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Der Weihnachtsengel

Es war Mitte Dezember und wirklich schon sehr kalt. Der Winter hatte in diesem Jahr bereits Anfang Oktober seine knorrigen kalten Finger weit ins Land ausgestreckt. Aber der Schnee hatte trotz allem bis jetzt auf sich warten lassen – Gott sei Dank! Er machte immer alles nur noch schlimmer. Gerade für diejenigen, die sowieso nicht viel hatten.

 

In der Stadt herrschte ein emsiges Treiben. Die Schaufensterläden waren allesamt wunderschön dekoriert und voll mit den tollsten Dingen. Die Kinder, die das Glück hatten, mit ihren Eltern einkaufen gehen zu dürfen, strahlten bis über beide Ohren, wenn sie die eine oder andere kleine Leckerei zwischendurch bekamen. Und die anderen – die Kinder aus dem örtlichen Waisenhaus – die, die die Hoffnung noch nicht vollends verloren hatten, drückten sich an den Schaufenstern ihre kleinen kalten roten Nasen platt und bestaunten die vielen schönen Dinge, die für sie doch unerreichbar blieben.

 

Und dann gab es auch noch diejenigen, die schon sehr früh zu spüren bekamen, dass es für sie keinen Platz auf der Welt gab – dass niemand sie haben wollte. Diese armen Seelen drückten sich in den vielen kleinen Gassen herum – dort, wo die Hinterausgänge der Geschäfte und Restaurants waren, um vielleicht etwas von den Abfällen ergattern zu können, die dort in den Müll geworfen wurden. Diese Abfälle würden ihnen in dieser kalten Zeit das weitere Überleben wenigstens für ein paar weitere Stunden sichern. Denn es war ein Überlebenskampf, den sie ausfochten – Tag für Tag – Stunde für Stunde und manchmal sogar nur Minute für Minute. Nie konnten sie sicher sein, dass sie, wenn sie einmal die Augen zum Schlafen schlossen, sie auch wieder öffnen würden. Unter ihnen war sich jeder selbst der Nächste. Jeder von ihnen durfte nur an sich denken, denn das war der einzige Weg, sein eigenes Überleben zu sichern. 

Dabei war es egal, wie alt man war. Unter ihnen war von den Jüngsten mit ihren etwa fünf Jahren bis ins hohe Alter von knapp fünfundvierzig Jahren alles vertreten. Es betraf sowohl Männer wie auch Frauen. Keiner war vor diesem Unglück gefeit, das einen so schnell ereilen konnte.

Einige von ihnen versuchten sich als Bettler oder eben als Taschendiebe auf dem großen Weihnachtsmarkt der Stadt. Wenn sie Glück hatten, wurden sie von der Polizei aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt. Dort war es wenigstens warm und sie bekamen etwas zu essen – bis sie schließlich wieder auf freien Fuß gesetzt wurden und sie ihr Elend erneut einholte. 

 

Noel gehörte auch zu diesen armen Seelen. Er war ein pfiffiger kleiner Junge von etwa acht Jahren. Seit seine Mutter vor etwas mehr als zwei Jahren an Typhus erkrankt und wenig später verstorben war, lebte er auf der Straße. Sie war seine einzige Familie gewesen. Seinen Vater kannte er nicht und das Waisenhaus wollte ihn damals nicht aufnehmen, da es bereits zu viele Kinder beherbergte. Später, als dort ein Platz frei geworden war, hatte man ihn einfach vergessen. So hatte Noel schnell lernen müssen, wie man sich auf der Straße durchschlägt. Er hielt sich seitdem mit kleinen Gaunereien über Wasser. Und da er trotzdem immer noch ein niedlicher kleiner Junge war, hatte er manchmal Glück, dass ihm von der einen oder anderen älteren Dame, ein Kanten Brot oder sogar ein kleines Geldstück zugesteckt wurde. Und trotzdem – der Winter war auch für ihn die schlimmste Zeit. 

 

Damals als seine Mama noch lebte, hatte sie immer versucht, ihnen beiden ein schönes, wenn auch einfaches Weihnachtsfest zu bereiten. Sie hatte nie viel Geld besessen, aber alles, was sie hatte, gab sie gerne für ihren geliebten Sohn her. Schließlich sollte er etwas zu essen und zum Anziehen haben. 

 

Aber inzwischen war seine Kleidung verschlissen. Alles was er am Leibe trug, war eine kaputte Hose, einen mit zahlreichen Löchern versehenen Pullover und eine Schiebermütze, die er einst im Hyde Park gefunden hatte. Und um seine Füße vor der Kälte zu schützen, hatte er diese in alte Lumpen gewickelt.

 

Was seinen Unterschlupf betraf, hatte Noel mehr Glück gehabt als andere. Mit Sicherheit hatte auch dies dazu beigetragen, dass er bis jetzt überleben konnte. Nachdem er vom Waisenhaus abgelehnt worden und durch die Stadt gestreift war, hatte Noel am Stadtrand eine verlassene Villa gefunden. In das Haus selbst konnte er, trotz seines Geschicks mit verschlossenen Schlössern, nicht eindringen und sein Gewissen sagte ihm, dass er die Fensterscheiben nicht zerstören sollte. Aber das Schloss zum Kohlenkeller war glücklicherweise kaputt, sodass er hier spielend Einlass fand. Hier unten hatte er es sich so bequem, wie möglich gemacht. Und auch wenn die Ratten und Mäuse seine ständigen Nachbarn waren, so hatte er doch ein Dach über dem Kopf und damit einen Schutz vor der Witterung. Nur wenn es einmal sehr stark regnete, konnte es passieren, dass der Keller volllief und wenn es schneite, dass die Türen durch die Schneemassen zugedrückt wurden und ihm so den Ausgang versperrten. Daher achtete Noel peinlichst genau darauf, gerade im Winter die Türen regelmäßig zu öffnen und den Schnee zu beseitigen. 

 

Eines Morgens, es war nur noch ungefähr eine Woche bis Weihnachten, erwachte Noel, wie immer steif gefroren in seinem Kohlenkeller. Denn obwohl ihm seine Behausung im Allgemeinen Schutz bot, war es hier trotzdem extrem kalt. 

 

Und was konnte gegen die Kälte besser helfen, als dass er sich bewegte und vielleicht sogar etwas zu essen fand. Also machte sich Noel auf den Weg in das wenige Meilen entfernte Zentrum der Stadt. Dorthin, wo sich all die schönen Geschäfte befanden und auch der große Weihnachtsmarkt die Leute, die es sich leisten konnten, erfreute. Er hatte sich inzwischen eine Handvoll Orte in der Stadt gemerkt, an denen es fast immer etwas für ihn zu essen gab. Nur heute sah es damit anscheinend schlecht aus und so schlenderte er weiter, ohne ein festes Ziel vor Augen. Als er sich das nächste Mal aus seinem dämmerähnlichen Zustand, in den er immer bei seinen Streifzügen verfiel, auftauchte, war er in der teuersten Einkaufsmeile angelangt. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Hier würde er viel zu leicht auffallen. Denn alle, die sich in dieser Gegend aufhielten, waren ausnahmslos wohlhabende Leute und nicht arme Straßenkinder, wie er. Aber entgegen all seine Befürchtungen bemerkte ihn hier niemand. Sie waren alle viel zu sehr mit ihren Einkäufen für die Feiertage beschäftigt. Und so gestattete sich Noel einen kleinen Moment des Träumens. Er stand, wie so viele andere Kinder vor einem der unzähligen Spielzeuggeschäfte und schaute durch das Schaufenster. Hinter dem Glas war in der Mitte eine kleine Eisenbahnstrecke aufgebaut und die winzige Holzlok fuhr emsig ihre Runden. Zwischendurch hörte man sie immer mal wieder leise pfeifen. An einem anderen Platz stand ein riesiges Puppenhaus. Dieses war mit allem ausgestattet, was man sich nur vorstellen konnte. Es hatte drei Etagen und einen großen Dachboden. Die kleinen Möbel waren zierlich und fein geschnitzt und mit schönen Farben bemalt. Sie sahen dadurch unglaublich echt aus. In den einzelnen Räumen standen, lagen oder saßen die Bewohner des Hauses. Die kleinen Puppen trugen allesamt die feinsten Kleider und es gab sogar einen kleinen Hund, der lustig durch das Haus zu tollen schien. Draußen vor dem Haus stand eine kleine Pferdekutsche mit einem richtigen Kutscher und zwei Schimmeln davor gespannt. Es war einfach ein herrlicher Anblick. Und zu guter Letzt saßen neben dem Puppenhaus und der Eisenbahn die verschiedensten Puppen und Teddybären. Aber das Allerschönste, was Noel sofort in seinen Bann zog, war nicht im Schaufenster zu erblicken. Nein, das Schönste stand genau in der Mitte des Geschäftes. Auf einem großen Weihnachtsbaum, ganz oben auf der Spitze saß eine zierliche Figur mit langem, golden gelocktem Haar. Sie war in ein weißes Hemdchen gehüllt und hatte ein 7 mit strahlend blauen Augen, die ihn direkt anzusehen schienen.

 

Der kleine Junge konnte seinen Blick einfach nicht von ihr losreißen. Noch nie hatte er so etwas Schönes gesehen. Während Noel immer noch vor dem Schaufenster stand und gebannt hineinblickte, betraten drei Personen das Geschäft. Es war eine Familie mit einer kleinen Tochter, die etwa in Noels Alter war - vielleicht auch ein bisschen jünger. Das kleine Mädchen war hübsch gekleidet und auch den Eltern sah man an, dass sie sehr wohlhabend waren. Der Vater lächelte seine Tochter liebevoll an, während sie ihn ohne unterlass am Ärmel seines Mantels in Richtung des großen Weihnachtsbaumes zog. Auch die Mutter hatte ein Schmunzeln im Gesicht, während sie die beiden still beobachtete. Endlich beim Baum angekommen, zeigte das Mädchen mit ihrer kleinen Hand genau auf die kleine Figur ganz oben auf der Tannenbaumspitze und hüpfte aufgeregt vor ihrem Vater auf und ab. Der Ladenbesitzer war inzwischen zu ihnen herangetreten und die beiden Männer unterhielten sich kurz. 

 

All dies beobachtete Noel von seinem Platz aus und so langsam wurde ihm klar, was es zu bedeuten hatte. Als dann der Ladenbesitzer die zierliche Figur mit einer kleinen Leiter vom Baum holte und sie dem Mädchen in die Arme legte, wurde Noel von einer unglaublichen Traurigkeit erfasst. Er verwünschte sich selbst dafür, dass er es wider besseren Wissens gewagt hatte, zu träumen. Er beobachtete, wie das kleine Mädchen ihren Vater stürmisch umarmte und ihrer Mutter stolz ihre Errungenschaft präsentierte - dabei strahlten ihre wunderschönen Augen, wie tausend Sterne und es war ihr überdeutlich anzusehen, dass sie sehr glücklich war. 

 

Eigentlich hatte Noel sich mit seinem Leben zufrieden gegeben. Schließlich hatte seine Mama ihm gesagt, dass es immer Menschen geben wird, denen es noch schlechter geht und man dankbar sein sollte, für das, was man hatte und bekam. Und eigentlich lebte Noel trotz seines schweren Loses danach. Aber hier und jetzt war er eifersüchtig - eifersüchtig auf das Glück dieser Familie. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als auch wieder zu einer Familie zu gehören und die Liebe und Wärme spüren zu können, die er selbst hier draußen bei der kleinen Familie dort in dem Laden wahrnehmen konnte. 

 

Als die Drei endlich den Laden wieder verließen, hatte es inzwischen angefangen zu schneien. Ihr stiller Beobachter hatte sich nach wie vor keinen Zentimeter von seinem Platz bewegt. Da es sich nicht nur um ein leichtes Rieseln handelte, sondern der Schnee in riesigen, dicken Flocken dicht vom Himmel fiel, glich Noel mittlerweile mehr einem Schneemann, als einem kleinen Jungen. Das Mädchen hielt ihren Schatz eng am Körper und mit ihren kleinen Armen geschützt, während ihre Eltern sie durch den Schnee Richtung großen Weihnachtsmarkt manövrierten. 

 

Ohne weiter darüber nachzudenken, ging Noel den Dreien hinterher. Er wusste selbst nicht, warum er das tat, aber seine Beine bewegten sich, wie von selbst. Noel hielt den ganzen Weg über immer einen sicheren Abstand zu ihnen. Aber selbst in dem Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt verlor er sie keinen einzigen Moment aus den Augen. Dadurch bemerkte er auch, dass längst jemand dieser Familie folgte. Und dieser jemand hatte sicherlich nicht vor, ihnen nur ein schönes Weihnachtsfest zu wünschen. Nein, es handelte sich ganz eindeutig um einen Taschendieb, der einen günstigen Moment abwarten wollte, um sein Handwerk auszuüben.

 

Und schon im nächsten Moment war es soweit. Die Mutter des kleinen Mädchens war über irgendetwas gestolpert und strauchelte. Da kam ihr der junge Mann kurzerhand zur Hilfe, den Noel als Taschendieb erkannt hatte. Aber der Vater schien den Braten gerochen zu haben und versuchte nun diesen Kerl von seiner Frau und seinem Kind fernzuhalten. Dabei kam es, wie sicher vom Taschendieb auch gewollt, zu einem Handgemenge. Als dann aber die Pfiffe der Polizei durch die Menschenmenge schallten, machte sich der Gauner aus dem Staub. Ob er etwas erbeuten konnte, hatte Noel nicht sehen können. Und nachdem die beiden herbeigeeilten Polizisten die Verfolgung des Diebes aufgenommen hatten, bahnte sich auch die Familie zügig ihren Weg durch die Menge. Natürlich folgte Noel ihnen auch dieses Mal wieder. Aber als er an der Stelle angelangt war, an der wenige Augenblicke zuvor der Zwischenfall stattgefunden hatte, stieß er mit seinem Fuß gegen einen Gegenstand. Noel wollte diesen schon ignorieren, denn er wollte die Familie schließlich nicht aus den Augen verlieren. Aber irgendetwas veranlasste ihn, dann doch seinen Blick zu senken. Als er erkannte, was da vor ihm im frisch gefallenen Schnee lag, konnte er es erst gar nicht fassen. Das kleine Mädchen hatte ihren Schatz verloren und nun lag dieser wunderschöne Weihnachtsengel vor Noel und wartete geduldig darauf, dass er ihn aufhob.

 

Langsam, wie in Zeitlupe, beugte Noel sich herab. Alles um ihn herum schien bedeutungslos geworden zu sein. Die Leute, die links und rechts an ihm vorbeieilten, bemerkte er gar nicht. Es gab in diesem Moment nur den kleinen Weihnachtsengel und ihn. Mitten in diesem Moment versunken, hörte er plötzlich eine leise Stimme in seinem Kopf. Diese mahnte ihn, dass das, was er in Händen hielt, nicht sein Eigentum war und er es zurückgeben musste. Die Stimme erinnerte ihn an jemanden und beim genaueren Hinhören erkannte er sie als die Stimme seiner Mama. Er wusste, sie war nicht mehr da. Aber manchmal, wenn er dabei war, einen großen Fehler zu begehen, hörte er ihre Stimme so deutlich, als würde sie direkt vor ihm stehen.

 

So in die Wirklichkeit zurückgerissen, blickte er sich nach dem kleinen Mädchen um, aber es war bereits mit seinen Eltern verschwunden. Er lief noch eine Zeit lang über den Weihnachtsmarkt, immer in der Hoffnung, sie doch noch zu entdecken. Aber seine Suche blieb erfolglos. Wieder blickte er den kleinen Engel in seinen Händen an und beschloss, ihn erst einmal mit zu sich in seinen Kohlenkeller zu nehmen. Da es schon sehr spät war und so dunkel, dass bereits die Gaslaternen entzündet wurden, machte er sich lieber auf den Rückweg.

 

Etwas zu Essen hatte er heute nicht bekommen, dafür war aber glücklicherweise der Schnee gefallen. Diesen konnte Noel in einem kleinen Becher, den er damals im Keller gefunden hatte, schmelzen und so gab es wenigstens frisches Wasser zum Trinken. Dies würde erst einmal genügen, um ihm seinen Bauch für die Nacht zu füllen.

 

Der Schnee um die alte Villa war unberührt. Nur hier und da waren Spuren von kleinen Tieren zu sehen und Noel hatte es in den letzten Wintern geradezu zu einer Meisterschaft gebracht, seine eigenen Spuren zu verwischen. So ahnte keiner, dass zumindest der Keller dieses Hauses noch bewohnt war. 

 

Nachdem Noel sich den Bauch mit geschmolzenem Schnee vollgeschlagen hatte, legte er sich auf sein aus Stroh und alten Lappen errichtetes Bett. Den kleinen Weihnachtsengel hatte er ganz dicht an sich gedrückt. Er wollte ihn so davor schützen, von seinen kleinen Mitbewohnern angefressen zu werden. Schließlich wartete ja irgendwo da draußen ein kleines Mädchen auf seine Rückkehr. Und vielleicht konnte er so auch ein klein wenig von dem Glück und der Wärme spüren, die er bei der Familie des kleinen Mädchens gesehen hatte. Nachdem Noel noch einmal wachsam durch den dunklen Raum gespäht und auf Geräusche gelauscht hatte, gab er sich schließlich seiner Müdigkeit hin und war nur Sekunden später eingeschlafen. 

 

Als der kleine Junge seine Augen das nächste Mal aufschlug, wunderte er sich, denn er befand sich nicht in seinem dunklen Kohlenkeller. Er war auf einer wunderschönen Wiese, die so groß war, dass er sie gar nicht mit einem einzigen Blick erfassen konnte. Rings um ihn herum standen Tausende und Abertausende von Blumen und die Vögel zwitscherten im Wind, der leise und sacht über das Land wehte. Überall flogen Schmetterlinge und Bienen umher und auf einer der Blumen entdeckte er eine ganz besonders dicke Hummel, die genüsslich den Nektar trank und deren Beine schon über und über mit gelben Blütenpollen bestäubt waren. Er konnte einfach nicht anders. Er musste sich hinhocken und der Hummel bei ihrem Festmahl zuschauen. Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte seinen durchgefrorenen Körper. 

 

Auf einmal legte sich eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken fuhr Noel herum. Als er aufblickte, erkannte er die Person, die nun vor ihm stand. Es war der kleine Engel. Sie lächelte ihn freundlich an und streichelte federleicht über seinen Kopf.

 

„Fürchte dich nicht … lieber, kleiner Noel, ich bin so froh, dass du mich aufgehoben und mit zu dir genommen hast. Du bist so ein guter, lieber Junge und ich möchte dir helfen, dass auch du wieder glücklich wirst. Vertraue mir bitte und lass mich nur machen …“, mit diesen Worten umarmte der Weihnachtsengel den kleinen Jungen. 

 

Und als Noel nun erneut die Augen öffnete, befand er sich wieder in seiner dunklen Behausung und hatte den Weihnachtsengel noch ganz fest an sich gedrückt. Im ersten Moment war er sehr traurig, dass er wieder hier und nicht mehr an diesem wundervollen Ort war. Aber dann freute er sich über den schönen Traum, den er gehabt hatte. Denn solche Träume waren ihm schon lange nicht mehr vergönnt gewesen – das letzte Mal, kurz bevor seine Mama gestorben war. Er drückte den Engel herzlich, küsste ihn auf das kleine Köpfchen und beschloss, sich gleich erneut auf die Suche nach dem kleinen Mädchen und ihren Eltern zu machen.

 

Den ganzen Tag lief er kreuz und quer durch die Stadt, ohne auch nur einen kleinen Moment auszuruhen. Aber auch heute war all seine Mühe, die lange Suche nicht erfolgreich. Müde und niedergeschlagen machte er sich, als die Dämmerung hereingebrochen war, wieder auf den Weg zu seinem Keller.

 

Als er schließlich am Grundstück angelangt war, auf dem die alte Villa stand, bemerkte er, dass das alte Haupttor einen Spaltbreit offen stand. Die Kette mit dem Vorhängeschloss war entfernt worden und die Radspuren, die sich in den Schnee gedrückt hatten, führten geradewegs auf das Haus zu. Normalerweise kletterte er immer an einer versteckten Stelle über den hohen Zaun, sodass es ihn nie gestört hatte, dass das Tor verschlossen war. Dies hielt immerhin irgendwelche neugierigen Leute vom Grundstück fern. 

 

Noel überlegte kurz, ob er nicht auch einfach den Weg durch das Tor nehmen sollte, und blickte dabei den kleinen Engel in seinen Händen fragend an. Aber dann beschloss er doch auf Nummer sicher zu gehen, und seinen herkömmlichen Weg zu nehmen. Behände kletterte er über den Zaun und landete ohne das geringste Geräusch auf der anderen Seite. Vielleicht hatte sich ja nur jemand das Haus ansehen wollen. Es dann aber für nicht bewohnbar gehalten und war dann hoffentlich wieder abgefahren. Sonst würde es für Noel sicher bald Schwierigkeiten geben. Denn die neuen Besitzer bräuchten mit Sicherheit seinen Keller wieder für ihre Kohlen und nicht für einen kleinen Straßenjungen.

 

Als Noel am Haus ankam, war alles dunkel. Kein einziges Licht brannte in den Fenstern und auch sonst sah alles ruhig und verlassen aus. Ohne lange zu überlegen, begann Noel sein allabendliches Ritual und beseitigte seine Spuren im Schnee, bevor er wieder in seinen Keller hinabstieg, um sich schlafen zu legen. Irgendwann würde er schon noch das kleine Mädchen wiederfinden und dann könnte er ihr ihren Engel zurückgeben. Er freute sich schon auf ihr freudestrahlendes Gesicht, wenn sie ihren Schatz endlich wieder in Händen hielt. Vielleicht würden ihm dann ihre Eltern auch zum Dank einen kleinen Kanten Brot schenken.

 

Diese Nacht traf er erneut den kleinen Weihnachtsengel in seinem Traum und auch dieses Mal versprach sie ihm, dass sie ihm helfen würde und er sich keine Sorgen machen bräuchte. Sie würde für ihn alles in ihrer Macht stehende tun. Und wieder mochte Noel sich nicht von dem wundervollen Ort, dieser schönen Wiese trennen. Er versuchte mit allen Mitteln, nicht aufzuwachen und es sah so aus, als hätte er dieses Mal Glück damit.

 

Der kleine Junge hatte sich lang im Gras ausgestreckt hingelegt und lauschte mit geschlossenen Augen dem Zwitschern der Vögel und dem beruhigenden Summen der vielen Bienen und Hummeln. Die Sonne streckte ihre wärmenden Strahlen nach ihm aus und streichelte ihn langsam in einen noch tieferen Schlaf.

 

Er wusste nicht, wie lange er jetzt schon so hier gelegen hatte, doch mit einem Mal war von irgendwoher ein Klopfen und Poltern zu hören. Noel konnte diese Geräusche nicht richtig einordnen, denn er befand sich ja nach wie vor in seiner Traumwelt. Aber diese Geräusche gehörten definitiv nicht dorthin. Nun versuchte er fast verzweifelt wieder aus seinem Schlaf zu erwachen, aber irgendwie wollte ihm dies nicht gelingen. Der Weihnachtsengel war schon einige Zeit nicht mehr in seinem Traum gewesen. Dies hatte ihn aber auch überhaupt nicht gestört, da er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, die Schönheit und Wärme seiner Traumumgebung zu genießen. Aber die fremden Geräusche wurden von Moment zu Moment lauter und drängender. Er musste es einfach schaffen. Er musste aufwachen.

 

Eine Ewigkeit später, als Noel seine Augen endlich öffnen konnte, hatten die Geräusche sich gelegt und es war nichts Ungewöhnliches mehr auszumachen. Trotzdem war er überaus vorsichtig, als er zur Tür des Kohlenkellers ging, um sie zu öffnen. Dies stellte sich als sehr schwieriges Unterfangen heraus. So viel Schnee konnte doch nicht in nur einer Nacht gefallen sein, aber er hatte doch auch nicht mehrere Tage hindurch hier unten geschlafen. Oder doch? 

Der Schnee lag schwer auf den beiden Falltüren. 

Als er es dann doch geschafft hatte, sie einen Spaltbreit zu öffnen, hörte er ein tiefes Knurren von außerhalb. Da es in der Stadt viele rumstreunende Hunde gab, wunderte Noel sich nicht weiter darüber und beschloss erst einmal abzuwarten, bis dieser Hund verschwunden war. Doch er verschwand nicht. Eher fing er an, wie wild mit seinen Pfoten an der Tür zu scharren und immer wieder vernahm Noel lautes Bellen und Knurren. Es handelte sich glücklicherweise um sehr dickes und stabiles Holz, aus dem die Kellertür gefertigt worden war. Auch wenn Noel wusste, dass dieser Hund eigentlich nicht zu ihm in den Keller gelangen konnte, so hatte er trotzdem Angst davor. Schließlich konnte er hier nicht ewig bleiben. Irgendwann musste er für sich auch etwas zu Essen und zu Trinken finden. Und nicht auszudenken, was mit ihm geschehen würde, wenn die Ratten und Mäuse ihn erst einmal als Leckerbissen für sich erkoren hätten.

 

Zitternd stand Noel vor der verschlossenen Tür, den kleinen Engel hielt er dicht an sich gepresst und lauschte nach dem Hund dort draußen. Das Scharren war immer lauter geworden und auch das Knurren schien dichter gekommen zu sein. 

 

Vom einen auf den anderen Moment war es plötzlich still und diese Stille war geradezu ohrenbetäubend. Noel lauschte angestrengt. Er konnte noch das Geräusch von Pfoten auf der Tür hören und dann … - ein Ruf erschallte. Es war eine tiefe Männerstimme. Der Mann schien mit dem Hund zu reden und ebenfalls dichter zu kommen. Wider Erwarten handelte es sich offensichtlich nicht um einen streunenden Hund, denn der Mann sprach mit ihm, wie es nur ein Hundebesitzer mit seinem eigenen Hund tun würde. Er fragte ihn, was er denn da entdeckt hätte und warum er so laut bellen würde. Seiner Meinung nach konnte sein Hund nur ein paar Ratten aufgeschreckt haben, die sich in dem alten Gemäuer versteckt hielten. Da begann der Hund wieder zu scharren. Ein erstaunter Ausruf des Mannes war zu hören, als er anscheinend die Tür zum darunter liegenden Keller entdeckte. Daraufhin gab er seinem Hund einen Befehl, dass dieser zur Seite treten sollte.

 

Noel wurde noch flauer im Magen und die Angst streckte ihre garstigen Finger nach seinem kleinen Körper aus. Er begann, in die hinterste Ecke des Kellers zurückzuweichen. Gerade dort angekommen wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Der Hund stürmte laut bellend an seinem Besitzer vorbei, die kleine Treppe hinab in den Keller und hielt direkt auf Noel zu. Sein Besitzer folgte ihm etwas langsamer mit einer Petroleumlampe in der Hand und auf einen stabilen Stock gestützt. Alles, was den Hund von Noel trennte, waren mehrere alte schwere Eichenfässer, die die ehemaligen Hauseigentümer hier zurückgelassen hatten. 

Der Hund scharrte nun wie wild auf dem Boden und an den Eichenfässern, aber glücklicherweise gelang es ihm immer noch nicht, zu Noel durchzudringen. Der kleine Junge war vor Angst ganz starr und hielt seine Augen fest geschlossen. Und immer noch hielt er den kleinen Engel schützend an sich gepresst. Er wollte es einfach nicht mit ansehen, wenn der Hund es doch schaffen würde, endlich das Hindernis zu überwinden.

 

Plötzlich war das Scharren und Knurren verschwunden. Stille breitete sich im Keller aus. Eine beruhigende Stimme sprach leise auf ihn ein. Doch Noel war so in seiner Angst gefangen, dass er dies alles gar nicht bemerkte. Erst als das dicke Eichenfass direkt vor ihm weggezogen wurde, blickte der kleine Junge erschrocken, wie ein scheues Reh, auf und damit direkt in das Gesicht eines älteren Mannes. Gegen all seine Befürchtungen blickte dieser aber nicht zornig. Er machte auch keine Anstalten, ihn rauszuwerfen oder noch schlimmer, seinem Hund zum Fraß vorzuwerfen. Nein. Der Mann blickte besorgt und seine Augen strahlten eine unglaubliche Wärme und Freundlichkeit aus. Noel entspannte sich ein wenig, blieb aber trotzdem in Habachtstellung – sicherheitshalber. 

 

Nachdem ein weiterer Moment verstrichen war, fragte ihn der Mann, was er denn hier mache und sagte, dass er keine Angst vor ihm zu haben bräuchte. Er hatte seinen Hund rausgeschickt, sodass er auch von ihm nichts zu befürchten hätte. Mit der einen Hand auf seinen Gehstock gestützt, streckte ihm nun dieser seine andere Hand langsam entgegen. Geradeso, als wenn er wüsste, dass eine falsche Bewegung den kleinen Jungen vor ihm verschrecken würde. Noel beobachtete jede noch so kleine Bewegung seines Gegenübers und wog für sich ab, ob er dem Mann trauen konnte oder doch lieber versuchen sollte wegzulaufen. Mit einem Blick auf den Weihnachtsengel in seinem Arm beschloss Noel aber, erst einmal die ihm dargebotene Hand zu ergreifen – fliehen konnte er dann ja immer noch.

 

Als dann beide aufrecht voreinander standen, stellte sich der ältere Mann als Eduard Snow vor und auch Noel sagte ihm seinen Namen. Eduard bat ihn, doch mit ihm nach oben und ins Haus zu kommen, denn da wäre es sicherlich gemütlicher und vor allem wärmer als hier unten im alten kalten Kohlenkeller. Dort könne Noel ihm auch erzählen, wie er hierher gekommen war.

 

Der kleine Junge musterte Eduard Snow eindringlich und fragte schließlich, ob er denn vorhätte, die Polizei zu rufen, um ihn ins Gefängnis stecken zu lassen. Daraufhin vernahm er ein ihm schon lange ungewohntes, aber sehr angenehmes Geräusch. Eduard lachte und musste sich dabei mit der freien Hand den Bauch halten. Noel verstand dieses Verhalten überhaupt nicht, auch wenn das Lachen des Mannes wirklich sehr angenehm klang und lange vergessene Erinnerungen in ihm weckte. Als Eduard den ungläubigen Gesichtsausdruck von Noel sah, sagte er schnell, aber immer noch mit einem Lachen, dass er gar keinen Grund hätte, die Polizei zu rufen. Warum auch? Noel sagte ihm, dass er ihn doch wegen Einbruchs verhaften lassen könne, da ihm ja anscheinend nun das Haus zu gehören schien. Daraufhin lachte Eduard nur noch mehr. Kopfschüttelnd reichte er Noel erneut seine Hand und versicherte ihm nochmals, dass er nicht beabsichtigte, die Polizei zu rufen.

Nach einem intensiven Blick in die Augen des Mannes, ob er wirklich die Wahrheit sprach, fasste Noel zu und ging mit ihm gemeinsam aus dem Keller. Draußen, in einigen Metern Entfernung, hatte es sich der Hund am Fuße einer großen Tanne im Schnee gemütlich gemacht und blickte nun neugierig in ihre Richtung. Ein kurzer Pfiff erscholl und der Hund setzte sich in Bewegung. Noel, immer noch an der Hand von Eduard Snow, wich zurück und versuchte sich irgendwie hinter ihm zu verstecken. 

 

Nur ein paar Fuß von seinem Besitzer entfernt, blieb der Hund stehen und auf einen kurzen Fingerzeig hin setzte er sich. Er wirkte nun überhaupt nicht mehr so erschreckend und einschüchtern, wie noch kurz zuvor. Es war ein schöner Hund. Wenn Noel richtig lag, war es ein englischer Jagdhund und dieser hier war von besonders vornehmer Statur. Aus seinem Versteck heraus beobachtete Noel den Hund und auch dieser schien sehr interessiert den kleinen Begleiter seines Herren zu beäugen. 

 

Nun wandte sich Eduard an den kleinen verängstigen Jungen hinter sich und zog ihn nach vorne. Der Hund blieb nach wie vor ruhig sitzen und beobachtete seinerseits die ganze Szenerie. Eduard stellte seinem Hund den kleinen Noel vor und sagte ihm, dass dieser ein Freund sei. Danach war Noel an der Reihe, den Hund vorgestellt zu bekommen. Er hieß Oskar und war schon unglaubliche 10 Jahre alt. Eduard bedeutete Oskar, aufzustehen und zu ihm ranzukommen. Noel hingegen forderte er nun auf, seine Hand auszustrecken, damit Oskar daran schnuppern und ihn sich als Freund merken konnte. Zögerlich kam Noel der Aufforderung Eduards nach und schon kurz darauf berührte eine feuchte kalte Nase seine Hand. Mit einem freundlichen Stupsen begrüßte Oskar seinen neuen Freund und ließ sich sogar kurz von ihm über den Kopf streicheln. 

Dann wurde es aber Zeit, dass sie endlich ins Warme gingen, denn der Wind war inzwischen aufgefrischt und wehte eisig über das Land.

 

Nachdem sie die große Eingangshalle betreten und die Kälte hinter sich ausgeschlossen hatten, stürmte Oskar an ihnen vorbei direkt in den angrenzenden Salon, um es sich vor dem Kamin mit seinem gemütlich prasselnden Feuer bequem zu machen. Ein Diener war herangeeilt und hatte dem Hausherrn seinen Mantel abgenommen und etwas sprachlos auf Noel geschaut. Denn was der kleine Junge am Leibe trug, konnte noch nicht einmal vor der geringsten Kälte schützen und erschütterte ihn zutiefst. Nach einem kurzen Blick auf seinen Herrn rief er nach der Haushälterin, Dotti. Diese machte sofort nach einem einzigen Blick auf Noel kehrt in die Küche und kam Sekunden später mit einer dicken Wolldecke zurückgeeilt, um sie dem kleinen Jungen um den ausgezehrten und unterkühlten Leib zu schlingen. Danach wurde Noel durch Eduard und Dotti in den Salon geführt und ebenfalls in der Nähe des Kamins platziert. Direkt vor dem Kamin war ja schließlich kein Platz mehr frei, denn Oskar machte hier eindeutig seine Besitzansprüche deutlich. Aber in dem gemütlichen Ohrensessel, in dem Noel nun saß, gefiel es ihm sowieso tausend Mal besser. 

 

Nachdem man ihm dann warme Milch und ein paar Kekse hingestellt hatte, die der kleine Junge sofort in seinen leeren Bauch hinunterstürzte, war draußen vor dem Fenster das Geräusch einer Pferdekutsche zu hören. Als diese sich dem Haupteingang näherte, bat der Eduard Noel, sich nicht stören zu lassen und sich erst einmal richtig aufzuwärmen. Er würde gleich wieder zu ihm kommen. Dann eilte Eduard hinaus zur Eingangstür, um den Neuankömmling zu begrüßen.

 

Noel kuschelte sich derweil mit der Decke im Sessel zusammen. Durch das beruhigende Prasseln des Feuers und das leise Atmen des Hundes übermannte ihn bereits nach wenigen Augenblicken die Müdigkeit. So bekam er schon gar nicht mehr mit, wie Eduard mit einer weiteren Person in den Salon zurückkehrte. Er war in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen, aus dem ihn wohl so schnell nichts wieder erwecken würde.

 

Die Frau, die zusammen mit Eduard eingetreten war, ging vorsichtig an den Sessel mit dem schlafenden Jungen heran, um ihn sich näher zu betrachten. Eduard hatte ihr bereits auf dem Weg von der Kutsche bis zum Salon berichtet, was sich in der Zeit ihrer Abwesenheit alles zugetragen hatte, trat nun ebenfalls näher und legte seiner Frau liebevoll einen Arm um die Schultern. Elise war bereits früh morgens ausgefahren, um noch einige Erledigungen für das bevorstehende Weihnachtsfest zu machen. Schließlich waren sie erst vor ein paar Tagen vom Lande zurück in ihr Stadthaus gekehrt und es war noch einiges zu tun, bevor zu Weihnachten ihre liebe Nichte mit Familie zu Besuch kam.

 

Elise und Eduard waren bereits seit über zwei Jahren nicht mehr in ihrem gemütlichen Haus gewesen. Nachdem Elise vor etwas mehr als drei Jahren schwer erkrankt war, hatten sie sich auf Anraten des Arztes in die Stille und Einsamkeit ihres kleinen Häuschens auf dem Lande zurückgezogen. Nach einem langen Kampf um ihre Gesundheit hatte sie es schließlich geschafft, wieder vollkommen zu genesen. Nun zog es Elise mit aller Macht zurück in das Haus ihrer Eltern. Es war schon seit mehreren Generationen in Familienbesitz und es hatte sie doch sehr geschmerzt, den Ort ihrer Kindheit für so lange Zeit verlassen zu müssen.

 

Eduard hatte in der Zeit auf dem Lande bereits vorsichtig mit dem Gedanken gespielt, das alte Stadthaus zu verkaufen und ganz aufs Land zu ziehen. Trotzdem auch ihn der Verlust des alten Hauses sehr geschmerzt hätte, so schien es ihm damals als vollkommen logisch. Denn leider hatten seine Frau und er doch nie das Glück gehabt, mit eigenen Kindern gesegnet zu werden, an die sie es hätten weitervererben können. Ihre Nichte war bereits reichlich durch ihren eigenen Vater, seinen Bruder bedacht worden, sodass sie und ihre Familie, wenn es einmal soweit sein sollte, versorgt wären. 

Aber seine liebe Frau, seine Elise wollte es einfach nicht. Sie konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden und jetzt, wo sie Gott sei Dank wieder gesund geworden war und sie in das Haus zurückkehren konnten, war Eduard ebenfalls froh darüber, dass er sich damals nicht durchgesetzt hatte.

 

Seine Frau betrachtete immer noch den kleinen schlafenden Noel vor sich im Lieblingssessel ihres Mannes. Niemals zuvor hatte jemand anderes als er und vielleicht noch Oskar darauf Platz nehmen dürfen und nun hatte Eduard ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, diesem kleinen Jungen überlassen. Und sie konnte es nicht bestreiten, auch sie hatte sich im ersten Augenblick in das Kind verliebt.

Sie beschlossen, ihn erst einmal hier schlafen zu lassen. Dotti sollte auf ihn achtgeben, während Elise und ihr Mann zwingend notwendige Vorbereitungen treffen wollten.

 

Als Noel erst spät am Abend wieder erwachte, saß die Frau, die ihm als Dotti vorgestellt worden war, neben ihm auf einem Stuhl und strickte. Als sie bemerkte, dass der Kleine erwacht war, lächelte sie ihn freundlich an und fragte, ob er gut geschlafen hätte. Noel beantwortete ihre Frage mit einem herzhaften Gähnen und nickte dann lächelnd. Er mochte Dotti, das musste er zugeben. In ihrer Gegenwart beschlich ihn nicht das Misstrauen, was er sonst so oft Fremden gegenüber verspürte. 

Oskar war inzwischen fort, aber das Feuer hatte nichts von seiner vorherigen Kraft verloren. Wahrscheinlich war zwischenzeitlich Holz nachgelegt worden. 

 

Dotti bat ihn nun, hier noch einen Augenblick zu warten. Sie würde kurz ihre Herrschaften holen gehen. Er solle sich keine Sorgen machen, es würde ihm hier nichts geschehen. Damit verließ sie den Salon und eilte davon.

 

Als sich das nächste Mal die Tür zum Salon öffnete, traten Eduard und eine Noel unbekannte ebenfalls ältere, aber sehr schöne Dame ein. Die Frau blickte genauso offen und freundlich, wie Eduard. Sie wurde Noel als Elise Snow, Eduards Ehefrau, vorgestellt. Auch bei ihr fühlte Noel sich gleich wohl und was schon sehr, sehr lange nicht mehr vorgekommen war – sicher. 

 

Noel setzte sich sogleich ordentlich im Sessel hin. Die Decke, die ihn nach wie vor umschlungen hielt, rutschte dadurch etwas herab und gab so den Blick auf den kleinen Weihnachtsengel frei. Noel hielt ihn immer noch fest in seinem Arm. Er hatte ihn noch nicht ein einziges Mal seit Eduard ihn aus dem Kohlenkeller geholt hatte, aus der Hand gelegt. 

 

Elises Blick fiel in dem Moment auf den kleinen Weihnachtsengel, als die Decke herunterrutschte. Sie wunderte sich ein wenig und bestaunte die feine Arbeit, mit der der Engel gefertigt worden war. Zuerst wagte sie gar nicht darüber nachzudenken, wie ein armer Junge, wie Noel, zu solch einem kostbaren Gegenstand gekommen war. Aber dann beschloss sie, bevor sie irgendwelche hoffentlich falschen Schlüsse zog, ihn einfach und direkt danach zu befragen. Ihr war schon ein wenig klamm bei der Sache, aber sie musste einfach wissen, ob vor ihr ein Dieb saß. Es würde ihr das Herz brechen, wenn es so wäre, aber dann würden sie Noel der Polizei übergeben müssen. Elise drückte kurz die Hand ihres Mannes und setzte sich auf ein Sofa, das ebenfalls in der Nähe des Kamins stand. Dann klopfte sie leicht mit ihrer Hand auf den Platz neben ihr und bat Noel, sich neben sie zu setzen. Als er sich vom Sessel erhoben und neben Elise auf dem Sofa platzgenommen hatte, nahm auch Eduard Platz. 

 

Elise berührte Noel vorsichtig an der Schulter und bat ihn, ihr von sich zu erzählen. Sie sagte, ihr Mann hätte ihr schon einiges berichtet, aber ihr Blick wäre auf den wunderschönen Weihnachtsengel gefallen, den er so fest in seinem Arm hielt. Sie hätte sich gefragt, wo er diese schöne Puppe gefunden hätte. 

 

Elise sprach so behutsam und freundlich mit Noel, dass er nichts von ihren Befürchtungen spürte und ihr die ganze Geschichte erzählte – wie er den Engel im Schaufester des Spielzeugladens entdeckt hatte. Dass er noch nie zuvor so etwas Schönes gesehen hätte und dass er sehr traurig gewesen war, als dieser dann vom Vater des kleinen Mädchens gekauft und von ihr aus dem Laden getragen wurde. Noel berichtete auch – sichtlich peinlich berührt – dass er kurzzeitig Eifersucht auf das Glück und die Liebe dieser Familie verspürt hatte und wie er ihnen dann, wie von selbst bis zum großen Weihnachtsmarkt gefolgt war. Er erzählte, wie er dort gemerkt hatte, wie sich einer der vielen Straßendiebe an die Fersen der kleinen Familie geheftet hatte, um einen günstigen Augenblick für einen möglichen Diebstahl abzuwarten und wie dies auch im nächsten Moment geschah.

 

Während Noel seine Geschichte erzählte, war es mucksmäuschenstill im Salon. Eduard und Elise lauschten aufmerksam seinen Worten, bis er damit endete, wie Oskar und schließlich Eduard ihn im alten Kohlenkeller entdeckt hatten. 

 

Elise fiel ein Stein vom Herzen, als sie Noels Geschichte hörte. Noel erzählte mit solch einer Aufrichtigkeit in seiner Stimme und auch in seinen Augen, dass sie ihm ohne weitere Zweifel Glauben schenkte. Sie und ihr Mann versprachen, ihm dabei zu helfen, das kleine Mädchen zu finden, damit sie ihren Weihnachtsengel wiederbekam. Und sie ließen mit jedem Wort, das sie an Noel richteten ihre Bewunderung für seine Aufrichtigkeit mitschwingen.

 

Nun war das Geheimnis gelüftet – Noel war kein Dieb und irgendwo da draußen in den Straßen Londons gab es ein kleines Mädchen, zu dem der kleine Weihnachtsengel gehörte. Leider würde sie ihren Engel nicht mehr vor dem Weihnachtsfest zurückbekommen können, denn am nächsten Tag war bereits Heiligabend und die Chance sie und ihre Familie nun noch zu finden, war mehr als gering.

 

Nachdem Elise und Eduard dies dem kleinen Noel erklärt hatten, ihm aber gleichzeitig versprachen, gleich nach den Feiertagen mit der Suche anzufangen, war Noel damit zufrieden. Aber wo sollte er so lange nur hin? Noel war sich nicht sicher, wie es nun weitergehen sollte. Durfte er vielleicht noch ein Weilchen im Kohlenkeller wohnen oder würde er nun gleich von den beiden verständlicherweise vor die Tür gesetzt werden? Aber würden sie ihm dann helfen wollen und vor allem können? Und er glaubte ihnen, was sie ihm versprochen hatten. Unschlüssig schaute er zwischen den beiden hin und her. Im nächsten Moment beschloss er, dass es für ihn wohl besser wäre, er würde sich von sich aus auf den Weg machen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Es war zwar dunkel draußen und nicht gerade eine ungefährliche Zeit, aber er würde es schon irgendwie schaffen. Also erhob Noel sich vom Sofa, dankte beiden für ihre Gastfreundschaft und Hilfe, um dann aus dem Salon in Richtung Haustür zu eilen. Er wollte einfach nicht hören, wie sie ihn rausschmeißen würden. Noel mochte die beiden einfach zu sehr – es würde ihn nur schmerzen, wenn sie das täten. 

 

Zuerst begriffen Elise und Eduard gar nicht, was gerade geschehen war. Zu absurd erschien ihnen das eben Erlebte. Aber als sie ihren Hausdiener in der Eingangshalle hörten, wie er nach Noel rief, eilten auch sie hinaus und konnten den kleinen Jungen gerade noch davon abhalten, durch die Tür und damit aus ihrem Leben zu verschwinden. Sie hätten doch gar nicht gewusst, wie sie ihn hätten wiederfinden können.

 

Verdutzt blieb Noel stehen. Nur durch die gerufenen Worte war er aufgehalten worden. Keiner hatte Hand an ihn legen müssen und das überraschte ihn umso mehr. Als er sich umblickte, sah er schon Elise und Eduard auf ihn zueilen und auch Noel ging wieder ein wenig auf sie zu – neugierig zu erfahren, was sie denn wollten. Als er von der Tür wieder ins Hausinnere getreten war, schloss der Hausdiener diese wieder und blickte genauso erleichtert drein, wie seine Herrschaften. 

 

Elise fragte Noel, wo er denn hin wollte. Sie hätten ihn doch nicht fortgeschickt und würden dies auch nicht tun, wenn er es nicht wolle. Sie hatte sogar ein paar Tränen in den Augen, was Noel bis in sein kleines Herz berührte. Hatte er ihr wehgetan – sie verletzt? Das wollte er doch gar nicht. Aber warum sollte sie denn sonst weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es deshalb war, weil er fortgehen wollte. War es denn nicht besser so – für ihn und auch für sie?

 

Im nächsten Moment kniete Elise sich direkt vor ihm hin und schaute tief in seine Augen. Nun war auch das Lächeln wieder da, was er so an ihr liebte, auch wenn er sie erst einige Augenblicke lang kannte. Es ließ ihn sofort eine Wärme spüren, die er zuletzt bei seiner Mama gespürt hatte und seit sie fort war, nie wieder.

 

Ohne Vorwarnung nahm Elise den kleinen Jungen vor sich in ihre Arme. Sie konnte ihn einfach nicht gehen lassen. Wie würde es ihm da draußen sonst ergehen? Es grenzte schon ein Wunder, dass er bis jetzt überlebt hatte, wenn auch mehr schlecht als recht. Aus der Umarmung heraus blickte Elise zu ihrem Mann empor, der nun ebenfalls herangetreten war und Noel seine Hand auf den Kopf gelegt hatte.

 

Sie waren sich einig.

 

Elise drückte Noel nochmals an sich und gab ihn dann wieder frei. Er hatte sich die ganze Zeit über nicht gegen die Umarmung gewehrt. Vielmehr wirkte es so, als genösse auch er diesen Moment, diese Wärme. Und sie wusste, genau das war es, was ein kleines Kind, wie er brauchte. 

 

Als sie sich nun wieder in die Augen blickten, erzählte Elise ihm, dass Eduard und ihr nie eigene Kinder vergönnt gewesen wären, sie sich aber immer eines gewünscht hätte, das sie umsorgen und lieben konnten. Zwar seien Sie inzwischen schon etwas älter, aber wenn er wolle, könnte er doch vielleicht bei ihnen bleiben. Sie würden ihn als ihren Sohn aufnehmen und alles Notwendige mit den Behörden klären, sodass es ihm nie wieder an etwas fehlen sollte.

 

Noel glaubte nicht, was er da hörte. Er traute seinen Ohren nicht. War das jetzt wieder nur ein Traum? Aber im nächsten Moment wusste er, dass es wahr war, denn Oskar hatte sich herangeschlichen und ihm spielerisch in die Hand gezwickt, um seinen neuen Freund zum Spielen aufzufordern. Voller Erwartung wurde er von Eduard und Elise angeschaut, bis Eduard ihn schließlich fragte, ob er mit dem Vorschlag einverstanden wäre. Noel war so glücklich, dass er kein einziges Wort heraus bekam und nur ein Nicken zustande brachte. Genau in diesem Moment wurde er von Elise wieder in ihre Arme gerissen und aufs Herzlichste gedrückt. Sie wollte ihn nie wieder los lassen und die Freudentränen rannen über ihre Wangen. Der Hausdiener, der alles mit angesehen hatte, beglückwünschte seine Herrschaften und Noel und freute sich mit ihnen. Durch den Tumult angelockt, kamen auch Dotti und die anderen Hausangestellten herbeigeeilt und erfuhren so von der glücklichen Kunde.

 

Noel bekam eines der schönsten Zimmer im Haus. Früher war es einmal das Zimmer von Elise gewesen und nun sollte es seines sein. Als er sich dann nach dem Abendessen völlig überwältigt von all den wundervollen Neuigkeiten und der überraschenden Wendung in seinem Leben ins Bett legte, konnte er all das noch immer nicht begreifen. Den kleinen Weihnachtsengel hatte er nach wie vor bei sich, auch jetzt, wo er eingekuschelt in seinem großen warmen Bett lag. Er fragte sich, ob die Begegnungen mit dem kleinen Engel vielleicht doch keine Träume gewesen waren und ob er vielleicht für die glückliche Wendung verantwortlich war. 

Kurz bevor er einschlief, kamen noch einmal Elise und Eduard in sein Zimmer, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Elise küsste ihn sogar zärtlich auf die Stirn und Eduard strich ihm liebevoll über seinen Kopf. Glücklicher konnte ein kleiner Junge in diesem Moment wirklich nicht sein.

 

Als Noel nun am nächsten Morgen erwachte, lag er nicht, wie gewöhnlich in seinem Kohlenkeller und war durchgefroren. Also hatte er das alles gestern doch nicht nur geträumt. Er lag immer noch in diesem wundervollen Bett. 

Im nächsten Moment klopfte es leise an die Tür und wenig später wurde diese auch geöffnet. Dotti stand dort und wünschte ihm lächelnd einen guten Morgen. Sie sagte ihm, dass das Frühstück unten auf ihn warten würde, und legte ihm ein paar neue Kleider ans Bettende. Dann ging sie wieder hinaus und ließ Noel sich in Ruhe anziehen. Woher sie diese Kleider plötzlich hatte und auch noch genau in seiner Größe wusste Noel nicht, aber er freute sich sehr darüber. Einzig seine geliebte Schiebermütze platzierte er wieder auf seinem Kopf, auch wenn er wusste, dass er sie bei Tisch abnehmen musste. Schließlich hatte seine Mama ihn gut und anständig erzogen. 

 

Gerade als Noel die große Treppe in die Eingangshalle hinabging, kamen Eduard und der Hausdiener, Vincent, mit einem riesigen Tannenbaum zur Tür hinein. Noel erkannte die große Tanne, unter der noch einen Tag zuvor Oskar im Schnee gelegen hatte. Kaum hatte er an ihn gedacht, stürmte dieser auch schon auf Noel zu, um ihn überschwänglich zu begrüßen. Auch Eduard und Vincent hatten ihn bemerkt und grüßten ihn freudestrahlend. Sie deuteten auf den riesigen Baum und erzählten ihm, dass dieser ihr Weihnachtsbaum sein würde. Vielleicht wollte Noel ja später beim Schmücken helfen, nachdem er gefrühstückt hatte? Noel nickte freudestrahlend und wurde sogleich von Eduard in die Küche begleitet, damit er auch ja etwas aß und dies nicht noch über die Freude hinweg vergaß. Noel fragte, wo denn Elise wäre, er wollte sie ebenfalls begrüßen, doch Eduard berichtete ihm, dass sie noch einmal fort musste. Sie würde aber schon in Kürze zurückkehren und wollte dann, zusammen mit Noel den Baum schmücken.

 

Eine Stunde später war es dann soweit. Elise kehrte mit der Kutsche zurück und Vincent eilte hinaus, um die vielen Schachteln auszuladen, die sie mitgebracht hatte. Aus der Küche duftete es bereits nach dem leckersten Essen, welches Noel je gerochen hatte und alle waren bereits seit Stunden damit beschäftigt, das riesige Haus weihnachtlich zu schmücken. 

 

Elise und Noel machten sich sogleich am großen Weihnachtsbaum zu schaffen. Wenn man die beiden beobachtete, hätte man nie gedacht, dass sie sich erst einen Tag zuvor kennengelernt hatten. Sie wirkten beide so glücklich und vertraut miteinander, dass einem das Herz bei ihrem Anblick aufgehen musste. Noel wusste inzwischen auch, dass am ersten Weihnachtstag der Besuch von Eduards und Elises Nichte sowie ihrer Familie erwartet wurde und daher ein großes Festessen ausgerichtet wurde. Die Nichte würde eine kleine Tochter mitbringen, mit der Noel ja vielleicht spielen konnte, denn sie war ein wirklich liebes und bezauberndes Mädchen. Sie würden sich bestimmt gut verstehen.

 

Als der Abend hereingebrochen war, fielen alle Bewohner des Hauses erschöpft, aber glücklich in ihre Betten. Wirklich jeder hatte mit angepackt und geholfen, wo es nur möglich war. Sie alle waren beschwingten Mutes und voller Freude, vor allem jetzt, wo endlich Kinderlachen durch das alte Gemäuer schallte.

 

Am ersten Weihnachtstag traf bereits zu früher Stunde eine Kutsche vor der Villa ein. Es war der erwartete Besuch. Noel hatte den Kutscher rufen gehört. Er kleidete sich schnell an und lief die große Treppe nach unten, denn er wusste, dass Eduard und Elise sich freuen würden, wenn auch er ihre Familie begrüßte.

In der Eingangshalle angekommen, sah er bereits an der Tür ein großes Gedränge. Es wurde sich umarmt und geküsst und Wünsche für ein fröhliches Weihnachtsfest ausgetauscht. Die Besucher waren noch in ihre dicken Mäntel gehüllt, sodass Noel ihre Gesichter noch nicht sehen konnte. 

 

Da, genau zwischen den Erwachsenen war auch eine einzelne kleine Gestalt auszumachen. Dies musste die kleine Tochter sein, von der ihm erzählt worden war.

 

Durch den ganzen Trubel doch etwas eingeschüchtert, stand Noel immer noch am Fuße der Treppe und schaute sich das Ganze aus der Ferne mit an. Irgendwer musste ihn aber bemerkt haben, denn plötzlich drehten sich Elise und Eduard zu ihm um und winkten ihn zu sich heran. Er hörte, wie sie von ihm sprachen und ihn der Familie vorstellten, noch bevor er wirklich bei ihnen angelangt war. 

 

Endlich stand er vor ihnen. Eduard hatte ihm seine Hand auf die Schulter gelegt und blickte nun liebevoll, aber auch voller Stolz in die Runde. Als Noel sich dann traute aufzublicken, wurde er ganz hippelig. Noch ein zweiter Blick und er stürmte davon, wieder die Treppe empor und in sein Zimmer.

 

Alle schauten ihm verwirrt hinterher. Keiner wusste so recht, was gerade geschehen war und just in dem Moment, in dem Elise Noel nach oben folgen wollte, kam dieser auch schon wieder in Windeseile die Treppe heruntergestürmt. Die erstaunten Ausrufe seiner neuen Familie beachtete er gar nicht, auch nicht die Fragen, die ihm gestellt wurden. Nichts davon war in diesem Moment wichtiger, als das was er nun vorhatte.

 

Noel eilte direkt auf das kleine Mädchen zu, dass sich etwas erschrocken hinter seinen Eltern versteckte. Kurz vor ihnen blieb er stehen. Nachdem sie sich immer noch nicht vorgetraut hatte, ging er geradewegs um ihre Eltern herum und trat an die Kleine heran. Die Erwachsenen schauten sich allesamt fragend an, denn sie wussten immer noch nicht, was Noel vorhatte. Als dann das kleine Mädchen hinter ihnen plötzlich aufschrie, erschraken alle und drehten sich blitzschnell zu den beiden Kindern um. Was sie dort sahen, verschlug allen die Sprache. Die Kleine hatte ihre Arme fest um Noels Hals geschlungen und drückte ihn ohne Unterlass. Es sah beinahe so aus, als ob sie ihn nicht wieder loslassen wollte. Als sie dann aber bemerkte, dass alle sich zu ihnen umgedreht hatten und sie neugierig musterten, ließ sie doch von ihm ab. Über das ganze Gesicht strahlend und überglücklich hielt sie ihren kleinen Weihnachtsengel in den Händen, den sie in dem Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt verloren hatte, und hielt ihn nun ihren Eltern entgegen.

 

Noel hatte in ihr das kleine Mädchen aus dem Spielzeugladen wiedererkannt und war nun auch überglücklich, dass seine Suche nun doch so schnell und ein so schönes Ende gefunden hatte.

 

Es wurde ein sehr schönes Weihnachtsfest. Nach dem Festtagsessen wurden die Kinder zum großen Baum geschickt, um nachzuschauen, ob der Weihnachtsmann denn auch etwas für sie dagelassen hatte. Und tatsächlich, unter dem Baum häuften sich die Geschenke. Zuerst dachte Noel, dass all die schönen Päckchen nur für die kleine Marie wären. Aber als ihm Elise dann sagte, dass die Hälfte der vielen Geschenke wirklich für ihn seien, wusste Noel vor Glück nicht, was er sagen sollte.

 

Gleich nach den Feiertagen wurde der Familienanwalt damit beauftragt, die Adoption von Noel mit den Behörden zu klären und schon wenige Monate später waren Noel, Elise und Eduard dann auch ganz offiziell eine Familie.

 

Da Marie und ihre Eltern ja ebenfalls in London lebten, sahen sich die beiden Kinder fast täglich. Wenn sie sich mal nicht sehen konnten, vermissten sie sich schrecklich und das blieb auch in den folgenden Jahren so. 

 

 

***

 

Eines Abends, es war gerade wieder der erste Weihnachtstag, saß im Salon der alten Villa im Ohrensessel von Eduard Snow ein alter Mann. Vor ihm auf dem Boden und im Raum verteilt hatten sich seine Enkelkinder niedergelassen und lauschten gespannt seiner Geschichte. Er erzählte von einem kleinen Weihnachtsengel und wie dieser es geschafft hatte, einen kleinen Straßenjungen zum glücklichsten Kind der Welt zu machen. 

 

Im nächsten Moment hörten sie ein Rufen aus dem großen Wohnzimmer. Alle Kinder sollten kommen und sehen, was der Weihnachtsmann für sie gebracht hatte. Ihre Eltern standen bereits um den riesigen Baum in der Mitte des Raumes herum und oben auf der Spitze saß ein wunderschöner kleiner Weihnachtsengel mit langem, golden gelocktem Haar und Augen, die mit den Sternen um die Wette strahlten. Durch das ganze Haus konnte man das Lachen der vielen Kinder hören und es erfüllte die Herzen mit der tiefsten und reinsten Freude.

 

Schließlich kam auch der alte Mann in das Zimmer getreten und inmitten der fröhlichen Stimmen und Freudenrufe nahm Noel seine geliebte Frau, Marie, in die Arme und küsste sie zärtlich auf die Nase. Gemeinsam blickten Sie auf ihr langes und wirklich wundervolles Leben zurück.

 

Es hatte sich schließlich alles zum Guten gewendet und der Weihnachtsengel wachte auch weiterhin über sie und ihre Lieben.

 

 

- Ende -

 

Impressum

Texte: Jessica Pichl
Bildmaterialien: Das Bild entstammt einer kostenlosen Clipartsammlung.
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

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