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1. Kapitel



Ein Flüstern, verstohlene Blicke - egal wo sie hinsah. Aber all dies interessierte sie nicht. Susanna merkte auch nicht die Hand ihrer Mutter auf ihrem Arm, die sie vorsichtig drängte endlich zu gehen. Nichts. Unendliche Leere erfüllte sie und drohte sie zu ersticken. Die Sirenen des Krankenwagens und der Polizei waren längst verstummt. Nur das flackernde Blaulicht schimmerte unheilvoll immer noch in der Dunkelheit des voranschreitenden Abends. Und immer wieder dieses Gemurmel ihrer Nachbarn und der anderen Schaulustigen, die sich in einem Pulk zusammendrängten, um ja nichts zu verpassen.

Mit einem Mal teilte sich die Menge und ein schwarzes Auto bahnte sich seinen Weg durch die Massen - langsam und ohne Hast. Der Leichenwagen glitt nahezu lautlos dahin, direkt an ihr vorbei. Wie in Trance schaute Susanna hinter ihm her, während ihre Mutter immer noch vergeblich versuchte sie fortzuziehen.

Dann, wie aus weiter Ferne, nahm Susanna eine fremde Stimme wahr. Ein Polizist war an sie und ihre Mutter herangetreten und hielt einen Notizblock und einen Stift in der Hand. Ihre Mutter schien sich mit dem Mann zu unterhalten und er schrieb eifrig alles Gehörte nieder. Dann ruhte auch sein Blick für einen kurzen Moment auf Susanna, er lächelte ihr zaghaft zu, sagte noch etwas zu ihrer Mutter und wandte sich dann um, um zu seinem Kollegen zurückzukehren.

Susanna fühlte sich seltsam deplatziert. Gerade so, als ob sie die Nachrichten im Fernsehen verfolgte - gemeinsam mit ihm. Aber eine kleine Stimme in ihr wisperte unablässig "Es wird nie wieder so sein - er ist fort... - du bist allein ... Allein ... ALLEIN!!!" Susanna ignorierte sie.

2. Kapitel



Es war nun schon mehrere Wochen her, dass man sie in diese Einrichtung gebracht hatte. Ihre Mutter hatte ihr versichert, dass man ihr hier helfen könne. Als wenn ihr überhaupt noch zu helfen war. Es gab doch niemand der sie verstand. Nur er hatte es gekonnt, aber er war fort - für immer. Ihr Vater hatte sie nur kurz an sich gedrückt und war dann mit langen und sehr eiligen Schritten zu seinem Wagen zurückgekehrt. In seinen dunklen Augen hatte es verdächtig geschimmert. Beide hatten sie hier allein gelassen - bei diesen Verrückten! Wie konnten sie ihr so etwas antun. Von wegen Hilfe - Pah!

Jeder Tag verstrich gleich. Sie wurde von Schwester Marie geweckt. Dann gab es Frühstück. Danach mussten sich alle in einer Schlange einreihen, um von Schwester Dagmar ihre Tabletten und ein Glas Wasser zu erhalten. Diese hatten sie dann sofort vor ihren Augen einzunehmen. Anschließend wurde auch noch ihre Mundhöhle untersucht, ob nicht doch jemand versuchte, die Medikamente zu verstecken, um sie später wieder auszuspucken. Wenn das erledigt war hatten sich alle im großen Gemeinschaftsraum zu versammeln. Dort warteten sie dann darauf, dass sie an der Reihe waren und zu Dr. Alexander gerufen wurden, um ihre tägliche Sitzung zu absolvieren.

Endlich war auch Susanna dran. Sie betrat das lichtdurchflutete Büro. Dr. Alexander saß an ihrem großen Schreibtisch und blickte erst auf, nachdem Susanna sich auf den Stuhl davor gesetzt hatte. Seit ihren täglichen Konsultationen hatte sie nach wie vor noch kein einziges Wort mit der Ärztin gesprochen, geschweige denn mit jemand anderem. Sie saß immer nur da und blickte starr aus dem Fenster hinter dem Schreibtisch. Jeden Tag das Gleiche.

Aber heute war etwas anders. Als die Ärztin sie heute ansprach, kamen nicht die üblichen Fragen, die Susanna mittlerweile auswendig kannte. Diesmal teilte ihr Dr. Alexander mit, dass sie für längere Zeit das Sanatorium verlassen müsse, um an einem wichtigen Kongress teilzunehmen. In dieser Zeit würde sie durch Ismael Brown vertreten werden. Er war eigentlich bereits im Ruhestand. Aber da er seinerzeit der Leiter dieser Einrichtung war, hatte er sich gerne dazu bereit erklärt, sie zu vertreten. Mit ihrem letzten Satz drückte die Ärztin auf ihren Signalknopf auf ihrem Schreibtisch, mit dem sie normalerweise ihre Sekretärin zu sich rief. Es war ein kurzes Klopfen an der Tür zu hören und dann trat dort ein kleiner, etwas rundlich gebauter und anscheinend schon sehr alter Mann ein. Er trug einen Zwicker auf der Nase. Seine Haare waren schlohweiß und er trug einen ordentlich gestutzten Vollbart. Irgendwie erinnerte er Susanna ein wenig an den Weihnachtsmann. Aber wie immer, war ihr alles egal und somit auch er. Sie nahm seine Anwesenheit lediglich zur Kenntnis - mehr nicht.

Während Susanna wieder aus dem Fenster sah, hörte sie, wie Dr. Alexander mit ihm sprach. "Sie müssen entschuldigen, aber Susanna ist zurzeit mein schwierigster Fall. Ich habe sie leider noch nicht zum Reden bringen können. Und sie ist bis Weilen auch etwas schwierig. Ohne einen ersichtlichen Grund fängt sie an um sich zu schlagen und schreit, als wenn der Leibhaftige hinter ihr her wäre. Sie bekommt jeden Morgen etwas zur Beruhigung. Damit können wir ihre Anfälle - Gott sei Dank - etwas eindämmen. Seien sie aber bei ihren Sitzungen trotzdem vorsichtig!" Ihr Vertreter hörte sich alles in Ruhe an und beobachtete dabei seine neue Patientin unauffällig aus den Augenwinkeln. Aber auch nachdem Dr. Alexander mit ihrer Ausführung geendet hatte, sprach er noch kein Wort.
Die Ärztin blickte etwas verstört drein, nahm es aber anscheinend hin und überreichte ihm Susannas Krankenakte. Er dankte ihr dies mit einem leichten Kopfnicken, legte Susanna kurz seine Hand auf die Schulter, um dann das Büro wieder zu verlassen.

Seltsamer Mann!

3. Kapitel



Der nächste Tag war angebrochen. Es lief auch diesmal alles gleich ab. Wie hatte Susanna hoffen können, dass jetzt, wo Dr. Alexander nicht zugegen war, sich etwas ändern würde.

Als sie in das Büro gerufen wurde, saß diesmal niemand hinter dem Schreibtisch. Zuerst stutzte sie, aber dann viel ihr auf, dass die großen Flügeltüren hinter dem Schreibtisch geöffnet waren und dahinter auf dem riesigen Balkon jemand stand. Susanna traute sich nicht weiter vor, auch nicht, um sich auf den ihr sonst zugewiesenen Stuhl zu setzen. Sie blieb einfach an der Tür, wie angewurzelt stehen.

Es vergingen ein paar Minuten und noch immer hatte sich die Situation nicht verändert. Susanna wurde etwas nervös und begann sich zu fragen, was nun geschehen sollte. Sollte sie ebenfalls auf den Balkon hinaustreten oder sollte sie das Büro wieder verlassen? Vielleicht hatte sie es ja auch falsch verstanden und war noch gar nicht an der Reihe. Sie begann unbeholfen von einem Fuß auf den anderen hin und her zu tippeln. Als sich die Gestalt auf dem Balkon plötzlich bewegte und in ihre Richtung kam, erstarrte sie wieder zur Salzsäule. Ismael Brown betrat den Raum und musterte sie wie Tags zuvor ruhig mit seinen dunkelblauen, freundlichen Augen. Dann sprach er unvermittelt und in ebenso ruhigem Ton einfach in den Raum hinein. Er sagte nichts Bestimmtes und irgendwie schien er auch gar nicht direkt mit ihr zu sprechen, aber seine Worte und seine Stimme zogen sie, wie ein riesiger Strudel, dem man nicht entrinnen kann, in seinen Bann. Susanna fühlte plötzlich. Sie sehnte sich danach, dass er ewig so weitersprechen möge, damit ja nicht dieses eigenartige Gefühl - aber immerhin irgendein Gefühl - wieder verschwand. Es schien ewig zu dauern. Aber dann war es vorbei. Susanna stand nach wie vor direkt vor der Tür, sie hatte sich nicht getraut sich zu setzen, geschweige denn sich überhaupt zu bewegen. Aber warum? Das wusste sie wirklich nicht. Ismael Brown sah sie erneut einen unendlichen Moment lang durchdringend an, dann verschwand er wieder auf den Balkon. Der Raum war wieder leer und irgendwie auch kälter. Nachdem Susanna noch einige Sekunden dort gestanden hatte, drehte sie sich ebenfalls um und verließ das Büro.

4. Kapitel



Die nächsten paar Tage liefen ähnlich ab, wie der, an dem sie das erste Mal Ismael Brown konsultierte. Nie wurde sie auch nur mit einer Frage von ihm gelöchert. Nie sprach er sie direkt an. Jeden Tag erzählte er ihr oder vielleicht doch nur dem Raum die verschiedensten Geschichten und manchmal saß er ihr auch nur Stumm gegenüber und betrachtete sie. Dies war ihr aber seltsamerweise nicht unangenehm. Mittlerweile hatte sie sich auch getraut, sich in dem Büro einen Platz zu suchen. Und da er auch hierzu nichts zu ihr sagte, hatte sie sich die bequemere Couch und nicht diesen harten Stuhl für ihre Sitzungen ausgesucht.

Von Mal zu Mal entspannte sie sich mehr. Eigenartigerweise freute sie sich nun schon immer auf die gemeinsame Stunde mit Ismael Brown. Er forderte nichts von ihr und wollte sie auch nicht zwingen etwas von sich zu erzählen. Zum ersten Mal fühlte sie sich irgendwie wohl. Die Leere war etwas von ihr gewichen und sie konnte manchmal sogar über seine Erzählungen ein wenig schmunzeln.

Eines Tages, als er anscheinend wieder einmal nichts erzählen wollte und sie wieder nur beobachtete, kam es plötzlich aus ihr raus "Warum schauen Sie mich manchmal nur an, während Sie an anderen Tagen mir diese tollen Geschichten erzählen? Und warum stellen Sie mir, nicht genauso, wie Dr. Alexander ständig diese Fragen?" Nach erneutem Schweigen seinerseits, sagte er dann schließlich einzig und allein "Warum?"

Susanna schaute ihn verdutzt an. Sie Begriff es einfach nicht. Sollte er nicht sie weiter behandeln? Wollte er ihr nicht helfen? Sosehr sie auch diese Stunden mittlerweile genoss, aber was sollte das alles? "Wollen Sie denn gar nicht, dass ich Ihnen meine Geschichte erzähle? So, wie es jeder andere immer will? Wird Dr. Alexander nicht sauer sein, wenn wir keine Fortschritte gemacht haben, solange sie weg ist? Sie erwartet doch sicher so etwas von Ihnen, oder nicht?" Susanna hatte den Eindruck mit einer Wand oder einer Statue zu sprechen, weil Ismael Brown sich nach wie vor nicht regte. Es dauerte wieder eine ganze Weile, bis er endlich zu ihr sprach. Diesmal schaute er ihr direkt in die Augen "Wieso meinst du, wir hätten keine Fortschritte gemacht? Du sprichst doch gerade mit mir, oder nicht?"
Damit schien das Treffen für ihn erneut beendet zu sein. Er widmete sich wieder seiner vorherigen Beschäftigung, lächelte Susanna vorher aber noch einmal verschwörerisch an. Dann ignorierte er sie.

5. Kapitel



Susanna Begriff es einfach nicht. Sie hatte tatsächlich mit diesem komischen Kauz gesprochen. Wie hatte er das nur geschafft. Aber warum hatte er dann nicht weiter mit ihr gesprochen und warum wollte er nicht ihre Geschichte hören? Was war nur los mit ihr. Sie wollte nie wieder daran denken, geschweige denn darüber mit irgendwem sprechen - es tat einfach zu weh. Warum alles in der Welt wollte sie ausgerechnet ihm davon erzählen? Die Leere war doch immerhin besser, als ständig diesen Schmerz fühlen zu müssen, besser als überhaupt zu fühlen. So konnte ihr Körper wenigstens für alle anderen existieren, wenn auch ihre Seele schon längst gebrochen war.

6. Kapitel



Am nächsten Tag saß Susanna wieder im Büro und wartete, dass Ismael Brown vom Balkon hereinkam. 'Was machte er nur ständig auf diesem Balkon?'
Als es dann endlich soweit war, grüßte er sie, wie immer mit einem knappen, aber freundlichen Kopfnicken und setzte sich ihr gegenüber auf einen Schemel. Nach längerem Schweigen fragte er schließlich "Möchtest Du mir denn etwas erzählen?" und betrachtete sie bei seiner Frage sehr genau.

Susanna überlegte angestrengt und ihr Gegenüber ließ ihr die Zeit die sie brauchte. Dann - ein kurzes Nicken.
Ismael Brown erhob sich von seinem Platz und bedeutete Susanna ihm zu folgen. Er ging direkt zu seiner ledernen Aktentasche, öffnete sie und holte ein kleines Buch heraus. Es war wunderschön eingeschlagen. Goldene Ornamente und satte, warme Farben schmückten es auf dem gesamten Einband. Dann nahm er noch einen, ebenso wundervollen Tintenschreiber heraus und hielt beides Susanna entgegen. Sie schaute ihn verwirrt an, nahm dann aber beides an sich. "Was soll ich damit? Ich dachte, ich solle Ihnen meine Geschichte erzählen?" "Da würde ich mich auch sehr drüber freuen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es einem leichter fällt, wenn man es zuerst niederschreibt. Dafür sind die beiden Dinge gedacht. Manchmal sieht man alles etwas klarer, wenn man es auf Papier festhält. Und manchmal, aber wirklich nur manchmal kann man sich dann etwas leichter davon lösen. Wenn du es versuchen möchtest, dann lasse ich dir gerne die nächsten beiden Tage die Zeit dafür. Wir treffen uns dann erst wieder am dritten Tag zur gleichen Zeit hier im Büro. Bist du damit einverstanden?" Susanna schaute ihn ein Weilchen an, nickte dann aber erneut, um ihre Zustimmung mitzuteilen. "Was ist aber, wenn es nicht hilft?" fragte sie schließlich noch. "Das werden wir dann sehen. Aber ich will dir auch nichts verschweigen. Es gibt Menschen, die werden ihre Dämonen trotz allem nie wieder los. Aber ich glaube nicht, dass du zu diesen Menschen gehörst! Versuch es und dann sehen wir weiter!" Damit geleitete er sie zur Tür und verabschiedete sich mit dem für ihn so charakteristischen Kopfnicken.

Susanna wusste immer noch nicht so recht, was sie davon zu halten hatte. Dann ging sie aber doch nach draußen in die Parkanlage des Sanatoriums und setzte sich dort unter ihren Lieblingsbaum - das Buch und den Stift immer noch in ihren Händen.

7. Kapitel



'Ich habe den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Und ich kann den Schmerz darüber nicht in Worte fassen. Alle meinen mir irgendwie helfen zu müssen, aber es ist niemand da, der es vermag. Ich bin mit Tony aufgewachsen. Er war schon immer für mich da gewesen. Egal wann und egal wie. Er hat mich erst in den Kindergarten begleitet und später zu Schule gebracht. Mom und Dad hatten nie Zeit. Immer haben sie gearbeitet. Und wenn sie das nicht taten, waren sie entweder auf irgendwelchen Cocktailpartys oder haben sich lauthals durchs ganze Haus gestritten. Ich bin dann immer zu Tony ins Zimmer geschlichen und habe mich mit ihm in unserer Höhle versteckt. Die hatte er extra nur für mich gebaut - unter seinem Schreibtisch, an dem er immer seine Hausaufgaben machte. Wir waren einfach immer zusammen. Dann eines Tages war es so weit. Tony war mit der Schule fertig und ging zur Universität. Er wollte unbedingt Arzt werden. Davon hatte er schon als kleiner Junge geträumt. Nun war ich allein. Meine Eltern nahmen sich nach wie vor keine Zeit für mich, auch wenn ich immer den Eindruck hatte, dass mein Vater es gerne anders wollte.

So verging die Zeit. Tony kam fast über ein Jahr nicht wieder nach Hause. Er war so mit seinem Studium beschäftigt. Er wollte doch unbedingt beweisen, dass sein Stipendium berechtigt war - und er war auch der Beste seines Jahrgangs. Ich selbst hatte natürlich auch mein Leben weitergelebt, eben nur leider ohne Tony. Er fehlte mir schrecklich. Dann war endlich Weihnachten und Tony hatte angekündigt, dass er für die Weihnachtsferien nach Hause kommen würde. Ich freute mich riesig.

An dem Tag, an dem er anreisen sollte, war ich total hippelich. Ich wollte ihn endlich wieder haben. Wir saßen gerade beim Abendbrot beisammen, als es an der Tür klingelte. Mom wollte gerade die Tür öffnen gehen, als ich schon an ihr vorbeisauste. Ich riss die Tür auf und stürzte mich in seine Arme.

Zu spät merkte ich, dass es gar nicht Tony war. Ich lag in den Armen einer jungen, sehr attraktiven Frau, die mich erstaunt, aber doch freundlich musterte. Mir schoss das Blut in die Wangen. Dann sah ich hinter ihr Tony stehen. "Charyll" sagte er mit einem Lachen, dass mich irgendwie wütend werden ließ "darf ich dir meine kleine Schwester, Susanna, vorstellen?" Er ging an ihr vorbei, nahm mich in den Arm und gab mir, wie schon so oft, eine Kuss auf meine Nase. "Susanna, das ist meine Freundin, Charyll. Ich freue mich so, dich endlich wiederzusehen, Schwesterchen!" Charyll lachte mich freundlich an, aber aus irgendeinem Grund mochte ich sie ganz und gar nicht.

Nach den Feiertagen verließen uns Tony und Charyll wieder. Mom und Dad waren total begeistert von ihr. Sie sprachen schon von einer bevorstehenden Hochzeit und wie gut die beiden doch zusammenpassen. Igitt!!!

Es vergingen wieder Monate, bis wir das nächste Mal von Tony hörten. Die Sommerferien standen bevor und er wollte abermals nach Hause kommen, da auch er Semesterferien hätte. Ich war diesmal nicht ganz so aufgeregt. Schließlich wusste ich, wer ihn wieder begleiten würde.
Also war ich an dem Tag, als er wieder ankommen sollte, mit ein paar Freunden an den Strand gefahren. Ich wollte mir meine gute Laune an diesem Tag nicht durch CHARYLL kaputtmachen lassen. Ich beschloss auch extra länger am Strand zu bleiben und somit hoffentlich auch, das Abendbrot zu versäumen. Meine Freunde hatten sich inzwischen schon auf den Heimweg gemacht, nachdem sie mich nicht bewegen konnten, mit ihnen zu kommen. So lag ich nun auf meiner Decke im Sand und schaute mir den Sonnenuntergang und die wenigen Surfer, die noch draußen auf dem Wasser waren, an. Es war einfach himmlisch. Einfach nur ruhig. Nicht ständig das Geschnatter meiner beiden Freundinnen in den Ohren zu haben, war herrlich.

Als mir doch ein wenig langweilig wurde, ich aber wusste, dass es für mich noch viel zu früh war, um mich meiner Familie zu stellen, beschloss ich noch einmal schwimmen zu gehen. Das Wasser war fantastisch. Trotzdem es schon Abend war, war es noch wundervoll warm und die untergehende Sonne glitzerte auf den Wellen. Könnte es nicht immer so sein?

Ich bahnte mir gerade meinen Weg aus dem Wasser, als ich sah, dass bei meinen Sachen eine Gestalt anscheinend auf mich wartete. Es schien ein Mann zu sein, aber ich konnte ihn nicht richtig erkennen. Der Mann ließ seinen Blick über den Strand Streifen, blickte auch mich kurze Zeit an, um dann weiter den Strand und das Wasser anscheinend nach jemandem abzusuchen. Vielleicht hatte ich mich ja auch geirrt und er war nur zufällig bei meinen Sachen stehe geblieben und wartete gar nicht auf mich. Wer sollte mich auch suchen? Wie kam ich nur darauf.
Langsam ging ich näher. Sein Blick suchte immer noch den Strand ab und blieb abermals an mir hängen. Diesmal schien er mich eingehender zu mustern, konnte aber wahrscheinlich nicht mehr als meine Silhouette erkennen, da die Sonne genau hinter mir war. Auch ich musterte ihn erneut, und trotzdem er mir bekannt vorkam, konnte ich ihn nicht richtig zuordnen. Ich war inzwischen so dicht an ihm dran, dass ich die gefurchte Stirn erkennen konnte. Er schien zu grübeln. Vielleicht sah er ja auch durch mich hindurch? Auf jeden Fall war er sehr attraktiv - wenn ich nur mal so einen Glückstreffer landen könnte. Er war groß und anscheinend gut durchtrainiert, aber ohne dabei prollig zu wirken. Er hatte dunkle, fast schwarze Haare und trug tatsächlich einen gut gepflegten Vollbart. Eigentlich ziemlich eigenartig für einen so jungen Mann, aber ich musste zugeben, dass es ihm außerordentlich gut stand. Er wirkte dadurch irgendwie noch anziehender auf mich.

Nun war ich endgültig an ihn herangetreten. Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich noch, während er mich weiter unverwandt ansah. "Entschuldige, aber gehören diese Sachen hier dir?" Fragte er dann etwas zögerlich und mir knotete sich der Magen zu. Ich konnte nicht Glauben, wen ich gerade so angeschmachtet hatte. Aber er schien mich auch nicht erkannt zu haben. "Ja, die Sachen gehören mir. Aber das hättest du doch eigentlich wissen müssen, oder nicht? Schließlich ist es doch deine Decke, die du mir damals da gelassen hast?" In seinem Gesicht zeichnete sich erst Unglaube, dann Verstehen und am Ende irgendwie Erkennen ab. "Susanna?" fragte er nun ganz erstaunt. "Was machst du eigentlich hier und wo ist Charyll?" fragte ich meinerseits. Tony konnte es anscheinend immer noch nicht fassen. Hatte ich mich so sehr verändert? Aber ihn hatte ich ja auch erst nicht erkannt. Er war gekommen, um mich zu suchen, nachdem ich so lange Zeit nach dem Abendbrot nicht aufgetaucht war. Unsere Eltern wussten natürlich wieder einmal nicht, wo ich sein könnte, aber Tony hatte schon immer seine Quellen gehabt, um mich zu finden - so auch diesmal. Er war ohne Charyll angereist, nachdem sie sich kurz zuvor getrennt hatten. Er meinte, sie wäre einfach nicht die richtige gewesen.
Ich war überglücklich!
Nun verbrachten wir wieder, wie früher die ganze Zeit miteinander - jeden einzelnen Tag. Eines Abends war es wieder einmal so weit. Mom und Dad hatten wieder einen schrecklichen Streit - ich wusste wirklich nicht, warum sie sich das immer noch antaten. So wie früher, wenn sie sich stritten, beschloss ich in Tonys Zimmer zu schleichen und mich dort mit ihm zu verstecken. Ich klopfte leise an seine Tür und trat dann ein. Er schaute gerade fernsehen und sah mich im ersten Moment etwas erstaunt an, zeigte dann aber zu sich aufs Bett. Ich nahm mir eine Decke von seinem Sessel und kuschelte mich dich neben ihn. Es war schon so lange her, dass ich mich so geborgen gefühlt hatte.

Einige Zeit später legte er auch seinen Arm um mich, um mich noch dichter an sich heranzuziehen und streichelte behutsam meine Schulter. Erst da bemerkte ich, dass sich irgendetwas verändert hatte. Es war nicht mehr wie früher, als wir beide noch Kinder waren und er, mein großer Bruder, mich vor allem beschützt hatte. In den vergangenen Tagen hatte sich unsere Beziehung verändert. Wir gingen immer noch genauso wie früher miteinander um und doch ganz anders. Wir hatten uns über alles und jeden unterhalten. Er hatte mir von seinem Studium erzählt, von den Freundinnen, die er während der Zeit dort hatte und die doch nie die richtigen waren. Ich erzählte ihm meinerseits von meinen Erlebnissen, von Mom und Dad und auch von den beiden Freunden, die ich inzwischen gehabt hatte. Beide stellten sich allerdings nach kürzester Zeit als vollkommene Idioten heraus. Und immer wieder haben wir herzhaft zusammen gelacht. Es war einfach wundervoll - so vertraut und doch so fremd - als würden wir uns vollkommen neu kennenlernen.
Tony hatte inzwischen seinen Kopf an meinen Scheitel geschmiegt, als er plötzlich sagte "Wenn ich doch jemanden finden würde, der so ist wie du. Du bist wirklich erwachsen geworden, nicht mehr das kleine Mädchen, dass ich damals hier zurückließ." Dann verstummte er wieder. Ich wusste wie er sich fühlte. Mir ging es genauso. Ich liebte meinen Bruder, aber mir wurde in diesem Moment auch klar 'Ich liebe ihn!' und das nicht, wie man einen Bruder lieben sollte. Ich schaute langsam zu ihm auf, sah in sein wundervolles Gesicht und konnte einfach nicht mehr meinen Bruder entdecken. Ich saß neben einem umwerfenden Mann, den ich bis in die tiefsten Tiefen meines Inneren liebte. Aber das durfte einfach nicht sein. Ich versuchte mir dies immer wieder klar zu machen, leider ohne Erfolg.

In den darauffolgenden Tagen bemerkte ich immer wieder, wie Tony mich versuchte unauffällig zu beobachten. Ich merkte es jedes Mal! Und ich tat es ebenfalls - ihn beobachten.

Am folgenden Wochenende waren unsere Eltern wieder einmal geschäftlich verreist. Tony und ich saßen abends oben in seinem Zimmer und sahen uns eine DVD an, die er am Tag ausgeliehen hatte. Wieder waren wir eng aneinander gekuschelt. Ich hatte schon mein Nachthemd angezogen und war wieder in die mollige Decke einkuschelt. Wir bekamen nicht mehr mit, wie der Film ausging. Wir waren vorher eingeschlafen. Irgendwann, es muss schon mitten in der Nacht gewesen sein, wachte ich auf und war gerade auf dem Weg in mein eigenes Zimmer, als mich Tonys Arm gefangen nahm. Er schlief noch tief und fest, doch loslassen wollte er mich anscheinend nicht. Also legte ich mich wieder neben ihn, so bequem, wie es nun noch für mich möglich war. Er kuschelte seinen Kopf in meine Halsbeuge und murmelte leise "Ich liebe dich." Er träumte bestimmt gerade von einem Mädchen, dass er wohl mochte, aber insgeheim stellte ich mir vor, er würde damit doch mich meinen. Als ich nun kurz vor dem Einschlafen war, murmelte er erneut. Diesmal verstand ich ihn nicht richtig. Aber ich war neugierig und so fragte ich nach. Das hatte früher schon immer mal bei ihm funktioniert. Ich war völlig überrumpelt von dem, was dann geschah. Tony richtete sich halb auf und schaute mir direkt in die Augen und sagte dann "Ich liebe dich, Susanna!" Danach blickten wir uns eine ganze Weile schweigend an. Ich war völlig durcheinander. Sollte es war sein? Aber es durfte doch nicht sein. Wir sind Geschwister, das ist nicht richtig. Aber mein Herz wollte meiner Vernunft keinen Platz lassen und anscheinend ging es ihm genauso. Am Ende lagen wir uns in den Armen, während wir uns küssten. Es wurde eine unglaubliche Nacht. Erst in den frühen Morgenstunden fielen wir erschöpft, aber unglaublich glücklich in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Es war einfach unglaublich - wir schwebten beide auf Wolke sieben.

Natürlich hielten wir unsere Beziehung geheim. Anfänglich bekamen unsere Eltern auch gar nichts davon mit. Aber eines Tages rief unser Vater Tony zu einem Gespräch in sein Arbeitszimmer und danach war erneut alles anders. Tony ging mir aus dem Weg. Dad schaute mich immer verlegen und sehr traurig an. Nur Mom hatte irgendwie etwas Lauerndes und unfreundliches im Blick.

Dann hielt ich das alles nicht mehr aus. Ich ging ohne anzuklopfen in Tonys Zimmer und stellte ihn zur Rede. Er sah mich voller Traurigkeit an und erklärte mir, dass wir das nicht weiter tun dürften. Er könne dies nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren, so sehr er mich auch lieben würde. Mom hätte damit gedroht ihn anzuzeigen und ihn aus der Familie zu verstoßen. Er nahm mich in die Arme, als ich anfing zu weinen. Dann küsste er mich und dann...

Es war wieder geschehen. Tony konnte mir anschließend nicht mehr in die Augen schauen und die Spannung in der Familie war unerträglich gestiegen.

Am nächsten Tag kam ich am frühen Abend nach Hause. Ich war bei einer Freundin gewesen, um mich abzulenken. Als ich bei uns die Straße einbog, sah ich eine riesige Menschenmenge an unserem Grundstück stehen und zahllose Blaulichter blinkten im frühabendlichen Dunkel. Neben der Polizei war auch ein Krankenwagen dort. Ich ging schneller, wurde aber dann auf halben Weg von meiner Mutter abgefangen. Sie wirkte eigenartig nervös. Dann erklärte sie mir, was geschehen war.

Tony war tot. Dies war das einzige, was ich wirklich noch hörte, was zu mir durchdringen konnte. Alles andere, ihre Erklärung kamen nicht mehr bei mir an. Mein Inneres zerbarst in abertausend Teile. Meine Seele zerbrach in diesem einen Moment, nur mein Körper existierte noch weiter.

Es folgten Tage reinster Dunkelheit. Irgendwann fand ich mich dann in diesem Sanatorium wieder und wurde täglich mit dem gleichen Schwachsinn gequält. Und dabei wollte ich doch auch nur tot sein, damit ich endlich wieder bei Tony sein konnte. Mein Leben hat nun eh keinen Sinn mehr - ich bin, wie immer allein! Und nichts kann diese Leere füllen. Noch nicht einmal Ismael Brown mit seiner wundervollen, einfühlsamen Art und seinen genauso wundervollen Geschichten.

Jetzt, wo ich meine Geschichte hier niederschreibe, wird mir eines bewusst. Ich gehöre hier nicht mehr her - ich gehöre einzig und allein zu Tony.

Ich danke Ihnen, Ismael - für alles.

Leben Sie wohl!'

8. Kapitel



Am Morgen des 12. September wird in den Parkanlagen des Gottfried-Sanatoriums die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Ihr Körper ist an einen Baum gelehnt - ihre Pulsadern sind aufgeschnitten. Neben ihr liegen ein Buch sowie ein Stift mit goldenen Ornamenten und den schönsten und wärmsten Farben des nahenden Herbstes. Ihr leerer Blick ist in die Ferne gerichtet - sie sieht irgendwie glücklich aus.

Ismael Brown sitzt am Schreibtisch im Büro von Dr. Alexander. Ihm gegenüber ein Ehepaar - es sind Susannas Eltern. Er hat ihnen gerade erklärt, was passiert ist, als es an der Tür klopft und ein Mitarbeiter das Buch, welches bei ihr gefunden wurde hereinbringt und auf den Schreibtisch legt. Danach verlässt er nach wie vor stumm den Raum.

Nachdem Ismael selbst einen Blick auf die Zeilen geworfen hat, übergibt er das Buch an Susannas Eltern. Auch sie sehen sich die letzten Worte ihrer Tochter an, als plötzlich ihre Mutter bitterlich zu weinen anfängt. Der Vater erklärt daraufhin Ismael Brown in völlig monotonem Ton, dass das alles hätte nicht passieren brauen. Seine Frau hätte darauf bestanden, die zwei zu trennen. Es gehöre sich schließlich nicht, das Geschwister derlei Beziehung zu einander haben. Sie hätte sich gesorgt, was die Leute hätten sagen können.

Er sah sich einem etwas verwirrten Ismael Brown gegenüber. Dann erhob sich Susannas Vater unvermittelt von seinem Platz, reichte seinem Gegenüber in Dankbarkeit die Hand und ging ohne einen Blick auf seine Frau zu Tür. Doch dann verweilte er kurz. Ohne sich umzublicken, sagte er in den Raum hinein "Das hätte nicht passieren dürfen. Tony war zwar unser Sohn, aber doch trotzdem nur adoptiert. Es hätte keine Notwendigkeit bestanden - die beiden haben nicht falsch gehandelt mit ihrer Liebe! Es tut mir leid!"

Mit diesen Worten verließ er nun endgültig den Raum und auch seine Frau...


ENDE

Impressum

Texte: Jessica P. alias Ayaluna: Der komplette Inhalt dieses Buches ist mein geistiges Eigentum, alle Rechte hierfür liegen ausschließlich bei mir.
Bildmaterialien: Jessica P. alias Ayaluna
Tag der Veröffentlichung: 12.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

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