Die Sonne war gerade erst untergegangen. Der wolkenlose Himmel zeigte die ersten Sterne und die große Göttin tauchte alles in ihr geheimnisvolles Licht.
Mael stand etwas abseits, außerhalb des großen Steinkreises. Sie hatte gerade ihren 15. Winter gesehen und war eigentlich noch ein wenig zu jung für das, was nun folgen würde. Aber ihre Mutter hatte Dalgar überredet bekommen, ihre Ausbildung schon frühzeitig abzuschließen. Nun war es endlich so weit. Mael würde zu ihnen gehören. Sie würde nun endlich diesen geheimnisvollen, heiligen Ort betreten dürfen, der sie schon so lange in ihren Bann zog.
Die große Göttin war inzwischen am Himmel weitergewandert - nun würde es gleich soweit sein. Und, um so näher der große Moment kam, desto ruhiger wurde sie.
Aus der Ferne drangen die uralten, wunderschönen sphärischen Gesänge an ihr Ohr und erfüllten ihre Seele mit einer unglaublichen Wärme und Geborgenheit. Aus der Mitte der aufragenden Steine flackerte das Licht eines großen Feuers. Sie wusste inzwischen, dass dies von großer Bedeutung für die Einweihung neuer ban-draoigh* war. Die Druidinnen, die weisen Frauen, waren in ihrem Volk hoch angesehen und nun sollte auch sie eine werden.
Die Gesänge schwollen immer mehr an, bis sich schließlich abrupt absolute Stille ausbreitete. Es war soweit. Zwischen zwei der großen Steine trat ein kleiner gebeugter Mann hervor. Er war in einen weiten, weißen Umhang gehüllt und stützte sich mit der rechten Hand auf einen hoch aufragenden, knorpeligen Stab. Mael erkannte ihn schon von Weitem. Es war der weise Dalgar, der oberste Druide ihres Clans. Mit einer kleinen Geste bedeutete er ihr, ihm in den Kreis zu folgen und trat bei ihrem Erscheinen ein Stück beiseite. Trotzdem Mael während ihrer Ausbildung immer wieder auf diesen Moment vorbereitet worden war, hatte sie nun Angst, was sie dort erwartete.
Sie betrat den Kreis und ging direkt auf das Feuer in der Mitte zu, wie es das Ritual verlangte. Ringsherum standen acht weitere verhüllte Gestalten, ihre Gesichter waren dem Feuer abgewandt. Dalgar, der sie in den Kreis gerufen hatte, trat nun auch wieder auf seinen vorbestimmten Platz, sodass der Kreis aus den neun weisen Männern sowie Frauen wieder geschlossen war.
Nach einer schier unendlichen Pause, in der man nur das Knistern des Feuers vernahm, begann Dalgar zu sprechen. Er hatte seinen Stab gen Himmel gerichtet und sprach in der alten Sprache der Druiden die magischen Formeln, die die Geister besänftigen und die große Göttin ihnen wohlgesonnen stimmen sollten. Danach richtete er ihn direkt auf Mael. Ihre Knie wurden ihr etwas weich, aber sie musste sich zusammenreißen.
"Wirst du dein gesamtes Dasein dazu verwenden, der großen Göttin und ihren Kindern zu dienen? Wirst du ihre Lehren befolgen und stets in ihrem Sinne handeln? Wirst du deine Kraft dazu gebrauchen, unserem Volk, deinem Clan zu dienen, ohne irgendwelche Vorbehalte?" sprach Dalgar in einem weit vernehmbaren Singsang, während die anderen Anwesenden nach wie vor schwiegen und ihr ihre Rücken zuwandten.
Mit fester, klarer Stimme antwortete Mael ihm mit "Ja! Das werde ich! Ich stelle mich unter die Gnade unser aller Mutter, der großen Göttin. Und ich füge mich und meine Kraft in den Kreis meiner Ahnen, um unserem Clan zu dienen, ohne jemandem zu schaden. So sei es!"
"So sei es!" echote Dalgar.
"So sei es!" echote jeder Einzelne der anderen.
Dann wirbelte Dalgar geradezu mühelos durch den Kreis der Versammelten. Die Flammen des Feuers loderten immer höher und höher, bis sie schließlich sogar die umstehenden Steine überragten.
"So gehe nun durch diese Flammen. Wenn die große Göttin dich als ihre Dienerin akzeptiert, wirst du unbeschadet aus ihnen hervortreten können!" sprach Dalgar nun wieder direkt an Mael gewandt.
Mael schluckte mehrmals schwer. Sie hatte ihre Ausbildung gut absolviert. Dalgar war doch stolz auf sie und ihre Fähigkeiten gewesen. Ihr Herz und ihre Seele waren rein und hatten sich vollkommen ihrer neuen Aufgabe, die sie nun antreten wollte, verschrieben. Warum also, hatte sie dennoch solche Angst? Aber es half alles nichts. Sie musste nun dort durch.
Langsam und bedächtig schritt sie also näher. Immer weiter auf die Flammen zu. Gerade als sie den ersten Fuß ins Feuer setzen wollte, loderte dies noch einmal stark auf, um dann mit einem lauten Zischen plötzlich zu erlöschen. Es war unglaublich. Gehörte das auch zum Plan und sie hatte es nur vergessen? Nein ... wenn sie in die anderen Gesichter blickte, waren diese genauso ratlos wie sie selbst. Selbst Dalgar brauchte ein paar Herzschläge, um seine Gesichtszüge wieder in Einklang zu bringen.
Trotzdem er versuchte, das Feuer erneut zu entzünden, funktionierte es nicht. Schließlich sagte er zu allen Anwesenden: "Die große Göttin hat entschieden. Sie will das Leben von Mael, Tochter des Trioch und der Tamia nicht. Sie wird nicht in unseren Kreis aufgenommen. Wie ich damals schon sagte, sie ist noch viel zu jung! Der Kreis wird nun gebrochen. Frohes Scheiden euch allen!"
Auf Dalgars Worte hin verließen alle den Steinkreis. Nur Mael stand noch genauso dort, wie zuvor und wusste immer noch nicht so recht, was geschehen war. Hatte Dalgar recht? Wollte die große Göttin sie wirklich nicht? Aber warum hatte sie ihr das dann nicht schon zuvor gezeigt? Warum hatte sie sie dann erst diesen Weg gehen lassen. In Maels Augen sammelten sich Tränen, die sich wenig später ihren Weg über ihr Gesicht bahnten.
Sie kauerte inzwischen zusammengesunken vor den Überresten des Feuers und weinte nun bitterlich. Dalgar hatte sie, bevor er mit den anderen den Steinkreis verlassen hatte, noch nicht einmal mehr eines Blickes gewürdigt. Es schien ihr geradeso, als ob er sogar froh über diese Entwicklung gewesen wäre.
Ihre Mutter hatte ihr vor Kurzem anvertraut, dass Dalgar Angst hätte, seine Machtstellung im Clan einzubüßen, denn er war schon sehr alt. Normalerweise wurde diese Stellung bereits an einen Nachfolger übertragen, wenn man seinen 35. Winter gesehen hatte. Aber nicht so Dalgar. Er hatte inzwischen seinen 41. Winter erlebt und machte auch keinerlei Anstalten, dies sobald zu ändern. Er war von seiner Macht geradezu besessen. Wer weiß, wie lange dies noch so gehen würde? Und wenn Mael aufgenommen worden wäre, wäre das göttliche Gleichgewicht gestört gewesen. Dann hätte er einen Nachfolger benennen und sich selbst zurückziehen müssen, damit die göttliche Neun wieder Bestand hatte.
In ihre Trauer über das eben Geschehene und ihre Gedanken versunken, bemerkte Mael zuerst gar nicht, dass ihr jemand eine Hand auf den Rücken zwischen die Schulterblätter gelegt hatte. Diese Geste war so beruhigend und vermittelte eine unglaubliche Geborgenheit. So etwas kannte Mael nicht. Noch nicht einmal bei ihren Eltern hatte sie so etwas gefühlt.
Langsam wandte sie den Blick um, damit sie sehen konnte, wer dort hinter ihr stand.
Kurz weiteten sich ihre Augen vor Überraschung und im nächsten Moment weinte sie nur umso bitterer.
„Sei nicht so traurig, meine Tochter. Trockne deine Tränen, es ist es nicht wert sie zu vergießen.“ sprach ihr eine leise und doch so unglaublich ausdrucksstarke Stimme beruhigend zu. Die Frau, die hinter ihr stand, war atemberaubend schön. Sie war nicht mehr wirklich jung. Sie hatte sicherlich schon einiges Wasser den Fluss des Lebens hinunterfließen sehen. Doch ihre Schönheit war ungebrochen und nicht nur an ihrem Äußeren festzumachen – nein, sie strahlte geradezu von innen heraus. Trotz des kalten Abends war sie nur in ein leichtes, fast durchscheinendes und hell leuchtendes Gewand gekleidet. Ihre langen, silbrig-blonden Haare flossen in Wellen ihren Rücken hinab. Und das Gesicht, welches die ganze Zeit schon fürsorglich und liebevoll auf Mael herabblickte, war von solch einer klaren Eleganz und Wärme, dass es einem den Atem verschlagen konnte.
Mael konnte zuerst nicht glauben, wer dort vor ihr stand. War sie nicht eben noch von ihr als ihre Tochter verschmäht worden? Und nun stand dort in ihrer vollen Pracht die große Göttin selbst und versuchte sie zu trösten! Was war hier nur los?
„Was habe ich falsch gemacht? Warum hast du mich nicht gewollt? Ich habe doch stets alles getan, um dir zu gefallen, große Mutter.“ die Worte brachen geradezu aus Mael heraus. Normalerweise hätte sie sich respektvoller der großen Göttin gegenüber gezeigt, denn sie liebte sie, wie ihre eigene, menschliche Familie.
„Du hast nichts verkehrt gemacht, meine Tochter. Und ich habe dich auch nicht abgelehnt. Dass ich nun hier vor dir stehe, sollte der Zeichen doch genug sein. Aber ich musste es so aussehen lassen – für Dalgar. Er und alle anderen sollten annehmen, dass du nicht in den heiligen Kreis aufgenommen wurdest. Mein Kind, ich habe doch noch so Großes mit dir vor. Aber dazu bedarf es noch etwas Zeit. Du hast deine volle Macht von mir erhalten, aber sei vorsichtig und nutze sie auf jeden Fall unauffällig. Dalgar darf davon nichts erfahren. Er hat sich schon vor Längerem von mir abgewandt. Er verfolgt nicht mehr die Interessen des Clans, sondern nur noch seine eigenen. Er ist von der Macht, die ihm innewohnt, berauscht und kommt nicht mehr davon los. Um das zu ändern und euren Clan wieder auf den rechten Weg und von dem drohenden Unheil fortzuführen – dafür brauche ich dich, kleine Mael. Sei gewiss, deine Zeit wird kommen, und wenn es soweit ist, wirst du es tief in dir spüren. Dann musst du handeln, und zwar schnell. Nun aber halte dich bedeckt und vor allem halte dich von Dalgar fern. Gebe ihm keinen Anlass, an dir zu zweifeln, denn dann kann auch ich dir nicht mehr helfen und dein Clan wird untergehen.“
So leise, wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. Nur vom Himmel aus schaute sie auf Mael herab und ließ ihr silbriges Licht sacht über die Welt strahlen. Die große Mutter hatte sie nicht abgelehnt. Sie liebte sie also doch und sie hatte sie als ihre Tochter anerkannt und aufgenommen. So sollte es also sein. Jetzt da Mael wusste, wie es nun weiterzugehen hatte, wischte sie ihre Tränen fort und ging entschlossenen Schrittes zurück in ihr Dorf.
Zu Hause war sie von ihrer schluchzenden Mutter in die Arme genommen worden. Sie hatte es bereits gehört – Dalgar war wirklich schnell gewesen. Die Nachricht hatte sich im Nu durch das Dorf und die umliegende Gegend verbreitet. In den Wochen und Monaten, die nun folgten, wurde Mael hin und wieder noch mit mitleidigen Blicken bedacht. Ansonsten kümmerte es mittlerweile keinen mehr wirklich. Das Urteil war ja gesprochen worden. Was half es da, lange drüber nachzudenken und zu trauern. Das Leben im Clan ging weiter und Mael war tagtäglich darauf bedacht, bei Dalgar nicht in Missfallen zu geraten oder überhaupt aufzufallen. Sie erledigte ihre Arbeiten, half, wo sie nur konnte, den anderen Clanmitgliedern und so vergingen die Tage.
Eines Abends kam ihr Vater von der Feldarbeit nach Hause – Mael und ihre Mutter hatten bereits das Abendmahl vorbereitet und freuten sich auf seine Heimkehr – da berichtete er von großen Neuigkeiten, die ins Haus stünden. Der weise Dalgar hatte ihn auf dem Feld aufgesucht und ihm dies mitgeteilt. Er wollte aber noch nicht mehr erzählen, da es die ganze Familie etwas anginge. Dalgar hatte angekündigt, dass er an diesem Abend das Haus der Familie aufsuchen würde, um alles zu besprechen.
Maels Vater war so aufgeregt, hielt er doch so viel von Dalgar. Er vertraute ihm vollkommen. Keiner hatte eine Ahnung von dem, was Mael an dem einem Abend bekannt geworden war. Und auch nur Mael waren in den letzten Monaten immer mehr Dinge an ihm aufgefallen, die nicht richtig zu sein schienen.
Als der alte Mann nun zu später Stunde das Haus von Maels Familie betrat, lagen seine Argusaugen ständig auf ihr. Egal was sie tat, er beobachtete sie und in seinem Blick lag etwas Eigenartiges, gar Gefährliches. „Bald ist nun der Tag gekommen, an dem Mael ihren 16. Winter erlebt. Es ist Zeit, Trioch, und du weißt es!“ sprach gerade Dalgar an ihren Vater gewandt. Mael war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie den Anfang des Gesprächs gar nicht mitbekommen hatte. Nur das Gesicht ihres Vaters und auch der Blick ihrer Mutter verrieten ihr, dass hier gerade etwas mächtig schief zu laufen schien. „Dalgar, meint ihr nicht, dass es nicht doch noch etwas zu früh für sie ist? Es wird sich doch sicher noch etwas herauszögern lassen!“ meinte gerade ihr Vater mit einem Ausdruck im Gesicht, der Steine hätte erweichen können. So langsam schwante Mael, worum es in diesem Gespräch ging. Nein, es durfte einfach nicht sein. Hatte sie sich am Ende doch durch irgendetwas verraten? Dalgar könnte vielleicht meinen, dass sie nach wie vor beabsichtigt, der großen Mutter zu dienen und ihr Glück im nächsten Jahr noch einmal zu versuchen. Aber um dies tun zu können, musste sie unbedingt unberührt bleiben. Auch jetzt noch durfte sie nicht den fleischlichen Lüsten frönen. Auch wenn dies in ihrem Clan nichts Verwerfliches war, aber solange noch nicht ihr erstes Jahr im Dienste der großen Göttin vergangen war, durfte es einfach nicht sein. „…einen guten Mann für sie gefunden! Er wird sie und ihre Kinder gut ernähren können und er steht in hohem Ansehen beim Clanführer.“ sagte Dalgar gerade zu Maels Eltern.
Nach diesem schrecklichen Abend war nicht viel Zeit vergangen, da wurde auch schon das Hochzeitsfest ausgerichtet. Ihre Eltern hatten sich Dalgars Plan nicht widersetzen können – es stand ihnen nicht zu. So freuten sich nun alle auf ein rauschendes Fest – nur drei Menschen plagte der Trübsinn. Ihren Bräutigam hatte sie noch nicht einmal kennengelernt. Er war nach wie vor auf Befehl des Clanführers unterwegs, um einen feindlichen Clan in seine Schranken zu weisen. Amez würde erst einen Abend vor dem Hochzeitsfest zurückkehren und ebenfalls dann erst seine Braut kennenlernen. Auch seine Eltern waren von Dalgar überrumpelt worden. Er wusste die Stränge der Politik und seiner Interessen wirklich geschickt miteinander zu verknüpfen.
Da es alles nichts half, fügte schließlich auch Mael sich in ihr Schicksal. Sie hatte jeden Tag die große Mutter beschworen, ihr Antworten zu geben, ihr den richtigen Weg zu weisen. Aber sie hatte sie nicht erhört. Vielleicht hatte Mael damals ja doch nur geträumt. Aber nein, dann hätte sie nicht diese wundervollen Kräfte – dann könnte sie nicht anderen Menschen helfen, sie von ihren Leiden erlösen. Dann könnte sie nicht spüren, wann der nächste Regen oder gar ein Sturm aufziehen würde. Nein, das und vieles mehr wäre dann niemals möglich. Also passte wohl auch diese Heirat in den Plan der großen Göttin. So musste es einfach sein.
Am Abend vor der Hochzeit waren alle noch mehr aufgeregt, als die anderen vergangenen Tage schon. Mael wollte sich eigentlich aus dem Haus schleichen. Sie wollte zum Haus ihres Bräutigams gehen und sich ihn heimlich einmal anschauen. Wer weiß – vielleicht war er ja hässlich oder mit anderen furchtbaren Dingen geschlagen. Allein der Gedanke daran, mit so einem Mann ein ganzes Leben verbringen zu müssen und – oh große Göttin, bitte nein – neben diesem Mann liegen zu müssen. Nein, sie würde sich doch nicht davonschleichen. Besser sie könnte noch diese eine Nacht ohne diese furchtbare Gewissheit, ohne diese schrecklichen Bilder ihres Zukünftigen verbringen, als dass sie sich heute schon quälte.
Am nächsten Morgen wurde sie von ihrer Mutter und den anderen Frauen eingekleidet. Sie hatten für sie ein wunderschönes Gewand genäht. Es war wunderbar weich und anschmiegsam und an den Säumen waren kleine und größere Sterne gestickt. Das Schönste aber war der Rockteil. Überall waren die verschiedenen Gesichter ihrer großen Göttin mit Silberfäden eingewoben worden. In ihr Haar wurden zahlreiche zierliche wunderschöne Blüten geflochten und von jeder der Frauen bekam sie ein anderes Schmuckstück umgehangen oder angesteckt. Diese sollten ihr Glück bringen.
Dann ging alles recht schnell. Sie hörte schon die Musikanten aufspielen, während sie von den Frauen auf die große Wiese geleitet wurde. Dort warteten die Männer und Kinder des Clans. Auch der Clanführer selbst und seine Gemahlin waren anwesend – welch eine große Ehre! Am anderen Ende des Runds wartete Dalgar. Er hatte, wie auch an jenem Abend vor so vielen Monden, die helle Robe angelegt. Vor ihm, den Rücken Mael zugewandt, stand ihr Bräutigam. Er blickte sich nicht nach ihr um – stand nur ganz still dort, gerade so, als wäre er nur ein Baum. Mael wurde von ihren Begleiterinnen direkt neben ihn gestellt, dann traten sie wieder zu ihren Familien.
Mael beäugte Amez aus dem Augenwinkel. Göttin sei Dank – er hatte keine offensichtlichen Blessuren, keine Furunkel, keine Warzen. Nein, er war ein Bild von einem Mann – groß und breitschultrig. Sein Haar war ein wenig wild gewachsen, aber es machte ihn für Mael nur noch attraktiver. Oh Göttin, es würde schwer werden, ihm so lange zu widerstehen, bis das Jahr vollendet war.
Es war ein wirklich schönes Fest. Alle lachten, tanzten und sangen und kurz war ein Gefühl von Schwerelosigkeit im Gemüt der Menschen zu spüren. Am Ende nahm Amez seine Frau bei der Hand und führte sie zu seinem Rundhaus. Wie sollte sie ihm nur beibringen, dass sie heute nicht bei ihm liegen würde? Amez geleitete sie zu einem wunderschön geschnitzten Bett. Das Stroh war frisch und es war sogar in Hüllen gefüllt, was den großen Vorteil hatte, dass es nicht so piekte. Er sah sie eine lange Weile mit seinen wunderschönen, tief blauen Augen still an, dann gab er ihr einen zaghaften Kuss auf die Stirn und ging in einen anderen Winkel des Hauses. Sie wollte doch, dass sie nicht beieinander lagen und sie brauchte ihm noch nicht einmal etwas zu erklären. Warum fühlte sich dann ihr Herz so schmerzhaft an?
Die nächsten Tage und Wochen vergingen in ähnlicher Weise. Mael und Amez mochten sich – mehr sogar, sie begannen sich zu lieben. Sie lachten viel gemeinsam und konnten stundenlang reden, wenn sie nicht gerade auf dem Feld zutun hatten oder Amez im Auftrag des Clanführers wieder unterwegs war. Aber abends war es immer das Gleiche. Er brachte sie zu ihrem Nachtlager, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging dann in sein provisorisch hergerichtetes Bett.
Am Morgen der Wintersonnenwende klopfte es an der Tür. Als Mael diese öffnete, standen draußen ihr Vater und ihre Mutter. Sie umarmten Mael stürmisch und überreichten ihr ein kleines Säckchen. Darin waren verschiedene Tongefäße mit den unterschiedlichsten Kräutern und Salben. Sie waren ein Geschenk, denn heute war der Tag, an dem Mael ihren 16. Winter feierte.
Ihr Mann war währenddessen still und heimlich aus dem Haus verschwunden. Als ihre Eltern sich verabschiedet hatten, betrat er wieder das Haus, nahm Mael zärtlich in seine starken Arme und hängte ihr etwas um den Hals. Es war ein Lederband, an dem eine winzige, zierliche Figur aus Silber hing. Es war ein Frauenkörper. Die Frau streckte ihre Arme gen Himmel und hielt dort mit ihren zierlichen Händen das Zeichen der großen Göttin – zwei Sicheln und eine volle Scheibe.
Plötzlich fiel es ihr, wie Schuppen von den Augen - nun fügte sich alles zusammen, wie ihr damals prophezeit worden war. Es war an der Zeit! Die große Göttin hatte ihr doch geantwortet, nur hatte Mael die Zeichen nicht richtig verstanden. Sie war durch die ganzen Ereignisse zu sehr abgelenkt gewesen. So, wie es Dalgar auch beabsichtigt hatte. Ihre große Mutter hatte ihr Amez geschickt. Er war so standhaft gewesen, in den ganzen vergangenen Wochen ihrer Ehe nicht sein Recht zu fordern und sie nicht einmal zu berühren. So konnte sie das Jahr einhalten, um nun Dalgar die Stirn bieten zu können – mit Amez an ihrer Seite. Ihrem intelligenten und starken Krieger, der ihr bei allem unterstützend zur Seite stand. Amez, der beim Clanführer und seiner Gemahlin in hoher Gunst stand, nicht allein deswegen, weil er ihr Sohn war. Amez, der immer die richtigen Worte fand und wenn diese nicht reichten, auch die richtigen Taten folgen lassen konnte. Und Amez, der ebenfalls von der Göttin erwählt und auch eingeweiht worden war, nachdem klar gewesen war, dass Dalgar ihn als Maels Ehemann erwählt hatte.
Alles, was nun folgte, geschah in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Als Dalgar eines Tages aufbrach, um angeblich der großen Göttin im heiligen Steinkreis ungestört huldigen zu können, folgten ihm Mael und Amez, zusammen mit ein paar seiner treusten Männer. Als diese sahen, welche Praktiken Dalgar dort vollführte, betrat Mael ebenfalls den Kreis. Sie strahlte nun, mithilfe der großen Göttin, ein unglaubliche Würde und Macht aus, sodass sie nichts mehr mit dem jungen Mädchen von vor ein paar Monden gemeinsam hatte. "Dalgar, du hast dich gegen den Weg unser aller Mutter, der großen Göttin, gewandt und dein Treiben hier ist der Beweis dafür! Du wirst dich nun dafür verantworten müssen! Amez und seine Männer stehen hier als Zeugen und werden euch einem gerechten Urteil zuführen." Dalgar hatte, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte, keine Gelegenheit mehr, sich Amez und seinen Kriegern zu widersetzen. Er wurde wegen des begangenen Verrats an seinem Clan und an der großen Göttin selbst zum Tode verurteilt und am kommenden Morgen vor dem gesamten Clan hingerichtet.
Eines darauffolgenden nachts erschien die große Göttin dem Clanführer im Traum. Sie erzählte ihm von Mael und dass sie schon seit damals, vor so vielen Monden, das Mädchen als eine ihrer Töchter aufgenommen hatte. Und da der Clan nun ohne den alten Dalgar war, der den anderen weisen Männern und Frauen vorgestanden hatte, wüsste sie keine Bessere für diese Aufgabe als Mael, die ihr stets treu und liebend gedient hatte. Sie würde dem Clan wieder bessere Zeiten bescheren. Das Leben würde wieder erblühen und die Menschen in Gesundheit und Wohlstand leben.
Und so kam es dann auch – Mael wurde, wie von der großen Göttin bestimmt, die oberste ban-draoigh* ihres Clans. Keiner zweifelte die Entscheidung ihres Clanführers an, nachdem er von seinem Traum berichtet hatte und so verlief das Clanleben bald wieder in seinen üblichen, aber nun für alle besseren Bahnen.
---
* ban-draoigh: gälisch für weiblicher Druide / Druidin / weise Frau
Texte: Jessica P. (Ayaluna)
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2012
Alle Rechte vorbehalten