asche verdunkelt für einen Augenblick das strahlende Licht, ehe der Wind sie dem Himmel entgegen trägt. Es ist vorbei.


Impressum

Texte: Coverfoto mit freundlicher Genehmigung von H.W. Köhler
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /