Die letzte Woche vor den großen Sommerferien hatte begonnen und alle Kinder waren schon in heller Aufregung. In diesen Tagen passierte nicht mehr so viel in der Schule - es mussten keine Arbeiten mehr geschrieben werden, Hausaufgaben wurden auch weniger verteilt und am letzten Schultag gab es endlich Zeugnisse. Dann hatte es auch die Klasse 1b wieder geschafft - das erste Schuljahr war dann rum und sie kamen hoffentlich alle in die zweite Klasse.
Aber eigentlich hatten sie sich alle sehr angestrengt, fleißig gelernt und gut aufgepasst, wenn Frau Blümchen etwas erklärt hatte, sodass sich der kleine Kaktus gar keine Sorgen um all die Kleinen machte. Auch sie würden es dieses Jahr wieder schaffen und versetzt werden. Frau Blümchen war aber auch wirklich eine tolle Lehrerin. Alle Kinder liebten sie und waren traurig, wenn sie im nächsten Jahr jemand anderen als Lehrer oder Lehrerin bekamen. Der kleine Kaktus hörte Frau Blümchen gerne zu, wenn sie von den verschiedensten Sachen erzählte. Sie brachte den Kindern nicht nur Mathematik oder Schreiben und Lesen bei - nein, Frau Blümchen erzählte auch viel über die Pflanzen und Tiere oder auch mal eine lustige Geschichte.
Nur leider schaute sie nie auch nur einmal zu ihm herüber und dabei gab er sich so große Mühe, sich zu strecken und zu recken. Und die Kinder hatten ihn sowieso schon vergessen, wenn sie denn überhaupt einmal gewusst hatten, dass der kleine Kaktus dort auf dem Fensterbrett stand.
Trotzdem war er glücklich. Er liebte dieses Klassenzimmer und alles, was in diesem Raum geschah. Wenn der kleine Kaktus gekonnt hätte, hätte er sich auch an einen der Tische gesetzt, um genauso, wie die vielen Kinder etwas zu lernen und anschließend in den Pausen auf dem großen Schulhof herumzutoben. Doch das ging ja nun einmal leider nicht.
Um so näher der allerletzte Schultag rückte, desto mehr hoffte der kleine Kaktus auch dieses Mal wieder, dass eines der Kinder ihn bemerkte und ihn vielleicht über die langen, langen Sommerferien mit zu sich nach Hause nahm. Aber auch dieses Jahr zerfloss seine Hoffnung, wie Eis in der warmen Sommersonne.
Der Tag der Zeugnisausgabe war da. Alle Kinder hatten das erste Schuljahr bestanden, und wurden in die nächsthöhere Klasse versetzt. Nach den Sommerferien würden hier neue Erstklässler ihre ersten Schritte als Schulkinder machen und wieder allerhand wichtige Dinge von Frau Blümchen beigebracht bekommen. Es schien ein ewiger Kreislauf zu sein.
Der kleine Kaktus war so in seine Gedanken und Tagträumereien vertieft, dass er gar nicht mitbekam, wie Frau Blümchen all die Kinder herzlich verabschiedete und sie alle gemeinsam den Klassenraum verließen. Erst als es ganz still geworden war, schreckte der kleine Kaktus aus seinen Gedanken auf. Wieder war er allein. Niemand hatte an ihn gedacht, niemand ihn mit nach Hause genommen. Aber was noch viel, viel schlimmer war, niemand hatte ihm auch nur einen einzigen Schluck Wasser zu trinken gegeben. Das würde eine lange Zeit des Wartens werden. Er beschloss erst einmal etwas einzudösen, vielleicht würde er ja auf diese Weise diese lange Zeit überbrücken können. Der kleine Kaktus hörte gerade noch so das Kinderlachen draußen und die Gespräche, die sich allmählich immer weiter von der Schule entfernten, als ihm auch schon die Augen zufielen und er tief und fest einschlief.
Und so verging die Zeit. Hin und wieder geschah es, dass der kleine Kaktus kurz erwachte, aber jedes Mal, fühlte er sich schwächer und schwächer - zuletzt gelang es ihm schon nicht mehr seine Augen auch nur einen spaltbreit zu öffnen und er dachte bei sich „So soll es also mit mir enden …" und döste abermals ein.
Doch plötzlich waren Stimmen zu hören - erst wenige, dann immer mehr und zum Schluss schwoll das Stimmengewirr zu einem einzigen Summen an. Die Tür zum Klassenzimmer wurde wieder geöffnet und das Summen durchströmte den Raum. Stühle wurden über den Boden geschurrt, Taschen auf den Fußboden geräuschvoll abgestellt und eine freudige Aufregung erfüllte die Luft.
Leider war der kleine Kaktus inzwischen viel zu schwach, um sich die neue Klasse 1b anzuschauen und ihre lieben, vor Aufregung ganz rot leuchtenden Gesichter zu sehen, aber wenigstens konnte er sie noch hören. Nun war er froh. Er hatte gedacht, er würde nie wieder das Kinderlachen und Frau Blümchens Stimme hören. Wenigstens das war ihm noch vor seinem Ende vergönnt. Und wenn er gekonnt hätte, hätte er gelächelt.
Die erste Stunde hatte begonnen und es war Ruhe eingekehrt. Hin und wieder stellten die Kinder Fragen und manchmal konnten sie auch schon auf die eine oder andere Frage von Frau Blümchen antworten. Als es läutete, wurden wieder die Stühle über den Boden geschurrt und der Raum für die Pause verlassen. Der kleine Kaktus dachte gerade, er wäre wieder alleine, als die Tür abermals geöffnet wurde und jemand in den Klassenraum zurückkehrte. Angestrengt lauschte der kleine Kaktus in den Raum hinein, als plötzlich eine feine Stimme ganz leise zu ihm sprach „Oh, du armer Kaktus, du siehst aber gar nicht glücklich aus - bestimmt hast du großen Durst!" und mit ihren letzten Worten spürte der kleine Kaktus, wie die Erde um ihn herum nass wurde. Er konnte sein Glück gar nicht fassen. Nicht nur, dass ihn endlich jemand bemerkt hatte, nein, er bekam sogar etwas zu trinken. So schnell er konnte nahm er mit seinen Wurzeln das kühle Nass auf und trank in vollen Zügen. Mit jedem Schluck spürte er, wie die Lebensgeister in ihn zurückkehrten und er wieder kräftiger wurde. Als der erste Schultag vorüber war, war er schon fast wieder wie neu. Immer wieder erinnerte er sich an die liebe Kinderstimme, an das freundliche Gesicht und dabei wurde ihm wieder und wieder so warm um sein kleines stacheliges Herz, dass er am liebsten vor Freude aus seinem Topf gesprungen wäre.
So ging es nun jeden Tag weiter. Die liebe Stimme sprach zu ihm und die großen Kinderaugen strahlten ihn immer wieder aufs Neue an, wenn sie ihn am Morgen erblickten. Und immer, wenn der Schultag zu Ende war, kam das Kind noch einmal zu ihm und verabschiedete sich. Es war einfach herrlich. Der kleine Kaktus war nicht mehr allein und einsam - endlich gab es jemanden, der sich zu ihm freute und sich um ihn kümmerte.
Und nach nur ein paar Wochen kam nicht nur das eine Kind zu ihm - nein, inzwischen wurde er jeden Morgen von der gesamten Klasse begrüßt und sie stritten sich sogar ein wenig darum, wer ihn denn nun als Nächstes gießen durfte. Dass sich die Kinder um ihn stritten, fand er eigentlich nicht so schön, aber die kleinen Streitereien waren bald beendet. Den Grund dafür sah er dann an einem Montagmorgen. Die Kinder hatten einen Plan auf ein großes Blatt Papier gemalt, wo jedes Kind einmal draufstand und dieses an die Klassenzimmertür gehängt. So wussten sie immer wann und wer den kleinen Kaktus gießen und pflegen durfte. Und so kehrte wieder Ruhe in die Klasse.
Der kleine Kaktus war mächtig stolz auf seine vielen Schulkinder. So eine tolle Schulklasse hatte er lange nicht gesehen. Sie alle verstanden sich außerordentlich gut und hielten bei allem fest zusammen. Das war wirklich toll und er legte sich mächtig ins Zeug, um zu wachsen und seinen Kindern so seine Dankbarkeit und Freundschaft zu ihnen zu zeigen.
Als gerade wieder ein Wochenende vergangen war, stand ein ganz besonderer Montagmorgen ins Haus. Denn heute war Frau Blümchens Geburtstag! Das wusste der kleine Kaktus, weil die Kinder am Freitag noch ganz aufgeregt neben ihm getuschelt hatten, was sie ihr denn zum Geburtstag schenken sollten. Und so hatte auch der kleine Kaktus sich dieses Jahr eine ganz besondere Geburtstagsüberraschung für Frau Blümchen einfallen lassen. Er musste all seine Reserven aufbieten, um seine Idee in die Tat umsetzen zu können und nun war es endlich soweit. Hoffentlich würde sein Geschenk für Frau Blümchen jemand bemerken!
Die liebe Lehrerin war heute schon ganz besonders früh im Klassenraum. Sie hatte einen Kuchen mitgebracht und mehrere Kannen voll leckerem Kakao. Das machte sie schon all die Jahre zu ihrem Geburtstag so und jedes Jahr aufs Neue freuten sich die Schulkinder zu dieser kleinen Geburtstagsfeier. Doch leider war sie so mit ihren Vorbereitungen beschäftigt, dass sie das Geschenk vom kleinen Kaktus nicht bemerkte.
Aber als die ersten Kinder in den Klassenraum gestürmt kamen und ihn, wie mittlerweile jeden Morgen begrüßten, wurden um ihn herum bewundernde Stimmchen laut. Als das Stimmengewirr immer mehr anschwoll, kam auch Frau Blümchen dazu und blickte neugierig über die Köpfe der Kinder hinweg zum Fensterbrett - genau zu ihm, dem kleinen Kaktus. Und als er Frau Blümchen erblickte, streckte sich der kleine Kaktus noch mehr und wurde heimlich ganz Rot vor Stolz.
Frau Blümchen bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die vielen Kinder, und als sie nun direkt vor ihm stand, konnte er ihre Augen vor Freude leuchten sehen. „Oh, wie wunderschön! Da hast du dich aber mächtig angestrengt, kleiner Kaktus!" sagte sie voll Bewunderung zu ihm. „Das ist wirklich ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk, meint ihr nicht auch Kinder?" Von allen Seiten kamen begeisterte Stimmen, die Frau Blümchen zustimmten und eines der Kinder sagte „Aber hier hinten können wir ihn ja gar nicht richtig sehen. Der kleine Kaktus braucht einen neuen Platz, von wo aus wir ihn alle anschauen können!"
„Da hast du recht, Michi!" sagte daraufhin Frau Blümchen, nahm den Blumentopf mit dem kleinen Kaktus in ihre Hände und trug ihn nach vorne zum Lehrertisch. Dort sollte nun also seinen Ehrenplatz sein und vor Freude leuchteten seine Blüten, die wie eine Krone um seinen Kopf herumgewachsen waren in einem noch schöneren Rosa.
Fortan blieb er auf dem Lehrertisch stehen und niemand übersah oder vergaß ihn jemals mehr. In den Ferien nahmen ihn die Kinder abwechselnd mit nach Hause und in den großen Sommerferien, kurz bevor eine neue Klasse den Klassenraum eroberte, war es Frau Blümchen, die den kleinen Kaktus zu sich nahm, um ihn die Ferien über zu hegen und zu pflegen.
So vergingen die Jahre. Der kleine Kaktus war nie wieder allein und alle Jahre wieder erfreute er Frau Blümchen zu ihrem Geburtstag mit seiner Blumenkrone und war glücklich sein Lebtag lang.
- Ende -
(C) Jessica P. (alias Ayaluna), 24. April 2013
Texte: Jessica P.
Bildmaterialien: Jessica P.
Lektorat: Jessica P.
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2013
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