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Prolog

Ruhe – alles verzehrende Stille. Beinahe jedes Tier hatte sich in Sicherheit gebracht und lauschte still verharrend in seinem Versteck. Nur die Affen in der vermeintlich sicheren Höhe ihrer Bäume verkündeten die herannahende Gefahr.

 

Der Tag war noch nicht ganz angebrochen, schickte aber schon zaghaft die ersten Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach, wenn sie denn überhaupt soweit zum Boden reichen konnten. Aber genau das war die richtige Zeit.

 

In der Ferne hörte man das Motorendröhnen mehrerer Jeeps, die umständlich, aber trotzdem schnell durch den dichten Wald gefahren kamen. In ihnen saßen mehrere Männer – Männer in Tarnanzügen, mit grimmigen Gesichtern und automatischen Waffen über den Schultern.

 

Es waren Söldner. Jeder Einzelne ein erfahrener Jäger. Sie waren auf der Suche nach einem der größten Geheimnisse dieses Dschungels. Ihr Auftraggeber hatte ihnen dafür sehr viel Geld versprochen und die große Dringlichkeit dieses Auftrags überaus deutlich gemacht. Die Mittel und Wege, die notwendig wären, um ihr Ziel zu erreichen, interessierten ihn nicht.

Also hatte er sie mit allem Notwendigen ausgestattet und bereits eine beträchtliche Summe als Anzahlung anonym überwiesen. Erst wenn ihre Mission von Erfolg gekrönt wäre, würde er zu ihnen dazu stoßen und sich so zwangsläufig zu erkennen geben.

 

An einem kleineren Flussarm machten sie halt, breiteten auf einer der Motorhauben eine Karte aus und fingen an, über ihre weitere Route zu diskutieren. Sie waren schon sehr tief in den Dschungel eingedrungen, kamen nun aber mit ihren Wagen nicht mehr voran. Das Gelände war zu unwegsam, sodass sie zu Fuß weiter mussten und das verärgerte sie. Aber schließlich konnten sie sich doch auf eine Richtung einigen.

 

Nachdem sie bereits einen halben Tag lang zu Fuß weiter in den Dschungel vorgedrungen waren, lichtete sich abermals das Blätterdach und sie beschlossen, hier eine weitere Rast einzulegen. Erneut über die Karte gebeugt, stellten sie verwundert fest, dass diese Lichtung nirgendwo verzeichnet war, doch das sollte sie erst einmal nicht stören.

 

Plötzliche herrschte erneut beinahe Totenstille – der Wald um sie herum war wieder verstummt. Noch nicht einmal das Summen der vielen Insekten konnte man mehr hören. Es wäre geradezu unheimlich gewesen, hätten die Männer es denn überhaupt wahrgenommen.

Doch sie waren schon wieder in die nächste Diskussion verstrickt. Da jeder von ihnen von Haus aus ein Einzelgänger war, wollte keiner nachgeben. Denn immerhin waren sie nur gezwungenermaßen zusammen, weil ihr Auftraggeber das so wollte und ihnen mit einer mehr als königlichen Menge Geld winkte.

 

Aber all das war nun nicht mehr wichtig – die Männer wussten es nur noch nicht.

 

Sie kamen lautlos und es waren viele. Sie hatten ihr Ziel bereits den ganzen Weg vom Fluss bis hierher beobachtet und nun umzingelt. Die Jagdgruppe war schließlich doch zu dicht an ihr Revier und damit an ihr Geheimnis herangekommen. Ihnen blieb nichts anderes übrig. Sie mussten die ihren beschützen und das hieß, die Jäger mussten verschwinden.

 

Die Männer hatten kaum eine Chance. Als sie sie bemerkten, war es bereits zu spät. Selbst ihre automatischen Waffen waren bei dieser Attacke vollkommen nutzlos. Der Angriff war kurz, blutig und erschreckend effektiv. Der kurzzeitige Aufruhr dauerte nicht länger als ein paar Wimpernschläge. Dann war es vorbei. Stille. Es war nicht mehr viel übrig von der Jagdgemeinschaft. Um die kläglichen Reste würde sich der Wald kümmern - wie immer.

 

Und jetzt, genauso lautlos, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder und das Leben im Dschungel ging in seinem normalen Rhythmus weiter. Einfach so – als wäre nichts gewesen – als hätten diese Männer nie existiert – und der Wald atmete hörbar auf.

Kapitel 1 – Wunschträume und andere Ärgernisse

Es war bereits spät am Nachmittag als Lany Briscott sich von einem anstrengenden und äußerst nervenaufreibenden Tag im Büro auf den Heimweg machte. Scott aus der Buchhaltung hatte sie schon wieder nach einem Date gefragt und sie hatte ihm zum gefühlten hundertsten Mal einen Korb gegeben. Er kapierte es einfach nicht und schien sich daraus sogar einen Sport zu machen.

 

Leider konnte Lany ihm auch nicht aus dem Weg gehen, wie so viele ihrer Arbeitskolleginnen es taten, denn er gehörte zu ihrem engsten Arbeitskreis. Ihr Chef, Mr McDermont, hatte sie gerade erst befördert und leider gehörte die bittere Pille namens Scott Whithney mit dazu. Aber egal, nun hatte sie endlich Feierabend und wollte diesen auch gemütlich zu Hause mit einem schönen Glas ihres Lieblingsrotweins und dem Buch, das sie sich vor Ewigkeiten gekauft hatte „feiern“. Es war lange her, dass sie mal pünktlich zu Hause war.

 

In den vergangenen Monaten hatte sie ständig Überstunden gemacht, um dieses eine wichtige Projekt für ihre Firma lukrativ über die Bühne zu bringen. Und es hatte sich ja schließlich auch für sie gelohnt. Mr McDermont hatte endlich ihr Potenzial erkannt und es ihr mit dieser Beförderung gedankt.

 

Nun standen in der nächsten Zeit keine größeren Projekte ins Haus, um die sie sich hätte kümmern müssen und so konnte Lany mal ein wenig runterschalten und ausspannen. Es waren auch nur noch ein paar Tage und sie würde endlich ihren wohlverdienten Urlaub antreten.

 

Wow! Urlaub, das hörte sich wie der Himmel auf Erden an. Lany hatte sich vorgenommen, endlich, jetzt da sie mehr Geld verdiente, einen lang gehegten Traum wahr zu machen. Sie wollte nach Brasilien reisen, den dortigen Dschungel nach seinen Geheimnissen durchstreifen und nicht an irgendwelche Verträge, Termine oder Ähnliches denken. Und vor allem freute sie sich darauf, dass sich endlich einmal jemand anderes mit Scott herumplagen durfte.

 

Nachdem Mr McDermont ihrem Urlaub zugestimmt hatte – ebenfalls ein kleiner Bonus für ihre harte Arbeit – war Lany direkt zum Reisebüro gegangen und hatte sich nach einer solchen Reise erkundigt.

 

Der Mitarbeiter des Reisebüros fand es zwar eigenartig, dass eine junge Frau von 28 Jahren eine so abenteuerliche Reise ganz ohne irgendwelche Begleiter machen wollte, aber letzten Endes war es ihm auch wieder egal. Hauptsache er würde diese Reise an den Mann bzw. in diesem Falle an die Frau bringen und seine Provision dafür erhalten. Es ging ja schließlich alles nur ums Verkaufen in seinem Job, oder?

 

Tatsächlich hatte er schnell ein passendes und wirklich gutes Angebot für Lany gefunden. Sie würde vor Ort mit allem Notwendigen ausgerüstet werden – Zelt, Nahrung, einem GPS-System und Kartenmaterial und was sie ansonsten noch benötigen würde.

 

Doch erst einmal musste sie die drei Tage Arbeit noch überstehen und ihre Abwesenheit, so gut sie konnte, vorbereiten. Das war die einzige Bedingung, die ihr Chef gestellt hatte. Nichts sollte in der Firma ins Stocken kommen, solange Lany durch die Wildnis Brasiliens wanderte und wahrscheinlich noch nicht einmal per Handy erreichbar sein würde.

 

Nachdem sie das Reisebüro verlassen und sich bei ihrem Lieblingsitaliener noch mit einem Abendessen-to-go versorgt hatte, stand Lany nun gerade vollbepackt mit ihrem Essen und noch einigen Akten, die sie zu Hause durchsehen wollte, vor ihrer Wohnungstür - sie schaffte es doch nie ganz, einmal komplett abzuschalten – als irgendwo in ihrer Handtasche ihr Handy klingelte. Und dieses verdammte Ding hörte einfach nicht auf damit.

 

Lany wollte auf gar keinen Fall von ihrer Nachbarin, Mrs Snips, bemerkt werden und kramte daher eilig nach ihrem Schlüssel. Aber als sie ihn gerade gefunden hatte und ihn ins Schloss stecken wollte, ging die Tür zur Nachbarwohnung auf und Mrs Snips starrte sie wütend mit in die Hüften gestemmten Händen an.

 

„Sie sollten endlich lernen ihren Lärmpegel zu senken, meine Liebe. Es handelt sich hier schließlich nicht um eines dieser neumodischen Tanzlokale und sie wohnen in diesem Haus schließlich nicht allein!“

 

Oh Mann, konnte der Tag noch besser werden? Mrs Snips war um die Neunzig Jahre alt, aber wenn man sie sah, machten die meisten Leute den Fehler und unterschätzten sie gewaltig.

 

Sie war weder senil noch war sie taub und sie hatte eine erschreckend große Anzahl von Haaren auf den Zähnen.

 

Wenn sie mit einem redete, hatte sie nie ein freundliches Wort auf den Lippen. Alles war ihr zu viel und die meisten Dinge oder gar Personen waren ihr sowieso nur zuwider.

Und nun hatte sie sie entdeckt, nur wegen dieses blöden Handys. Das leider immer noch nicht aufgegeben hatte und stetig weiterklingelte.

 

„Mrs Snips! Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend. Haben sie einen schönen Tag gehabt?“, fragte Lany und wusste ganz genau, dass sie den alten Drachen damit nur noch weiter auf die Palme brachte. Aber es war ihr egal und sie hatte vor allem nicht die Absicht sich ihren Feierabend von ihrer unliebsamen Nachbarin verderben zu lassen.

 

„Werden sie nicht so frech, Ms Briscott. Irgendwann wird sich das noch einmal rächen. Glauben sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Daher habe ich auch erst kürzlich mit unserem Vermieter gesprochen und ihm ganz nebenbei einmal erklärt, was er sich mit ihnen für eine Mieterin in unser ruhiges Haus geholt hat. Und stellen Sie sich vor, er wird sich dieser Sache in den nächsten Tagen tatsächlich annehmen und sich einmal genauer mit ihnen auseinandersetzen, meine Liebe. Ich sagte ja bereits vor einiger Zeit – Frechheit kann nicht siegen! Guten Abend!“

 

Mit diesen Worten knallte Mrs Snips ihre Tür zu. Lany stand immer noch mit dem Schlüssel im Schloss und starrte ungläubig die Nachbartür an. Was war das denn gerade gewesen. Hatte die Alte nun endgültig den Verstand verloren? Lany ging in ihre Wohnung und schloss ihrerseits die Wohnungstür.

 

Kaum hatte sie alles aus ihren Händen gelegt und nach ihrem nervigen Telefon gegriffen, als das verflixte Ding nun doch noch verstummte. Na toll! Hättest du nicht auch schon früher damit aufhören können? Lany sah nach, wer gerade noch so viel Ausdauer bewiesen hatte. Und wie hätte es auch anders sein können. Es war natürlich ihre MUTTER!

 

Lauren Briscott hatte schon immer das Talent besessen, ihre Tochter in peinliche oder gar schwierige Situationen zu bringen. Egal ob es damals in der Schule war, als sie sie nicht nur vor dem Schulgebäude absetzen, sondern sie auch noch in ihr Klassenzimmer bringen wollte.

 

Dort hatte sie dann natürlich nichts Besseres zu tun, als mitten in der Tür zum Klassenzimmer zu stehen und sie ganz ungezwungen und ziemlich laut zu fragen, ob sie ihr nicht einmal den süßen Jungen, von dem Lany zu Hause geschwärmt hatte, kurz zeigen wolle. Dadurch war sie natürlich für das restliche Schuljahr der Lacher Nummer eins gewesen, bis Gott sei Dank jemand anderes etwas noch Peinlicheres getan hatte und sie damit in Vergessenheit geriet.

 

Oder als ihre Mutter bei Mr McDermont angerufen hatte – Lany hatte gerade erst ihre jetzige Stelle angetreten – und ihn darauf hinweisen musste, dass ihre Tochter ein zartes Seelchen besäße, welches mit Umsicht behandelt werden müsse. Sie käme schließlich aus einer Kleinstadt und wisse noch nicht, wie das Leben in der großen und gefährlichen Stadt ablaufe. Beinahe hätte allein dieser Anruf sie den Job gekostet. Lany konnte aber ihren Chef davon überzeugen, dass er ihre Mutter nicht für voll nehmen solle.

 

Und es gäbe noch unzählige Male, über die Lany berichten könnte. Eigentlich könnte sie darüber glatt ein Buch schreiben. Sie würde diese Option auf ihre Liste der Dinge setzen, die sie unbedingt einmal machen sollte. Und nun schon wieder eine solche Peinlichkeit, die sich aber anscheinend bereits in eine gewisse Schwierigkeit verwandelt hatte, wenn sie den Worten von Mrs Snips Glauben schenken durfte.

 

Lany schaltete das Handy aus. Sie wollte nicht noch einmal gestört werden oder sogar Gefahr laufen, dass sie aus Versehen doch noch ihre Mutter am Apparat hätte.

 

Nachdem Lany nun duschen war und sich in ihren Bademantel gekuschelt hatte, machte sie sich das Essen noch einmal warm und goss sich den ersehnten Rotwein ein. Dann schnappte sie sich ihr Buch und setzte sich auf ihre Couch, um endlich den Abend genießen zu können.

 

Es dauerte nicht lange und sie hatte ihr Essen mehr verschlungen als genossen und ihr Glas war bereits das dritte Mal gefüllt, als sie schließlich auf der Couch einschlief.

Kapitel 2 – Ersehnte Ruhe

Warren Lang verabschiedete sich gerade von einer Gruppe Touristen, die er die letzten zwei Wochen durch die Wildnis Brasiliens geführt hatte und war froh, diese fürchterlichen Stadt-menschen endlich wieder los zu sein.

 

Er war es schon länger nicht mehr gewohnt, so viele Menschen um sich zu haben. Warren hatte mehrere Monate zurückgezogen in den Wäldern gelebt und dabei die Ruhe ausgiebig genossen. Um Geld brauchte er sich eh nicht zu sorgen. Davon hatte er schließlich genug.

 

Seinem Clan gehörte u.a. eine der größten und erfolgreichsten Internetfirmen der Welt. Er hatte sich aber noch nie wirklich für diese Geschäfte interessiert, sehr zum Leidwesen seines Vaters und Clanführers.

 

Warren zählte mit seinem Alter schon lange nicht mehr als Junge oder gar Halbstarker, aber trotzdem versuchte sein Vater sich das immer wieder einzureden, damit er nicht wahnsinnig über den Lebenswandel seines ältesten Sohnes wurde.

 

Schließlich sollte dieser einmal die Familiengeschäfte weiterführen. Nicht umsonst hatte er ihn schon früh auf die besten Schulen und Universitäten geschickt. Aber dieser Bengel musste ja unbedingt als Fremdenführer im Dschungel für die Touristen den Affen spielen. Und das war mehr als unwürdig für seinen ältesten Sohn.

 

Auch wenn sich Ephraim Lang niemanden, natürlich außer sich selbst, vorstellen konnte, der sich besser in diesen Wäldern auskannte und untertauchen konnte, als Warren. Schließlich hatte er ihm dies alles Selbst gelehrt.

 

Allerdings konnte Ephraim seinen Sohn auch irgendwie verstehen. Damals, als er noch in Warrens Alter war, hätte er auch dieses Leben gewählt, wenn nicht sein Vater spontan das Zeitliche gesegnet hätte und somit er die Clangeschäfte übernehmen musste.

 

Aber auch Warren würde irgendwann schon noch zur Vernunft kommen. Und noch hatte Warrens Vater nicht vor, sich das Ruder aus der Hand nehmen zu lassen, geschweige denn es freiwillig abzutreten. Daher konnte er auch Warren noch etwas Zeit für seine Träumereien zugestehen.

 

Außerdem war es, bei genauerer Betrachtung auch gar nicht schlecht, dass Warren diese Verrückten, die sich Touristen nannten, im Auge behielt. Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn diese allein oder gar mit einem anderen Fremdenführer durch den Urwald stolpern würden.

 

Eigentlich war dies auch der Hauptgrund, warum Ephraim seinen Sohn schon so lange gewähren ließ. Er schützte durch seine „Arbeit“ ganz nebenbei die Geheimnisse des Clans und das sehr effektiv.

 

Als alle Touristen im Bus saßen und dieser sich endlich in Bewegung setzte, atmete Warren hörbar aus. Er hatte schon befürchtet, dieses eine ältere Pärchen könnte es sich doch noch anders überlegen und seinen Aufenthalt verlängern. Damit hätten sie Warrens Geduld auf eine harte Probe gestellt.

 

Solche Menschen, wie diese beiden hatte er noch nie kennengelernt. Sie wirkten zwar alt und schrullig, aber hinter dieser Fassade versteckten sich zwei der größten Quälgeister dieser Welt, und sie waren zudem überraschenderweise noch erstaunlich fit.

 

Nicht nur, dass sie mit ihrem Fotoblitzgewitter alle Tiere auf ihrer Route durch den Wald verschreckt hatten, nein, sie wollten auch unbedingt die zahlreichen Pflanzen auf ihrem Weg für ihre persönliche Sammlung mit nach Hause nehmen, obwohl diese unter Naturschutz stan-den.

 

Und mehrere Male hatten sie sich nachts heimlich vom Lager entfernt, um auf eigene Faust durch den Dschungel zu marschieren und nicht nur die genehmigten Wege zu betreten. Und genauso oft musste Warren sie auch wieder zum Lager zurückbringen. Natürlich ging dieses nie ohne irgendwelche Diskussionen und diverser Ausreden vonstatten. Und da die beiden über ein anscheinend sehr großes Bankkonto verfügten, bestand selbstverständlich für sie die Möglichkeit, ihren Urlaub bis ins Unermessliche zu verlängern.

 

Aber irgendwer hatte anscheinend Mitleid mit Warren. An einem der letzten Tage im Dschungel, sie waren bereits auf dem Rückweg zum Ausgangspunkt der Expedition, klingelte plötzlich das Satellitentelefon des alten Mannes. Er hatte sich für das Gespräch etwas von der Gruppe entfernt, sodass keiner das Telefonat mitverfolgen konnte, außer natürlich Warren mit seinem exzellenten Gehör.

 

Nach diesem Telefonat war der alte Mann extrem missmutig und zeterte immer wieder mit seiner Frau. Aber letzten Endes war dies Warrens Rettung. Dieses Telefonat hatte dafür gesorgt, dass Warren diese beiden endlich loswurde.

 

Nachdem der Bus aus seiner Sichtweite verschwunden war – und diese war wirklich beträchtlich – entschloss sich Warren noch kurz in der lokalen kleinen und äußerst schäbigen Kneipe vorbeizuschauen und seiner geliebten alten Rosa noch einen Besuch abzustatten.

 

Rosa war der Dreh- und Angelpunkt des ganzen winzigen Ortes. Bei ihr tauschten die Leute Neuigkeiten aus. Hier bekam man seine Post und auch sonst alles, was man eventuell benötigen könnte. Sie war, so glaubte Warren, seit Anbeginn der Zeit schon dort gewesen – so musste es einfach sein – er kannte es nicht anders.

 

Als Warren nun in die schummrige Kneipe trat, sah er hier und dort ein paar bekannte Ge-sichter über ihren Bierkrügen oder Schnapsgläsern sitzen und vor sich hindösen. Er selbst steuerte direkt auf den etwas abseits gelegenen Tresen zu, hinter dem Rosa ihn schon strahlend lächelnd erwartete.

 

„Na, mein Junge, hat es dich endlich mal wieder zu uns verschlagen?“, und schon kam Rosa um den Tresen herumgewirbelt, trotz ihres hohen Alters, wie eine junge Gazelle und schlang Warren die Arme um dessen Taille – denn höher reichte sie nicht. „Willst du mich nur mal wieder besuchen oder treibt dich noch etwas anderes hierher?“

 

Warren lachte, während er Rosa sanft den Rücken klopfte und sie zur Begrüßung auf die Stirn küsste. „Meine liebe Rosa, es ist wirklich schön, dich wiederzusehen! Natürlich bin ich NUR deinetwegen hier!“ Warren grinste sie bei seinen Worten verschmitzt an.

 

Er liebte die alte Rosa einfach, mit ihrem ruhigen und unkomplizierten Wesen. Schon als Kind kam Warren, wenn es mal wieder Ärger mit seinem Clan gegeben hatte, zu ihr. Und sie hatte auch immer ein offenes Ohr sowie einen passenden Ratschlag oder etwas Essbares für ihn.

 

Nachdem Rosa wieder hinter ihren Tresen gegangen war, um für sie beide ein kühles Bier vorzubereiten, erzählte Warren ihr von seiner gerade zurückgelegten Expedition und von seinen Erlebnissen mit diesen fürchterlichen Touristen. Nur mit ihr konnte er so reden. Sie verurteilte ihn niemals oder versuchte ihn zu etwas zu drängen, dass er sowieso nicht wollte.

 

Mitten in ihrem Gespräch klingelte plötzlich das Telefon hinter Rosa, welches das einzige Telefon im ganzen Ort war. Am anderen Ende war ein Reiseveranstalter, der sich nach Warren Lang erkundigte und wann dieser zur nächsten Expedition aufbrechen würde.

 

Warren signalisierte Rosa, dass er gerade nicht da wäre und sie nahm für ihn die Informationen entgegen. Der Mitarbeiter des Reisebüros gab ihr seine Telefonnummer und bat darum, das Mr Lang ihn doch bitte so schnell wie möglich zurückrufen sollte, da er einer jungen Frau gerade einen Trip in die Wildnis Brasiliens verkauft hätte. Sie würde ganz alleine reisen, und da er dabei kein gutes Gefühl hatte, wollte er für sie versuchen, einen erfahrenen Expeditionsführer zu organisieren.

 

Nachdem das Telefonat beendet war, machte Rosa sich nicht die Mühe Warren die Einzelheiten mitzuteilen. Ihr war sein überaus gutes Gehör ja hinreichend bekannt. „Und? Wirst du den Job übernehmen, Warren?“, fragte Rosa nur „Es handelt sich ja schließlich dieses Mal nur um eine einzige Person, die du ertragen musst.“, und grinste bei den letzten Worten.

 

„Nein, ich denke nicht. Ich wollte mich eigentlich ein paar Tage hier in der Nähe ein wenig von der letzten Gruppe erholen und vielleicht das eine oder andere Bierchen bei dir genießen. Er wird schon jemand anderes für diese Frau … wie hieß sie doch gleich noch … na ja, ist ja auch egal, finden.“

 

„Eine gewisse Ms Briscott, mein Junge. So heißt die junge Frau. Vielleicht ist sie ja auch ganz nett.“ Warren brummelte missmutig. „Du bist schon brummig, wie ein altersschwacher Kater. Das ist nicht gut, Warren. Du bist noch viel zu jung für solch einen Starrsinn! Vielleicht solltest du dich endlich mal nach einem netten Mädchen umschauen, vielleicht sogar eine kleine, aber feine Familie gründen und nicht immer ganz alleine durch die Wälder streifen. Du weißt, Einsamkeit kann wahnsinnig machen! … So, aber nun – papperlapapp – Schluss mit solchen Reden. Du bist hier, mein Junge, und ich freue mich riesig darüber. Komm doch einfach heute Abend noch zum Abendessen vorbei. Descento hat Glück bei der Jagd gehabt und das wollen wir heute Abend feiern!“

 

Warren murmelte unverbindlich „Mal sehen … vielleicht … ja, Danke“, und machte sich erst einmal wieder auf den Weg zurück zu seinem Lager, dass er hier in der Nähe aufgeschlagen hatte. So sehr er Rosa auch liebte, aber von dem ganzen Gerede dröhnte ihm inzwischen sein Schädel und die Ohren schmerzten noch dazu.

Er brauchte ein wenig Ruhe – Ruhe und viel Schlaf.

Kapitel 3 – Endlich FREI

Die letzten zwei Tage waren wie im Fluge vergangen. Nun war endlich, andererseits aber auch leider der letzte dritte Tag angebrochen, bevor Lany ihre Reise antreten würde. Leider, weil sie irgendwie das Gefühl nicht loswurde, dass sie wichtige Dinge vergessen hatte, die sie unbedingt für ihre Abwesenheit vorbereitet hätte haben müssen. Was natürlich totaler Unsinn war, aber das war Lany – perfektionistisch bis zum bitteren Ende.

 

Auf der anderen Seite freute sie sich schon riesig und konnte ihrem Feierabend kaum entgegensehen. Dann wäre sie endlich FREI und könnte einmal das tun, wonach ihr der Sinn stand. Und das war schließlich ihre geplante Reise.

 

Es war alles für den Start vorbereitet. Ihre Koffer inklusive aller notwendigen Papiere waren seit gestern gepackt und warteten nur auf ihre Abholung.

 

So träumte Lany eine Weile in ihrem schicken Büro vor sich hin und malte sich schon ihre Abenteuer aus, die sie bald erleben würde. Ihrer Familie hatte sie natürlich nichts von ihrem Urlaub gesagt. Warum auch? Die hätten nur darauf bestanden, dass diese Reise Unsinn wäre und sie lieber einen langen Abstecher nach Hause unternehmen sollte, um mal wieder die Familie zu besuchen.

 

Aber bestimmt wäre der Hauptgrund, wie jedes Mal, gewesen, dass Onkel Stan sich das Bein oder sonst einen Körperteil gebrochen hatte und sie deshalb mit auf der Farm ja hätte helfen können und vor allem müssen.

 

Also lieber nix sagen und die Freiheit genießen. Vielleicht würde sie ja später mal kurz anru-fen, wenn sie an ihrem Urlaubsort angekommen war und direkt, bevor sie in die Dschungel aufbrechen würde. Aber wirklich nur vielleicht.

 

Lany merkte, so in ihre Träumerei versunken, gar nicht, dass sie nicht mehr alleine in ihrem Büro war und so schreckte sie plötzlich hoch, als sie Scotts Stimme vernahm. Sie konnte sich gerade noch so abfangen, um nicht mit ihrem Bürostuhl komplett umzukippen.

 

„Hast du schon mal was von Anklopfen gehört, Scott? Anscheinend nicht, denn ich habe nicht „Herein“ gesagt, wie dir vielleicht aufgefallen sein sollte!“ Lany war so verärgert und konnte nicht anders als ihn anzuschnauzen.

 

Scott schien das allerdings Mal wieder nichts auszumachen. Er stand direkt vor ihrem Schreibtisch und hatte ein breites und wie immer schmieriges Grinsen ins Gesicht getackert. „Hi, Lany! Ich dachte, ich hätte ein „Herein“ gehört. Nur deshalb bin ich eingetreten!“, sagte Scott unschuldig.

 

Pah, der und unschuldig? Ganz gewiss nicht! Lany wusste es schließlich besser. Aber da sie ja nur noch ein paar Stunden in dieser Firma verweilen musste, riss sie sich zusammen und fragte ihn, was er denn jetzt schon wieder wolle.

 

„Ich wollte mich nur von meiner Lieblingsteamleiterin verabschieden und dir einen schönen Urlaub wünschen. Hättest du mir früher gesagt, wann du Urlaub nimmst, hätte ich auch welchen einreichen können und wir hätten uns ein paar schöne gemeinsame Tage machen können. Aber so ist es leider nicht mehr möglich, mein Schatz!“

 

Und das letzte klang aus Scotts Mund so scharf und spitz, dass Lany ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Wie sich die Situation mit Scott entwickelte, war nicht richtig. Vielleicht sollte er sich doch langsam mal ärztliche Hilfe suchen.

 

„Danke, Scott. Ich werde sicherlich meinen Urlaub genießen und den Abstand zu ALLEM hier!“ Lany legte in ihre Worte so viel Schärfe, wie sie konnte, ohne dabei ihre kühle Fassade zum Einsturz zu bringen und hoffte inständig, dass Scott dieses eine Mal den Wink mit dem doch sehr großen Zaunpfahl verstehen würde.

 

„Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest. Ich habe noch einige wichtige Telefonate vor meiner Abreise zu führen.“ Damit drehte Lany sich wieder ihrem Computer und ihrem Telefon zu, um dann ganz demonstrativ die erste Nummer zu wählen.

 

Scott stand noch einen Augenblick da und starrte sie weiter an, aber als sie das erste Gespräch begann, drehte er sich doch um und verließ das Büro.

 

Endlich war der Tag geschafft. Alle wichtigen Gespräche waren geführt, alle Vorbereitungen getroffen und nun hielt sie nichts mehr auf ihrem Weg zum Flughafen auf. Lany betrat das Parkhaus der Firma, wo sie ihr voll beladenes Auto heute Morgen abgestellt hatte. Schon aus der Ferne konnte sie sehen, dass etwas an ihrem Wagen anders war.

 

Als sie an ihn herantrat, konnte sie auch sehen, was es war. Vorn auf der Motorhaube war ein großer Briefumschlag festgeklebt worden, adressiert an LANY BRISCOTT. Sie sah sich verwundert um, aber niemand war zu sehen oder zu hören.

 

Lany nahm den Briefumschlag ab und stieg in ihr Auto. Sie wollte ihn später am Flughafen öffnen und sich jetzt nicht davon aufhalten lassen, zumal sie sich in diesem gruseligen Parkhaus befand.

 

Als sie aus dem Parkhaus fuhr, sah sie gerade noch an der Ecke Scott stehen und ihr mit einem Zwinkern zuwinken, bevor sie sich auf direktem Wege zum Flughafen befand. Dieser Mann machte ihr langsam etwas Angst.

 

Am Flughafen hatte sie noch ein wenig Zeit, bevor ihr Flieger starten würde und so nahm sie sich diesen ominösen Briefumschlag vor. Es war edles Papier – quasi nicht von der „Stange“ und Lany wunderte sich, von wem dieser Brief wohl sei. Gerade als sie ihn öffnen wollte, wurde ihr Flug ausgerufen. Lany steckte also den Briefumschlag wieder in ihre Tasche und machte sich auf den Weg.

 

Der Flug war sehr lang und Lany bereute schon ein wenig, dass sie nur in der Economy-Class flog. Aber das Bordpersonal war sehr freundlich und zuvorkommend und nach einiger Zeit nickte sie auch ein. Zwischendurch wurde sie immer wieder durch lautere Unterhaltungen oder Kindergeschrei geweckt, aber es dauerte immer nicht lange, bis sie wieder einschlafen konnte.

 

Nach einiger Zeit wachte sie erneut auf, konnte aber nicht wieder einschlafen. Nachdem sie sich etwas zu trinken bestellt hatte, schweiften ihre Gedanken langsam ab.

 

Damals im Reisebüro hatte der Mitarbeiter sie gefragt, ob sie sich nicht lieber einen Frem-denführer bei dieser Reise anvertrauen wolle. Er wüsste dort vor Ort von jemandem, der ein exzellenter Expeditionsführer wäre. Wenn sie es wollte, würde er versuchen, Kontakt mit diesem Mann aufzunehmen.

 

Lany hatte damals widerstrebend zugestimmt. Eigentlich war das nicht ihre Absicht gewesen, so unvernünftig, wie es sich auch anhören sollte. Sie wollte auf eigene Faust losziehen und ihre eigenen Abenteuer erleben – nicht die, die jemand für sie ersonnen hatte. Also rief der Mitarbeiter des Reisebüros seinen Kontakt vor Ort an und erkundigte sich nach besagtem Expeditionsführer. Der Name wollte ihr aber bei bestem Willen nicht mehr einfallen. Aber es war eigentlich auch egal.

 

Am Ende hatte der Reisebüromitarbeiter seine Nummer hinterlassen und um Rückruf gebe-ten. Da der Rückruf aber nie erfolgt war, bekam Lany letzten Endes doch noch ihren Willen, sehr zum Missfallen des Reisebüromitarbeiters.

 

Viele Stunden später landete endlich das Flugzeug. Aber für Lany war die Reise noch nicht vorbei. Sie sollte von dort mit einer kleinen Chartermaschine zu ihrem Bestimmungsort wei-terfliegen. Aber diese Maschine zu finden, war für sich allein schon ein großes Abenteuer.

 

Als sie dann doch den Besitzer, und damit auch gleich den Kapitän der Chartermaschine gefunden hatte, traute sie ihren eigenen Augen nicht richtig. Es war ein älterer Mann, etwa um die Sechzig mit alten verwaschenen und irgendwie auch zerlumpten Sachen. Auch die Haare machten einen ziemlich schlechten Eindruck, wenn denn noch welche vorhanden waren.

 

Aber das größte Problem war eindeutig die Verständigung. Keiner von beiden konnte den anderen verstehen. Schließlich zeigte Lany ihm ihre Reisepapiere, worin u.a. auch seine Maschine sowie das Reiseziel vermerkt worden waren und anscheinend kamen sie damit tatsächlich ein Stückchen weiter, als sich mit Händen und Füßen verständigen zu wollen.

 

Der Kapitän schnappte sich ihr Reisegepäck und lud es mit Schwung in sein Flugzeug. Dann bedeutete er ihr gestenreich ins Flugzeug zu steigen und zeigte ihr, wie sie sich festschnallen sollte. Er selbst stieg dann ins Cockpit, startete die Maschine und schon hoben sie ab.

 

Lany war etwas mulmig zumute. Einerseits, weil diese Maschine alles andere als intakt wirkte. Andererseits, weil sie sich jetzt doch eine wenig komisch vorkam – so ganz alleine, mit einem fremden Mann, den sie noch nicht einmal verstand, irgendwo weit weg von zu Hause und unter ihr die ersten Ausläufer der brasilianischen Wildnis. Na, wenn das Mal gut geht!

 

„Nein, hör sofort auf! Reiß dich gefälligst zusammen, Lany Eleonore Margret Briscott!“, schimpfte Lany mit sich selbst in Gedanken. „Es wird gut gehen. Alles ist in Ordnung und ich werde den besten Urlaub meines Lebens haben! Schluss AUS!“

 

Die letzten Worte musste sie laut gesprochen haben, der Kapitän rief aus seinem Cockpit irgendetwas für sie mal wieder unverständliches, aber Lany nahm an, dass er fragte, ob alles in Ordnung sei und so sagte sie nur „OK“. Hoffentlich verstand er wenigstens das.

 

Lany musste zwischendurch wieder eingeschlafen sein, denn als sie das nächste Mal aus dem Fenster sah, war unter Ihnen nichts weiter als Wald – unzählige Bäume, wohin das Auge blickte. Es sah wunderschön aus. Wie ein riesiger grüner Teppich. Hier und da wurden einige Vögel durch das zweimotorige Flugungetüm aufgeschreckt und flogen davon.

 

Es war einfach wundervoll. Die Sonne war bereits am Untergehen und so bekam Lany ihren ersten Sonnenuntergang in Brasilien zu sehen. So ein beeindruckendes Farbspiel hatte sie in ihrer Heimat und auch sonst noch nie gesehen. Es war als würde die Sonne den riesigen grünen Teppich nehmen und sich damit zudecken und überall strahlten ihre warmen, goldenen Farben übers Land und streichelten die Bäume, als wären es ihre Kinder, denen sie eine gute Nacht wünscht.

 

Auf einmal stotterte die Maschine und Lany wurde aus ihren Gedanken und fort von diesem wundervollen Anblick gerissen. Der Kapitän schimpfte irgendetwas, aber wie schon vorher, konnte sie kein Wort davon verstehen.

 

Als das Stottern der Maschine nicht aufhörte, machte sie sich allmählich Sorgen. Sie hörte, wie die Räder ausgefahren wurden, und merkte, wie das Flugzeug immer tiefer sank – mitten in die Bäume hinein.

 

„Oh mein Gott – HILFE!“ Lany krallte sich mit ihren Fingernägeln in die Armlehnen ihres Sit-zes und kniff die Augen kräftig zusammen. Sie hatte panische Angst und wollte nicht sehen, wie diese klapprige Maschine mitten in den Urwald abschmierte und sie wahrscheinlich ster-ben würde.

 

Schon diese wenigen Gedanken verursachten bei ihr noch mehr Panik, in die sich immer weiter rein steigerte und ihr eine unbeschreibliche Übelkeit verursachte.

 

Sie schickte diverse Stoßgebete zu irgendwem, der vielleicht gerade Zeit hatte und ihr zuhören würde, als alles um sie herum plötzlich zum Stillstand kam … Eine schwarze Welle über-kam sie mit solcher Macht, es gab nichts mehr außer dieser Schwärze, diesem absoluten Nichts.

 

***

 

Eine Stimme – irgendwo weit in der Ferne. Dann wieder Ruhe – Ruhe und Dunkelheit. Ein Rascheln, wie von Kleidung, aber kaum da, war es auch schon wieder fort. Ein sanfter Lufthauch. Ein plötzliches Beben, dann etwas Nasses, sehr Kaltes an ihrem Kopf. Und schon wieder diese Stimme.

 

Lany lauschte angestrengt mit noch geschlossenen Augen. Sie war sich nicht ganz sicher, was hier eigentlich vor sich ging. In ihrer Erinnerung waren nur kurze Episoden der letzten Minuten, gar Sekunden, bevor das Flugzeug abstürzte. So sehr sie sich auch anstrengte, aber sie konnte diese Stimme einfach nicht verstehen.

 

Dieses nasse Etwas verschwand von ihrer Stirn, um gleich darauf wieder aufzutauchen. Nur war es jetzt wieder angenehm kalt. Eine zweite Stimme tauchte auf. Beide redeten ruhig, aber anscheinend sehr eindringlich miteinander. Wieder ein Beben. Die erste Stimme entfernte sich erneut ein wenig von ihr. „Was ist passiert? Wo bin ich?“, fragte sich Lany im Stillen.

 

Nach einer Weile beschloss sie, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, um vielleicht ein paar mehr Informationen über ihre Lage zu erhalten.

 

Sie befand sich in einem Zimmer. Es war abgedunkelt und roch ein wenig modrig. „Wenn ich tot bin – wo bin ich dann?“

 

Das Bett auf dem Lany lag, war nicht besonders groß, aber es war zumindest schön weich. Sie tastete unter der Decke nach ihren Sachen, da sie das Raue der Decke doch ziemlich deutlich an ihrem gesamten Körper spürte. „Oh Gott! Ich bin nackt!!!“ Lany überfiel ihre übliche Panik binnen Sekunden. Wo sind meine Klamotten?

 

Sie versuchte sich durch ihre Atemtechnik, die sie bei Dr. Simmons gelernt hatte, so unauffällig wie möglich zu beruhigen. Da sie immer noch nicht wusste, wo sie sich gerade befand und vor allem bei wem, war das wohl die beste Taktik.

 

Trotz Lanys innerem Aufruhr schaffte sie es, nach außen hin vollkommen ruhig und unbewegt zu erscheinen. Als sich ihr dann erneut Schritte näherten, schaffte sie es sogar – trotz der leicht geöffneten Lider – nicht zu blinzeln und dadurch unbemerkt zu bleiben.

 

Durch die geöffnete Tür sah sie anfangs nur eine Silhouette sich nähern. Die eintretende Person war nicht besonders groß und ihr Körperbau doch ziemlich gedrungen. Als diese Person direkt neben Lany am Bett stand, erkannte sie, dass es sich um eine ältere Frau handelte, die eine Schüssel in den Händen trug.

 

Die Frau machte einen ziemlich besorgten Gesichtsausdruck und fühlte mit ihrer kleinen Hand Lanys Stirn. „Was ist hier nur los?“ Lany konnte es immer noch nicht begreifen. Sie bekam ihre Gedanken und damit ihre Erinnerungen einfach nicht gefasst, und wenn sie mal aufblitzten, konnte sie sie nicht halten. „Verdammt!“

 

Irgendwie musste Lany dann aber doch gezuckt haben, denn plötzlich sprach die alte Dame sehr eindringlich auf sie ein. Nun ging es nicht mehr anders – sie musste die Augen aufma-chen und sich der neuen Realität stellen.

 

Die alte Frau war außer sich. Ihre Augen strahlten Lany an, als wäre sie ein besonders tolles Weihnachtsgeschenk. Und sie redete immer noch und immer weiter und immer schneller in dieser fremdartigen Sprache, die bereits der Kapitän von dieser Chartermaschine gesprochen hatte. Zumindest glaubte Lany, dass es sich hierbei um die gleiche Sprache handelte.

 

Als Lany sie nur ungläubig mit ihren großen grünen Augen anschaute, kam sie nun doch ein wenig ins Straucheln. Genauso schnell, wie sie geredet hatte, drehte sich die alte Frau plötz-lich auf ihren Absätzen um und rannte aus dem Zimmer.

 

Währenddessen hörte Lany sie immer noch irgendetwas rufen, bis sie schlagartig verstummte. Nun war nur noch ein leises Flüstern zu vernehmen. Kurz darauf kehrte die Alte zurück. Im Schlepptau hatte sie eine weitere Person – einen Mann. Er blieb im Türrahmen stehen, während die Frau erneut auf Lany zuging und sich auf den Bettrand setzte. „Aha, daher also die Beben vorhin.“

 

Die alte Dame sagte etwas zu dem Mann, der sich anscheinend nicht so richtig in den Raum hinein traute. „Was war das denn gerade für ein Blick?“ Lany glaubte, gerade so etwas wie Unmut oder Misstrauen in seinen Augen erkannt zu haben.

 

Aber genauso schnell, wie dieser Blick kam, war er auch schon wieder verschwunden. War er überhaupt da gewesen oder hatte irgendetwas ihr einen optischen Streich gespielt?

 

Nun setzte auch der Mann sich in Bewegung. Die ganze Zeit konnte Lany nur seine Konturen ausmachen, da sie gegen das grelle Licht, welches durch die Türöffnung drang, anblinzeln musste. Aber nun verschlug es ihr fast den Atem.

 

Vor ihr stand ein hochgewachsener, sehr attraktiver Mann. Sein Haar trug er kurz geschnitten. Hier und da waren ein paar Locken zu sehen. Er hatte einen Drei-Tage-Bart, und wie sie nun sehen konnte, immer noch einen ziemlich distanzierten Blick ins Gesicht getackert.

 

Als die alte Frau Lanys Gesichtsausdruck bemerkte, schaute auch sie in die Richtung des Mannes. Und ihr Blick sprach Bände.

 

Es dauerte nur noch einen weiteren Moment, dann blickte er endlich etwas freundlicher. Auch, wenn die alte Frau nun zufrieden war, wirkte es auf Lany eher so, als ob er ganz tief in seinem Inneren nach der nun hervorgetretenen Freundlichkeit hatte graben müssen.

 

Lany konnte ihren Blick immer noch nicht von dem Unbekannten abwenden, als er plötzlich in einer angenehmen, tiefen Stimme etwas zu ihr sagte. Zum Anfang verstand Lany gar nicht, warum die alte Frau und der Mann sie so eigenartig musterten.

 

Doch im nächsten Moment wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie tatsächlich den Inhalt seiner Worte verstanden hatte. „Gott sei Dank! Tatsächlich ein Mensch in diesen Gefilden, der meine Sprache spricht!“ Als sie immer noch nicht antwortete und ihn nach wie vor, wie ein erschrockenes Kalb anstarrte, wiederholte er noch einmal seine Frage.

 

„Rosa möchte wissen, wie es ihnen geht. Sie hat sich große Sorgen gemacht, als Raoul sie bewusstlos hierher gebracht hat. Er konnte leider nicht sagen, was mit Ihnen passiert ist.“

 

„Em … nun ja. Ich weiß nur noch, dass ich in dieser fürchterlichen Chartermaschine geses-sen habe und diese plötzlich in irgendwelche Turbulenzen geraten ist und wir immer tiefer gesunken sind. Dann war alles Schwarz und ich kann mich nicht mehr erinnern, was dann geschah. Aber, wo bin ich eigentlich? Wer ist Raoul? Und wer sind Sie beide? … Oh Mann, ich bin total verwirrt!“

 

Die alte Dame und der Mann verfielen erneut in ein Gespräch, währenddessen sie aber Lany nicht aus den Augen ließen. Nach einer Weile sprach der Mann erneut zu ihr. „Sie befinden sich hier im Privatbereich von Rosas kleiner Kneipe. Und die befindet sich wiederum in Caderra - hier im Urwald. Raoul ist der Kapitän ihrer Chartermaschine. Wie schon gesagt, er brachte sie zu Rosa, als sie bewusstlos waren. Rosa ist die wichtigste Person hier im Dorf. Hier trifft sich alles und jeder, und sie weiß immer über alles und jeden Bescheid. Hier in der Kneipe befindet sich auch das einzige Telefon der ganzen Gegend. Meistens haben aber die Leute, die eine Expedition unternehmen wollen, ein Satellitentelefon dabei.“

 

Er brach ab und sein Gesicht verschloss sich erneut für einige wenige Sekunden, bevor er weitersprach.

„Mein Name ist Warren, Warren Lang, und ich bin hier in der Gegend hin und wieder als Expeditionsführer unterwegs. Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe. Rosa und Raoul meinten, ich solle bleiben, damit ich für sie übersetzen kann. Raoul hatte bereits erwähnt, dass Sie die Landessprache nicht sprechen.“

 

„Tja, dann …em, danke! Würden Sie Rosa vielleicht bitte sagen, dass es mir schon besser geht. Mein Kopf tut nur noch ein bisschen weh. Ich bin ihr für ihre Hilfe wirklich sehr dankbar.“

 

Lany hielt kurz inne, musterte die beiden, ihre fremden Gesichter ausführlich und sprach dann aber doch weiter. „Wenn ich tatsächlich in Caderra sein sollte, ist dies genau der Ort, wo ich hin wollte! Wäre es vielleicht möglich, dass ich einen Schluck Wasser bekommen könnte oder vielleicht einen starken Espresso? Das würde meine Lebensgeister gewiss wieder auf Vordermann bringen. Ach ja, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich meine Kleidung wiederbekommen könnte. Es ist für mich doch etwas unangenehm, hier quasi nackt vor Ihnen beiden zu sitzen, wo wir uns doch überhaupt nicht kennen.“ „Was war das? Hat er eben etwa gelächelt oder war das nur wieder ein Streich meiner Fantasie?“

 

Warren übersetzte anscheinend gerade Rosa das eben Gesagte. Die alte Dame wirkte wirk-lich unglaublich freundlich und sie strahlte eine ungemeine Ruhe aus. So etwas hatte Lany noch nie erlebt. Sie fühlte sich eigenartig geborgen in Rosas Nähe.

 

Dieser Warren dagegen war ein ganz anderes Kaliber. Sie konnte ihn beim besten Willen nicht einschätzen und dabei, war es eigentlich tagtäglich ihr Job Leute richtig einzuschätzen. Nur so konnte sie gewinnbringende Geschäfte abschließen.

 

„Das ist doch zum Mäusemelken! Verdammt, verdammt, verdammt!“ So etwas hatte Lany noch nie leiden können. „Aber sei´s drum.“ Bald würde sie sowieso von hier fort und ab in ihr großes, heiß ersehntes Abenteuer starten. Oder hatte ihr Abenteuer bereits begonnen?

 

Lany wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Warren sagen hörte: „Ihre Sachen finden Sie dort drüben auf dem Sessel. Rosa sagt, wenn Sie sich so fühlen und aufstehen können, kommen Sie doch einfach nach vorne an die Bar. Sie macht Ihnen dann etwas zu essen und einen starken Kaffee hat sie auch für Sie.“

 

„Oh, das ist wirklich sehr freundlich. Vielen Dank! Ich werde gleich nach vorne kommen.“

 

Nachdem Rosa noch kurz Lanys Arm getätschelt hatte, verließen sie und Warren den kleinen Raum und ließen ihren Gast allein. Lany stand noch etwas wackelig auf ihren Beinen, schaffte es aber schließlich zum Sessel zu gelangen und sich ihre Sachen mühsam anzu-ziehen.

 

Leider waren in diesem Raum kein Spiegel und auch kein Waschbecken, sodass sie ihre verstrubbelten Haare notdürftig versuchte in Ordnung zu bringen. Ihr Gesicht wollte sie lieber erst gar nicht sehen. Na ja, so konnte sie wenigstens schon einmal für ihren Aufenthalt im Dschungel üben – dort gab es schließlich auch keine Waschbecken geschweige denn Spiegel. Und es gab noch weniger jemanden, der sich dort für ihr Aussehen interessierte. Die Affen und anderen Tiere würden es ihr schon nicht übel nehmen.

 

Mit einem Grinsen im Gesicht verließ Lany schließlich ebenfalls das kleine Zimmer. Sie ging einen schmalen Flur entlang und hörte bereits die ersten Stimmen aus der Bar an ihre Ohren und in ihren Verstand dringen.

 

„Nein! … Nein, nein, nein! Das kann doch nicht sein. Ich muss mich verhört haben. Es muss einfach so sein!“ Lany blieb abrupt stehen und lauschte angestrengt. Vielleicht hatte sie sich ja doch geirrt. Aber nein, da war schon wieder diese Stimme, die gar nicht hier sein dürfte. Was sollte sie jetzt bloß tun? An einen Zufall glaubte sie absolut nicht. Nicht bei ihm.

 

Lany überlegte fieberhaft und suchte nach einem anderen Ausgang, als den, der direkt vor ihr lag. Aber sie konnte nur die Tür zu dem kleinen Zimmer, in dem sie zuvor gelegen hatte und eine weitere Tür, wahrscheinlich zu einer Abstellkammer, entdecken. Letztere war leider abgeschlossen.

 

Die altbekannte Panik streckte bereits wieder ihre Krallen nach Lany aus und zog sie mehr und mehr in ihren Bann. Am Ende saß Lany schwer atmend auf dem Boden an eine Wand gekauert, die angezogenen Beine mit ihren Armen umschlungen und ihren Kopf auf den Knien abgestützt.

 

Es konnte doch einfach nicht wahr sein. Wie hatte er sie hier finden können. Sie hatte niemandem, noch nicht einmal ihren Freunden von dieser Reise, geschweige denn von ihrem genauen Ziel erzählt.

 

Als weitere Minuten verstrichen waren, hörte sie, wie sich die Tür zur Bar öffnete und wieder schloss. „Sind das Schritte?“ Lany hörte etwas, irgendetwas – konnte es aber nicht richtig einordnen. Es war einfach zu leise. Und hätte sie nicht so ein gutes Gehör, hätte sie es wahrscheinlich gar nicht gehört.

 

Aber er konnte es nicht sein. Er war laut und einfach nur schrecklich. Er würde immer sämtliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Mit einem Mal verstummte das Geräusch – direkt neben ihr. Lany versuchte durch einen kleinen Spalt zwischen ihrem Arm und ihrem Bein hindurchzuschauen, konnte aber nur die Füße und Waden eines Mannes erkennen.

 

Er trug Sandalen. Soweit sie sehen konnte, waren es wohl Trekkingsandalen und er musste eine kurze Hose tragen. Sie konnte nämlich jedes einzelne Haar an seiner wundervoll gebräunten Haut seiner muskulösen Unterschenkel erkennen. Lany spürte eine Hand auf ihrer Schulter – nur federleicht, als wäre sie gar nicht da und doch erschreckend präsent.

 

„Ms Briscott, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Rosa hat mich geschickt, um nach Ihnen zu sehen. Sie hat sich Sorgen gemacht, nachdem sie nicht in die Bar gekommen sind.“ Warren redete mit seiner dunklen und sehr maskulinen Stimme vorsichtig auf Lany ein.

 

Nun wagte Lany doch, ihren Kopf zu heben und Warren anzuschauen. Sie sah direkt in sein Gesicht. In seinem Blick lag etwas Eigenartiges, sie konnte es einfach nicht definieren. Es war jedenfalls nicht mehr diese Distanziertheit darin zu erkennen, die er zuvor an den Tag gelegt hatte.

 

Lany war so in Ihrer Panik gefangen, dass sie inzwischen am ganzen Körper zitterte. Das musste auch Warren bemerkt haben, denn auf einmal kam er mit einer schnellen, und sehr geschmeidigen Bewegung neben ihr an der Wand zu sitzen.

Kapitel 4 – Absturz in die Realität oder doch nur ein Traum?

Nachdem Warren mit Rosa das kleine Hinterzimmer verlassen hatte und in die Bar getreten war, hatte er sich ein wenig besser gefühlt. Diese fremde Frau irritierte ihn – sehr sogar. Er musste sich stark konzentrieren, um seine Gedanken zusammenzuhalten und das zu tun, was Rosa von ihm erwartete.

 

Er sollte für sie übersetzen. Rosa verstand zwar ein wenig von dem, was die junge Frau sagte und hätte sich wahrscheinlich auch ein wenig mit ihr verständigen können, aber sie wollte bei der ersten Begegnung auf Nummer sicher gehen. Sie wollte nicht, dass die junge Frau Angst bekam, da sie wahrscheinlich nach ihrem Aufwachen unter Schock stehen würde.

 

Aber es war so verdammt schwierig gewesen. Rosa hatte ihn geholt, als Ms Briscott aufgewacht war. Vorher hatte er sie nur aus der Entfernung gesehen, als sie aus dem Flugzeug in dieses Hinterzimmer gebracht worden war. Aber nun, als er im Türrahmen stand, nahm er sie gänzlich war – ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Stimme und was noch schlimmer für ihn war – ihren Geruch. Dieser trieb ihn beinahe in den Wahnsinn und er wollte eigentlich so schnell wie möglich wieder verschwinden. Er konnte – aber eigentlich noch wichtiger – er wollte sich nicht davon ablenken lassen. Das war gefährlich – nicht nur für ihn! Schließlich war er froh gewesen, als Rosa ihm andeutete, ihr in die Bar zu folgen und damit diesem Raum und Ms Briscott zu entfliehen.

 

Wieder in der Bar angelangt hatte Rosa ihn ein Weilchen aufmerksam gemustert und ihm dann ein kühles Bier auf den Tresen gestellt, an dem er nun saß. In der Bar selbst hatte sich nicht viel getan. Alle waren noch an ihrem Platz – einige von ihnen inzwischen ins Land der Träume abgedriftet und andere nach wie vor in teils hitzige Diskussionen verstrickt. Also alles beim Alten.

 

Gerade setzte Rosa zu etwas an. Warren nahm an, dass sie sich mit ihm über Ms Briscott unterhalten wollte, da wurde die Tür zur Bar geöffnet und ein Mann trat ein. Das wäre an sich nichts Besonderes gewesen, wäre er nicht ein absolut Fremder gewesen.

 

Dieser Mann war hochgewachsen und hatte einen recht muskulösen Körperbau, den er aber durch seine Kleidung zu verbergen versuchte. Er trug eine Brille und seine blonden Haare fielen ihm strähnig ins Gesicht. Alles in allem machte er auf den ersten Blick einen harmlosen Eindruck – zumindest für diejenigen, die nicht genauer hinsahen – was wohl auch seiner Absicht entsprach.

 

Dennoch, für Warrens Geschmack lagen im gesamten Auftreten des Fremden eine wohl verborgene Arroganz und ein Selbstbewusstsein, Eigenschaften, die er aber wohl wissend nicht zur Schau stellen wollte. Warren würde ihn auf jeden Fall gut im Auge behalten.

 

Der Fremde besah sich gründlich das Innenleben der Bar, bis sein Blick schließlich am Tresen und an Rosa hängen blieb. Sein Ausdruck wurde noch ein Stück unschuldiger, was aber nur Warren bemerkte. Am Tresen angelangt, begrüßte er Rosa und bat um ein Bier. Als sie ihm dieses auf den Tresen gestellt hatte, fragte dieser, ob sie nicht wüsste, wo er in diesem Ort unterkommen könnte. Er wollte hier auf seine Verlobte warten, der er nicht gesagt hatte, dass er nun doch an der lang geplanten Reise teilnehmen konnte. Er hätte nach langem Hin und Her doch freibekommen und war ihr hinterher gereist, um sie zu überraschen. All das erzählte er zu allem Überfluss auch noch mit einem absolut schmierigen Grinsen im Gesicht.

 

Rosa warf Warren, während der Fremde sprach, immer wieder einen verstohlenen Blick zu. Warren wusste genau, dass Rosa diesem Mann nicht traute. Sie hatte ein untrügliches Gespür, wenn es darum ging, jemandes Ehrlichkeit zu erkennen. Und auch dieses Mal hatte sie ins Schwarze getroffen und seine unlauteren Absichten entlarvt. Rosa war aber stets sehr darauf bedacht, andere nicht erkennen zu lassen, dass sie sie durchschaut hatte. Es könnte schließlich sonst leicht auch gefährlich für sie werden.

 

Der Fremde war inzwischen dabei, Rosa zu erklären, wie seine Verlobte aussehe und wann sie in etwa hier eintreffen sollte. Er bat sie darum, ihm doch Bescheid zu geben, wenn sie von ihrer Ankunft erfahren sollte. Aber auf keinen Fall sollte sie ihr mitteilen, dass auch er sich hier aufhielt. Wie gesagt, er wollte sie natürlich nur überraschen.

 

Bei der Beschreibung seiner Verlobten traf erneut Rosas Blick auf Warren und was er darin las, war pures Entsetzen. Und er wusste auch genau warum. Auch Warren hatte in der Beschreibung die junge Frau erkannt, die genau in diesem Moment sich in den privaten Räumlichkeiten von Rosas Bar aufhielt und wahrscheinlich gleich in diese Situation ungebremst hineinplatzen würde.

 

Der Fremde selber bekam nichts mit von alldem, weder von den Blicken, die sich Rosa und Warren zuwarfen, noch davon, dass Warren sich Sekunden später von seinem Platz erhob und durch die Tür schräg hinter dem Tresen verschwand. Der Mann war zu sehr damit beschäftigt, seine unschuldige und wahrscheinlich bis ins kleinste Detail einstudierte Fassade aufrechtzuerhalten.

 

Als Warren nun die Tür hinter sich schloss und somit den Lärm aus der Bar weitestgehend ausschloss, wollte er gerade zum Hinterzimmer gehen, als ihm rechts an der Wand und auf dem Boden zusammengekauert eine Gestalt auffiel. Warren erkannte gleich, um wen es sich hierbei handelte.

 

Bei ihrem Anblick durchfuhr ihn ein eigenartiges Gefühl, welches er nicht einordnen konnte und, welches ihn dazu bewegte, weiter auf Ms Briscott zuzugehen. Als er direkt vor ihr zum Stehen kam, bemerkte er gleich, dass sie am ganzen Körper zitterte.

 

Und auch wenn das Zittern schon ausgereicht hatte, ihm ihren derzeitigen Zustand zu offenbaren, war ein anderes für ihn noch viel offensichtlicheres Zeichen Beweis genug: Die Frau vor ihm auf dem Boden verströmte einen eindeutigen Geruch – sie hatte Angst, sehr starke Angst. Und wieder rührte sich das unbekannte Gefühl in Warren. Konnte es wirklich möglich sein? Hatte sie mitbekommen, dass dort in der Bar jemand ist, der sie sucht?

 

Warren sprach sie vorsichtig an. Er wollte sie nicht erschrecken und er bezweifelte, dass sie ihn bemerkt hatte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit – Warren glaubte schon, sie wäre vollkommen weggetreten – da hob sie endlich ihren Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. Aber sie antwortete noch immer nicht. Als er ihr Gesicht sah, überkam ihn erneut dieses komische Gefühl. Das wurde langsam seltsam und vor allem nervte es ihn, denn mit solchen Gefühlen konnte und wollte er nicht umgehen. Aber egal wie sich sein Verstand dagegen weigerte, sein Körper tat doch etwas völlig Gegensätzliches. Mit einem Mal fand er sich selbst neben ihr auf dem Boden wieder. Beide blickten sich immer noch an, allerdings nun auf gleicher Augenhöhe.

 

Da schallte erneut die Stimme des Fremden aus der Bar an Warrens Ohren. Zwar sehr leise und dumpf – der Schall wurde durch die Tür gedämpft – aber Warren konnte es trotzdem hören. Eigenartigerweise schien auch Ms Briscott es gehört zu haben, denn ihr Zittern nahm noch an Stärke zu. Behutsam legte Warren ihr seinen Arm um die Schultern. Er hoffte, ihr damit etwas helfen zu können. Er war in solchen Dingen nicht sehr geübt, aber er hatte ein paar Mal beobachtet, wie Rosa dies bei guten Freunden tat, wenn diese in schlechter Stimmung waren und sich mal wieder bei ihr einen guten Rat abholten.

 

Es schien tatsächlich zu helfen. Ms Briscott entspannte sich etwas, spannte sich jedoch gleich wieder an, als die Tür zur Bar erneut geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Dieses Mal hörte sie aber noch eine Art schnappendes Geräusch, was wohl ein Abschließen der Tür bedeutete. Aber als sie merkte, dass Warren völlig entspannt blieb und weiterhin seinen Arm um sie gelegt hatte, ließ sie es zu und entspannte sich erneut. Eigenartig. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie kannte ihn doch gar nicht. Wie konnte sie da so sicher sein, dass sie in seinem Arm Sicherheit finden könnte. Aber es war einfach so. Damit würde sie sich später noch auseinandersetzen müssen, aber auf keinen Fall jetzt.

 

Endlich blickte Lany in Richtung Tür und erkannte, dass dort gerade Rosa den Flur betreten und die Tür verriegelt hatte. Sie kam auf sie beide zu und blickte Lany besorgt an. Dann wandte Rosa ihren Blick allein Warren kurz zu und bewegte sich anschließend ohne irgendein Wort auf die andere, verschlossene Tür zu, um sie zu öffnen. Nachdem sie selbst den kleinen Raum betreten hatte, winkte sie Warren und Lany zu sich und zeigte auf eine weitere Tür in diesem Raum. Warren warf ihr kurz einen etwas erschrockenen Ausdruck zu, der aber genauso schnell verschwand, wie er aufgetaucht war. Vielleicht hatte Lany sich diesbezüglich auch nur geirrt. Rosa flüsterte Warren noch etwas zu, bevor sie beide durch die gerade gezeigte Tür nach draußen ließ.

Sie schienen sich nun auf der Rückseite des Gebäudes zu befinden und anscheinend wusste Warren genau, was er nun zu tun hatte. Lany folgte ihm, ohne Widerstand zu leisten. Sie bewegten sich schnell, sodass Lany kaum mit ihm Schritt halten konnte. Und da es bereits dunkel geworden war, achtete Warren penibel darauf, dass sie sich in den Schatten hielten. Keiner sollte sie entdecken, niemand auch nur ahnen, dass sie gerade noch in der Bar gewesen waren.

 

Auf der einzigen Straße im Ort war nicht mehr viel los. Aus der Bar drangen noch das Gelächter und teils auch das Gezänk der Barbesucher. Aber ansonsten war niemand mehr zu hören oder zu sehen. Lany dachte, Warren würde sie zu einem Auto bringen, um dann mit ihr zu verschwinden. Sie wusste zwar nicht, warum er ihr half – vielleicht interpretierte sie das auch nur wieder einmal falsch – aber im Moment war ihr alles lieber, als in dieser Bar zu sein, und darauf zu warten, dass dieser Wahnsinnige sie entdeckt.

 

Sie wunderte sich immer noch, wie er sie hier hatte finden können. Lany hatte die Situation zwar nicht vollkommen falsch, aber dennoch anscheinend zu harmlos eingeschätzt. Sie wollte doch nur Urlaub machen und vielleicht das eine oder andere Abenteuer erleben.

 

Immer noch in ihre Gedanken vertieft, fiel ihr nicht auf, dass Warren und sie sich nicht auf dem Weg zu einem Auto befanden, sondern schnurstracks auf den dichten Wald zuhielten. Erst als das Licht, was vom Ort und seinen Gebäuden ausstrahlte kaum noch zu sehen war, da sie sich bereits weit genug in den Wald vorgearbeitet hatten, viel Lany auf, wo sie sich nun befanden. Da sie fast nicht mehr die Hand vor ihren Augen erkennen konnte, war es ihr absolut schleierhaft, wie Warren so sicher seinen Weg durch das Dickicht fand. Gott sei Dank hatte Warren sie die ganze Zeit am Arm geführt, sonst wäre sie heillos verloren gewesen.

 

Endlich blieb er stehen. Mittlerweile waren sie noch weiter in den Wald vorgedrungen. Um sie herum herrschten nur noch Dunkelheit und absolute Stille. Letzteres schien Lany eigenartig, aber auch damit würde sie sich später beschäftigen müssen. Jetzt erst einmal stand an erster Stelle, herauszufinden, warum Warren sie in diesen Wald geführt hatte und warum in aller Herrgotts Namen Lany ihm ohne Widerstand gefolgt war. Wie konnte sie ihm so viel Vertrauen gegenüber bringen – einem Mann, den sie erst seit ein paar Stunden kannte und der ihr nach wie vor etwas eigenartig, wenn nicht sogar ziemlich gruselig vorkam?

 

„Warum haben Sie mich hierher gebracht“, fragte Lany nun etwas misstrauisch.

 

„Sie mussten doch dort weg. Dieser Typ in der Bar hat nach Ihnen gesucht. Und nun erzählen Sie mir nicht, dass er tatsächlich ihr Verlobter ist, denn das würde ich Ihnen nicht glauben.“

 

„Nein, ist er nicht. Ich bin weder verlobt noch in irgendeiner festen Beziehung!“ Letzteres konnte Lany sich nicht erklären, warum es ihr auf einmal so wichtig war, dass Warren diese eine Sache über sie wusste, aber es war so und nun war es sowieso raus.

 

Es folgte Schweigen, welches unerträglich lang zu dauern schien. Und dabei war es nicht besonders hilfreich, sondern in besonderer Form verstörend, mit jemandem zu reden, den man nicht mal sehen konnte – dessen Präsenz ihr aber stetig eine Gänsehaut über ihren Körper laufen ließ.

 

Schließlich brach Warren das Schweigen. „Das habe ich mir schon gedacht. Er war zu sehr darauf bedacht, dass man ihm seine Story abnahm. Sie müssen ihn aber doch zumindest kennen. Wer ist er? Was will er von Ihnen? Und noch wichtiger – warum haben Sie solche Angst vor ihm, dass man diese auf hundert Meilen gegen den Wind riechen kann?“

 

„Moment mal – meine Angst riechen? Wie war das denn nun schon wieder von ihm gemeint? Langsam wird mir dieser Typ immer unheimlicher …“ Lany führte wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, einen ihrer inneren Monologe. Trotzdem war sie ganz am Rande ihres Bewusstseins überrascht, denn er wollte ihr anscheinend tatsächlich nur helfen. Er hatte es ja bereits einmal bewiesen, indem er sie aus der Bar fortgebracht hatte.

 

„Ja, ich kenne ihn. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass er es wahr macht und mir in meinen Urlaub und damit quasi ans andere Ende der Welt folgt.“ Lany zögerte ein wenig, und kurz bevor sich wieder diese unangenehme Stille zwischen ihnen ausbreiten konnte, sprach sie kurzerhand weiter „Bitte! Ich erzähle Ihnen alles, was ich über ihn weiß, aber können wir nicht woanders hingehen, wo es nicht so dunkel und fürchterlich unheimlich ist? Gibt es hier denn keine Raubtiere, die uns auflauern könnten, um vielleicht einen nächtlichen Snack einzunehmen?“

 

„Em … ja, natürlich! Aber keine Sorge wegen der Raubtiere, bleiben Sie nur in meiner Nähe, dann kann Ihnen hier nichts passieren.“

 

Eigenartigerweise schien Warren wirklich zu glauben, was er da sagte. Dennoch, Lany fand es ziemlich abwegig, dass nur, weil Warren Lang bei ihr war, jedes Raubtier in ihrer unmittelbaren Umgebung einen weiten Bogen um sie machen würde. Aber was soll´s, ihr blieb vorerst nichts anderes übrig, als ihm weiter zu folgen. Denn aus diesem Wald würde sie allein nie wieder raus finden. Daher versuchte Lany es erst einmal als ihr allererstes Abenteuer in ihrem Urlaub zu betrachten und machte gute Miene zum sogenannten bösen Spiel. Oh, wie sie Sprichwörter hasste, aber dieses passte – wie die Faust aufs Auge. Verdammt! Sie musste mit diesen Sprichwörtern aufhören.

 

Als sie schließlich zu einer kleinen Lichtung kamen, entdeckte Lany nun doch ein Auto. Wie es schien, war es ein Jeep. Den würden sie hier wahrscheinlich auch gut gebrauchen können. Nachdem sie eingestiegen und eine ganze Weile quer durch den Wald gefahren waren – Lany versuchte erst gar nicht sich zu orientieren, das wäre zwecklos gewesen – hielt Warren den Wagen schließlich an.

 

„Von hier aus müssen wir nun zu Fuß weiter. Der Weg ist für jegliche Fahrzeuge unpassierbar.“

 

„Können Sie mich nicht einfach in den nächsten Ort bringen. Von dort aus könnte ich versuchen, an meine Sachen zu kommen und gleichzeitig diesem Kerl aus dem Weg gehen“ Lany wurde die ganze Sache nun doch immer eigenartiger und sie fragte sich wieder einmal, was sie hier eigentlich trieb und wo ihr Vertrauen zu Warren herrührte.

 

„Der nächste Ort ist mehrere Tausend Meilen entfernt von hier. Sie haben sich für Ihren Urlaub wirklich das einsamste Fleckchen Erde ausgesucht, was zu finden war. Nicht wahr? Ich nehme Sie erst einmal mit in mein Lager. Dort können wir dann überlegen, wie wir weiter vorgehen.“ Warren ergriff Lany erneut am Arm und zog sie sanft, aber bestimmt mit sich.

 

Und wieder folgte Lany ihm ohne Gegenwehr. Was hätte sie auch sonst hier draußen machen sollen. Hier wäre sowieso niemand, der ihr hätte helfen können und womöglich wäre sie sonst auch noch genau IHM in die Arme und damit wahrscheinlich in ihr Verderben gelaufen – hier am Ende der Welt, an diesem einsamen Ort. „Mist! Mist! Mist!“

 

Lany wurde immer müder. Sie stolperte die ganze Zeit vor sich hin und fiel alle paar Meter über die zahlreichen Wurzeln, die sich ihr so „hilfreich“ aus dem Boden entgegenstreckten. Sie wusste nicht einmal, wie lange sie nun schon durch diesen Wald irrten und immer noch waren sie nicht bei Warrens Lager angelangt. Vielleicht hatte er sich verlaufen? Schließlich konnte sie keinen Fuß mehr vor den anderen setzen und viel vor Erschöpfung einfach um.

 

„Oh Mann, das hat mir gerade noch gefehlt. So ein Mist. Warum konnte ich sie nicht einfach bei Rosa lassen. Dann hätte dieser Kerl sie eben gefunden! Na und? Was geht´s mich an? Ich hätte auf jeden Fall endlich meine Ruhe gehabt. Aber nein, ich musste ja den großen Helden spielen. Ich musste sie ja unbedingt mitnehmen und nun?“ Während Warren die erschöpfte Lany schulterte, brummelte er vor sich hin und ließ an sich selbst kein gutes Haar. Es nervte ihn zu sehr und er konnte einfach nicht begreifen, was ihn dazu bewogen hatte, dieser Frau helfen zu wollen und sie schließlich auch noch mit sich zu nehmen.

 

Sie war so zierlich und schien so zerbrechlich zu sein. Die Frauen in seinem Clan waren nicht so. Sie waren alle kräftig gebaut, aber mit einer natürlichen Eleganz. Nicht so Lany. Ihre Bewegungen und ihr Verhalten waren sehr geschmeidig und sie strahlte eine ebenso natürliche Eleganz aus, aber bei ihrer körperlichen Stärke war er sich nicht ganz so sicher. Wenn sie welche besaß, konnte man es jedenfalls nicht sehen. Er spürte kaum ihr Gewicht auf seinen Schultern, während er weiter durch den Dschungel lief. Hin und wieder musste er sich sogar vergewissern, dass er sie tatsächlich noch auf seiner Schulter trug.

 

Er fand den Weg nun ohne jede Mühe. Es hatte ihn doch sehr aufgehalten, mit Lany im Schlepptau durch den Wald zu laufen. Schließlich konnte sie wahrscheinlich absolut nichts in dieser Dunkelheit sehen und daher stolperte sie mehr als das sie lief durch den Wald. Aber nun, wo er sie trug, war es kein Problem mehr und er kam viel schneller voran. Warren selbst konnte jede Einzelheit des Waldes erkennen, aber er durfte Lany dies natürlich nicht zeigen. Sie schien es aber auch nicht bemerkt zu haben. „Den Göttern sei Dank!“ Es würde alles nur noch viel komplizierter machen, als es das nicht sowieso schon zur Genüge war. Er wusste absolut nicht, wie es nun weitergehen sollte und sein Verstand sagte ihm immer wieder, dass er diese Frau so schnell wie möglich wieder loswerden musste.

 

Endlich waren sie angekommen. Für den unwissenden Betrachter war nichts zu erkennen. Alles sah genauso aus, wie im restlichen Wald. Bäume, Dickicht, Wurzeln – hie und da ein Tier, welches vorüber huschte und dennoch, war es da. Nochmals überprüfte Warren, dass seine Fracht, die er geladen hatte, nach wie vor an ihrem Platz war, bevor er sich daran machte, zu seinem Lagerplatz hinauf zu klettern. Es war ein sehr hoher, uralter Baum.

 

Wenn man nach oben blickte, konnte man gerade so, aber auch nur mit viel Glück einen Teil seiner mächtigen Krone erblicken. Da diese aber größtenteils von anderen, kleineren Bäumen verdeckt wurde, konnte man nur erahnen, welche Ausmaße dieser Baum wirklich hatte. Deshalb hatte Warren ihn gewählt. Sie waren bereits alte Freunde, als Warren sich damals dazu entschied, ihn für die Errichtung seines Lagers auszuwählen. Denn Warren war hier aufgewachsen. Er kannte den Baum und den Wald schon sein ganzes Leben lang. Es war sein zu Hause und nicht diese stickigen Städte, mit den Milliarden von Menschen, die sich dort tummelten, wo einige Firmen seines Clans sich notgedrungener Weise niedergelassen hatten. Nein, hier und nirgendwo anders war er zu Hause und glücklich. Und nur hier konnte er seine Aufgabe richtig erfüllen, die eine der wichtigsten in seinem Clan war.

 

Warren war einer der Wächter, die sein Clan hatte, um ihre Geheimnisse und sein Volk zu schützen. Wenn nötig, mit seinem Leben. Dies hatte natürlich seinem Vater gar nicht zugesagt, als Warren ihm damals seine Wahl mitgeteilt hatte und das tat es bis heute nicht. Aber schließlich hatte er es akzeptiert, trotzdem er es nicht guthieß. Er hatte Warren schließlich für eine andere Aufgabe im Clan auserkoren. Aber es läuft schließlich nicht immer nach Plan. Das hatte Ephraim einsehen müssen.Worüber man beim Klettern immer wieder alles nachdenken konnte. Warren war jedes Mal wieder aufs Neue überrascht.

 

Nun in seinem Reich angekommen, legte er die noch schlafende Lany auf sein Bett. Aus welchen Gründen auch immer – wahrscheinlich war schon wieder dieses komische Gefühl daran schuld, welches ihn immer häufiger überfiel, wenn er Lany anschaute – wollte Warren sie nicht wecken. Sie sollte sich erst einmal ausruhen. Seine Fragen konnte sie auch später noch beantworten. Nun hatte erst einmal ein anderes, sehr wichtiges Bedürfnis Vorrang. Er hatte Hunger! Verdammt! Er durfte sie doch hier nicht allein lassen. Was wäre, wenn sie nun aufwachen würde und er wäre gerade nicht da. Das könnte dann mächtig schief gehen. Erst recht, falls noch einer der anderen Wächter bei ihm vorbeikommen würde, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Und wenn einer von ihnen Lany hier ganz allein, ohne Warren entdecken würde …

 

Nein, er musste sich zusammenreißen. Vielleicht konnte er ja unten, direkt um seinen Baum herum kurz auf die Jagd gehen. Dann könnte sich jedenfalls niemand einfach unbemerkt seinem Baum, und damit seinem Gast nähern und er würde sie nicht allzu lange allein lassen müssen. Oh ja! Es wäre auf jeden Fall ratsam, jetzt jagen zu gehen. Seine Vorräte waren nämlich restlos aufgebraucht. Daher würde es hier oben für ihn, aber besonders für seinen Gast ziemlich ungemütlich werden – und das war harmlos ausgedrückt, natürlich.

 

Warren überzeugte sich noch ein letztes Mal davon, dass Lany auch tatsächlich tief und fest schlief – oh Götter, was habt ihr mir hier nur aufgebürdet? Was ist das nur für eine Frau, die ihr mir über den Weg geschickt habt? – bevor Warren sich kurzerhand aus dem Baumhaus schwang, um endlich seinen Hunger zu befriedigen und auch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Denn dies war in Lanys Nähe aus ihm unerfindlichen Gründen nicht möglich.

Kapitel 5 – Auf der Jagd

Es gab kein Geräusch, als sich die riesige Raubkatze geschmeidig durch das Unterholz bewegte. Jeder in ihrer unmittelbaren Umgebung wusste, dass sie auf der Jagd war. Alle ihre potenziellen Opfer hatten sich in ihre Verstecke zurückgezogen, um ja nicht als ihr Snack zu enden.

 

Ganz leise und überaus geschickt bahnten sich vier riesige schwarze Tatzen ihren Weg durch den Wald. Zwischendurch hielt der Panther immer wieder inne und lauschte. Es war ein prachtvolles Tier. Größer und kräftiger als seine anderen Artgenossen und so schwarz, wie die schwärzeste Nacht. Wer von den ganzen Wilderern solch ein Tier in seine Fänge bekäme, hätte für seinen Lebtag ausgesorgt. Aber bis jetzt hatte ihn noch nie jemand erwischt. Der großen Katze entging nicht das leiseste Geräusch. Er hörte hoch über sich die Affen, die leise durch die Äste huschten. Kurz vor ihm lief eine kleine Maus schnell in ihre Höhle. Und immer wieder stieg ihm ein ganz besonderer Duft in die Nase, aber er schien zu spüren, dass er diesem nicht folgen durfte. Daher bewegte er sich zielsicher in die entgegengesetzte Richtung.

 

Mit einem Mal witterte er seine Beute. Geduckt schlich er darauf zu. Jeder seiner Muskeln war bis aufs Äußerste angespannt. Er war sprungbereit. Die große Katze war nun nur noch wenige Meter von ihrer Mahlzeit entfernt, als der Wind plötzlich drehte und ihm so seine Chance zuzuschlagen zunichtemachte.

 

Aber gleichzeitig erreichte seine empfindliche Nase ein anderer Geruch. Ein anderer hatte sein Revier betreten. Mit einem riesigen Satz machte er kehrt und lief mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Richtung, aus der der Geruch kam.

Es war gerade noch rechtzeitig …

 

Und der Wald atmete auf, als der Räuber verschwand - für dieses Mal waren alle noch einmal ungeschoren davon gekommen!

 

Kapitel 6 – Die Gefahr lauert im Dunkeln

Lany öffnete gerade die Augen. Sie schien lange geschlafen zu haben und hatte nun sichtliche Schwierigkeiten sich zu orientieren. Sie tastete nach dem, worauf sie lag und spürte zu ihrer Überraschung, dass es sich um ein Bett handeln musste und sie mit einer Strickdecke zugedeckt war. Es war nach wie vor finstere Nacht. Und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich momentan nicht besonders sicher.

 

Erst konnte sie nicht so richtig ausmachen, woran es liegen könnte. Denn sie schien sich in einem Haus und in einem Bett zu befinden und schließlich hatte sie, während Warren und sie durch den Wald gelaufen waren, auch nie wirkliche Angst verspürt. Warren! Das war es. Er schien nicht hier zu sein. Lany konnte seine Anwesenheit nicht spüren, war sich aber sicher, dass sie auch nicht wirklich allein war.

 

Irgendjemand befand sich hier mit ihr in diesem Raum.

 

Vorsichtig tastete sie nach einem Lichtschalter – fand aber keinen. „Verfluchter Mist!“ Allmählich schienen sich ihre Augen glücklicherweise an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie konnte nun einzelne Schemen erkennen. Sie sah, dass sie sich tatsächlich in einem Raum befand. Dieser hatte mehrere Fenster, die aber anscheinend nicht verglast waren, sondern einfach offene Löcher in der Wand waren und sie konnte nur eine einzige Tür ausmachen.

 

Mit einem Mal nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung war. Ihr Atem und ihr Herzschlag beschleunigten sich augenblicklich. Sie versuchte sich angestrengt so weit zu beruhigen, dass andere Geräusche wenigstens nicht mehr so stark vom Rauschen ihres eigenen Blutes in ihren Ohren übertönt wurden, aber es war zwecklos. Wieder eine Bewegung. Nun schon wesentlich dichter in ihrer Nähe. Der Schatten, der sich auf sie zubewegte, war nicht besonders groß. Es konnte also kein Mensch sein. Hatte durch die offenen Fenster eines der gefährlichen Raubtiere, von denen sie vor ihre Abreise gelesen hatte, seinen Weg zu seiner nächsten Mahlzeit gefunden – nämlich zu ihr?

 

So schnell, dass Lany zuerst gar nicht begriff, was nun geschah, vernahm sie ein bestialisches Knurren, dann ein Fauchen und dann kam tatsächlich durch eines der Fenster ein lang gestreckter schwarzer Schatten gesprungen. Dieser kam direkt zwischen ihr und dem anderen Schatten zum Stehen. Dann ging alles noch schneller. Beide Schatten gingen aufeinander los, verknoteten sich zu einem wirren Knäuel. Es wurde wieder geknurrt und gefaucht. Auch hörte Lany ein eigentümliches Geräusch, woraufhin ein ohrenbetäubendes Jaulen ertönte. Dann waren beide Schatten, immer noch ineinander verknotet und anscheinend schwer kämpfend, auch schon wieder durch eines der Fenster verschwunden. In der Ferne vernahm sie noch gedämpft ihren Kampf.

 

Lany hatte gar nicht bemerkt, wie sie die ganze Zeit die Luft angestrengt angehalten hatte. Bis jetzt. Ihre Lungen brannten und sie rang mühevoll nach Atem. Puh, das war knapp gewesen. Wenn dieser andere Schatten nicht erschienen wäre, wer weiß, ob sie dann noch leben würde.

 

Immer noch damit beschäftigt, endlich wieder richtig und ruhig Luft zu holen und nach wie vor in ihre Gedanken verstrickt, bekam Lany wieder nicht mit, wie sich zum wiederholten Male ein Schatten durch eines der Fenster bewegte und auf sie zukam.

Kapitel 7 – So nah und doch so fern

Er hielt direkt auf sie zu. Sein Hunger war noch nicht gestillt worden. Aber er musste sichergehen, dass es der jungen Frau gut ging. Er hatte ja schon vermutet, dass es keine gute Idee war, sie hier ganz allein zu lassen. Und dabei hatte er sich wirklich nicht weit fortbewegt. Warren kam direkt vor seinem Bett und damit vor Lany zum Stehen. Sie schien einen Schock zu haben, denn sie bewegte sich nicht, saß aber aufrecht und atmete – „Götter sei Dank“ – noch. Das war wirklich haarscharf gewesen. Er hätte verdammt noch mal besser aufpassen müssen. Aber dies wäre erst gar nicht passiert, hätte er sie nicht mit zu sich genommen. „So ein verdammter Mist!!!“

 

Warren wagte erst gar nicht, Lany anzufassen, geschweige denn auch nur anzusprechen. Er blieb einfach eine Weile regungslos vor ihr stehen. Als sie sich immer noch nicht rührte, versuchte er einen kleinen Vorstoß. „Ms Briscott? … Lany? Sind Sie in Ordnung?“ Hm, irgendwie hatte er das doch gerade vor Kurzem schon einmal erlebt. Und wieder begann sie sich ganz langsam zu bewegen und blickte schließlich in seine Richtung.

 

„Warren? Warren, was ist da gerade passiert? Lanys Stimme brach beinahe, so war sie in ihrer Panik gefangen. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt sprechen konnte. „Sie waren weg – Sie haben mich allein gelassen! Oh mein Gott – ich wäre beinahe gestorben. Irgendetwas war hier drin und wollte mich überfallen und dann … dann ist dort durch das Fenster ein riesiger schwarzer Schatten gesprungen und hat mit dem anderen gekämpft. Es war alles so unglaublich – ich hatte so wahnsinnige Angst.“ Lany konnte sich gar nicht beruhigen und wurde in ihrem Redeschwall immer hysterischer.

 

Warren wusste nicht weiter. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte und sie hatte absolut recht damit, dass sie beinahe gestorben wäre. Aber auch jetzt war sie nicht sicher. Er konnte sein Innerstes nur mit Müh und Not in Zaum halten. Und dennoch verspürte er auch diesen immensen Drang, diese verstörende Frau trösten zu wollen. Er konnte kaum dagegen an. Wieder einmal waren sein Verstand und sein Körper unterschiedlicher Meinung, nur inzwischen mischte auch noch sein Gefühl mit. So stand es ganz eindeutig 2:1 und sein Verstand verlor den Kampf.

 

Nachdem er dies für sich geklärt hatte, setzte er sich vorsichtig neben Lany auf das Bett. Immer darauf bedacht, sie nicht noch zusätzlich zu erschrecken. „Oh Mann, dieser unglaubliche Geruch! Wie soll ich mich da beherrschen und meinen Hunger zurückhalten?“ Warren steckte wirklich in der Zwickmühle. Er hatte so etwas noch nie wahrgenommen. Ihr Geruch löste in ihm einen unglaublich starken Hunger aus. So stark, dass es schon fast wehtat. Und dennoch zwang er sich dazu seinen Arm auszustrecken und Lany so sanft, wie möglich an seine Brust zu ziehen. Es hatte ja immerhin schon einmal bei ihr funktioniert. Beruhigend strich Warren in kleinen Kreisen über Lanys Schulter. Immer und immer wieder, bis er schon gar nicht mehr wahrnahm, dass er das überhaupt tat. Und langsam beruhigte sie sich. Lany hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und atmete nun wieder ruhig und gleichmäßig. Es verging eine ganze Weile, doch sie blieben so sitzen. Keiner von beiden wollte seine Position aufgeben. Lany nicht, weil sie Warrens Nähe unglaublich tröstend fand – sie fühlte sich bei ihm einfach sicher – und Warren, weil er mit Gefühlen kämpfte, die ihm bisher vollkommen unbekannt waren und diese anscheinend mit genau der Frau zu tun hatten, die jetzt in seinen Armen lag. Was sollte er nur tun?

Kapitel 8 – Der Irrsinn eines Stalkers

„Irgendwann wird sie hier schon auftauchen. Früher oder später muss sie hier auftauchen!“ Davon war er felsenfest überzeugt. Dieser mickrige Reisebüroangestellte hatte es ihm schließlich gesagt. Und wie dabei seine Augen geglänzt hatten. Einfach nur widerlich! Es war zu eindeutig, dass dieser kleine Wurm scharf auf sie war. Aber sie war sein! Seine kleine, süße Lany. Wenn sie zurück wären, würde er sich diesen Typen noch einmal vornehmen müssen. Ja, … das würde er auf jeden Fall tun. Er würde an ihm ein Exempel statuieren. Und am Ende dieser Reise würde Lany auch endlich ihre Scheu ablegen. Sie würden zusammen sein und er wäre endlich am Ziel. Seine Geduld würde nicht länger mehr halten. Er hatte ihr schließlich mehr als genug Zeit gegeben und sie mit all dem Kram umgarnt, den sie so liebt.

 

Diese alte hutzelige Eingeborene konnte ihm anscheinend auch nicht weiterhelfen. Sie meinte, es wären in den letzten Tagen noch keine Flugzeuge wieder angekommen, wo Touristen an Bord gewesen wären. Sie versicherte ihm, dass hier solch eine hübsche, junge Frau, wie er sie beschrieb, ganz bestimmt sofort aufgefallen wäre. Doch irgendwie glaubte er ihr nicht. Die Alte blickte sich, während sie sprach, immer wieder in ihrer kleinen Kaschemme um. Es sah so aus, als ob sie jedem einzelnen Gast direkt in die Augen blickte. Gerade so, als würde sie mit ihnen sprechen. Irgendetwas war hier ganz gewaltig faul. Aber er würde es schon noch herausfinden. Er war hartnäckig und konnte warten – sehr, sehr lange warten. Fürs Erste setzte er sich mit seinem schalen Bier an einen der freien Tische neben dem Eingang. Dieser Platz war unauffällig und man konnte von hier aus alles bestens im Blick behalten.

 

Rosa putze inzwischen zum wiederholten Mal die Theke sauber. Sie war nervös. Warren war mit der jungen Frau schon vor Stunden verschwunden. Sie waren also erst einmal in Sicherheit. Aber dieser komische Kerl, der nach seiner Frau suchte, bereitete ihr Kopfschmerzen. Er war ihr nicht geheuer und sie glaubte keine Sekunde daran, dass es sich bei der gesuchten Frau tatsächlich um seine Verlobte handelte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihn heimlich, wie er an seinem Tisch saß und anscheinend Löcher in sein Bierglas starrte. Jeder andere hätte dies wahrscheinlich ebenfalls angenommen. Aber an den winzigen Bewegungen seiner Augen konnte sie sehr gut erkennen, dass auch er seine Umgebung genauestens beobachtete. Rosa hoffte nur, dass ihre anderen Gäste, allesamt langjährige Freunde von ihr, ihren Blick von vorhin verstanden hatten und tunlichst ihren Mund hielten. Sonst würden sie wahrscheinlich alle in Teufels Küche kommen.

 

Inzwischen war es schon sehr spät und er konnte ja nicht die ganze Nacht hier herumsitzen. Und nachts würde mit Sicherheit auch kein Flugzeug mit Touristen hier – mitten im Nirgendwo – landen. Also konnte er sich auch genauso gut nach einem Zimmer zum Übernachten umhören. Da er bezweifelte, dass dieses Etablissement weitere Räume, gar Gästezimmer anzubieten hätte, legte er nur kurz das Geld für sein Bier auf den Tresen und fragte nach möglichen Unterkünften im Ort. Die Alte schien sehr erleichtert zu sein, dass er nicht hier übernachten wollte, und gab ihm bereitwillig eine Wegbeschreibung zur örtlichen Pension. Ein Hotel sowie andere Gästezimmer würde es hier nicht geben. Er würde diese Alte im Auge behalten. Mit der stimmte etwas nicht.

 

Endlich hatte dieser unheimliche Mann ihre kleine Kneipe verlassen. Er wollte zwar im Ort übernachten, aber immerhin würde er dann nicht irgendwo herumirren und nach der jungen Frau und Warren suchen. So konnte sie ihn im Auge behalten. Nachdem er fort war, kamen gleich Miguel und Carlos an den Tresen heran. Sie hatten bereits den ganzen Abend in der Kneipe verbracht und ebenfalls diesen Fremden beobachtet. Sofort war ihnen klar gewesen, dass etwas nicht stimmte. Rosa verhielt sich sonst nie so auffällig unauffällig. Und jetzt, da die Luft rein war, wollten sie sofort wissen, was los war.

 

Rosa berichtete ihren beiden Freunden, was sich zugetragen hatte. Miguel und Carlos kannten Warren schon, seit er noch ein ganz kleiner Streuner gewesen war. Und als ein Großteil seines Clans in die Stadt gezogen war, hatten es sich die beiden zur Aufgabe gemacht, auf ihn aufzupassen. Selbstverständlich brauchte er schon lange keinen Schutz mehr – erst recht nicht von zwei, in die Jahre gekommenen alten Männern. Aber trotzdem, egal ob er sie dafür belächelte, sahen sie es nach wie vor als ihre besondere Pflicht an. Sein Vater würde ihnen vermutlich auch sonst wenigstens den Kopf abreißen. Immerhin war er der Clanführer.

 

Während Rosa ihren Bericht beendete, lauschte einer der beiden immer nach den Geräuschen vor der Kneipe. Nicht dass dieser Fremde sie heimlich belauschte und so erfuhr, dass Rosa doch mehr wusste, als sie ihm gesagt hatte. Aber es war nichts zu hören. Er schien wirklich in seine Unterkunft gegangen zu sein. Besser für ihn – beschlossen sie.

 

Es war erst früher Morgen, als er in diesem schäbigen, kleinen Zimmer, in dem noch schäbigeren Bett erwachte. Aber was erträgt man nicht alles, um an sein Ziel zu gelangen? Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das verschmutze Fenster und er beschloss, dass er nun genug gewartet hatte. Ganz getreu dem Motto: Nur der frühe Vogel fängt den Wurm, kleidete er sich an und ging hinunter zur Rezeption. Er hoffte, dass es hier wenigstens auch ein Frühstück gab, das einem nicht gleich die eine oder andere unangenehme Darmerkrankung verschaffte.

 

Als er unten ankam, war er überrascht, dass tatsächlich bereits jemand hier arbeitete. Hinterm Tresen stand eine junge Frau, die in einer zerschlissenen Zeitung blätterte. Er fragte nach einem Frühstück, woraufhin sie ihm bedeutete, rechts an der Rezeption vorbei und in den hinteren Bereich des Gebäudes zu gehen. Dort würde sich der Speiseraum befinden. Sie wollte gleich in der Küche Bescheid geben, dass für ihn dort eingedeckt werden sollte. Seine Laune hob sich bei ihren Worten ein wenig. Anscheinend konnte man hier doch noch so etwas wie Service erwarten.

 

Doch als er in den sogenannten Speiseraum trat, verschlug es ihm die Sprache und seine eben noch einigermaßen gute Laune sank bis unter den Gefrierpunkt. Das war doch kein Speiseraum! Dies war ein Pferch – ein verdammter, widerlich gammeliger Pferch! Was hatte Lany sich nur dabei gedacht, in solch eine verlotterte und rückständige Gegend zu fliegen. Hier konnte man doch keinen Urlaub genießen. Hier war nichts mit Romantik, keine Sehenswürdigkeiten und was von alldem am Schlimmsten war: Diese Leute hier kannten anscheinend weder Hygiene noch wie man Touristen gegenüber den nötigen Respekt und Service bot. Nein, so ging das nicht! Dabei konnte noch nicht einmal ein Heiliger richtig in Stimmung kommen. Zukünftig würde er die Reisen für sie beide organisieren und auch keinen Widerspruch gestatten.

 

Nichtsdestotrotz hatte er Hunger, der gestillt werden wollte. Gerade trat ein weiterer Mitarbeiter der Pension ein und stellte das versprochene Gedeck auf den langen Tisch in der Mitte des Raumes. Der Mann fuchtelte wild mit den Armen und bedeutete ihm so, Platz zu nehmen. Er traute sich schon gar nicht mehr, überhaupt auf einen guten Kaffee zu hoffen. Diese Hoffnung wäre sowieso im nächsten Moment zunichte gemacht worden. Denn die Brühe, die ihm serviert wurde, hätte er noch nicht einmal seinem ärgsten Feind oder gar diesem schmierigen Reisebüroangestellten vorgesetzt. Es sah so aus, als ob sie das Abwaschwasser vom Vortag extra für ihn abgefüllt hätten. Na lecker!

 

Als er nun so über seinem vermeintlichen Frühstück brütete, wurde die Tür abermals geöffnet und eine Gruppe von vier Männern trat ein. Sie waren gekleidet, wie welche, die bald zur Jagd aufbrechen wollten, und unterhielten sich angeregt. Sie schienen über irgendein wichtiges Thema zu diskutieren, sich dabei aber nicht einigen zu sein. So unauffällig wie möglich versuchte er zu verstehen, worum es ging. Die Jagd hatte ihn schon immer brennend interessiert. Schon seit frühester Jugend. Damals als ihm seine erste große Liebe, die junge und wunderschöne Englisch-Lehrerin, Ms Flower, begegnet war, hatte er erkannt, wie viel Spaß ihm die Jagd bereitete. Aber leider wusste Ms Flower seine Bemühungen, um sie nicht zu schätzen. Da musste er ihr leider den nötigen Respekt beibringen. Er hatte sie gelehrt, was es bedeutete, ihn abzuweisen. Er hatte sie bluten lassen – quälend langsam. Nie wieder würde sie ihn auslachen. Nie wieder würde sie ihn nicht für voll nehmen, ihn nicht als wahren Mann sehen. Er hätte ihr alles geben können, aber nun war es egal. Er hatte sie ausradiert. Nun hatte er Lany, auf die er sich konzentrieren wollte, nein musste.

 

Wieder aus seiner Gedankenwelt aufgetaucht, hörte er die inzwischen immer lauter gewordenen Stimmen der vier Männer, die ihm gegenüber Platz genommen hatten. Viel Auswahl war eben nicht. Nun blickte er doch geradewegs zu ihnen hinüber. Es war soeben das Wort der Wörter gefallen. Sie sprachen von einem unermesslichen Schatz. Viele hätten schon versucht, diesen zu finden und waren, einmal in den dichten Urwald aufgebrochen, nie wieder gesehen worden. Dieser Wald hatte sie geradezu verschluckt. Erst vor Kurzem war von ihrem jetzigen Auftraggeber schon einmal eine große Gruppe von erfahrenen Männern geschickt worden. Aber auch diese blieben bis heute verschwunden.

 

„Was glotzt du denn so?“, sprach plötzlich einer der Männer ihn direkt an.

 

„Nichts weiter!“, versicherte er „Ich bin nur selbst ein faszinierter Jäger und habe mich gefragt, ob ich mich eurer Expedition nicht anschließen könnte?“, so schnell waren die Worte heraus, dass er erst gar nicht wusste, ob er sie tatsächlich gesagt oder doch nur gedacht hatte. Er hatte keine Zeit für solche Spielchen. Er hatte ein anderes Wild zu stellen. Aber er fühlte sich so von der gefährlichen Aura dieser vier Männer angezogen. Er konnte einfach nicht anders. Vielleicht könnte er ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn sie ihn nicht vorher selbst aus dem Weg räumen würden.

 

Kurz herrschte Stille, während anscheinend der Anführer der Männergruppe ihn ausgiebig musterte. Dann fing er an zu lachen – schallend laut zu lachen. Ob das jetzt gut war oder nicht, konnte er noch nicht sagen, aber es war ein Anfang.

 

„Seht ihr Männer? So kann sich manchmal das Schicksal für einen drehen!“, sprach dieser nun zu den anderen Dreien. „Wir kennen dich zwar nicht, aber du scheinst ganz passabel zu sein. Außerdem brauchen wir noch einen fünften Mann. Unser bisheriger Kandidat ist vor ein paar Tagen in den Everglades von einem Riesenkrokodil zum Frühstück verspeist worden. Also was sagst du? Das Geld wird dann natürlich durch fünf geteilt, aber ich denke, damit kann jeder von uns gut leben. Oder Jungs? Also dann stellen wir uns am besten mal vor! Ich bin Mike und was ich sage, wird gemacht, damit das schon einmal klar ist! Das sind Curtis, Ed und Tucker. Alles andere tut nichts zur Sache. Und mit wem haben wie das Vergnügen?“, fragte nun Mike und heftete dabei seinen stechenden Blick auf ihn.

 

„Mein Name ist Scott. Ich bin mehr oder weniger durch Zufall hier …“, er hatte beschlossen, dass es bei diesen Männern besser war, mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht würden sie ihm ja auch bei seinem Problem helfen. Wenn Lany sich hier irgendwo verstecken würde, hätte er auf jeden Fall mehr Chancen mit diesen erfahrenen Jägern an seiner Seite – zumal er sich hier absolut nicht auskannte und sein bis ins kleinste Detail antrainierter Charme bei diesen Einheimischen anscheinend keine Wirkung zeigte.

 

„Ich bin auf der Suche nach meiner Frau. Sie ist der Meinung vor ihren Pflichten fliehen zu können und hat sich nach hierher abgesetzt. Das kleine Miststück hat mich betrogen. Aber das lasse ich nicht mit mir machen. Dafür werde ich sie zur Rechenschaft ziehen. Ich hatte einen Privatdetektiv engagiert und der hat ihre Spur bis hierher nachverfolgen können. Aber den Rest wollte ich allein und ohne Publikum erledigen, wenn ihr versteht, was ich meine!“ Scott war gespannt, wie die vier Männer auf seine Erzählung reagieren würden. Hätte er sie richtig eingeschätzt oder würden sie sofort auf ihn losgehen, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten?

 

„Alles klar man! Das hört sich doch nach einem vernünftigen Plan an. Und wenn es so ist, wie du sagst, dann hat es diese Schlampe nicht anders verdient. Nur komm uns mit deinen Privatsachen nicht in die Quere. Dies darf unsere Mission nicht beeinträchtigen. Vielleicht können wir dir ja auch bei passender Gelegenheit helfen, die Kleine zu stellen!“, sagte Mike und überraschte damit keineswegs. Genau diese Reaktion hatte Scott erwartet. Gut, dass sich alles so positiv für ihn entwickelte.

 

„Kein Problem. Ich komme euch damit nicht in die Quere, Jungs!“, sagte er nur, denn nun hieß es, nicht mehr so viele Worte zu machen.

 

„OK! Wir machen uns gleich heute Nachmittag auf den Weg. Wir müssen nur vorher noch auf die Lieferung unseres Auftraggebers warten. Sie soll heute Mittag mit einer Chartermaschine hier eintreffen. Ich würde sagen, wir treffen uns später Punkt 4 Uhr auf dem kleinen Flugplatz am Rand des Ortes.“, und damit war die Diskussion beendet. Mike erwartete keine weiteren Einwände. Dies würde den anderen auch nicht besonders gut bekommen.

Kapitel 9 – Feind oder Freund?

Alles war wieder ruhig. Naja, insofern man in einem Urwald von Ruhe sprechen konnte. Direkt neben Warrens Haus huschten ein paar Affen vorbei und auch andere Tiere entspannten sich mehr und mehr. Die Gefahr war vorüber - fürs Erste.

 

Lany saß ganz reglos und lauschte nach den Geräuschen, die so vollkommen anders und doch irgendwie vertraut waren. Sie wusste nur nicht warum. Auch merkte sie erst jetzt, dass sie sich nach wie vor an Warren festklammerte. Sie hatte sich seit ihrer frühesten Kindheit bei niemandem mehr so sicher gefühlt. Und entweder war Warren mittlerweile eingeschlafen oder er genoss ebenfalls das stille Beisammensein mit ihr. Letzteres konnte sie sich allerdings nicht so wirklich vorstellen. Denn es war nur zu offensichtlich gewesen, dass er sie erst gar nicht hatte, mit sich nehmen wollen. Nur weil Rosa es ihm gesagt, nein, sogar befohlen hatte, war sie nun hier.

 

Lany konnte immer noch nicht fassen, was beinah passiert wäre. Natürlich war es im Urwald gefährlich. Das war ihr schon beim Buchen der Reise klar gewesen. Aber dann direkt damit konfrontiert zu werden - Auge in Auge mit einer sehr realen Gefahr - dass war doch eine ganz andere Sache.

 

Vollkommen in ihre Gedanken versunken, fuhr sie erschrocken zusammen, als irgendwo im Raum etwas anfing zu vibrieren. Auch Warren schien anfangs erschrocken, aber dann griff er kurz um sie herum. Aus einem Lederbeutel, der an der Bettseite befestigt war, holte er ein Telefon heraus. Noch während Warren auf das Display schaute, stand er auch schon auf. Als er den Anruf entgegennahm, hörte Lany ein leises, aber sehr tiefes Knurren, das im nächsten Moment auch schon wieder verschwunden war. Wahrscheinlich hatte sie sich aber auch nur mal wieder etwas eingebildet.

 

Da Warren in das Telefonat vertieft war, gestattete Lany sich das erste Mal überhaupt, seit sie hierher gekommen war, einen genaueren Blick auf ihre Umgebung. Es war ein schönes Haus - komplett aus Holz und mit einem umlaufenden Außenbereich - einfach perfekt! Die Einrichtung war eher spartanisch, aber trotzdem sehr gemütlich. Ihr gefiel es, wie Warren hier lebte. Es erinnerte sie ein wenig an ihre eigene Kindheit. Ihr geliebter Großvater hatte damals für sie auf seinem Land ein ähnliches Baumhaus gebaut. Es sollte ein Zufluchtsort sein, wenn sie wieder einmal Ärger mit ihrer Mutter hatte. Diese stand nicht sehr hoch im Ansehen ihres Großvaters. Er hatte nie verstehen können, was sein Sohn an dieser Frau gefunden hatte. Aber dafür liebte Großvater Ernest Lany, seine kleine Wildkatze, umso mehr.

 

Sie hatte schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Es war für sie einfach zu schmerzhaft. Als Großvater Ernest damals starb, war die letzte Verbindung zu ihrem Vater - keiner wusste, wo er sich aufhielt oder ob er überhaupt noch lebte - und dem Teil der Familie, der sie wirklich liebte - sie verstand, verloren gegangen. Seitdem hatte sie nur noch ihre Mutter und deren furchtbare Familie. Sie hatten damals einfach durch einen Trick das Land ihres Großvaters verkauft und Lany damit um ihr Erbe, aber noch schlimmer, um ihren Zufluchtsort gebracht.

 

Seit diesem schicksalhaften Tag hatte ihre Mutter sie Argusaugen beobachtet. Sie wollte aus ihr eine richtige "Lady" machen. Eine Frau, die später einem wohlhabenden Mann eine treffliche Ehefrau abgeben und somit noch mehr Geld in ihre raffsüchtige Familie bringen würde. Nie im Leben hatte ihre Mutter daran gedacht, dass Lany eines Tages eine Karriere in einem riesigen Unternehmen verfolgen würde und nach wie vor unverheiratet wäre. Doch Lany hatte noch in der Nacht ihrer Volljährigkeit das Weite gesucht. Sie wollte und konnte einfach nicht länger mit ihrer Mutter, geschweige denn diesem Familienzweig zusammenleben.

 

Lany wurde jäh aus ihren Erinnerungen gerissen, als Warren plötzlich laut ins Telefon brüllte. Anscheinend hatte der Anrufer ihn verärgert. Aber er beruhigte sich schnell wieder, als er Lanys erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte, und lud denjenigen sogar ein, vorbeizuschauen. Was Lany dabei ein wenig eigenartig vorkam, war, dass Warren diesen jemand anscheinend dazu ermahnen musste, sich zivilisiert zu verhalten. Aber er kannte denjenigen wahrscheinlich schon länger und damit wohl auch seine Eigenheiten.

 

Dann legte Warren auf und richtete seinen Blick erneut auf seinen Gast.

 

Wie sie so dasaß. Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr nehmen. Trotz ihrer derzeitigen Situation strahlte sie Stärke und Willenskraft aus. Und ihre Bewegungen waren geschmeidig und fließend, wie die einer Katze. Einfach erstaunlich. So etwas hatte er noch nie bei einem Menschen gesehen. Und sie war auf jeden Fall menschlich. Seine Nase hatte ihn noch nie betrogen. Und außerdem, so wie sie durch den Dschungel mit ihm gestakst war, konnte sie offensichtlich nicht besonders gut im Dunkeln sehen. Noch etwas, was für ihre Menschlichkeit sprach.

 

Er hatte trotz seines Telefonats mit Jack, Lany aus dem Augenwinkel immer wieder kurz beobachtet und dabei bemerkt, dass sie sein Heim genau studierte. Ihr schien es sogar zu gefallen. Warum freute er sich eigentlich so darüber? Es sollte ihm doch total egal sein, ob ihr nun gefiel, was sie sah. Doch er ertappte sich immer wieder dabei, wie er sich heimlich freute und irgendetwas in seinem Magen flatterte, wenn ihm ihre erfreuten Blicke auffielen. Wahrscheinlich war es auch nur sein Hunger, der, wie er nun bemerkte, immer noch nicht gestillt war. Und nun kam auch noch Jack vorbei. Er hatte es eigentlich nicht gewollt, aber sein kleiner Bruder hatte schon immer ein Talent dazu gehabt, ihn und alle möglichen anderen Leute zu überrumpeln. Man wusste nie, warum man plötzlich auf die bescheuertsten Ideen kam, bis man in Jacks Gesicht schaute. Dort konnte man, wenn man ihn gut genug kannte, immer ein triumphierendes Lächeln in seinen Augen erkennen.

 

O Mann - wie ihn das rasend machte.

 

Aber dieses Mal war der Dummkopf wirklich über sein Ziel hinausgeschossen. Er hatte Lany mit seinem plötzlichen Auftauchen vollkommen verängstigt. Und wenn jemand Angst hatte, war dies der beste Auslöser, um nicht nur bei seinem Bruder den Jagdinstinkt zu wecken. Das hätte wirklich schlimm ausgehen können. Immerhin gehörte Jack zu denjenigen ihres Clans, der sich in solch einer Situation nie zurückhalten konnte. Eigentlich war er sogar der Schlimmste von allen.

 

Warren war bisher der Einzige, der seinen Bruder aus diesem Zustand des Jagdfiebers zurückholen konnte. Auch wenn er ihm hierfür, so wie auch heute, eine kräftige Abreibung verpassen und ihn, was Warrens Revier anging, mehr als deutlich in seine Schranken weisen musste. Nun würde Jack die Grenzen wieder beachten. Sein Anruf von eben war dafür Beweis genug. Ohne Warrens ausdrückliche Erlaubnis hatte niemand etwas auf seinem Gebiet zu suchen. Da machte er wirklich keinerlei Ausnahmen.

 

Selbst seine eigene Mutter meldete sich vorher an und sein Vater sowieso. Wenn er ihn denn mal hier besuchen würde. Lieber empfing er ihn bei sich daheim - in seinem Revier. Denn schließlich waren sie beide extrem dominant. Genauso, wie es sich eben für den Clanführer und seinen künftigen Nachfolger gehörte.

 

"Warren, du starrst mich an! Ist irgendetwas? Habe ich irgendwas im Gesicht, oder was?", so mutig, wie Lany gerade sprach, fühlte sie sich zwar nicht, aber das musste sie ja nicht zeigen.

 

Warren hatte nach seinem Telefonat noch kein einziges Wort gesprochen, sondern sie nur unentwegt angeschaut. Und es war garantiert schon wieder eine Sinnestäuschung, mit Sicherheit musste es so sein, aber seine Augen schienen sich währenddessen verändert zu haben. Doch als er nun wieder auf sie zukam, war von dem Wandel nichts mehr zu sehen.

 

Lany hatte langsam, aber sicher das Gefühl, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Vielleicht hatte sie ja einen Schock erlitten, als sie in Rosas Bar plötzlich Scotts Stimme gehört hatte und daraufhin mit Warren geflohen war. Oder irgendein heimisches Insekt hatte sie gestochen und sie mit einer tropischen Krankheit infiziert - vorzugsweise mit irgendetwas, das einen bekloppt werden lässt.

 

"Mein Bruder, Jack, wird gleich vorbeikommen. Er wollte mich schon länger besuchen und ist heute in der Gegend. Wunder dich bitte nicht, wenn er etwas komisch sein sollte.", sagte Warren geheimnisvoll und setzte dann noch nach "Und tu mir bitte einen Gefallen. Starre ihn niemals direkt und zu lange an. Er ist da etwas eigen ...", weiter kam Warren gar nicht, denn schon im nächsten Moment hörten sie einen schrillen Pfiff. "Er ist da.", meinte Warren nur kurz und trat nach draußen, um nach unten zu schauen. "Hi Jack! Komm rauf!"

 

Nur ein paar Augenblicke später stand Jack auch schon auf der Terrasse. Wie hatte er das eigentlich so schnell gemacht. Lany hätte sich umständlich den Weg nach oben erkämpfen müssen, wenn Warren sie nicht im schlafenden Zustand irgendwie in das Baumhaus befördert hätte, dass hatte ihr vorhin ein heimlicher Blick in die Tiefe bestätigt, und dieser Jack stand nun - schwuppdiwupp - Sekunden später einfach so schon da. Die beiden Brüder schauten sich erst prüfend an, rümpften kurz die Nasen und schon wieder war ein kurzes, bedrohliches Knurren von irgendwoher zu vernehmen. Im nächsten Moment umarmten sie sich und kamen gemeinsam ins Haus geschlendert.

 

Jack blieb am Eingang stehen und schaute zu Lany rüber. Irgendwie sah es so aus, als wisse er nicht so recht, wie er ihr begegnen sollte. Dabei war er nicht minder attraktiv als sein Bruder. Also konnten es eigentlich keine Minderwertigkeitskomplexe sein. Aber wer weiß schon, was in einigen Männern vor sich geht. Es heißt zwar immer, die Frauen wären das schwierige Geschlecht, aber Lany hatte ausreichend Exemplare der Gattung Mann kennengelernt, bei denen es nicht viel anders war.

 

Warren schaute kurz zwischen beiden hin und her. "Lany, das ist mein jüngerer Bruder, Jack. ... Jack, das ist Lany Briscott. Sie ist mein Gast und steht unter meinem Schutz!"

 

Eigenartig, wie er seine letzten Worte betonte. Gerade so, als läge darin eine unterschwellige Warnung oder gar Drohung. Aber warum sollte er seinem Bruder drohen und warum sollte Jack ihr etwas antun wollen? Er sah so schüchtern und nett aus, dass Lany dies nicht verstehen konnte. Aber wieder sagte sie sich, dass Warren schon wisse, erst recht, da Jack sein Bruder war, was er da tat. Und vielleicht legte sie auch nur wieder zu viel Gewicht in seine Worte.

 

Trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt und gleichsam sicherer, jetzt da sie wusste, dass Warren sie beschützen würde. Zumindest solange sie sich bei ihm aufhielt. Und wo sollte sie im Moment auch hin? Sie wüsste ja noch nicht einmal, in welche Richtung sie gehen müsste, um in die nächste Stadt zu gelangen.

 

Endlich löste Jack sich aus seiner Starre und ging auf sie zu. Dabei hielt er ihr seine Hand entgegengestreckt, um sie zu begrüßen. Auch bei ihr kräuselte sich kurz seine Nase. Es schien eine Art Tick von ihm zu sein. Sie wusste zwar, dass sie aufgrund ihrer beschwerlichen Reise und ihrer Flucht mit Warren, mittlerweile nicht mehr wie Rosenwasser roch, aber sie hatte nicht das Gefühl, schon so zu stinken, dass man die Nase hätte rümpfen müssen.

 

"Hi, freut mich dich kennenzulernen.", begrüßte Jack sie schließlich und fügte nach kurzem Innehalten noch hinzu "… Warren hat, glaube ich, noch nie jemanden mit zu sich nach Hause genommen. Du musst wirklich was Besonderes sein!" Jack klang keineswegs unfreundlich, aber wie er mit Lany sprach, jagte ihr doch einen leichten Schauer über den Rücken. Warum sollte er so etwas mitteilen? Noch während sie darüber nachdachte, schlich sich ein anderer Gedanke in ihren Kopf. Hatte Warren tatsächlich noch nie jemanden mit hierher gebracht? Das heißt, auch noch keinerlei Frauen? Lany konnte das zwar nur schwerlich glauben, doch kribbelte es angenehm in ihrem Bauch bei dem Gedanken daran.

 

Nachdem nun die Begrüßungshöflichkeiten ausgetauscht worden waren und die erste Unsicherheit sich verzogen hatte, nahmen alle drei in der kleinen Küche Platz. Während Jack nun keine Scheu mehr zeigte und neugierig nachbohrte, wie sein Bruder und Lany sich eigentlich kennengelernt hatten – er wollte wirklich jedes noch so kleine Detail wissen – goss Warren für alle eine Tasse Tee ein. Über seine Angewohnheit, zu wirklich jeder Gelegenheit Tee zu trinken, wurde in Familienkreisen schon immer gewitzelt. Aber für Warren war diese kleine „Macke“ wirklich unverzichtbar, wenngleich er auch sonst auf alle Annehmlichkeiten eines modernen Menschen sehr gut verzichten konnte.

 

Als Lany bereits erzählt hatte, wie sie nach Brasilien gekommen war und an den Punkt gelangte, an dem ihr wieder die Fast-Begegnung mit diesem Scott in Rosas Kneipe ins Gedächtnis schwappte, übernahm Warren kurzerhand die restliche Erzählung. Er konnte es einfach nicht mit ansehen, wie Lany sich bei diesem Thema quälte. Er hatte zwar noch immer nicht herausfinden können, was es nun genau mit diesem Scott auf sich hatte, aber dieser Kerl schien Lany jedes Mal förmlich in Angst und Schrecken zu versetzen. Warren musste unbedingt mehr erfahren, aber nicht hier und nicht jetzt. Vielleicht könnte er ja Jack auf Lanys Verfolger ansetzen, denn ihn kannte er schließlich noch nicht. Und was solche Dinge anging, konnte Warren sich immer felsenfest auf seinen kleinen Bruder verlassen. Würde er es selbst übernehmen, würde dieser Mistkerl mit Sicherheit nur misstrauisch werden.

 

Jack hörte die ganze Zeit über gespannt zu. Er ließ nur hier und da mal ein kurzes Brummen hören. Dies schien gleichermaßen Zustimmung und Ablehnung zu bedeuten, was Lany aber noch nicht genauer ausmachen konnte. Nicht Ablehnung Lany gegenüber – auf die Idee würde sie, obwohl sie Jack erst wenige Minuten kannte, nicht kommen – sondern Ablehnung gegen das, was Lany seit ihrer Ankunft in Brasilien widerfahren war.

 

Es war einfach unglaublich, wie die Erzählung von Lany in einem fließenden Übergang mit den Worten von Warren verschmolz. Jack wunderte sich sehr darüber, denn es wirkte geradeso, als würden die beiden dies schon seit Jahr und Tag so handhaben – gerade so, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Und was noch viel eigenartiger war, sie schienen es beide überhaupt nicht zu bemerken. So etwas hatte er bisher nur bei seinen Eltern erlebt. Auch sie vervollständigten ständig die Sätze des jeweils anderen. Aber sie waren ja auch ein eingespieltes Team. Nie hätte Jack erwartet, so etwas bei sich quasi vollkommen Fremden zu erleben.

 

Im nächsten Moment, Warren hatte gerade einen Kerl namens Scott soundso erwähnt, meldeten sich Jacks Jagdinstinkte erneut. Der Geruch von Angst lag so schwer, wie ein guter alter Rotwein in der Luft. Da er aber nicht schon wieder Bekanntschaft mit Warrens Art von Abreibung schließen wollte, versuchte Jack, sich zusammenzureißen. In diesem Augenblick fiel ihm auch auf, dass der Geruch eindeutig von Lany herrührte. Auch wenn sie versuchte, ihre Angst hinter einer äußerlichen Fassade von Distanziertheit zu verbergen, so wusste es Jack doch besser. Allerdings reichte allein ihr Anblick aus, seine Instinkte und das aufkeimende Jagdfieber niederzuringen. So etwas hatte er zuvor auch noch nicht erlebt. Normalerweise musste immer erst sein großer Bruder eingreifen und ihn wieder zur Vernunft bringen. Was war sie nur für eine eigenartige Frau.

 

Auch Warren hatte die Wandlung in Jacks Verhalten mitbekommen. Hatte die schwelende Aggression riechen können, als Lanys Angst als riesige Dunstwolke durch sein Heim wehte. Aber im nächsten Moment, Warren wollte Jack gerade warnen, verpuffte sie einfach wieder. Was war das denn nun wieder. Er schaute erst seinen Bruder und danach Lany an. Dann traf ihn die Erkenntnis, wie ein Prankenhieb seines Vaters. Lany hatte auch Jack für sich eingenommen – ebenso, wie sie es mit Warren getan hatte. Sie musste von irgendeinem Zauber umgeben sein, dem sich noch nicht einmal sein kleiner Bruder – der immerhin ansonsten immer gegen alle Einflüsse immun war – entziehen konnte.

 

Als er in Jacks irritiertes Gesicht blickte, konnte Warren nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Endlich hatte sein kleiner Bruder sozusagen seinen Meister gefunden. Und Lany ahnte natürlich von alldem nichts – wie denn auch – aber das machte es nicht minder amüsant. Sicherlich würde es noch sehr spannend werden und Warren freute sich jetzt schon darauf.

 

Aber warum? Warum ging er davon aus – zweifelte nicht eine einzige Sekunde daran – dass Lany überhaupt so lange bei ihm sein würde. Immerhin hatte er sie nicht für immer mit hierher gebracht. Er wollte ihr doch eigentlich nur helfen, ihr Problem zu lösen und danach würde sie bald wieder abreisen können.

 

Und dann? Was wäre danach?

 

Warren mochte nicht, in welche Richtung seine Gedanken mit ihm abdrifteten. Er hatte noch nie jemanden wirklich gebraucht. Ihm reichte es immer vollkommen, dass er wusste, dass seine Familie und Freunde für ihn da wären, wenn er sie mal brauchen sollte. Er musste sie nicht ständig um sich haben. Und irgendeine Frau hätte er schon gar nicht gebraucht – hatte es nie und würde es nie … sollte es nie. Aber … ach verdammt noch mal. Er musste es sich wohl oder übel eingestehen. Sie hatte ihn schon an der Angel gehabt, als er sie das erste Mal, dort im kleinen Hinterraum von Rosas Kneipe hatte liegen sehen. Trotz des kleinen Bettes hatte sie geradezu zierlich und zerbrechlich gewirkt – wie etwas, was man unbedingt beschützen musste. Wie etwas, was sich wie zu Hause anfühlte.

 

Jetzt, da er sich eingestanden hatte, dass da mehr war, was zwischen ihm und Lany vor sich ging, musste er sich unbedingt überlegen, wie er sie dazu bewegen konnte, bei ihm zu bleiben. Er mochte gar nicht daran denken, was wohl wäre, wenn sie nicht ebenso empfinden würde. Aber alles der Reihe nach. Erst einmal musste das Problem mit diesem Scott geklärt werden und dann musste er sich eigentlich auch noch um dieses Problem mit den fremden Jägern, die in letzter Zeit so zahlreich und zu dicht an ihrem Revier auftauchten, kümmern und hoffentlich beseitigen. Erst dann könnte er sich seinem ganz eigenen Problem widmen. Eigenartig. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, je wirklich private Probleme gehabt zu haben. Aber nun war es ebenso und er musste das Beste daraus machen.

Kapitel 10 – Gefechtsplanung

Jack hatte sich erst sehr spät am Abend von Lany und Warren verabschiedet. Aber bevor er das getan hatte, hatten sie gemeinsam einen Plan entwickelt, um das Problem mit diesem Scott zu lösen. Er mochte Lany, sehr sogar und er war sofort bereit gewesen, ihr dabei zu helfen, aber er ebenso war felsenfest davon überzeugt, dass sie noch nicht alle Einzelheiten zu diesem Scott preisgegeben hatte. Diese Vermutung teilte er mit seinem Bruder. Jack konnte spüren, dass es Warren ähnlich ging, wollte Lany aber nicht bedrängen. Dies würde ihm wahrscheinlich auch überhaupt nicht gut bekommen. Eher würde er wohl eine der schlimmsten Abreibungen in seinem Leben von seinem großen Bruder erhalten. Denn dieser hatte eindeutig ein Auge auf die junge Frau geworfen. Es hatte für Jack sogar den Anschein, dass er sie schon fast für sich beansprucht hatte. Aber natürlich nur soweit dies, ohne Lanys Wissen darum möglich war. Denn dafür müsste Warren sie über ihre Lebensweise, über ihre Art vollumfänglich aufklären und Jack bezweifelte, dass er dies bereits getan hatte. Lany verhielt sich einfach noch nicht so, als wisse sie, was hier vor sich ging. Und eigentlich war es auch gut so, denn schließlich, so sehr er sie auch mochte, war sie immer noch eine Fremde, die sich sein Vertrauen und das des Clans erst noch verdienen musste.

 

Noch während Jack durch den Wald zurück in sein eigenes Revier streifte, grübelte er über die beiden nach. Er hatte seinen Bruder noch nie so gesehen. Klar hatte Warren schon das eine oder andere Mädchen gehabt, aber diese waren immer in ihren Dörfern geblieben. Und alle von ihnen hatten seinen großen Bruder bereits nach wenigen Tagen gelangweilt, sodass er wieder weitergezogen war. Warren war schon so lange ein Einzelgänger, dass Jack nie vermutet hätte, dass es jemals jemanden geben würde, der ihn aus seinem Eremitentum herausholen könnte.

 

Er wusste, dass sein Vater damals ganz ähnlich war und erst als seine zukünftige Frau und Mutter von all seinen verrückten Kindern in sein Leben getreten war, konnte er sich davon lossagen. Es war gerade so, als würde seine Welt, sein Handeln, seine gesamte Existenz nur noch um seine Frau kreisen und dies hatte bis heute, auch nach so vielen gemeinsamen Jahren immer noch Bestand. Einfach erstaunlich.

 

Endlich war Jack bei seinem Unterschlupf angelangt. Er hatte kein Baumhaus, wie Warren. Sein zu Hause war eine riesige Höhle, versteckt hinter einem schwer zugänglichen Wasserfall. Er hatte sie damals selbst nur durch Zufall entdeckt, als er von Wilderen angeschossen und verletzt in diesen Fluss gestürzt war, der ihn dann hierher getrieben hatte. Er liebte seine Höhle und hatte sie, im Gegensatz zu Warrens spartanischer Einrichtung mit allerhand Pomp und Gloria eingerichtet. Es war fast wie in einem riesigen Luxuspalast. Denn auch wenn Jack gerne in der Wildnis lebte, konnte und wollte er auf die meisten Errungenschaften der Zivilisation auf keinen Fall verzichten.

 

Es waren mehrere Räume in der Höhle vorhanden, die er verschieden nutzen konnte. Den einen hatte er zu einer riesigen Bibliothek umgestaltet, denn Jack las für sein Leben gerne. Dies war sein Tick, so wie das Teetrinken unweigerlich zu Warren gehörte. In einem anderen Raum hatte er ein gemütliches Schlafzimmer und im nächsten seine Waffenkammer. Auch wenn er die Waffen, die er hier angesammelt hatte, so gut wie nie einsetzte, wollte er zumindest vorbereitet sein, wenn es doch einmal anders wäre.

 

Auch sein Revier grenzte unmittelbar an das Gebiet, das es zu schützen galt und wofür sie alle bereit waren ihr eigenes Leben zu riskieren. So musste jeder Eindringling unweigerlich erst durch eines die Reviere der extra dafür abgestellten Clanmitglieder hindurch kommen, um den geheimen Pfad zu ihrem heiligen Ort zu finden. Nur rannten alle, die es bisher versucht hatten, bis jetzt immer in ihren eigenen Untergang. Die Letzten, die es gerade erst vor ein paar Wochen versucht hatten, waren genauso, wie alle anderen vor ihnen ausgelöscht und vom Wald einverleibt worden.

 

Jetzt da Jack endlich wieder zu Hause war, wollte er sich sein Vorgehen im Falle Scott erst noch einmal genau überlegen. Wenn er zu forsch an die Sache heranging, würde dieser Kerl nur Verdacht schöpfen, auch wenn er Jack bis jetzt noch nicht kannte. Auch musste er irgendwie der guten alten Rosa eine Nachricht zukommen lassen. Er wollte nicht, dass es so aussah, als würden sie sich kennen, denn auch das würde Verdacht erregen. Am besten nutze er die einzige Verbindung zu den anderen Clanmitgliedern, die niemand außerhalb des Clans abhören konnte, und informierte so Miguel und Carlos, die beide im Dorf lebten über sein Kommen. Auch würden sie Rosa absolut diskret über sein Vorhaben in Kenntnis setzen können. Ja, das war ein guter Plan. Aber erst musste er seinen Hunger stillen, ohne etwas im Magen zu haben, konnte er nicht denken.

 

Glücklicherweise war der Platz vor dem Eingang zu seiner Höhle bei den Tieren eine beliebte Stelle zum Trinken. Das Ufer fiel flach ab, sodass selbst die kleinsten von ihnen dicht genug herankommen konnten, ohne von den Fluten mitgerissen zu werden. Auf diese Weise brauchte Jack sich nie, wenn er es nicht unbedingt wollte, weit von seinem Heim entfernen, um an etwas Essbares zu gelangen.

 

Nachdem er sich den Bauch vollgeschlagen und eine kurze Weile gedöst hatte, nahm er, wie vorher geplant Kontakt zu den beiden Clanmitgliedern, Miguel und Carlos im Dorf auf. Auch sie hatten bereits von diesem Scott gehört und hatten ihn in Rosas Kneipe beobachtet. Sie berichteten auch, dass er sich mit einer neuen Gruppe von Jägern zusammengetan hatte und dass diese mittlerweile schon den dritten Tag auf eine Lieferung, die mit dem Flugzeug eintreffen sollte, warteten. Wenn Jack sich diesen Scott also aus der Nähe anschauen wollte, müsste er sich sehr beeilen. Denn immerhin konnte das erwartete Flugzeug jeden Moment landen und danach würde es vermutlich schwieriger werden, ihn unauffällig zu beobachten. Nachdem Miguel versprochen hatte, Rosa zu informieren, brachen sie die Verbindung ab und Jack machte sich auf den Weg ins Dorf.

Kapitel 11 – Strategien und Manöver

Nun war es schon der dritte Tag, an dem sie auf die versprochene Lieferung ihres Auftraggebers warteten. Scott bemerkte die stetig wachsende Unruhe bei den Männern, denen er sich angeschlossen hatte. Und auch er verlor kostbare Zeit. Und trotzdem saß er hier in diesem Kaff fest, mit Männern, denen er nicht vertrauen konnte und ohne eine Ahnung zu haben, wo er mit seiner Suche anfangen sollte. Er hoffte nur, dass Lany ebenfalls noch nicht besonders weit gekommen war. Hier im Dorf war sie jedenfalls nicht mehr, aber ohne einen erfahrenen Führer würde sie auch im Urwald nicht besonders weit kommen. Natürlich bestand die Gefahr, dass sie von irgendwelchen wilden Tieren getötet werden könnte und dann hätte er leider auch nichts mehr von ihr. Aber da er Lany nun schon eine ganze Weile kannte und wusste, wie zäh und hartnäckig sie sein konnte, glaubte er nicht daran.

 

Um nicht die gesamte Zeit nutzlos zu vertun, beschloss er noch einmal in diese kleine Kneipe zu gehen. Denn nach wie vor war er davon überzeugt, dass diese kleine alte Frau etwas vor ihm verheimlichte. Sie war längst nicht so harmlos, wie sie den Anschein erweckte.

 

Als er den schummrigen Schankraum betrat, war alles exakt, wie an den vorherigen Tagen. Sogar die gleichen Leute saßen an exakt den gleichen Tischen, wie zuvor - gerade so, als hätten sie sich nicht von ihren Plätzen fortbewegt.

 

Auch Scott nahm wieder am gleichen Tisch Platz, nachdem er sich vom Tresen eines dieser schalen Biere besorgt hatte.

 

Rosa atmete schwer aus. Schon wieder war dieser Kerl in ihrer Kneipe aufgetaucht. Sie hatte gehofft, dass er inzwischen weitergezogen wäre. Aber leider hatte sie von Miguel erfahren, dass er sich einer Gruppe von Jägern angeschlossen hatte und das konnte nur noch mehr Ärger bedeuten. Carlos hatte die Gruppe die ganze Zeit über beobachtet. Denn die Gefahr, die von diesen Jägern ausging, sollte keiner von ihnen unterschätzen. Nicht um sonst befanden sich alle hiesigen Clanmitglieder in höchster Alarmbereitschaft.

 

Da Warren momentan Lany beschützen musste, konnten sie sich bei diesem Problem nicht auf seine Hilfe verlassen. Dazu war Lany zu wichtig. Rosa hatte es in dem Moment, als sie sie das erste Mal sah, erkannt und gleich Miguel und Carlos informiert. Dieser jungen Frau durfte nichts zustoßen. Und damit dies nicht geschehen konnte, mussten sie Warren diesbezüglich in Unwissenheit lassen. Denn würde er erfahren, wer Lany wirklich war, könnte er sich nicht mehr hundertprozentig auf seine Aufgabe, nämlich Lany zu beschützen, konzentrieren.

 

Aus diesem Grund hatte Rosa, gleich nachdem Warren mit Lany aus ihrer Kneipe geflohen war, Ephraim Lang angerufen und ihn über die heikle Lage informiert. Sie hoffte nur, dass er es rechtzeitig schaffen würde, ihnen Hilfe zu schicken.

 

Gerade war Rosa dabei, die schmutzigen Gläser zu spülen, als die Türen zu ihrer Kneipe abermals geöffnet wurden. Ein Mann kam auf den Tresen zu und setzte sich auf einen der Barhocker.

 

Beinahe hätte Rosa Jack nicht wiedererkannt. Zu viele Jahre waren inzwischen vergangen. Aber als sie ihm in die Augen schaute, wusste sie sofort, wen sie vor sich hatte. Glücklicherweise sah Jack seinem großen Bruder überhaupt nicht ähnlich, sonst wäre ihr Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Natürlich hatte Carlos Rosa über alles informiert, sodass sie nun auch wusste, wen Jack hier suchte. Unauffällig zeigte sie ihm den Fremden, der ebenfalls wieder an seinem mittlerweile angestammten Tisch Platz genommen hatte und alle Gäste argwöhnisch aus dem Augenwinkel beobachtete. Sein Bier hatte er natürlich wieder einmal überhaupt nicht angerührt - so wie bisher jeden Tag.

 

Ob der Fremde, der vor ein paar Minuten die Kneipe betreten hatte, ebenfalls zu den Jägern gehörte, konnte Scott nicht sagen. Dieser Mann sah auf jeden Fall ebenfalls wie ein Jäger aus und er hoffte schon fast inständig, dass er vielleicht zusammen mit der erwarteten Maschine gelandet war. Dass er hier allein aufkreuzte war zwar etwas eigenartig, aber so langsam konnte Scott wirklich keinerlei Geduld mehr aufbringen. Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen und diesen Kerl einfach anzusprechen. Als der Mann bezahlt hatte und nach draußen ging, folgte Scott ihm auf dem Fuße.

 

"Hast du ein Problem oder warum läufst du mir hinterher, wie ein gemeiner Dieb?", sagte Jack ohne sich nach dem Mann, der ihm aus der Kneipe gefolgt war, umzudrehen. Er wusste genau, wer ihn verfolgte, denn dieser Mann stank. Nicht im eigentlichen Sinne ... nein ... aber dieser Kerl hatte Angst und die stank bereits bis zum Himmel. Jack konnte sich nur schwerlich zusammenreißen, aber er wusste, was auf dem Spiel stand. Und um Lanys Willen riss er sich zusammen. Allein der Gedanke an sie beschwichtigte sein bereits stark erhitztes Gemüt und rang so seinen Jagdinstinkt nieder. Einfach erstaunlich!

 

Dieser Scott blieb, wie erstarrt ein paar Fuß hinter ihm stehen. Jack wusste, welche Wirkung er auf andere hatte und nutzte dies hin und wieder gerne zu seinen Gunsten aus. Denn den meisten, den er begegnete, war nur beizukommen, wenn sie ausreichend Angst in ihren Gliedern verspürten.

 

"Em ... ich ... ich bin Scott. Ich habe mich gefragt, ob sie eventuell heute mit einem Flugzeug hier angekommen sind. Meine Partner und ich warten bereits seit einigen Tagen auf eine wichtige Lieferung per Flieger ...", sprudelte es aus Scott nur so heraus. Eigenartig, denn normalerweise war er kein Typ, der sich leicht einschüchtern ließ oder gar vor einem anderen zu Kreuze kroch. Aber dieser Kerl jagte ihm eine Heidenangst ein. In der Kneipe, als er ihn aus der Entfernung beobachtet hatte, hatte er noch vollkommen harmlos gewirkt. Aber hier draußen ... kaum war die Kneipentür geschlossen gewesen, hatte sich irgendwie die Atmosphäre verändert. Natürlich war so etwas unmöglich und Scott glaubte nicht an solche Dinge. Aber er konnte es nicht bestreiten, dass sich mit dem Mann irgendein Wandel vollzogen hatte, sodass er nun ein vollkommen anderer zu sein schien.

 

"Was wäre denn, wenn ich mit dem Flieger angekommen wäre? ... Außerdem siehst du nicht gerade nach einem Jäger aus. Na ja, vielleicht in einer Großstadt, aber keinesfalls hier. Also, was willst du? Und erzähle mir nicht, du gehörst zu diesen Kerlen am Flughafen, denn die haben Ahnung von der Jagd im Urwald." Jack legte so viel Kälte in seine Stimme, dass seinem Gegenüber eigentlich schon Eiszapfen an der Nase hätten wachsen müssen, aber wieder einmal verfehlte sein Auftreten nicht seine Wirkung.

 

Nach kurzem Überlegen erzählte Scott diesem Fremden die gleiche Geschichte, die er der alten Frau in der Kneipe aufgetischt hatte - von seiner Verlobten und der Überraschung, dass er nun doch Urlaub bekommen hätte und ... und ... und ... Scott war wirklich gut, aber Jack glaubte ihm keine einzige Sekunde. Schließlich hatte er diesen Teil der Geschichte bereits von Lany und Warren gehört und an ihrer Reaktion auf den Namen Scott wusste er, dass ihre Angst nicht gespielt gewesen war. Aber er würde erst einmal dieses Spielchen mitspielen. Mal sehen, wo das hinführen sollte.

 

Nun war es an Jack, diesem Scott etwas vorzuspielen. "Oh Mann, das klingt ja gerade so, als hättest du wirklich ein großes Problem. Wenn sie wirklich allein in diesen Wald gegangen ist, kann sie das nur mit einer ordentlichen Portion Glück überleben. Besser ist, du machst dich gleich auf die Suche nach ihr." Jack war Stolz auf sich. Er hatte seine Worte glaubwürdig genug rübergebracht. Er konnte dies eindeutig an Scotts Reaktion sehen. Dieser nahm ihm ab, dass er sich wirklich Sorgen machte und anscheinend kurz davor stand, ihm seine Hilfe bei der Suche anzubieten.

 

"Das habe ich ja versucht, indem ich mich dieser Gruppe von Jägern anschloss. Aber nun hängen wir hier schon seit drei geschlagenen Tagen fest und diese Kerle machen nicht den Eindruck, als würden sie es besonders eilig haben. Aber nachdem Sie nun noch meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt haben, möchte ich doch gleich aufbrechen. Leider kenne ich mich hier genauso wenig aus, wie meine geliebte Lany. Kennen Sie nicht jemanden, den Sie mir als Führer empfehlen könnten?" Scott legte noch eine geschlagene Portion Verzweiflung in seine Ansprache. Beinahe hatte er diesen Kerl soweit.

 

Er schien doch nicht so gefährlich zu sein, wie es für Scott auf den zweiten Blick den Anschein gehabt hatte. Er war sogar eher ein totaler Softie, der es als seine Pflicht ansah, der armen Jungfrau in Nöten zur Hilfe zu eilen. Und das war natürlich umso besser für Scott. Er schaffte es sogar, ebenso einen Softie raushängen zu lassen und drückte sich - fast unter körperlichen Schmerzen - eine einzelne Träne ab. Und es verfehlte offensichtlich nicht seine Wirkung. Sein Gegenüber reichte ihm die Hand, stellte sich als Jack vor und sicherte ihm seine sofortige Hilfe zu. Allerdings, und das musste auch Scott zugeben, würde es in der Dunkelheit nicht viel bringen, loszuziehen. So verabredeten sie sich daher gleich für den nächsten Morgen.

 

Nachdem Scott sich verabschiedet hatte und in seine Pension zurückgekehrt war, machte sich Jack auf den Weg zu diesen Jägern. Das war die beste Gelegenheit für ihn, sich diese Kerle aus der Nähe anschauen zu können und so einzuschätzen, wie gefährlich die Situation wirklich war. Gleichzeitig würde er versuchen, zwischen Scott und ihnen Zwietracht zu säen, damit er ihn ohne Probleme von der Gruppe entfernen konnte.

Als er etwas später wieder zu Rosas Kneipe zurückkehrte, waren nur noch wenige Gäste dort. Rosa war, wie immer mit dem Spülen der Gläser beschäftigt, blickte aber sofort auf, als sie Jack bemerkte. Miguel und Carlos waren ebenfalls anwesend, doch das hatte Jack bereits gewusst, bevor er die Kneipe betreten hatte.

 

Nach seinem Gespräch mit den Jägern war er felsenfest davon überzeugt, dass diese Kerle ihnen mehr Ärger bereiten würden, als es die zahlreichen anderen Gruppen vor ihnen vermocht hatten und das bereitete ihm wirklich Sorgen. Wahrscheinlich würden sie dieses Mal nicht allein damit fertig werden. Aber sein Auftrag war vorerst ein anderer und darauf musste er sich jetzt konzentrieren. Er hoffte nur, dass sein Vater und Clanoberhaupt damit keine Probleme hatte. Schließlich ging es ja eigentlich nur um eine Frau. Bisher hatte sein Vater solcherlei Dinge immer als unwichtig angesehen, im Gegensatz zu ihrem viel wichtigeren Kampf zur Bewahrung ihres Geheimnisses. Und grundsätzlich hatte es immer eine Menge Ärger gegeben, wenn irgendwer ihres Clans nur versucht hatte, dabei aus der Reihe zu tanzen. Aber den Göttern sei Dank, wusste der alte Herr ja nichts davon.

 

Nacheinander und so unauffällig, wie möglich verließen die drei Männer die Kneipe durch die Hintertür, die zu Rosas Privaträumen führte. Als der letzte Gast die Kneipe endlich verlassen hatte, schloss Rosa die Tür zu und ging ebenfalls nach hinten. Miguel und Carlos hatten es sich derweil auf dem schmalen Bett gemütlich gemacht, während Jack neben der Tür an der Wand lehnte. Als Rosa nun diesen Raum betrat, wurde sie stürmisch in die Arme geschlossen. Denn Jack freute sich sehr darüber, Rosa endlich einmal wieder zu sehen. Auch er hatte sich als kleiner Streuner immer wieder bei ihr versteckt, wenn er etwas ausgefressen hatte. Diesen Tipp hatte ihm damals Warren gegeben, als dieser zu groß fürs Verstecken geworden war und seine Aufgabe als Wächter übernommen hatte. Sie war ihm neben seiner Mutter und seiner kleinen Schwester, eine der liebsten Personen auf dieser Welt.

 

Dann wurde es still in dem kleinen Raum. Nachdem Jack und Rosa sich ebenfalls einen Sitzplatz gesucht hatten, beratschlagten sie, wie sie wegen der neuen Jäger vorgehen sollten. Jack informierte die Drei über Warren und Lany und seine Beobachtungen in Bezug auf die beiden. Als Jacks Bericht beendet war, hatte Rosa sich mühsam durchgerungen, den drei Männern ihre Erkenntnis, die sie über die junge Frau erlangt hatte und auch ihre Beobachtungen mitzuteilen. Vorher nahm sie ihnen aber noch den Schwur ab, nichts davon zu verraten und diese Information so weit wie möglich in ihren Erinnerungen zu vergraben, denn sollte dies zu früh bekannt werden, würde es verheerende Auswirkungen auf die Zukunft des gesamten Clans haben.

Kapitel 12 – Wildes Erbe

Es war früh am Morgen, als Lany erwachte. Sie war nun schon seit einigen Tagen in diesem Wald und bei Warren. Er hatte ihr sein Bett überlassen und schlief selbst in einer Hängematte auf der umlaufenden Terrasse. Es schien ihm nichts auszumachen und Lany war froh, nicht auf den Komfort eines richtigen Bettes verzichten zu müssen. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, allein in den Dschungel marschieren zu wollen, Nacht für Nacht in einem Zelt zu schlafen und das alles auch noch ohne einen erfahrenen Führer an ihrer Seite. Im Moment konnte sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Aber irgendetwas hatte sie damals hierher gerufen – ein eigentümliches Gefühl … ein innerer Drang, dem sie hatte nicht widerstehen können. Oder aber viel wahrscheinlicher lag es auch nur daran, dass Scott hier aufgetaucht war. Vielleicht, wenn dieser Umstand sie nicht so aus der Bahn geworfen hätte, würde sie anders über das Ganze denken, als sie es jetzt tat. Sie glaubte schon lange nicht mehr an irgendwelche Eingebungen, die aus dem Nichts auftauchten, um jemanden zu rufen oder auch zu warnen. Zwar verließ sie sich immer noch hin und wieder auf ihr Bauchgefühl, aber alles andere führte ihr doch zu weit. Nur damals als Großvater Ernest noch gelebt hatte, war sie anderer Meinung gewesen. Er hatte ihr stets gesagt, nein, regelrecht eingebläut, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als man glauben würde. Er wünschte sich von ihr, dass sie alldem aufgeschlossen gegenüberstehen und mit offenen Sinnen durch die Welt gehen sollte. Aber dann hatte er sie verlassen. Einfach so und sie hatte nichts davon gemerkt. Wenn es doch diese angeblichen Eingebungen gab, warum hatte sie dann seinen Tod nicht gespürt. … Seitdem hatte sie alles, was damit zu tun hatte, weit von sich geschoben und nur noch nach rationalen Maßstäben gehandelt.

 

Lany gefiel es in diesem Baumhaus immer besser. Und auch dessen Besitzer wurde ihr immer sympathischer. Zum Anfang hatte sie Warren ja für unnahbar und sogar etwas unheimlich gehalten, aber mittlerweile kannte sie ihn auch von einer anderen Seite, die er ihrer Meinung nach anderen gegenüber eher selten zeigte. Er war zurückhaltend, charmant und fürsorglich. Zudem sah er einfach umwerfend aus - nicht im klassischen Sinne, aber auf eine atemberaubende, vollkommen ursprüngliche und sehr maskuline Weise. Und das i-Tüpfelchen war, dass er einen einfach fantastischen trockenen Humor hatte. Damit konnten sicherlich nicht viele Menschen umgehen, aber sie liebte es. Erinnerte dieser Humor sie doch an ihren geliebten Großvater, der sie damals immer ähnlich auf die Schippe genommen hatte. Kurzum, sie fühlte sich von ihm mittlerweile auf unerklärliche Weise magisch angezogen. Jedes Mal wenn sie ihn beobachtete, wollte sie ihn unbedingt berühren – seine Haut unter ihren Fingern spüren. Wenn er sprach, konnte sie ihren Blick nicht von seinem Mund abwenden. Sie verspürte ständig den übernatürlichen Drang, ihn küssen zu wollen. Und wenn sie in seine Augen schaute, hatte sie das Gefühl, sich darin zu verlieren.

 

Verdammt, sie musste endlich damit aufhören. Sie kannte ihn doch gar nicht und noch nie wollte sie jemand Fremden so nahe sein, wie es bei Warren der Fall war. Normalerweise machte sie sich von derlei Dingen nicht so abhängig – ließ sich nicht von ihren sogenannten Hormonen leiten und war in der Regel fremden Männern generell vorsichtig und distanziert gegenüber.

 

Doch ihr Gefühlsleben stand inzwischen total auf dem Kopf und das war faszinierend und beängstigend zugleich.

 

Während Lany grübelte, fiel ihr auch auf, dass Warren sie, seit Jack vor ein paar Tagen gegangen war, nicht ein einziges Mal gedrängt hatte, ihm mehr von Scott und ihrer Angst vor ihm zu erzählen. Er schien zu spüren, dass sie noch etwas Zeit brauchte und von allein mit der Sprache rausrücken würde, wenn sie soweit war. Ein weiterer Charakterzug, der ihr an ihm gefiel. Sie hatte es noch nie gemocht, in die Ecke getrieben zu werden. Dann reagierte sie instinktiv mit Flucht oder im schlimmsten Fall mit Angriff. Aber hier brauchte sie das nicht, zumal Warren ihr sowieso kräftetechnisch vollkommen überlegen wäre.

 

Warren war erst spät in der Nacht zurückgekehrt. Er war auf der Jagd gewesen und hatte endlich seinen Hunger stillen können. Danach nutzte er die restliche Nacht zum Nachdenken. Nun aber hörte er, wie Lany sich im Inneren des Hauses regte. Sie stand gerade auf und das Geräusch von nackten Füßen auf dem Holzfußboden drang an seine Ohren. Mit jedem Fußschritt, den Lany tat, wuchs in Warren das Verlangen, zu ihr zu gehen und sie in seine Arme zu reißen – sie für sich zu beanspruchen und nie wieder fortzulassen.

 

Dieses vermaledeite Gefühl war stetig in ihm gewachsen, seit er sie in sein Haus gebracht hatte. Sein animalischer Instinkt wollte unbedingt die Oberhand gewinnen. Er drängte mit aller Macht nach außen. Aber Warren musste widerstehen. Lany war ein Mensch und gehörte hier einfach nicht her. Sie würde hier nur zerbrechen. Und als zukünftiges Clanoberhaupt musste er auch daran denken, seinen Familienstammbaum fortzuführen. Früher oder später musste er die eine Frau seines eigenen Volkes zur Gefährtin wählen, die für ihn vorbestimmt war. Nur so war es möglich, für Nachwuchs zu sorgen. Und das wäre mit Lany leider anders. Sie konnte nicht seine Gefährtin werden, so sehr er es sich auch wünschte.

 

Aber warum hatte er dann diese eigenartigen Gefühle? Warum wollte er sie unbedingt besitzen - sie beschützen, auch und erst recht vor anderen Männern? Die Eifersucht, die in ihm allein schon in Jacks Gegenwart hochgestiegen war, wäre nur zu erklären gewesen, wenn Lany seine vorbestimmte Gefährtin wäre. Bei allen Göttern, aber das war nicht möglich! So etwas hatte es noch nie gegeben. Punkt! AUS!

 

Der Duft von frischem Tee, der Warren in die Nase stieg, holte ihn aus seinen Überlegungen zurück in die Realität. Im nächsten Augenblick kam Lany mit zwei dampfenden Tassen auf die Terrasse. Leise und vorsichtig – so, als wollte sie ihn nicht wecken, falls er noch schlief. Ihr unaufdringliches, fürsorgliches Verhalten berührte etwas ganz tief in ihm. Seit seiner Mutter hatte sich keine der zahlreichen Frauen, die er über die Jahre kennengelernt hatte, so verhalten. Und diese Frau, Lany, die ihn erst nur wenige Tage kannte, wusste anscheinend instinktiv, was er sich wünschte – was er brauchte. Und das war im Moment tatsächlich eine Tasse seines Lieblingstees und eigenartigerweise auch etwas Gesellschaft.

 

Er beschloss, die gemeinsame Zeit mit Lany, einfach so lange zu genießen, wie es ihm möglich war, bevor sie wieder in ihr Leben zurückkehren konnte und auch musste. Warum sollte er das auch nicht tun? Seine Gefährtin hatte er immerhin noch nicht getroffen und warum sollte nicht auch er mal träumen dürfen?

 

Nachdem sie ihren Tee getrunken und Lany etwas gefrühstückt hatte, schlug Warren vor, ihr den Wald zu zeigen. Immerhin sollte sie ja, trotz der Umstände, ihren Urlaub wenigstens etwas genießen können. Auch wenn Lany anfangs etwas skeptisch war – sie hatte wirklich große Angst, auch hier von Scott aufgespürt zu werden – konnte Warren sie letztendlich überzeugen, dass ihr hier keine Gefahr drohen würde. Jack würde Scott im Auge behalten und sie beide rechtzeitig informieren, falls er auch nur in ihre Nähe kommen sollte.

 

Nachdem Warren etwas Proviant in einem kleinen Rucksack verstaut hatte, brachen sie auch schon auf. Der Abstieg von seinem Baum gestaltete sich für Lany etwas schwierig, aber sie biss die Zähne zusammen und meisterte ihren Weg durch puren Trotz. Damals, als Kind, war sie ständig auf die höchsten Bäume und zwar Leichtigkeit geklettert. Und es war auch nie das Problem gewesen, wieder herunterzukommen. Sie glaubte, dass sie deshalb von Großvater Ernest immer seine kleine Wildkatze genannt wurde. Also sollte es jetzt auch kein Problem darstellen, auch, wenn sie schon so viele Jahre aus der Übung war.

 

Zuerst wollte Warren ihr beim Abstieg helfen, aber als er ihren entschlossenen Blick sah, entschied er sich anders. Es war schon bewundernswert, bei dieser zierlichen Frau, solch einen Kampfgeist, solch eine Entschlossenheit zu sehen. Und tatsächlich, sie wurde auf dem Weg nach unten immer sicherer und bewältigte den Abstieg ohne auch nur einen Kratzer.

 

Lany wurde, als sie so durch den Wald streiften, von einer unbändigen Freude und Aufregung erfasst. Mit Warren an ihrer Seite verspürte sie keinerlei Furcht. Obwohl jeden Moment ein Raubtier ihren Weg kreuzen könnte, machte es ihr nichts aus. Anfangs bewegte sie sich noch unbeholfen und stolperte durch das Dickicht. Aber je länger sie gingen, desto sicherer und gezielter wurden ihre Schritte. Auch ihre Wahrnehmung schien sich auf ihre Umgebung einzustellen. Plötzlich konnte sie Dinge sehen, hören und sogar riechen, die ihr vorher nie aufgefallen wären. Und das auch aus weiter Entfernung, wie ihr schien. Es war einfach faszinierend und ein ungeahntes Glücksgefühl stieg in ihr hoch. Wieder einmal musste Lany feststellen, dass sie so etwas zuletzt mit Großvater Ernest erlebt hatte. Er war immer mit ihr auf seinem weitläufigen Land, zu dem auch ein riesiges Waldgebiet gehörte, umhergestreift. Dabei hatte er sie immer aufgefordert, auf alles genauestens zu achten – jede noch so kleine Bewegung, jedes Geräusch.

 

Und immer, wenn sie von ihrer Mutter wieder abgeholt wurde, gab es einen riesigen Streit zwischen ihr und Großvater Ernest, da ihre Mutter der Meinung war, dass aus Lany eine Dame, und nicht ein Jäger werden sollte. Denn genau das war es, was ihr Großvater ihr beibrachte. Damals als Kind hatte es ihr einfach nur riesigen Spaß gemacht, aber aus heutiger Sicht wusste Lany es einfach nur sehr zu schätzen, dass er sein Wissen mit ihr geteilt hatte. Jetzt konnte sie sich auch daran erinnern, dass bereits damals ihre Wahrnehmung in jeglicher Hinsicht sehr ausgeprägt war. Nur waren ihre damals antrainierten Fähigkeiten in den Jahren, in denen sie in der Stadt gelebt hatte, verkümmert. Sie hatte all die Jahre nicht einmal daran gedacht und nun schien sie davon überrannt zu werden. Natürlich war es im ersten Moment beunruhigend und bereitete ihr auch, wegen der immensen Informationsflut, die auf sie einströmte, ein wenig Kopfschmerzen, aber all das verflog bereits nach kurzer Zeit wieder. Ihr Körper schien sich wieder darauf einzustellen. Und sobald das geschehen war, konnte sie es in vollen Zügen genießen.

 

Die ganze Zeit, die sie nun schon gemeinsam durch den Wald liefen, hatten sie nicht ein einziges Wort miteinander gesprochen. Lany schien sogar ganz und gar Warrens Anwesenheit vergessen zu haben. Sie wirkte so vollkommen gelöst, wie Warren es, seitdem er sie kennengelernt hatte, noch nicht bei ihr gesehen hatte. Auch er konnte den Wandel sehen, den Lany vollzog. Sie schien ein vollkommen neues Körpergefühl zu bekommen, denn auf einmal bewegte sie sich sehr geschmeidig und kraftvoll durch das Dickicht. Wenn sie jetzt jemand von seinen Leuten sehen würde, würden diese nicht annehmen, dass Lany nur ein Mensch war. Eigenartigerweise schien sich auch ihr Geruch zu verändern. Für ihn war es vollkommen normal, dass er auf der Jagd seinen eigenen Geruch verschleierte, sodass er seine Beute und jeden anderen auch täuschen konnte. Aber bei Lany sollte so etwas überhaupt nicht möglich sein und doch tat sie es. Würde Warren sie nicht sehen können, hätte er wirklich Schwierigkeiten zu erahnen, wo sie sich befand oder ob sie überhaupt anwesend wäre. Das alles war mehr als eigenartig.

 

Und während er weiter hinter ihr herlief und sie staunend beobachtete, meldete sich seine animalische Seite dieses Mal noch stärker zu Wort. Das Tier in ihm wollte sie. Es verzehrte sich nach ihr und wurde immer wilder. Es schien sie irgendwie zu erkennen, wenn dies auch nicht möglich sein konnte. Warrens logischer Verstand beschloss, dass es wahrscheinlich nur daran lag, dass er sie eigentlich, trotz der Unterschiede und gegen all seine Verpflichtungen, haben wollte. Sie bei sich behalten wollte, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass sie keine von seinem Volk war. Aber da musste er sich selbst zur Ordnung rufen. Er würde seinem Volk, seinem Clan damit schaden. Von dem Ärger, den er sich bei seinem Vater heraufbeschwören würde, ganz zu schweigen.

 

Auch ohne, dass sie sich umdrehte, bemerkte Lany, dass Warren nicht länger hinter ihr war. Er war vor einiger Zeit stehen geblieben und schien auch nicht nachkommen zu wollen. Widerwillig drehte sie sich in seine Richtung. Sie wollte noch mehr vom Wald und seinen Bewohner, seinen Wundern sehen. Lany wollte einfach noch etwas länger das Gefühl von Freiheit genießen können und beinahe konnte sie sich nicht dazu durchringen, zu ihm zurückzugehen. Sie war vollkommen hin und her gerissen. Aber irgendetwas tief in ihr, das, was nun immer stärker an die Oberfläche drängte, sagte ihr, dass sie umkehren musste – es nicht anderes ging.

 

Warren war schon längst nicht mehr durch das Dickicht zu sehen, aber sie konnte trotzdem ohne Mühe zu ihm zurückkehren. Jemand anderes hätte sich wahrscheinlich schon allein dabei verlaufen. Und wieder einmal war sie ihrem Großvater mehr als dankbar für ihr Training.

 

Als Lany nun auf Warren zuging, konnte sie sehen, dass er sich wirklich keinen Zoll weit bewegt hatte. Er schien es noch nicht einmal mitzubekommen, so war er in Gedanken versunken. Es juckte Lany geradezu in den Fingerspitzen. Irgendetwas in ihr wollte ihn erschrecken, mit ihm spielen. Und obwohl sich ihr die Nackenhaare aufstellten, konnte sie diesem Drang einfach nicht widerstehen und begann sich, in einem weiten Bogen um ihn herum zu bewegen.

 

Immer noch tief in seine Gedanken versunken, hatte Warren alles um sich herum vergessen. Das war ihm noch nie passiert – er war nie so unvorsichtig gewesen. Doch plötzlich meldeten sich seine empfindlichen Sinne. Seine Nackenhaare stellten sich auf, das Tier in ihm ging in Lauerstellung und das tat es nur, wenn ihm irgendwelche Gefahr drohte. Warrens ganzer Körper spannte sich in der Erwartung eines baldigen Angriffs an. In diesem Moment war sein logisches Denken fast komplett ausgeschaltet und sein Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle. Vor allem, da Lany ganz in seiner Nähe sein musste. Sie musste unbedingt beschützt werden. Erst jetzt bemerkte er, dass er Lany nicht mehr sehen konnte. Wie hatte er sie nur aus den Augen verlieren können. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren und es sah ihm auch überhaupt nicht ähnlich. Aber das passierte anscheinend, wenn er sich um solche Dinge, wie eben noch, Gedanken machte. Lany stellte eindeutig eine Ablenkung für ihn dar. Er musste sich besser konzentrieren.

 

Warren konnte nicht genau ausmachen, aus welcher Richtung ihnen Gefahr drohte. Noch niemals zuvor hatte ihn jemand so täuschen können. Das war wirklich höchst beunruhigend. Er hoffte nur, dass Lany nicht das erste Ziel ihres Angreifers sein würde.

Da nun auch noch die normalen Geräusche des Waldes verstummten, musste es sich um einen wirklich starken und sehr gefährlichen Gegner handeln. Denn wenn es nur Menschen wären, hätten die Tiere nicht solche Angst – zumindest nicht die kleinsten von ihnen. Vollkommen starr und aufs Äußerste gespannt, verharrte Warren an Ort und Stelle. Irgendwann musste sein Gegner schließlich hier auftauchen, sonst würden nicht sämtliche seiner Alarmglocken schrillen.

 

Endlich hatte Lany es geschafft. Sie hatte Warren soweit umrundet, dass sie sich nun seinem Rücken gegenübersah. Ihren Stolz darauf versteckte sie ganz tief in sich, sonst hätte ihr Herz viel zu laut in ihrer Brust gehämmert und sie hätte ihr Vorhaben nicht in die Tat umsetzen können. Lany fiel gerade auf, dass es plötzlich mucksmäuschenstill um sie herum war, als sie auch die Veränderungen an Warrens Körperhaltung bemerkte. Er schien irgendwie zu lauern. Hatte sie sich am Ende doch durch irgendetwas verraten?

 

Sie beschloss alles auf eine Karte zu setzen und schlich sich genauso leise, wie zuvor weiter von hinten an ihn heran. Gerade als sie seinen Rücken mit dem Finger antippen wollte – denn mehr hatte sie wirklich nicht vor – drehte Warren sich mit einem furchterregenden Fauchen herum, ergriff ihr Handgelenk und warf sie zu Boden. Das alles geschah binnen nur eines einzigen Wimpernschlags. Und Lany wusste gar nicht wie ihr geschah. Im nächsten Moment fixierte er sie auch schon mit seinem Knie, dass er auf ihren Brustkorb gedrückt hielt. Ein tiefes Knurren entrang sich seiner Kehle und der Blick war starr auf ihr Gesicht gerichtet. Das Irritierendste daran war aber, dass seine Augen nicht mehr die Farbe hatten, die sie bei ihm an den Tagen zuvor gesehen hatte. Sie hatten nicht länger das übliche Blaugrün, sondern leuchteten nun strahlend Gelb. Sein Blick erinnerte sie geradezu unheimlich an den einer Katze.

 

Normalerweise hätte Lany sich nun so sehr gefürchtet, dass sie wieder in ihre Panik abgedriftet wäre. Aber der Teil von ihr, der gerade erst erwacht war, weigerte sich dagegen. Sie schien auf ihre folgenden Handlungen gar keinen Einfluss zu haben. Lany spürte nur noch, wie ein enormer Adrenalinstoß in ihr freigesetzt wurde. Bereits im nächsten Moment konnte sie sich aus Warrens Griff befreien und sprang ihrerseits in Deckung.

 

Als Warren sich aufrappelte und in ihre Richtung schaute, kauerte sie dort sprungbereit und in offensichtlicher Angriffsstellung. Er war so in die Idee eines Angriffs durch einen potenziell gefährlichen Gegner vertieft gewesen, dass er überhaupt nicht bemerkt hatte, dass es sich bei dem sich Anschleichenden, um Lany gehandelt hatte. Da sein Instinkt die Kontrolle übernommen hatte, reagierte er, wie üblich und machte den vermeintlichen Gegner handlungsunfähig. Das dachte er zumindest anfangs, bis sich Lany durch dieses Manöver schließlich selbst befreit hatte.

 

Warren hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie angegriffen hatte. Dies hätte wirklich schlimm enden können und das hätte er sich nie verziehen. Er wollte seine Lany doch nicht verletzen, sondern beschützen. Er musste sich unbedingt überzeugen, dass er sie nicht doch verletzt hatte und so machte er einen ersten Schritt in ihre Richtung. Aber schon in der nächsten Sekunde blieb er wieder stehen.

 

Was war das? Hatte er das wirklich gehört? Aber das konnte doch überhaupt nicht sein! Er machte gerade wieder einen Schritt in ihre Richtung, als er es wieder hörte. Es schien tatsächlich aus Lanys Richtung zu kommen, aber ihrem Gesicht war absolut nichts anzusehen. Sie blickte ihm vollkommen reglos entgegen – war aber trotzdem noch in sprungbereiter Stellung.

 

Nachdem Lany fortgesprungen war, fand sie sich in einiger Entfernung kauernd auf dem Waldboden wieder. Ihre Instinkte schienen das Kommando übernommen zu haben und doch befürchtete sie, als sie Warren dort am Boden liegen sah, dass sie ihn verletzt haben könnte. Aber eigentlich sollte sie sich doch darüber gar keine Gedanken machen. Immerhin war sie in einer Notlage gewesen. Er hatte sie doch angegriffen – oder nicht? Er war so vollkommen anders – wirklich Furcht einflößend – gewesen. Und obwohl Lany in ihrem Leben schon häufiger in gefährlichen Situationen gewesen war, hatte sie nie wie heute reagiert. Irgendetwas schien dieser Wald in ihr zum Leben zu erwecken – irgendetwas Ungeahntes – etwas Wildes.

 

Nun beobachtete sie Warren dabei, wie er sich langsam erhob und in ihre Richtung schaute. Er blickte ihr direkt in die Augen und sie fühlte sich dabei mehr als unwohl. Wenn er doch nur einmal blinzeln würde … aber sein Blick war fest auf sie gerichtet.

 

Als er dann auch noch den ersten Schritt auf sie zu machte, bahnte sich ein eigenartiges Geräusch seinen Weg ihre Kehle empor. Es hörte sich verdächtig nach einem Fauchen an und Lany erschrak vor sich selbst. Was war nur mit ihr los? Sie war doch keine Katze. Denn nur die verhielten sich so und vielleicht auch noch spielende Kinder, aber sie war eine erwachsene Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand.

 

Auch Warren war bei dem Geräusch stehen geblieben und schaute sie aus leicht zusammengekniffenen Augen an. Als er dann den zweiten Schritt tat, fauchte sie erneut und dieses Mal war es wirklich ein richtig, waschechtes Fauchen.

 

„Lany … ganz ruhig. Ich will dir nichts tun. Es tut mir wirklich leid, was gerade passiert ist! Bist du verletzt?“ Warren hatte beschlossen, sie nun erst einmal vorsichtig anzusprechen, bevor er sich weiter auf sie zu bewegen würde. Er verstand immer noch nicht, was hier vor sich ging. Da ihr Verhalten aber ganz eindeutig dem einer Katze entsprach, durfte er sie in dieser Lage nun auf keinen Fall bedrängen. Alles andere könnten sie später klären. Seine Worte schienen zu ihr durchgedrungen zu sein, denn sie legte ihren Kopf schief und das auf eine sehr katzenähnliche Weise. Und dann entspannte sie sich langsam. Ihr Körper wurde lockerer und auch ihr Blick war nun nicht mehr so gehetzt. Warren atmete erleichtert auf. Nun hatte er eine Chance herauszufinden, was gerade geschehen war.

 

„Ich weiß nicht so genau … Warren, was war das gerade?“, kam es etwas zittrig aus Lany heraus. Erleichtert bemerkte sie, wie die Anspannung mehr und mehr ihre Glieder wieder freigab. Lany wollte sich gerade wieder erheben, als sich augenblicklich absolute Schwärze über sie legte und sie ins Bodenlose fiel.

 

Mist, verdammt! Warren konnte Lany gerade noch rechtzeitig abfangen, bevor sie mit dem Kopf hart auf dem Boden aufgeschlagen wäre. Eben hatte er noch Erleichterung verspürt und nun schoss ihm die Angst, wie ein Kanonenschlag in den Nacken. Was war nur los mit ihr? Vorsichtig legte er sie am Boden ab, um im nächsten Augenblick festzustellen, dass sie glücklicherweise noch atmete. Doch als er ihren Puls fühlte, war dieser viel zu schnell und gleichzeitig zu flach. Er musste sie unbedingt in sein Haus zurückbringen und Hilfe holen. Ins Dorf konnte er nicht mit ihr, da wartete ja dieser Scott auf sie. Also musste er ihr anders helfen und dabei fiel ihm nur eine Möglichkeit ein – leider.

 

Den ganzen Weg zurück zum Haus kam Lany nicht mehr zu sich. Würde er nicht ihr flaches Atmen hören, könnte man meinen, sie wäre tot. Auch ihr Gesicht hatte eine mehr als ungesunde Farbe angenommen, sodass die Angst, die ihn ergriffen hatte, ihn weiterhin fest umschlungen hielt.

 

Bereits von unterwegs her hatte er Kontakt zu Jack aufgenommen und ihm erzählt, was geschehen war. Eigenartigerweise schien sein kleiner Bruder nicht besonders überrascht zu sein. Eher wirkte es so, als hätte er das bereits erwartet, denn Jack teilte ihm mit, dass er sich keine Sorgen machen sollte und dass Hilfe bereits zu ihnen unterwegs war. Warren solle nur gut auf Lany aufpassen und sie nicht alleine lassen. Dann beendete sein Bruder die Verbindung zwischen ihnen – einfach so und ohne Warren zu erklären, was hier vorging.

 

Lany lag inzwischen in seinem Bett. Schweißperlen bedeckten ihren Körper und ihre Kleidung klebte schwer an ihr. Sie schien Fieber zu haben und warf ihren Kopf immer wieder wild hin und her. Immer wieder musste Warren sie daran hintern, einfach aus dem Bett aufzustehen. Und trotzdem kam sie nicht zu sich. Lany schien meilenweit weg zu sein und es wurde nicht besser. Da ihm anscheinend erst einmal nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten, versorgte er sie so gut er konnte. Wenn sie es zuließ, flößte er ihr immer wieder etwas Tee ein und tupfte ihre fiebrige Stirn mit einem kühlen Tuch ab. Die Nacht über wachte er an ihrer Seite, ohne selbst auch nur ein Auge zuzutun. Und mit jeder verstreichenden Stunde wartete er sehnsüchtiger auf baldige Hilfe.

 

Der nächste Tag war bereits bis zur Mittagsstunde fortgeschritten, als Warren die Witterung eines Fremden in seinem Revier aufnahm. Der Wind wehte diesen Geruch geradewegs in sein Heim. Er wusste, dass das die erhoffte Hilfe sein musste. Niemand sonst würde sich so öffentlich und mit dem Wind in seinem Revier bewegen, wenn dieser nicht entdeckt werden wollte.

 

Als er sich auf den Geruch konzentrierte, kam dieser ihm auch bekannt vor – nur er konnte ihn im Moment beim besten Willen nicht zuordnen. Warren war viel zu sehr mit Lany beschäftigt, als dass er sich hätte darauf konzentrieren können. Er wusste nur, dass es jemand aus seinem Clan war, dem allerdings der Geruch einer großen Stadt anhaftete. Trotzdem, einfach um sicher zu gehen, hielt er sich angriffsbereit. Schließlich konnte auch er sich irren. Das war ihm ja gerade erst gestern im Wald schmerzlich vor Augen geführt worden.

 

Von unten kam ein kurzes Schnaufen, welches als Begrüßung und Bitte ertönte. Der Ankömmling fragte um Erlaubnis, sein Haus zu betreten und Warren antwortete diesem ebenfalls mit dem typischen Schnaufen. Es lag absolut nichts Bedrohliches in diesem Geräusch, welches er schon lange nicht mehr gehört, geschweige denn selbst von sich gegeben hatte.

 

Warren ersparte sich das Aufstehen. Er wollte Lany auch jetzt nicht verlassen und der Ankömmling würde sie hier schon finden. So groß war sein Haus schließlich auch wieder nicht.

 

Von der Terrasse her vernahm er leise Schritte, die direkt auf ihn zuhielten. Im nächsten Moment legte sich eine zierliche, warme Hand federleicht auf seine Schulter, die ihn veranlasste, nun doch aufzublicken. Er konnte nicht glauben, wer dort vor ihm stand und hätte sich ohrfeigen können, dass er ausgerechnet ihren Geruch nicht erkannt hatte – den Geruch seiner eigenen, geliebten Mutter. Sie hatte sich kein bisschen verändert. Sarah Lang war immer noch eine atemberaubende Schönheit, mit einer Eleganz und Grazie, wie sie nur wirklich selten zu finden war. Aber was für ihn viel wichtiger war, seine Mutter war das sanftmütigste und liebevollste Wesen, das er in seinem bisherigen Leben kennengelernt hatte. Sie hatte sich immer mit einer immensen Geduld und sehr liebevoll um jedes einzelne ihrer Kinder gekümmert und so war er nun ganz besonders froh darüber, dass sie es war, die ihm zur Hilfe kam.

 

Als Sarah in Warrens Haus ankam und ihn am Bett bei der jungen Frau erblickte, zerriss es ihr fast das Herz, ihren ältesten Sohn so niedergeschlagen und erschöpft zu sehen. Er hatte wohl seit dem Vorfall am vorherigen Tag, nicht mehr geschlafen zu haben. Im Gegensatz zu ihrem Gefährten, Warrens Vater, wunderte sie sich nicht, dass ihr Sohn diese Frau in sein Revier, in sein Haus, in sein Leben überhaupt gelassen hatte. Seit Rosa vor ein paar Tagen angerufen und ihre Vermutung bezüglich der jungen Frau mitgeteilt hatte, war Sarah klar gewesen, was sie erwarten würde. Aber jetzt musste der Kleinen erst einmal geholfen werden.

 

Vorsichtig, nachdem sie Warren einen Kuss auf den Scheitel gegeben hatte, zog sie ihn zu sich hoch und umarmte ihn herzlich. „Ich werde mich um sie kümmern, lass das mal meine Sorge sein! … Ach, Warren, du siehst so müde aus. Geh und ruhe dich ein wenig aus. Du kannst sie ruhig mir überlassen. Ich werde dich gleich holen, wenn etwas sein sollte. Das verspreche ich dir!“

 

„Mom … ich bin so froh, dass du hier bist. Was ist nur los mit ihr? Ich verstehe das nicht.“, sagte Warren, der immer in der Umarmung mit seiner Mutter stand. „Ich habe solche Angst um sie!“

 

„Schatz, es bringt aber auch nichts, wenn du so ausgelaugt bist. Dann kannst du ihr nämlich auch nicht helfen. … Jetzt bin ich ja hier und wir können uns gemeinsam kümmern. Aber erst einmal gehst du jetzt bitte selbst etwas schlafen.“ Sarah sah ihren Sohn eindringlich an und fügte dann noch hinzu „Und Warren … das ist keine Bitte!“

 

Als Warren sich dem Willen seiner Mutter schließlich fügte, führte sie ihn hinaus auf die Terrasse und zu seiner Hängematte. Nachdem er sich hingelegt hatte, ging sie wieder hinein und trat zu Lany ans Bett. Sarah wollte sich die junge Frau erst einmal genauer anschauen, immerhin würde sie das Leben von ihnen allen verändern. Sie würde eine neue Ära für den Clan einleiten. Aber zuerst musste sie das hier überstehen und dann mussten sie sie ganz behutsam auf ihr Erbe vorbereiten. Im Geiste nahm sie Kontakt zu Ephraim auf. Sie berichtete ihm, dass Rosa tatsächlich recht gehabt hätte. Lany war diejenige, von der der gesamte Clan viele Jahre bis jetzt geglaubt hatte, dass es sie nicht mehr geben würde.

 

Damals als der gute alte Ernest verstorben war, konnten sie nichts mehr über seine Enkeltochter herausbekommen. Sie war bis heute, wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Auch die besten Detektive hatte nichts entdeckt, was sie auf ihre Spur hätte führen können.

 

Anfangs waren sie verärgert gewesen, dass Ernest sich mit seiner Familie auf sein Land zurückgezogen und niemand anderen vom Clan in ihrer Nähe geduldet hatte. Aber später begriffen sie, dass er damals seiner Gefährtin ein möglichst normales Leben bieten wollte. Denn das war es, was sie sich schon immer so sehr gewünscht hatte. Leider hatte dabei sein Sohn, Nathan, anfangs den Bezug zu seinen Wurzeln verloren und sich einen Menschen zur Frau gewählt. Aber als er nach einigen wenigen Jahren seiner wahren Gefährtin begegnete, hatte er sie schließlich verlassen. Es schmerzte ihn bis heute, dass Lauren ihm den Kontakt zu seiner Tochter all die Jahre über verweigerte. Und trotz dieses Schmerzes blieb ihm nichts anderes übrig. Dem Ruf der wahren Gefährtin war und ist man in ihrem Volk bis heute gezwungen zu folgen. Solange sein Vater noch lebte, hielt der ihn über seine Tochter auf dem Laufenden und schickte ihm ab und an auch mal ein Foto, aber mit Ernests Tod war dann auch das vorbei.

 

Ephraim konnte es anfangs nicht glauben, was Sarah ihm da berichtete. Sollte die lange Suche nun endlich ein Ende gefunden haben? Konnte das wirklich wahr sein? Aber er kannte und vertraute seiner geliebten Gefährtin ohne Einschränkungen und daher wusste er, dass es wahr war. Nie würde sie ihn in einer solch wichtigen Angelegenheit belügen. Es war als würde ihm ein riesiger Stein vom Herzen fallen und seine Seele befreien. Nun musste er nur noch sicherstellen, dass Nathans Tochter nichts geschah. Rosa hatte ihn inzwischen über alles ins Bild gesetzt – nicht nur über die neuen Jäger, sondern auch über Lanys Verfolger, diesen Scott. Trotzdem hieß es jetzt erst einmal abwarten. Noch konnten sie nicht handeln. Der Clan war noch nicht vollzählig erschienen. Vor seiner Abreise hatte er alle informiert und sie nach Caderra bestellt. Sie müssten bereits in wenigen Stunden hier eintreffen. Ephraim hatte sich bereits mit Miguel, Carlos und Jack einen Plan zurechtgelegt, wie sie dann vorgehen würde. Hauptsache war nur, dass keiner von denen irgendwie auch nur eine Ahnung davon bekam, dass Ärger in der Luft lag.

 

All seine Überlegungen teilte er auch Sarah mit. Sie musste wissen, was als Nächstes geschehen würde – wie der Stand der Dinge war.

 

Es vergingen noch weitere zwei Tage und Nächte, in denen sich Warren und Sarah abwechselnd um Lany kümmerten. Immer wieder hatte Warren seine Mutter nach dem Grund für Lanys Zustand befragt, aber sie hatte ihn grundsätzlich auf später vertröstet. Es wäre erst wichtiger, dass es Lany wieder gut ginge. Erst dann würde sie ihr Schweigen brechen und beiden alles erklären. Es wäre so das Beste, sowohl für Lany, aber auch für Warren.

 

Am Abend des zweiten Tages, Warren war gerade auf der Jagd, erwachte Lany endlich. Als sie die Augen aufschlug, wusste sie zuerst gar nicht, wo sie sich befand. Doch dann kam ihre Erinnerung langsam zurück. Nur das Letzte, woran sie sich auch erinnerte, war doch sicherlich nur ein Streich ihrer Fantasie. Alles andere wäre zu grotesk, als das es hätte war sein können.

 

Etwas entfernt konnte sie leise Schritte hören. Sie nahm an, dass es Warren wäre. Lany setzte sich so vorsichtig, wie möglich auf, denn jede Bewegung verursachte sehr starke Kopfschmerzen. Das Haus war nur durch ein schummriges Licht beleuchtet, worüber sie auch froh war. Allein schon dieses Licht verursachte, dass es in ihrem Kopf noch mehr zog und so nahm sie an, dass noch helleres Licht sie vermutlich vor Schmerzen schreien lassen würde.

 

Durch den Vorhang, der als Sichtschutz fürs Schlafzimmer diente, konnte sie einen schemenhaften Umriss erkennen. Nur passte dieser Umriss nicht zu der Statur von Warren. Dieser Umriss war kleiner, irgendwie zierlicher. Wenn sie raten müsste, würde sie sagen, dass es sich bei dieser Person ganz eindeutig um eine Frau handelte.

 

Hatte Warren nun doch eine seiner Liebschaften mit hierher gebracht? Was sollte das denn? Immerhin hätte er sich doch gedulden können, bis sie wieder fort wäre, oder nicht? Und hatte Jack ihr nicht erzählt, dass Warren niemals jemanden anderen mit in sein Heim gebracht hätte und sie die Erste gewesen wäre?

 

Lany zog sich bei diesem Gedanken ihr Innerstes schmerzhaft zusammen. Sie hatte es sich die ganze Zeit nicht eingestehen wollen, aber nun musste sie erkennen, dass sie eifersüchtig war. Sie fühlte sich zu Warren hingezogen und wollte mit ihm zusammen sein. Nicht nur zum Sex. Nein, sie wollte ihn als Freund, als Partner, als Vater für ihre Kinder. Der letzte Gedanke war noch schockierender, als die anderen für sie. Aber nun ging es nicht mehr zurück. Sie hatte es sich eingestanden und nun musste sie damit leben.

 

Gerade noch in ihren Gedanken bemerkte Lany im nächsten Moment, dass diese Person nun auf sie zukam. Sie schien irgendetwas in den Händen zu halten und blieb nun direkt vor dem Bett stehen. Eine feine Hand schob sich vorsichtig durch den Schleicher des Moskitonetzes und teilte es in zwei Hälften. Gleich darauf folgte der Rest. Sie hatte recht, es war eine Frau und diese nahm gerade äußerst behutsam am Bettrand Platz.

 

Vor lauter Schreck hatte Lany schnell wieder ihre Augen geschlossen. Sie wollte um nichts in der Welt, dass diese Frau merkte, dass sie wach war. Wer weiß, was sie von ihr wollte und was sie sonst vielleicht mit ihr tun würde. Doch all ihre Hoffnung wurde im nächsten Moment zunichte gemacht, als die unbekannte Frau sie ansprach.

 

„Keine Angst – ich tue ihnen nichts!“, sagte sie mit einer unglaublich sanften und wohlklingenden Stimme.

 

Trotzdem versuchte Lany weiterhin, sich schlafend zu stellen. Sie wusste nicht warum, aber, sie hatte wirklich größere Angst vor dieser Frau, als sie es vor Warren gehabt hatte. Eine für Lany nicht greifbare Macht strahlte fast in Wellen von dieser Frau ab und nahm ihr fast die Luft zum Atmen. Und doch sprach diese so sanft, ja, sogar fürsorglich zu ihr.

 

„Lany, ich weiß, dass sie wach sind. Sie brauchen sich wirklich nicht zu fürchten. Bitte, ich möchte mich ihnen vorstellen. Vielleicht hilft es ihnen ja?“

 

Da Lany langsam aber sicher das Gefühl bekam, sich hier vollends lächerlich zu benehmen, öffnete sie nun vorsichtig die Augen.

 

„Woher wissen sie, wie ich heiße? … Ach, ja, wahrscheinlich hat Warren es ihnen gesagt … oh … mein Kopf tut so weh und meine Knochen fühlen sich an, als ob sie alle gebrochen und neu zusammengesetzt wurden. Was ist mit mir passiert und wer sind sie?“

 

Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht der Fremden. Lany konnte es aufgrund des schummrigen Lichts nicht wirklich sehen, nur eher erahnen. Aber ein Lächeln war es ganz ohne Zweifel. Dieses Lächeln zusammen mit den immer noch von ihr abstrahlenden Wellen dieser eigenartigen, fast bezwingenden Macht, ließen Lany abermals eine tiefe Angst verspüren. Doch sie nahm sich zusammen. Wenn diese Frau ihr bis jetzt nichts getan hatte, warum sollte sie es denn im nächsten Moment wollen?

 

„Ja, sie haben recht. Warren hat mir ihren Namen gesagt. Und keine Sorge, die Schmerzen werden bald vergehen. … Hier trinken sie das. Es ist ein Kräutertee, der ihnen helfen wird. Mein Name ist übrigens Sarah Lang. Warren ist mein Sohn …“

 

Noch bevor Sarah weitersprechen konnte, runzelte sich Lanys Stirn. Sie schaute sie sogar etwas ungläubig an. Und noch bevor sie es sich anscheinend anders überlegen konnte, sprudelten die nächsten Worte geradewegs aus ihrem Mund.

 

„Aber sie sind doch viel zu jung, um Warrens Mutter zu sein! … Ah nein, entschuldigen sie, ich verstehe. Sie sind seine Stiefmutter, richtig?“

 

Kaum hatte Lany die Worte ausgesprochen, schon war es ihr unglaublich peinlich. Sie kannte die Frau, Mrs Lang, doch gar nicht und schon überfiel sie sie mit ihrem vorlauten Gerede. Etwas unsicher schaute Lany wieder in ihre Richtung und erwartete bereits das Schlimmste. Doch sie wurde überrascht, denn Mrs Lang hatte ein breites freundliches Lächeln im Gesicht.

 

„Ich danke ihnen für diese freundliche Einschätzung, aber ich bin durchaus Warrens leibliche Mutter. In meiner Familie altern die Frauen glücklicherweise sehr langsam, sodass sich die leidigen Zeichen der Zeit erst recht spät offenbaren.“

 

Immer noch mit einem ungläubigen Blick wollte Lany sich gerade etwas weiter im Bett aufsetzen, um Mrs Lang besser anschauen zu können und um es vielleicht ein wenig bequemer zu haben, aber schon im nächsten Augenblick sackte sie erneut und mit einem Schmerzensschrei in sich zusammen. Augenblicklich fühlte sie, wie kühle Finger über ihre heiße Stirn strichen – wie Mrs Lang beruhigend fremde Worte murmelte. Lany verstand nichts von dem, was sie sagte, aber bereits nach kurzer Zeit verschwand der Schmerz und sie war dankbar für ihren Beistand.

 

„Sie müssen sich noch schonen. Bleiben sie bitte liegen, auch wenn es ihnen schwerfällt. Das, was sie die letzten Tage durchlebt haben, ist enorm kräftezehrend und ihr Körper benötigt einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen …“

 

Bei diesen Worten horchte Lany auf. Woran sollte sich ihr Körper gewöhnen? Und wieso sprach Mrs Lang von „letzten Tagen“? Wie lange hatte sie hier gelegen? Wie lange war bereits Mrs Lang hier und wo war Warren doch gleich noch mal?

 

All diese Fragen schienen sich unmittelbar auf Lanys Gesicht widerzuspiegeln, denn Mrs Lang antwortete ihr, ohne dass sie diese laut ausgesprochen hätte.

 

„Lany, machen sie sich bitte keine Sorgen. Sie waren zwar länger als eine Woche bewusstlos, aber es wird ihnen wieder besser gehen. Sie werden sehen, jetzt wo sie wieder wach sind, werden sie sich ganz schnell wieder erholen und dann auch bald wieder aufstehen können. … Warren hat sich wirklich große Sorgen um sie gemacht. Er müsste bald zurück sein von seiner Jagd und sich sehr freuen, sie wieder auf dem Weg der Besserung zu sehen.“

 

„Mrs Lang, wie haben sie das vorhin gemeint, als sie sagten, dass sich mein Körper schnell daran gewöhnen wird? Woran wird sich mein Körper gewöhnen? Was ist mit mir passiert?“ Lany konnte ihre Besorgnis darüber, was mit ihr geschehen sein mochte, nicht verbergen und so wartete sie etwas ängstlich auf die Antwort auf ihre Fragen.

 

„Erst einmal – bitte nennen sie mich Sarah. … Lany, mein Sohn scheint sie wirklich sehr zu mögen. Er hat noch nie überhaupt von jemandem so gesprochen, wie von ihnen und ich muss gestehen, dass es mir, obwohl wir bisher nur diese wenigen Worte heute miteinander gewechselt haben, ich ihm bereits vollkommen zustimme. …

 

Woran sich ihr Körper gewöhnen wird und was mit ihnen geschehen ist, möchte ich doch lieber erst zu einem Zeitpunkt mit ihnen besprechen, zu dem sie sich bereits etwas mehr erholt haben. Ich bitte sie, auch wenn ihnen verständlicherweise schwerfällt, so lange zu warten. Außerdem wäre es auch Warren gegenüber ein wenig unfair, denn auch mit ihm habe ich nicht darüber gesprochen.“

 

„Ja, und ich finde es äußerst ärgerlich, dass du nun uns beide weiterhin im Unklaren darüber lassen möchtest!“, grollte in diesem Moment Warrens Stimme von der Terrassentür herüber. Schnell durchquerte er den Raum und ließ sich an Lanys anderer Seite auf der Bettkante nieder. Er ergriff ihre Hand und brachte sie so dazu, sich ihm zuzuwenden.

 

Warren konnte ein kleines Flackern in Lanys Augen sehen. Es schien gerade so, als würde sie abwägen, ob er für sie gefährlich war oder sie ihm doch vertrauen konnte. Warren konnte diesen Gedanken verstehen. Er hatte sich die ganzen Tage selbst dafür verurteilt, dass er sie so in Schrecken versetzt hatte – dass er an diesem einen Tag unaufmerksam gewesen war, seine Beherrschung verloren und dadurch beinahe Lany verletzt hätte. Doch Warren hatte sich geschworen, dass ihm dies nie wieder passieren würde.

 

Das Flackern war nun aus Lanys Blick verschwunden. An seiner Stelle war ein vorsichtiges Leuchten getreten und ihre Hand machte keinerlei Anstalten, um sich ihm zu entziehen. Warren konnte nicht anders. Er lächelte.

 

„Ich habe mir wirklich große Sorgen um dich gemacht. Es tut mir leid, dass ich so die Beherrschung verloren habe. Ich wollte dich um nichts in der Welt erschrecken oder gar verletzen! Wie geht es dir jetzt?“

 

Sarah sah stumm zu, wie ihr Sohn, der immer unnahbar und regelrecht kalt anderen gegenüber war, die nicht zu seiner Familie gehörten, Lany nun mit solch einer Zärtlichkeit im Blick anschaute und mit ihr sprach. Wenn ein letzter Zweifel daran bestanden hätte, ob sie wirklich diejenige war, die sie nun einmal war, wäre dieser in diesem Moment ausgeräumt. Sarah zog sich unauffällig zurück, um für sie drei in der Küche einen Tee zu brühen und den beiden so ein wenig Privatsphäre zu schaffen.

 

„Ist schon in Ordnung. Ich hätte mich wahrscheinlich nicht so an dich ran schleichen dürfen. Aber du warst einfach stehen geblieben und tief in Gedanken versunken – da hat es mich einfach in den Fingern gejuckt, dir einen Streich zu spielen. Es war doch so ein schöner Tag. …

Es geht mir, glaube ich, schon etwas besser. Zumindest bin ich wach. Vorhin als ich mich etwas aufrichten wollte, hatte ich ziemlich starke Schmerzen, aber Sarah hat mir geholfen. Ich weiß nicht wie, sie hat irgendwas vor sich hingemurmelt und mir über die Stirn gestrichen – es war unglaublich beruhigend – und dann waren die Schmerzen plötzlich verschwunden. Einfach so!“

 

Lany konnte es immer noch nicht fassen, wie das möglich gewesen war. Warrens Mutter muss eine Hexe sein. Bei diesem Gedanken fing sie ein wenig an, zu kichern. Eine Hexe – ja klar! Auf was für Ideen ihr kranker Verstand wohl noch alles kommen würde?

 

Und doch musste sie irgendetwas mit ihr gemacht haben. In weiter Entfernung hörte sie wieder Großvater Ernest, wie er sie bat mit offenen Augen und Ohren, aber vor allem mit offenem Geist, sich die Dinge um sie herum zu betrachten und auch das ungewöhnlichste nicht gleich als unmöglich abzutun.

 

„Warum lachst du?“, fragte Warren mitten in ihre Gedanken hinein. Er hatte sie eine Weile still beobachtet. Es war faszinierend, wie anscheinend jeder Gedanke sich auf ihr Gesicht zu übertragen schien. So hatte sie in den letzten paar Minuten eine bewegte Mimik gezeigt, die nun trotz eines traurigen Blickes in einem Lächeln mündete.

 

„Ich habe nur gerade an meinen Großvater gedacht.“, sagte Lany nur und lächelte abermals traurig.

 

„Was ist mit deinem Großvater?“, fragte Warren vorsichtig, denn er hatte eindeutig das Gefühl, dass er dieses Terrain vorsichtig betreten musste, da die Gedanken an ihren Großvater, ihr Kummer zu bereiten schienen.

 

„Mein Großvater hat mich vieles gelehrt, als ich noch klein war. Er besaß eine riesige Range mit Weiden, Bergen und sogar einem Wald. Dort sind wir immer umhergestreift und er hat mir alles gezeigt und beigebracht, was er selbst wusste und konnte. Er war einfach wundervoll und gerade eben hat mich ein Gedanke wieder an ihn erinnert. …

 

Großvater Ernest war wirklich ein sehr weiser Mann. Und nachdem mein Vater meine Mutter und mich verlassen hatte, war er der einzige Mensch, der mich seitdem je wirklich geliebt hat.

Meine Mutter und er kamen überhaupt nicht miteinander aus. Ständig haben sie sich gestritten. Wenn mein Großvater damals nicht so klug gewesen wäre, wie er es nun einmal war, hätte um mich ein Tauziehen stattgefunden, das mich wahrscheinlich früher oder später zerrissen hätte. …

Das weiß ich nun, jetzt da ich aus erwachsenen Augen auf die ganze Situation damals zurückblicke. Damals habe ich nicht verstehen können, warum mein Großvater nicht mehr um mich gekämpft hat. Warum ihm immer diese wenigen Tage, die ich bei ihm sein durfte, ausreichten.

 

Er sagte immer zu mir, dass wir es gegenseitig schon spüren würden, wenn es dem einen nicht gut ginge und er die Hilfe des anderen bräuchte. Außerdem wäre es gut, wenn ich auch allein meinen Weg finden würde und das bedeutete eben auch, mit meiner Mutter und ihrer Familie klarzukommen. Und dann eines Tages …“

 

Lany brach ab. Tränen rannen inzwischen über ihre Wangen und ihr Blick schien in längst weit vergangene Zeiten gerichtet. Warren setzte sich nun direkt aufs Bett und nahm sie behutsam in den Arm. Es tat ihm im tiefsten Inneren weh, seine Lany so traurig und weinen zu sehen. So etwas hatte er zuvor bei noch niemandem überhaupt mitempfunden.

 

Beruhigend, wie damals in Rosas Kneipe, streichelte er ihren Arm und ermunterte sie so, weiterzusprechen. Denn aus eigener Erfahrung wusste er, dass es manchmal besser war, die Geister der Vergangenheit nochmals heraufzubeschwören, um sich dann schließlich ganz lösen zu können.

 

„…Eines Tages war es wieder so weit. Ich hatte Ferien und sollte diese eigentlich wieder bei meinem Großvater verbringen. Als ich von der Schule nach Hause kam und meine Koffer packen wollte, stand plötzlich meine Mutter in der Tür zu meinem Zimmer und sah mich mit einem eigenartigen Blick an. Sie sagte mir, dass ich nicht zu packen bräuchte, da ich nicht wegfahren würde – zumindest nicht zu Großvater Ernest.

 

Ich würde diese Ferien bei meinen anderen Großeltern, ihren Eltern, verbringen und dort lernen, wie man richtig auf einer funktionierenden Range mithilft. Es wäre endlich für mich an der Zeit, diese Kindereien aufzugeben und mich den wichtigen Dingen im Leben zu widmen. Nun wäre endlich Schluss mit dem Rumstreunen durch die Berge und Wälder und diesem ganzen anderen Blödsinn, den ihr Schwiegervater mit mir trieb.

 

Ab sofort würde sie, meine Mutter, die Ruder in die Hand nehmen und meinen zukünftigen Weg bestimmen. … Sie ließ mir damals noch nicht einmal mehr Zeit, mir eine Antwort zu überlegen, so schnell hatte sie bereits eine andere Tasche mit Sachen von mir in Händen und schob mich ohne großes Federlesen aus dem Haus und in ihr Auto. … Sie sollte recht behalten.

 

In diesen Ferien sollte ich wirklich lernen, wie man richtig arbeitet. Nicht nur meine Großeltern, die ich bis dahin erst ein oder zweimal getroffen hatte, sondern auch mein Onkel und meine Tante sowie alle möglichen Cousins und Cousinen ließen mich meine Unzulänglichkeit was solche Arbeit betraf spüren.

 

Vielleicht wollten sie mir aber auch nur eins auswischen und arbeitete ich von früh morgens bis spät in den Abend und immer noch war es nicht genug. Meine Mutter hatte sich direkt nach unserer Ankunft dort wieder verzogen – war zu ihrem damaligen Geliebten zurückgekehrt und das auch noch, ohne sich von mir überhaupt zu verabschieden.

 

Glücklicherweise waren diese Ferien nicht besonders lang und so kam ich bald wieder nach Hause. Gerade erst angekommen wollte ich gleich versuchen, Großvater Ernest zu erreichen. Aber gerade als ich den Telefonhörer in der Hand hielt wurde mir dieser auch schon wieder entrissen.

 

Meine Mutter hatte sich bedrohlich neben mir aufgebaut. Nichts deutete in diesem Moment mehr auf die Frau hin, die sie außerhalb dieser vier Wände für alle anderen spielte. Ich werde nie wieder mit ihrem Schwiegervater sprechen, sagte sie und bräuchte es erst gar nicht mehr versuchen. Ich würde ihn eh nicht mehr erreichen können. …

 

Ungläubig, was dies zu bedeuten hatte, starrte ich sie an und dann gab sie mir den Rest … mein geliebter Großvater war gestorben. Und zwar nicht erst an diesem oder am vorherigen Tag. Nein, es war sogar bereits am letzten Tag vor meinen Ferien geschehen.

 

Nun wusste ich auch, was ich damals für einen Blick bei meiner Mutter bemerkt hatte. Es war Erleichterung und noch viel schlimmer, sogar Freude darüber gewesen. Eigenartigerweise blieben meine Tränen in diesem Moment aus.

 

Stattdessen fragte ich sie, was denn mit der Range passieren würde. Großvater hatte mir bei unseren letzten Treffen immer wieder gesagt, dass all das – sein Land – eines Tage mir gehören würde, damit ich einen Ort hätte, an dem ich hingehörte.

 

Aber meine Mutter lachte in diesem Moment nur hämisch und teilte mir mit, dass das Land bereits verkauft worden wäre. Immerhin hatten sie eine Menge Scherereien und Ausgaben wegen seines Todes und waren nicht gewillt gewesen, dies aus eigener Tasche zu zahlen. Außerdem konnten sie froh sein, überhaupt noch etwas Geld für dieses Land zu bekommen, da es so verwildert war, dass es niemandem wirklich gefallen hätte.

 

… Sie hatten also einfach heimlich mein Erbe verschachert und sich das Geld allein eingesteckt. Mir wäre es egal gewesen, ob sie irgendwelches Geld von meinem Großvater bekommen hätten. Aber dieses Land, mein Zufluchtsort, meine Verbindung zu dem einzigen Menschen, der mich die ganze Zeit über geliebt hat, einfach so zu verscherbeln und mir dadurch keine Möglichkeit zu lassen, es rückgängig zu machen. Das war etwas, das konnte und wollte ich nicht verzeihen.

 

Zu diesem Zeitpunkt begann ein Plan, zu reifen. Aber für dessen Umsetzung brauchte ich noch etwas Zeit. Ich musste irgendwie an Geld kommen und so suchte ich mir bei der nächsten Gelegenheit einen Aushilfsjob.

 

Meine Mutter köderte ich damit, dass ich bei ihren Eltern die harte Arbeit zu schätzen gelernt hätte und mich so nach der Schule beschäftigen wolle. Schließlich würde das meinen Charakter noch ein Stück weiter formen.

 

Der Job selbst war ziemlich langweilig – Karten abreißen im Kino – aber mein Verdienst war nicht zu verachten, da ich auch hin und wieder etwas Trinkgeld zugesteckt bekam.

 

Irgendwann kurz vor meinem Schulabschluss hatte ich dann genügend Geld zusammengespart, um zumindest die erste Zeit überbrücken zu können. Glücklicherweise hatte ich mich heimlich an verschiedenen Universitäten beworben, die nicht unmittelbar im Einflussbereich meiner Mutter lagen und zwei davon hatten mir sogar wegen meiner guten Zeugnisnoten ein Stipendium angeboten. Ich wählte natürlich die Uni aus, die am entferntesten lag und noch in der Nacht der Schulabschlussfeier verschwand ich von zu Hause.

 

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis meine Mutter mich dort an der Uni aufgespürt hatte. Sie hatte einen Detektiv engagiert und der hatte ihr meinen Aufenthaltsort mitgeteilt.

 

Doch trotz allem, was sie auch versuchte, konnte sie mich von dort nicht wegholen. Ich war inzwischen volljährig und sie hatte keine Handlungsbefugnis mehr über mein Leben.

 

Nach meinem Studium – währenddessen ich meine Mutter nur noch selten sah – fing ich als kleine Anwältin in einem großen Konzern an und habe mich seitdem bis an die Spitze der Rechtsabteilung gearbeitet. Fast unmittelbar vor meinem Urlaub wurde ich befördert und da kam mir eine Sache wieder in den Sinn, die ich damals mit meinem Großvater besprochen hatte.

 

Wir haben immer viel rumgesponnen, wenn wir auf seinem Land unterwegs waren. Meistens haben wir uns ausgedacht, dass wir irgendwo hin verreisen würden. Und meistens war es ein Dschungel, wie dieser hier. Mein Großvater hatte mir einmal erzählt, dass er als junger Mann hier über viele Jahre gelebt hätte und er sich in seinem Herzen nie von diesem Wald und den Menschen hier hatte trennen können. Er hatte sich so sehr gewünscht, noch einmal hierher zurückzukehren und wir hatten diese Reise gemeinsam geplant.

 

Nun erinnerte ich mich wieder daran und habe diese Reise gebucht, die mich schlussendlich hierher geführt hat. Glücklich darüber, dass es tatsächlich auch eine Reise in genau die Gegend gab, die mein Großvater beschrieben hatte. …

 

Ich hätte nie gedacht, dass ich hier das Gleiche empfinden könnte, wie sicherlich er damals. Als du mich vor ein paar Tagen in diesen Wald geführt und mir seine Schönheit gezeigt hast, ist irgendetwas geschehen. Es war wie ein Wiedersehen mit einem guten alten Freund – ein sich Wiedererkennen.

 

Ich war so glücklich und dann sind diese merkwürdigen Dinge geschehen. Erst hatte ich Angst – wahnsinnige Angst. Aber dann … ich weiß auch nicht … es war fast so, als würde irgendetwas in mir erwachen – mich schützen wollen. Verstehst du das, Warren?“

 

Die ganze Zeit über hatte Lany stur auf einen Punkt am Bettende geschaut. Nun aber richtete sie ihren Blick wieder auf Warren und schaute ihn fragend an.

 

Warren wusste gar nicht so recht, was er sagen sollte. Normalerweise – hätte eine andere Person ihm fast ihre ganze Lebensgeschichte erzählt – hätte er wahrscheinlich schnellstmöglich das Weite gesucht und sich nie wieder blicken lassen, aber bei Lany war es anders. Er war froh darüber, dass sie ihm vertraute und ihn an ihrem bisherigen Leben durch ihre Erzählung teilhaben ließ, wenn auch immer noch nicht das Problem mit diesem Scott geklärt war.

 

Warren war überrascht, was für Gefühle sich bei ihren Worten in ihm regten. Und diese Gefühle zeigten ihm abermals, dass er gegen alle Widerstände mit Lany zusammen sein wollte – nein, zusammen sein musste. Er verspürte immer stärker den Drang, sie beschützen zu müssen. Egal wohin sie ginge, er würde ihr folgen. Es ging einfach nicht anders, auch wenn ihm dieser Gedanke ein bisschen zu sehr nach Stalking klang. Aber vielleicht hatte er ja Glück und Lany würde ebenso für ihn empfinden und würde es auch bei ihm bleiben wollen.

 

Bevor er ihr nun antworten konnte, übernahmen wieder einmal seine Instinkte die Führung. Doch es ging ihm nicht allein so, auch Sarahs Verhalten hatte sich binnen Sekunden verändert. Lany konnte diese Veränderung förmlich spüren und diese ließ sie nun wünschen, sie wäre in diesem Moment an einem anderen Ort.

 

Warren und seine Mutter waren extrem angespannt und fast in ihren Bewegungen erstarrt. Alle drei lauschten und tatsächlich, Lany konnte ganz leise ein Geräusch wahrnehmen, das vorher noch nicht da gewesen war – gerade so, als würde sich jemand an sie heranschleichen.

 

So schnell, dass Lany die Bewegung kaum sehen konnte, war Sarah auf die Terrasse gelaufen, um im nächsten Moment wieder innezuhalten. Lany bemerkte, dass Warren zwar nicht ängstlich, aber immerhin doch etwas beunruhigt war, während er Sarah ebenfalls beobachtete.

 

Vom Fuße des Baumes erklang ein Schnaufen, ein kurzes Prusten. Sarah machte daraufhin einen Schritt zurück zur Terrassentür, aber ohne den Blick von dem, was da kam, abzuwenden.

 

Einen kurzen Moment schaute Warren Lany etwas besorgt an, um direkt im nächsten aufzustehen und ebenfalls zur Terrasse zu gehen. Dann tauchte auf einmal ein riesiger Schatten am Rand ihres Blickfeldes auf und ging langsam auf Sarah und Warren zu. Allerdings hatte diese Bewegung rein gar nichts Bedrohliches an sich, auch wenn Warren vor Wut zu Schäumen schien.

 

Und die ganze Szene wurde noch etwas eigenartiger, als Sarah ihren Sohn mit einem strengen Blick zurück ins Haus schickte, dem Warren zwar nicht umgehend, aber doch folge leistete.

 

Lany konnte Stimmen hören, die zwar leise, aber doch irgendwie ärgerlich klangen. Warren war inzwischen nicht zu ihr zurückgekehrt, sondern hatte sich einen Platz nahe der Terrasse gesucht. Die ganze Zeit über, in der die Stimmen zu hören waren, schaute er sie nicht ein einziges Mal an.

 

Lany hatte den Eindruck, dass Warren jeden Moment explodieren könnte. Daher sprach sie ihn lieber nicht an. Dann verstummten die Stimmen. Sarah kam wieder herein, ging zu ihrem Sohn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

 

„Warren, ich weiß, dass er nicht gefragt hat und das dies hier gegen alle Regeln verstößt, aber bitte verstehe ihn doch.“, sagte Sarah beschwichtigend.

 

„Wie soll ich etwas verstehen und etwas dulden, was ich eben NICHT verstehe. Du hast mir ja nichts erklärt und nun taucht er hier einfach mir nichts dir nichts auf und erwartet, dass ich dabei ruhig bleibe?“

 

„Genau das, mein lieber Sohn, erwarte und fordere ich sogar von dir! Also reiß dich gefälligst zusammen!“ Sarah schaute Warren böse an. Dann strich ihre Hand sanft über seine Wange, hin zu seinem Kinn und hob es so an, dass er sie anschauen musste.

 

„Ich weiß ja, welche Schwierigkeiten ihr miteinander habt, aber um Himmels willen, Warren, er ist immerhin dein Vater. Du weißt, dass er dir nie ein Haar krümmen würde. Lieber reist er sich selbst ein Bein aus, bevor einem seiner Kinder etwas geschieht. Außerdem kann auch er dazu beitragen, diese ganze Sache ein Stück weit aufzuklären. … Warren, du bist mein ältester Sohn und ich liebe dich, wie jedes meiner Kinder, aber manchmal verhältst du dich genauso, wie deine erst kürzlich zwei Jahre alt gewordene Nichte!“

 

Dieser riesige Schatten sollte also Warrens Vater sein? Wieso verhielt er sich ihm gegenüber bloß so? Es musste etwas zwischen den beiden vorgefallen sein. Lany beschloss, erst einmal weiter zuzuhören. Was anderes blieb ihr ja eh nicht übrig.

 

Gerade sah Lany noch ein leichtes Kopfnicken von Warren, als Sarah auch schon wieder in Richtung Terrasse entschwand. Kurz darauf, Warren hatte sich gerade erst von seinem Sitzplatz erhoben, trat sie zusammen mit Warrens Vater ein.

 

Es entstand eine unangenehme Stille, während beide Männer anscheinend gegenseitig Maß nahmen. Es schien geradezu bedrohlich, wie sie sich gegenüberstanden. Als Warrens Vater sich zu bewegen begann, schloss Lany schnell ihre Augen. Sie wollte nicht sehen, was als Nächstes passieren würde, denn die Luft schien nur so von Testosteron geschwängert zu sein.

 

Als nach einigen wenigen Augenblicken immer noch keine Geräusche zu hören waren, die auf einen Kampf der beiden schließen ließen, öffnete sie ihre Augen wieder und traute sich nicht ganz zu glauben, was sie dann sah.

 

Warren und sein Vater hatten sich in die Arme geschlossen und begrüßten sich aufs Herzlichste. Was war das nur für eine komische Familie. Beinahe wäre Lany ein leicht hysterisches Kichern entschlüpft, so dankbar war sie, dass nichts Schlimmes geschehen war.

 

Doch allein das beinahe Herausschlüpfen schien zu reichen, um nun die volle Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, denn in der nächsten Sekunde ließ Warrens Vater ihn los und blickte zu Lany herüber. In Sekundenbruchteilen danach hatte Warren sich auch schon wieder vor seinem Vater aufgebaut und funkelte ihn anscheinend wütend an. Lany konnte es nicht richtig sehen, da er nun zwischen ihr und seinem Vater stand – fast so, als müsste er sie beschützen.

 

Bei ihrem letzten Gedanken breitete sich ein warmes Gefühl in ihr aus. Sie hatte so lange Zeit allein für sich gekämpft und nun war da jemand, nach so vielen Jahren, der sie anscheinend beschützen wollte.

 

„Warren – verdammt noch mal! Du weißt, dass ich dir und erst recht ihr nichts tun werde!“, grollte nun die dunkle, rauchige Stimme von Warrens Vater durch den Raum.

Eigenartigerweise glaubte Lany ihm sofort, was bei Warren wohl aber anders war, denn er bewegte sich nicht einen Zentimeter vom Fleck.

 

Sie war von der ganzen Situation so gefesselt, dass sie erst jetzt bemerkte, dass Sarah sich neben sie gesetzt hatte. Anscheinend wollte sie, dass die beiden Männer ihre Streitigkeiten allein austrugen. Oder sie war es schlicht weg durch die vielen gemeinsamen Jahre einfach schon gewöhnt.

 

Also zwang Lany sich, ebenfalls locker zu bleiben. Wenn Sarah das konnte, warum sollte sie es dann nicht auch tun. Nachdem sie das für sich geklärt hatte, konnte sie sich auf andere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel darauf, dass Warren seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Es gab nur zwei offensichtliche Unterschiede zwischen den beiden.

 

Zum einen hatte sie schon geglaubt Warrens Statur wäre groß und kräftig, aber jetzt neben seinem Vater … Dieser Mann musste von Riesen abstammen. Und zum Zweiten ging von seinem Vater, ebenso wie von Sarah, eine eigenartige Macht aus, die bei ihm gleichfalls in Wellen abzustrahlen schien.

 

„Unglaublich, du bist fast das Ebenbild deines Vaters!“, entschlüpften Lany die gerade noch gedachten Gedanken und ihre Worte hallten geradezu nach in dieser angespannten Luft. Sarah schaute sie etwas erschrocken, aber doch auch leicht belustigt an.

 

Warren drehte sich langsam zu ihr um, sodass sie nun auch sein Gesicht sehen konnte, das in diesem Moment gar nicht mehr verärgert wirkte. Und sogar Warrens Vater fing an zu lächeln.

 

Lany war es unglaublich peinlich, dass sich nun die gesamte Aufmerksamkeit auf sie richtete. Seit sie in dieses Land gekommen war, bahnten sich ihre Gedanken meist ungebremst einen Weg an die Öffentlichkeit. Diese schreckliche Eigenheit hatte ihre Mutter ihr bereits zu Kindertagen versucht auszutreiben und es war bis jetzt eigentlich auch nie mehr passiert.

 

Und nun? Hier und jetzt schienen sämtliche Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt zu sein und sie manövrierte sich von einer peinlichen Situation in die nächste – gerade so, als ob irgendjemand extra nur für sie riesige Fettnäpfe aufgestellt hätte, an denen sie einfach nicht vorbeikam.

 

„Ganz eindeutig das Kind ihres Vaters …“, kam es gerade noch von Warrens Vater, bevor Sarah ihn zurückhalten konnte.

 

Lany blickte überrascht auf. Hatten gerade noch alle freundlich gelächelt, lag nun abermals eine gewisse Spannung in der Luft.

 

„Entschuldigen, aber wie …“, setzte Lany an, als Sarah ihr bereits freundlich, aber bestimmt ins Wort fiel.

 

„Mein Mann hat leider einmal wieder erst gesprochen und dann nachgedacht …“, versetzte Sarah mit einem schiefen Blick in Ephraims Richtung. „Wir werden dir alles erklären, aber erst einmal musst du wieder zu Kräften kommen. … Ihr beide verlasst jetzt erst einmal diesen Raum! … Und ich werde dir hier helfen. Wenn du etwas gegessen hast, treffen wir uns alle nachher auf der Terrasse und werden alles Notwendige besprechen.“ Mit diesen Worten schickte Sarah die beiden Männer hinaus.

 

Es verging eine ganz Weile in der Warren nervös darauf wartete, dass die beiden Frauen endlich rauskamen. Natürlich wusste er, dass Lany von seinem Vater aus, keine Gefahr drohte.

 

Ephraim war noch nie unnötig aggressiv gewesen und hatte in all seinen Jahren als Clanführer immer ruhig und besonnen gehandelt. Aber allein die Anwesenheit seines Vaters führte bei Warren dazu, dass er Lany beschützen wollte.

 

Sein Instinkt hatte sich in seinem Haus so stark gemeldet, dass er sich wirklich nur mit Mühe hatte zurückhalten können, um nicht seinen Vater an Ort und Stelle anzugreifen. In solchen Momenten bewunderte er seinen Vater immer wieder aufs Neue. Jeder andere wäre allein schon zum Angriff übergangen, wenn er Warrens Aggressivität gerochen hätte und dabei wäre es egal gewesen, ob es Vater und Sohn oder Brüder gewesen wären.

 

Aber nicht so sein Vater. Er war die Ruhe in Person und schien sogar, ganz anders als Warren selbst, zu verstehen, was mit seinem Sohn gerade los war. Warren würde einmal in wirklich riesige Fußstapfen treten müssen, wenn es eines Tages so weit war und er seinen Vater als Clanoberhaupt ablösen würde.

 

Endlich hatte das Warten ein Ende. Warren war seinem Vater dankbar dafür, dass er in den vergangenen Minuten nicht das Gespräch an ihn gerichtet hatte und er sein hitziges Gemüt so etwas abkühlen konnte.

 

Lany kam zusammen mit seiner Mutter auf die Terrasse. Sie sah einfach fürchterlich erschöpft aus und machte den Eindruck, dass jeder noch so kleine Windstoß sie umpusten könnte, als wäre sie nur ein dünnes Fädchen. Und schon wieder wollten seine Instinkte die Oberhand gewinnen. Denn nichts war schlimmer bei seinem Volk und im Dschungel, als Schwäche zu zeigen. Damit war man das ideale Ziel für irgendwelche Angriffe. Warrens Körper und Nerven waren binnen von Sekunden wieder bis aufs Äußerste gespannt und all seine Sinne waren auf Lanys Umgebung ausgerichtet.

 

„Ganz ruhig, mein Junge. Es wird ihr hier nichts geschehen. … Aber damit es dir besser geht, halte ich soweit wie möglich Abstand zwischen uns.“

 

Ephraims Worte halfen, dass Warren sich tatsächlich ein Stück weit beruhigen und entspannen konnte. Er begleitete Lany zusammen mit seiner Mutter zu einem gemütlichen Sessel, auf dessen Armlehne er dann selbst auch Platz nahm. Nachdem nun so jeder sich seinen Platz gesucht hatte – Sarah hatte sich zu Ephraim gestellt – kam Warren Lany mit seiner Frage zuvor. „Also … ihr habt Lany und mir eine Erklärung versprochen … Bitte, wir sind ganz Ohr! Was ist mit Lany passiert? …“

 

„… und was war damit gemeint – ich wäre meines Vaters Tochter?“, ergänzte Lany dann noch eilig, da ihr eigenartigerweise diese Frage mehr unter den Nägeln brannte, als was vor ein paar Tagen mit ihr geschehen war.

 

Gespannte Stille breitete sich aus, in der Sarah nach den richtigen Worten für ihre Erklärung suchte. Zwei Augenpaare richteten ihren erwartungsvollen Blick auf sie und von Ephraim brauchte sie keine große Hilfe erwarten. Er würde eh nur wieder mit der Tür ins Haus fallen und Lany eher verschrecken, als ihr durch seine Erklärung wirklich zu helfen.

 

Wahrscheinlich würde sie sich dann lieber hier aus der Höhe stürzen oder sich und sie alle für verrückt erklären, als dass sie ihrem Mann Glauben schenken würde. Und wie sie sie dann von der Wahrheit überzeugen müssten, wäre wirklich nicht gut.

 

Erst recht nicht für den Beginn dieser noch so frischen Beziehung zwischen Lany und Warren, die ja selbst noch nicht wirklich etwas davon ahnten. Nein, da musste sie schon selbst die richtigen Worte finden und das schnellsten, denn die Blicke wurde immer ungeduldiger.

 

„Tja, wie soll ich anfangen? … Vielleicht ist es am besten, Lany, wenn ich deine Frage zuerst beantworte.“ Warren wollte gerade etwas dazu sagen, als Sarah auch schon fortfuhr „Also, wie du dir vorhin vielleicht bereits nach Ephraims Worten selbst zusammenreimen konntest, kennen wir deinen Vater. … Bitte schau nicht so entsetzt, auch wenn ich deinen Schreck verstehen kann! … Dein Vater gehört zu unserem Volk und auch dein Großvater gehörte zu uns. Auch wenn er sich für ein Leben außerhalb des Clans entschieden hatte, so standen wir all die Jahre in Kontakt zueinander. Er hat deinen Vater die ganze Zeit über auf dem Laufenden gehalten, sodass er immer wusste, was du gerade machst – worüber du dich gefreut hattest oder auch, was dir Sorgen bereitet hat.“ Sarah legte eine kurze Pause ein, um Lany die Gelegenheit zu geben, diese Information erst einmal sacken zu lassen.

 

„Aber mein Vater hat uns damals verlassen und Großvater hat nie wieder in meinem Beisein über ihn gesprochen. Warum hat er mir denn nicht gesagt, dass er Kontakt zu ihm hat? Warum hat er mich denn all die Jahre belogen? … Ich habe immer geglaubt, dass er mich nicht wollte. Das mit meiner Mutter habe ich fast gleich begriffen, wahrscheinlich wäre ich an seiner Stelle auch nicht bei ihr geblieben. Aber warum hat er denn nicht zu mir Kontakt gehalten, sondern nur mit Großvater. Er hätte mich doch auch fragen können, wie es mir geht …“ Lany konnte es einfach nicht fassen. Erst, dass ihr Vater anscheinend über all die Jahre still und heimlich an ihrem Leben teilgehabt hatte und dann auch noch … und das war noch viel schlimmer, dass ihr geliebter Großvater sie belogen hatte.

 

Sie konnte es einfach nicht begreifen und schaute daher Sarah erwartungsvoll an, in der Hoffnung, sie könnte ihr dafür eine Erklärung liefern.

 

„Ich weiß, Lany, dass das ziemlich hart für dich sein muss. Aber bitte glaube mir! Dein Vater hat dich all die Jahre über geliebt und sehr schmerzlich vermisst und dass tut er auch immer noch! Seit Ernest damals verstorben war, hatten wir nämlich keine einzige Möglichkeit mehr, mit dir in Kontakt zu treten. Irgendwie hatte es deine Mutter geschafft, selbst die besten Privatdetektive zu täuschen und so gingen wir all die Jahre davon aus, dass dir irgendetwas Schreckliches zugestoßen sein müsste und du gar nicht mehr am Leben wärst …“

 

„Aber das kann doch gar nicht sein. Ist Lany wirklich die Tochter von …?“ Warren verstummte sofort wieder, als er den nun eisigen Blick seiner Mutter auf sich gerichtet sah. Wenn das wirklich wahr wäre und Lany wirklich diejenige war, für die er sie nun hielt – das würde wirklich alles verändern. Wie vom Donner gerührt, saß er da und wartete auf die nächsten Worte seiner Mutter.

 

Sarah wollte gerade weitererzählen, als sich die Situation um Lany herum schlagartig wieder änderte. Warren und seine Eltern waren von der einen auf die andere Sekunde schlagartig wieder in eine Art Alarmbereitschaft versetzt, aber dieses Mal schien Ephraim der aggressivere von den beiden Männern zu sein, wenngleich Warren nicht minder aggressiv und angriffslustig wirkte.

 

Sarah bezog direkt neben Lany Position, aber wovor wollte sie sie schützen und warum reagierten alle plötzlich so eigenartig. Es war nicht so, dass Lany nicht selbst ein eigenartiges Gefühl verspürte, was in ihr die Alarmglocken schrillen und ihren natürlichen Fluchtinstinkt einsetzen ließ, aber sie war es gewohnt, hin und wieder etwas überzureagieren. Doch nun schienen auch die anderen drei diese Situation als potenziell gefährlich einzustufen, aber woher wussten sie das denn nur?

 

Nach einem Augenblick der absoluten Stille war vom Waldboden her ein Schnaufen und leises Prusten zu hören. Es schien so, als würde dort jemand um Erlaubnis bitten … aber wofür? Und wieso hatte Lany das Gefühl, die Absicht eines ihr fremden Wesens – wenn denn überhaupt eines da war – zu verstehen?

 

Weitere Sekunden verstrichen in denen sich Warren und sein Vater lautlos ansahen. Es wirkte beinahe so, als würden sie einen stillen Kampf, nur mit den Augen ausfechten. Und anscheinend hatte Warren bei dieser stillen Diskussion die Oberhand gewonnen, denn sein Vater trat mit einem leichten Nicken zurück auf seinen Platz.

 

Sarah legte beruhigend eine Hand auf Lanys Schulter und drückte diese nur federleicht. Im nächsten Moment gab Warren ebenfalls eine Mischung aus leisem Prusten und Hüsteln von sich. Dann ging er rückwärts und ohne seinen Blick vom Terrassenrand zu nehmen auf Lany und seine Mutter zu.

 

Als Lany zu Ephraim rüber schaute, sah sie eine äußerlich vollkommen in sich ruhende Person. Allerdings hatte Lany den starken Eindruck, dass dies wirklich nur eine sehr mühsam aufrecht gehaltene Fassade war.

 

„Lany, wir oder besser du hast einen Besucher. Bitte erschrick nicht und versuche ruhig zu bleiben … es wird sich alles klären, auch wenn uns lieber gewesen wäre, wenn diese Begegnung zu einem etwas späteren Zeitpunkt stattgefunden hätte … aber ich hätte wahrscheinlich in solch einer Situation nicht viel anders reagiert!“, versuchte Sarah Lany auf das nun kommende vorzubereiten und schaute bei ihren letzten Worten Ephraim sehr eindringlich an.

 

Gespannt wartete Lany auf denjenigen, der sie hier besuchen wollte, wie Sarah gerade erzählt hatte – der anscheinend wusste, wo sie hier zu finden wäre und hielt ihren Blick auf den Terrassenrand gerichtet. Vollkommen unbewusst ergriff sie dabei Warrens Hand und hielt sich krampfhaft daran fest.

 

Dann war es endlich soweit. Zuerst waren nur rabenschwarze Haare zu erkennen. Als Nächstes folgten dann der Kopf und anschließend mit einem gekonnten Sprung, der gesamte Körper.

 

Es war ein Mann, nicht so groß wie Warren und sein Vater, aber mindestens so muskulös wie die beiden, wenn nicht sogar noch einen Tick mehr. Sein Blick war noch nach unten gerichtet, sodass Lany sein Gesicht nicht erkennen konnte. Eigenartigerweise verharrte der Mann in seiner gehockten Position und schien sich nicht bewegen zu wollen.

 

Gerade als Lany etwas ängstlich durch diesen ungewöhnliche Situation zumute wurde, gab Ephraim einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Schnaufen und Fauchen lag. Kurz danach erhob sich der Besucher und blickte sich auf der Terrasse suchend um.

 

„Du hättest noch nicht herkommen dürfen! Sie ist noch nicht so weit und für einen weiteren Schock noch nicht stark genug.“, kam Ephraims Stimme gefährlich leise über die Terrasse geweht. „Aber selbstverständlich können wir dich verstehen!“, ergänzte Sarah schnell.

 

Jetzt, da sie den Besucher, diesen Mann richtig sehen konnte, traute sie ihren Augen nicht. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Dies konnte doch nicht wirklich ihr Vater sein, der nun dort am anderen Ende der Terrasse stand? Er sah noch genauso aus, wie damals, als er ihre Mutter und sie verlassen hatte. Er schien kein bisschen gealtert zu sein!

 

„Entschuldigt, aber ihr könnt doch nicht allen Ernstes von mir erwartet haben, dass ich mich nicht selbst davon überzeugen wollen würde, dass es ihr gut geht … dass sie am Leben ist? Was hättet ihr an meiner Stelle, in meiner Situation getan? … Ephraim, es tut mir leid, dass ich mich deinem Befehl widersetzt habe und ich werde selbstverständlich die Konsequenzen dafür tragen, aber ich konnte einfach nicht noch länger warten. Als ich hier ankam und Jack mir sagte, wo ich sie finden kann, konnte ich keine Sekunde länger zögern …“

 

Nathan wusste, dass er froh sein konnte, dass der Clanführer ihn nicht gleich hier und jetzt zur Verantwortung für seinen Ungehorsam zog, aber er hatte wirklich nicht noch länger warten können. Lany, sein kleines Mädchen, war hier und jetzt lebendig und zum Greifen nahe und er musste sich einfach von ihrem Wohlergehen überzeugen.

 

Bis vor einem kurzen Moment hatte er sie noch nicht wirklich sehen können, denn Warren hatte sich, wie ein Schutzschild vor sie gestellt und so den Blick auf seine Tochter versperrt. Aber nun, nach einem kurzen Blick hinter sich, trat er ein wenig zur Seite.

 

Nathan verschlug es augenblicklich die Sprache. Diese junge Frau war seine Tochter, sein kleiner Wildfang? Er konnte es nicht glauben. Aus dem kleinen Mädchen war in all den Jahren eine wahre Schönheit geworden und in ihm regte sich bereits der Beschützerinstinkt, der ihm befahl, sein Kind vor all den notgeilen Katern zu schützen, die jetzt garantiert reihenweise bei ihr auftauchen würden.

 

Oh Gott, was wäre, wenn dies bereits in den vergangenen Jahren geschehen war, in denen er sie nicht hatte beschützen können? Bei diesem Gedanken erfasste ihn eine schiere Übelkeit und seine, aus früheren Zeiten nur zu gut bekannte Panik wollte sich wieder einstellen – doch er kämpfte sie nieder und blickte Lany nun direkt in die Augen.

 

Er hoffte, dass sie ihn nicht vollkommen vergessen hätte, dass sie ihn vielleicht sogar wiedererkennen würde. Aber wahrscheinlich machte er sich da selbst etwas vor. Wie sollte sie sich an ihn erinnern können? Schließlich war sie damals noch sehr klein gewesen und er glaubte einfach nicht daran, dass Lauren ihr irgendwelche Fotos von ihm gezeigt oder überhaupt über ihn gesprochen hätte.

 

Aber das war vorerst nicht wichtig. Es zählte einzig und allein, dass Lany am Leben und wohlauf war. Alles andere würde sich schon noch zum richtigen Zeitpunkt ergeben.

 

„Daddy, … bist du das wirklich?“, brachte Lany leicht stockend heraus. Nathan nickte vorsichtig und in seinen Augen begann, etwas zu leuchten. „Ja, mein Engel, ich bin es! …“, weiter kam er gar nicht, denn im nächsten Augenblick und für alle vollkommen überraschend, stürzte Lany aus dem Sessel und auf ihren Vater zu.

 

Ohne groß zu überlegen, schloss er sie in seine Arme und hielt sie ganz fest umschlungen. Er spürte, wie sein Hemd an seiner Schulter von Nässe durchdrungen wurde, und hörte Lanys leises Schluchzen. Sanft strich er ihr mit einer Hand über das Haar und murmelte beruhigend auf sie ein.

 

Er konnte sein Glück nicht fassen. Lany hatte ihn wiedererkannt und sie hatte überhaupt keine Berührungsängste ihm gegenüber. Nein, sie hatte sich sogar, wie von der Tarantel gestochen in seine Arme gestürzt. Das hätte er nie auch nur für eine Sekunde für möglich gehalten.

 

Nach einer kleinen Ewigkeit beruhigte sie sich langsam wieder und die Tränen versiegten. Der Clanführer und seine Familie hatten sich derweil ins Hausinnere zurückgezogen. Er wusste zwar, dass sie augenblicklich wieder herauskommen könnten, würde Lany auch nur irgendeine Gefahr drohen, aber er freute sich über ihre Rücksichtnahme – dass sie ihn und Lany in diesen Moment des ersten Wiedersehens allein ließen.

 

„Ich bin so froh, dass du noch lebst! Wir haben wirklich gedacht, dir wäre irgendetwas Schreckliches zugestoßen … ich habe mir solche Vorwürfe gemacht! … Komm, meine Kleine, setz dich bitte! Du siehst so erschöpft aus und wir können uns auch im Sitzen unterhalten.“

 

Nathan redete immer wild drauf los, wenn er nervös war und jetzt war er es, wie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr. Immer wieder betrachtete er seine kleine Tochter und konnte es einfach immer noch nicht glauben, dass er sie nun endlich wiederhatte.

Sie redeten lange miteinander – solange, dass bereits die Dunkelheit über den Wald hereingebrochen war und nur der Mond durch einen kleinen Spalt im Blätterdach, silbrig fein sein sanftes Licht zu ihnen herunterschickte.

 

Und die ganze Zeit hatten die Langs im Hausinneren still verharrt. Nur ab und an hörte man leise Gespräche oder das Sprudeln des Wassers, wenn es für Tee oder Kaffee gekochte wurde.

 

Währenddessen wollte Lany einfach alles von ihm wissen und erzählte ihm auch vieles aus ihrem Leben. Nathan unterbrach sie kein einziges Mal, auch wenn er über viele der Dinge meistens bereits Bescheid wusste. Er hörte ihr unglaublich gerne zu. Sie hatte eine wunderschön samtige und sehr melodische Stimme.

 

Diese Stimme versetzte ihn tatsächlich in eine Art Trancezustand – vor seinem inneren Auge erschienen all die Erlebnisse und Orte, die sie ihm schilderte, in farbigen und absolut lebhaften Bildern.

 

So etwas hatte Nathan zuletzt bei seinem Vater erlebt. Auch er hatte diese besondere Gabe, die ihm stets bei seinen Aufgaben als Heiler und später als weisen Alten unterstützt und die er anscheinend an seine Lany weitergegeben hatte.

 

Er selbst erzählte ihr seinerseits alles, was seit seinem Weggang damals in seinem Leben geschehen war. Lany wollte natürlich den Grund dafür wissen und so sprach er auch von seiner wahren Gefährtin, Lanys Stiefmutter.

 

Nesta war seine ganz große Liebe und er hatte ihr damals einfach folgen müssen und würde es auch immer wieder tun. Nur, wie er damals Lany verlassen hatte und aus ihrem Leben verschwunden war, das war der einzige Punkt, bei dem er nie wieder den gleichen Fehler begehen würde.

 

Aber er hatte damals keinerlei Möglichkeiten mehr gesehen, seine Tochter jemals wiederzusehen. Es waren keine zwei Tage vergangen, nachdem er Lauren verlassen hatte, da war sie auch schon Hals über Kopf mit Lany verschwunden. Nur über seinen Vater hatte er schließlich Informationen beziehen können.

 

Nachdem ihm zu Ohren gekommen war, wie sehr Lany unter der Trennung zu ihm litt – wie Lauren versuchte ihn in einem schlechten Licht dar stehen zu lassen und Lany einredete, dass sie Ärger bekommen würde, würde sie auch nur ein einziges Mal versuchen würde, mit ihm Kontakt aufzunehmen – hatte er seinem Vater den Schwur abgenommen, Lany nie etwas von ihm zu erzählen.

 

Nur Nesta hatte ihm seitdem Verständnis dafür entgegengebracht und ihn immer unterstützt – ihm Trost gespendet. Alle anderen Clanmitglieder hatten es einfach nicht verstehen können.

 

Sie waren damals der Meinung gewesen, dass er Lany zu sich nach Brasilien hätte holen sollen – weg von ihrer Mutter, dieser fürchterlichen Frau, die ihr anscheinend nur Leid brachte und die sie noch nicht einmal, wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, bei der Wandlung hätte unterstützen können.

 

Aber sie war damals einfach noch zu klein und er hätte nie auch nur vermutet, dass Lauren sich ihrer gemeinsamen Tochter gegenüber so verhalten würde, wie sie es schließlich getan hat. Er war, wenn auch ansonsten von nichts bei ihr, immer davon überzeugt gewesen, dass Lauren Lany ebenso lieben würde, wie er es tat und sie in allen Dingen unterstützen würde. Aber leider ist es doch anders gekommen.

 

Glücklicherweise hatte Lauren aber nicht den Kontakt zwischen Lany und ihrem Großvater unterbunden und so konnte wenigstens dieser sie im Auge behalten und sie so schon Stück für Stück auf das Leben seines Volkes vorbereiten. Aber ob sie davon überhaupt noch etwas behalten hatte, konnte Nathan nicht sagen. Immerhin waren seitdem mehrere Jahre vergangen und sie schien inzwischen, das wusste er zumindest ansatzweise von Jack, ein doch recht erfolgreiches Leben in der Stadt zu führen.

 

Als die Sprache auf Nesta gekommen war, hatte Lany kurz gestockt. In ihrem Blick spiegelten sich widersprüchliche Gefühle wider, aber schließlich wurde dieser wieder klar und überraschenderweise – warm. „Ich würde Nesta wirklich gerne einmal kennenlernen … natürlich nur, wenn sie und du nichts dagegen haben?“, sagte Lany schließlich. „Ich habe das Gefühl, dass du wirklich glücklich mit ihr bist! … Bei Mom haben deine Augen nie so gestrahlt – also muss deine Frau wirklich jemand ganz Besonderes sein!“, und nach einer weiteren kurzen Pause fügte sie noch hinzu „Ich freue mich wirklich sehr für dich, dass du sie gefunden hast. Und wenn sie dich glücklich machen kann, gibt es nichts Wichtigeres!“

 

Wieder verschlug es Nathan die Sprache. Fassungslos starrte er Lany an. Wie konnte seine kleine Tochter nur so ein großes Herz bewahrt haben, bei alldem, was ihr seit damals widerfahren war? Und wie konnte Lany nur annehmen, dass er oder Nesta etwas dagegen haben könnten, wenn sie sie kennenlernen wollte. Nesta war ja jetzt schon total nervös und hatte vorher schon immer von ihrer Angst erzählt, dass Lany sie nicht mögen, geschweige denn akzeptieren würde. Auch jetzt spürte er ihre Nervosität über ihre ganz eigene Verbindung zu ihm herüberschwappen. Seine arme Nesta. Sie saß gerade bei Rosa und Jack in der Kneipe und stand wahrscheinlich Todesängste um ihn und den Ausgang seines Besuches bei Warren aus. Schließlich hatte sie wirklich versucht ihn zurückzuhalten, hatte es aber angesichts seiner Starrsinnigkeit bald aufgegeben.

 

Sie konnte ja nicht ahnen, dass alles gut – nein, eigentlich noch viel besser ausgegangen war und er gerade in diesem Moment von seiner Tochter ein zweites, von ihm wirklich nur vorsichtig erhofftes Geschenk erhielt und beinahe vor Glück und väterlichem Stolz zersprang.

 

„Natürlich haben wir nichts dagegen … Nesta würde sich sehr freuen, dich kennenzulernen! Sie redet schon von nichts anderem mehr! … Oh Lany, du glaubst gar nicht, wie glücklich du mich mit deinem Wunsch machst! … Und wenn du dann erst …“, weiter kam Nathan nicht, denn in diesem Augenblick erschien auf der Terrasse eine überaus ärgerlich dreinblickende Sarah und schnitt ihm mit nur einem Blick das Wort ab. Lany war überrascht, dass ihr Vater so auf Sarah reagierte. Er schien direkt – zumindest bis zu einem gewissen Grad – irgendwie unterwürfig zu sein. Wieder hatte Lany einen Punkt entdeckt, der sie brennend interessierte, sie ihn aber besser auf später verschob – wenn sie sich dafür in der Lage fühlte.

 

„Sie weiß es noch nicht?“, fragte Nathan nun doch an Sarah gewandt.

 

„Nein … sie ist doch gerade erst wieder erwacht und sieh sie dir doch nur mal an! Lany ist noch viel zu schwach. Sie muss sich erst wieder richtig erholen und zu Kräften kommen!“, antwortete Sarah mit Nachdruck in der Stimme.

 

„Aber Sarah … verzeih … doch die Zeit drängt, wie mir Jack gerade vorhin noch in der Kneipe überaus deutlich zu verstehen gegeben hat. Wenn wir noch länger warten, kann es nicht nur für Lany, sondern für uns alle extrem gefährlich werden!“, versuchte Nathan Sarah zu überzeugen. Lany musste wissen, wer und was sie wirklich war und dann musste sie so schnell, wie möglich lernen. Alle im Clan der Panthera hatten besondere Fähigkeiten und vor allem besaßen sie alle ein übergroßes Maß an Kraft und Ausdauer. All das musste Lany nun schnellstens erklärt und beigebracht werden, damit sie es für sich und den Clan nutzen konnte, denn der Feind war inzwischen viel näher, als sie alle bis jetzt vermutet hatten.

 

Sarah wollte gerade zu einer gepfefferten Antwort ansetzen, als hinter ihr eine tiefe Stimme erscholl. „Du hast recht Nathan!“, Ephraim legt seiner Gefährtin zärtlich, aber bestimmt eine Hand auf die rechte Schulter, „Sarah, wir haben wirklich keine Zeit mehr! … Glaube mir bitte – mir ist genauso viel daran gelegen, Lany so vorsichtig, wie möglich, in alles einzuweihen, … aber wir können nicht länger warten. Ich habe mir die ganze Zeit darüber den Kopf zerbrochen, ob es nicht doch einen anderen Weg gibt, als diesen, den Nathan vorschlägt … aber mein Schatz, es gibt keine andere Lösung. Lany muss JETZT alles erfahren, und so schnell wie möglich alles Notwendige lernen. Und da das Wiedersehen von Vater und Tochter so gut verlaufen ist … – und Lany, meine Liebe, du hast das wirklich gut aufgenommen – … kann Nathan ihr nun den notwendigen Halt geben, den sie dringend brauchen wird, wenn wir sie einweihen.“

 

Während Ephraim sprach, schaute er immer wieder abwechselnd zwischen Sarah, Lany und Nathan hin und her und bedachte jeden mit beschwörenden Blicken. Von Sarah und Nathan wusste er, dass sie sich seinem Urteil, seiner Entscheidung beugen würden – bei Lany war er sich nicht ganz so sicher, vor allem, da sie bis jetzt noch nicht verstehen konnte, worum es überhaupt ging und vor allem, da sie nun einmal die Enkelin des größten Sturkopfes der Menschheitsgeschichte, Ernest Sheridan, war. Trotzdem stellte er mit einem gewissen Stolz fest, dass Lany sich bereits jetzt als eine mehr als würdige Partnerin für Warren erwies, denn sie hatte bis jetzt alles gut und mit Fassung aufgenommen. Und auch jetzt zeigte sie eine starke Entschlossenheit in ihrem Blick und in ihrer Haltung. Ja, sie war eine Kämpferin und auf jeden Fall würdig!

 

Lany spürte geradezu die Macht, die wellenartig von Ephraim Lang abstrahlte, als er sie alle der Reihe nach anschaute und dabei sprach. Mit jedem Wort stellten sich ihr die kleinen Härchen auf ihrem Körper auf und eigentlich wollte sie sich nur vor ihm in Sicherheit bringen.

 

Doch da war auch noch ein anderer Teil in ihr, den sie bisher nicht gekannt hatte. Dieser Teil sagte ihr, sie solle sich nicht so anstellen und ihm die Stirn bieten und sich nicht kleiner machen, als sie wirklich war. Dieser Teil suchte die offene Konfrontation und so blickte sie ohne zu Zwinkern diesem gefährlichen Mann direkt in die Augen. Alle Muskeln waren bis aufs Äußerste gespannt, jeden Moment bereit zum Sprung, wenn es nötig werden sollte.

In einem ganz kleinen Teil von ihr, der, der sie früher einmal hauptsächlich ausgemacht hatte, wunderte Lany sich über sich selbst. Woher nahm sie diesen Mut, woher diese Kraft? Und woher kam ihre Gewissheit, dass Ephraim ihr trotz allem nichts tun würde?

 

Lany spürte neben sich, wie ihr Vater sich ebenfalls anspannte. Er hatte die Änderung in ihrer Körperhaltung wahrgenommen und reagierte anscheinend instinktiv darauf. Auch er schien nun sprungbereit – gerade so, als würde er sie vor irgendetwas schützen müssen.

 

Die Spannung, die in der Luft zwischen ihnen allen hing, wuchs um ein Vielfaches. Kurz fragte sich Lany, wo eigentlich Warren abgeblieben war, doch dieser Gedanke drängte gleich wieder in den Hintergrund, als Ephraim begann, langsam auf sie beide zuzugehen. Eigentlich war es kein Gehen, sondern eher eine Art Anpirschen. Kurz vor ihnen drehte er ab und nahm auf einem Stuhl, ihnen gegenüber Platz.

 

„Na, na, Nathan …“, sagte Ephraim leicht tadelnd und hatte doch ein Schmunzeln in den Augen. „… du weißt genauso gut, wie ich, dass ich Lany nie auch nur ein Haar krümmen würde! Für wen hältst du mich?“

 

„Du bist der Clanführer!“, erwiderte Nathan – so, als würde allein diese Aussage bereits alles erklären. „Und so, wie sie sich gerade gegen dich aufgelehnt hat, hätte wirklich jeder aus unserem Clan annehmen müssen, dass du darauf entsprechend reagieren würdest.“

 

„Bei jedem anderen hättest du mit deiner Einschätzung vollkommen recht gehabt, aber nicht bei deiner Tochter. Und, Nathan, du weißt auch ganz genau, warum das bei ihr anders ist!“ Das Schmunzeln war ein wenig aus Ephraims Augen gewichen und leichter Ärger hatte sich kurz darin gezeigt. Doch als er seinen Blick nun auf Lany richtete, war davon nichts mehr da – einzig ein warmes Funkeln war noch zu sehen.

 

„Lany, ich verstehe dein Verhalten – besser sogar, als du wahrscheinlich selbst – aber um eines möchte ich dich bitten! Höre dir alles, was hier gesprochen wird, gut an, präge es dir ein, ziehe deine eigenen Schlüsse und – ganz besonders wichtig – vertraue bitte darauf, dass ich im Moment noch besser weiß, welche Entscheidung für den Clan die richtige ist. Es ist enorm wichtig, dass wir alle bei dieser Sache zusammenhalten. Dazu wirst du für dich vielleicht unglaublich Dinge erfahren und damit leben müssen, aber du gehörst zu uns und wie heißt es so schön: Mit gefangen, mit gehangen! … Oder so ähnlich.“ Ephraim grinste über seine eigene Unsicherheit, aber er wollte ganz sicher gehen, dass Lany begann zu begreifen.

 

Er wollte ihr unbedingt ein Gefühl der Sicherheit im Kreise des Clans vermitteln, immerhin war sie ein Familienmitglied und aus ihrer Abwehrreaktion hatte er endgültig ablesen können, dass vor ihm eindeutig die Enkelin des alten und weisen Ernest stand. Auch er hatte grundsätzlich auf diese Art und Weise reagiert und hatte damit regelmäßig Ephraims Vater um den Verstand gebracht.

 

Später, als Ephraim die Führung des Clans übernommen hatte, hatte er erkannt, dass Ernest sich nie irgendwelchen Befehlen – egal wie viel Macht in ihnen mitschwang – beugen würde und so sich den einzigen möglichen Weg im Umgang mit Ernest überlegt, den er nun auch bei Lany gedachte zu gehen. Und er lag richtig mit seiner Entscheidung. Man konnte beinahe dabei zuschauen, wie sich Lanys Muskeln und ihre ganze Haltung entspannten.

 

Warren würde noch seine wahre Freude an ihr haben! Aber sie war auch die Einzige, die ihm die Stirn im Notfall bieten und ihn so auf den Boden der Tatsachen zurückbringen konnte. Unlängst hatte er ja schon beobachten können, wie sein sonst so unnahbarer und sturer Sohn, zu einem zahmen Kater in ihrer Nähe wurde und auch mal seinem Verstand, statt immer nur seinem Instinkt gehorchte. Sonst hätten Vater und Sohn nie so lange gemeinsam in Warrens Revier friedlich miteinander umgehen können.

 

Erst nach einer unendlich langen Zeit, als klar war, dass Lany von Nathans Seite aus keinerlei Gefahr drohte, hatte er sich für einen Kontrollgang verabschiedet und so wieder etwas Raum zwischen ihm und seinem Vater geschaffen, der beiden etwas Erholung und Abkühlung der aufgeheizten Gemüter verschaffte.

 

Während Lany Ephraim zuhörte und bemerkte, dass er nicht vorhatte, ihr ebensolche Befehle zu erteilen, wie gerade noch ihrem Vater und sogar Sarah, fiel tatsächlich all die Anspannung von ihr ab. Sie konnte wieder freier atmen und auch, wenn es nicht wirklich ein Problem damit gegeben hatte, sogar noch etwas klarer denken.

 

Und schon schossen ihr tausend Fragen gleichzeitig durch den Kopf. Sie hatte sich tatsächlich schon die ganze Zeit über alles genauestens angehört und mit jedem Rätsel kamen mehr Fragen in ihr hoch. In was sollte sie eingeweiht werden und was oder wer war ein Panthera? Wobei mussten sie alle zusammenhalten und warum hatte Ephraim sich gerade so angehört, als würde er schon bald nicht mehr die Stellung als Clanführer ausfüllen? Lany wusste gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollte.

 

Aber sie sah es genauso wie ihr Vater und Ephraim – sie wollte endlich wissen, was hier eigentlich los war. Und wenn sie anschließend in eine Irrenanstalt eingeliefert werden müsse, dann wäre es ebenso. Wichtig war nur, dass sie endlich ihren Vater wiederhatte und alles andere – na ja, dass würde sich ergeben.

 

Mittlerweile vollkommen entspannt wartete Lany nun auf weitere Informationen. Trotzdem es sie in den Fingern juckte, unterbrach sie Ephraim nicht, wie sie es sonst bei jedem anderen getan hätte. Stattdessen beobachtete sie ihn genau – studierte jede seiner Bewegungen, seine Mimik, seine Gesten, einfach alles was er tat und sagte. Sie hatte das Gefühl, ihn für sich vollkommen neu bewerten zu müssen. Und jetzt, da Warren nicht anwesend war, konnte sie sich eigenartigerweise auch besser darauf konzentrieren.

 

Sarah hatte sich derweil nach Ephraims Ansage ins Haus zurückgezogen und auch Nathan war ihr nach einem eindringlichen Blick von ihm kurze Zeit später gefolgt. Lany war nun vollkommen allein mit diesem imposanten Exemplar eines Mannes, den eine nicht greifbare Macht wie ein schützender Mantel zu umhüllen schien. Aber eigenartigerweise empfand sie noch immer keinerlei Furcht vor ihm. Ihr Gefühl ihm gegenüber war eher das von Vertrautheit und Sicherheit, und das, obwohl sie ihn erst so kurze Zeit kannte.

 

Ephraim hatte es sich inzwischen auf dem Platz direkt neben ihr bequem gemacht. Er war mit seiner Ansprache fertig und schaute sie nun erwartungsvoll an. Allerdings war Lany wieder einmal so in ihre eigenen Überlegungen vertieft, dass sie die plötzliche Stille um sich herum erst ein paar Minuten später registrierte.

 

Oh nein – nicht schon wieder! Ephraim musste sie etwas gefragt haben, denn anscheinend wartete er gerade auf eine Reaktion von ihr – und das wohl auch schon etwas länger! Lanys Wangen färbten sich bei diesen Gedanken in solch ein sattes Rot, dass man sie mit Leichtigkeit als weithin sichtbares Warnsignal hätte aufstellen können. Mann, war ihr das peinlich!

 

„Em … tschuldigung … Ich … Ich war mit meinen Gedanken gerade irgendwie woanders … Es ist wohl doch alles etwas viel auf einmal … Was hatten sie bitte gerade noch gesagt?“, stotterte Lany vor sich hin und traute sich gar nicht, Ephraim direkt anzublicken.

 

Als er ihr aber nun ebenfalls nicht antwortete, sondern sich die Stille zwischen ihnen weiter ausbreitete, konnte Lany nicht mehr anders. Vor allem da sie Sarah und ihren Vater aus dem Hausinneren heraus leise tuscheln hören konnte. Und das war kein normales Plauder-Tuscheln. Irgendwie klangen beide nervös und extrem angespannt. Das konnte nichts Gutes bedeuten!

 

Vorsichtig und nur von der Seite aus blickte sie zu Ephraim auf. Seine Augen waren tatsächlich auf sie gerichtet und musterten sie eingehend, aber ansonsten zeigte er keinerlei andere Regung. Und wenn Lany nicht dieses eigenartige Sicherheitsgefühl ihm gegenüber verspürt hätte, wäre ihr die ganze Situation extrem gruselig, nein, sogar gefährlich vorgekommen. Doch sie war immer noch vollkommen entspannt, wenn auch diese Peinlichkeit zwischen ihnen hing, wie eine kleine dicke Wolke, die einfach nicht verschwinden wollte.

 

Sekunden verstrichen und zogen sich zu Minuten und auf einmal vernahm sie ein Prusten. Und dieses Prusten schien aus Ephraims Bauch emporzusteigen, auch wenn seine Miene nach wie vor unbewegt blieb. Was war er doch nur für ein komischer Mann? Das Prusten wiederholte sich – wurde lauter und lauter, und als Lany nun doch so etwas wie leichte Angst bekam, brach es endgültig aus ihm hervor.

 

Ephraim konnte sich kaum noch halten, so sehr wurde er von seinem eigenen Lachen geschüttelt. Immer wieder schaute er Lany zwischendurch an und immer wieder musste er nur noch mehr lachen. Es war zwar etwas irritierend, aber so glücklich und gelöst hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt – wie ein Katzenjunges, dass das erste Mal in seinem Leben mit einem Wollknäuel spielen durfte. Und das lag einzig und allein an dieser kleinen Wildkatze vor ihm.

 

Lany machte ihn glücklich! Ohne es zu wissen, hatte sie es geschafft, durch all seine jahrelang aufgebauten Schutzwälle hindurchzu gelangen und schon nach dieser kurzen Zeit sich mit Schwung in seinem Herzen eingenistet. Außer seiner Sarah hatte es schon lange niemand mehr geschafft, ihn so zum Lachen zu bringen. Und seit dem lieben Ernest hatte es niemand mehr, noch nicht einmal seine Gefährtin, gewagt, ihm nicht jede einzelne Sekunde zuzuhören, wenn er etwas zu sagen hatte – seine Befehle gab oder einfach nur irgendwelche Grütze erzählte, weil ihm gerade danach war.

 

Alle sahen in ihm ständig nur den Clanführer – ihren Alpha-Mann. Was einerseits ja auch vollkommen richtig war, ihn aber andererseits auch zu einem doch sehr einsamen Mann machte. Nein, Lany würde er nicht mehr fortlassen. Sie gehörte hierher, zu ihnen und vor allem zu seinem Sohn – das war ja wohl vollkommen klar.

 

Nachdem Ephraim endlich mit dem Lachen aufgehört hatte, blickte er in drei vollkommen verwirrt dreinblickende Gesichter und das machte ihn noch glücklicher. Aber nun musste er endlich zum Punkt kommen – die Zeit drängte immer weiter vorwärts und wurde so allmählich knapp – so gut er sich auch gerade amüsierte.

 

„Lany, lass uns bitte einen kurzen Spaziergang machen … ich werde dir einiges zeigen müssen“, brach er nun endlich das Schweigen, während er gleichzeitig den anderen beiden zu verstehen gab, dass sie hier beim Haus warten sollten. „Du sollst alles erfahren, was du wissen möchtest und noch mehr … Keine Sorge, Nathan. Ich bringe sie dir hierher zurück … sobald wir fertig sind.“

 

Ohne großes Aufheben folgte Lany Ephraim in den Dschungel. Ihr Weg führte sie weiter weg vom Haus, als Lany bisher mit Warren gewesen war, doch sie hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich hier zurechtzufinden. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten, weihte Ephraim Lany in die Geheimnisse des Clans der Panthera ein, in die Geheimnisse seines, nein, ihres gemeinsamen Volkes. Und so unglaublich das alles auch war, so fügten sich für Lany nun endlich die einzelnen Puzzleteile zusammen – endlich ergab so vieles – ALLES einen Sinn und sie nahm ihren Platz, ihr Schicksal, ihre Bestimmung mit offenen Armen an und dachte dabei glücklich „Ich bin nicht verrückt – bin es nie gewesen! Götter sei Dank!“

Kapitel 13 – Frustration des Jägers

So langsam konnte er dieses Klima nicht mehr ertragen. Ständig war es stickig, feucht und immer nur warm – selbst nachts – von diesen ganzen nervigen Moskitos und anderen Ekel-Tieren ganz zu schweigen. Anfänglich hatte er versucht, sich von diesen Spinnern wieder abzusetzen und auf eigene Faust nach seiner Beute zu suchen, doch ohne Erfolg. Er hatte ja bereits von Anfang an geahnt, dass ein Bündnis mit diesen Kerlen ihm auch zum Verhängnis werden konnte, wenn er nicht aufpasste. Durch das langwierige Warten und Nichtstun war jeder von ihnen bereits mehr als nervös geworden und er wartete gerade nur so darauf, dass einer von ihnen endgültig austicken würde. Aber schließlich war die erwartete Lieferung dann doch noch mit fast 2-wöchiger Verspätung angekommen. Es war der pure Wahnsinn. Solch ein Arsenal an Waffen, Technik und Verpflegung hatte er noch nie zuvor zu Gesicht bekommen. Die Lieferung war so gewaltig, so umfangreich, dass sie ihn kurzzeitig sogar dafür entschädigen konnte, dass er von seinen sogenannten Partnern nicht fortgekommen war. Und gleich nach Landung der Maschine waren sie dann auch endlich aufgebrochen.

 

Scott hatte sich anfangs wieder wie als kleiner Junge gefühlt – voller Aufregung und Vorfreude auf die endlich beginnende Jagd. Trotz des Wartens hatte er sein Ziel – Lany zu finden – nie aus den Augen verloren. Seine Gier nach ihr war nur noch mit jedem Tag Warten größer, verzehrender geworden. Er musste sie endlich haben. Am Anfang seiner ganz persönlichen Jagd hatte er sich geschworen, sich dieses Mal Zeit zu lassen – jeden einzelnen, kostbaren Moment vollkommen auszukosten, sodass er möglichst lange davon zehren könnte … aber jetzt? Nein! Es musste schnell gehen. Er konnte nicht mehr länger warten und dann auch noch langsam machen. Dafür hatte er zu viel Zeit verloren – Zeit, die ihn jede einzelne Sekunde gequält, ihn verhöhnt hatte. Und immer wenn er auch nur für einen Moment die Augen schloss, sah er Lanys wunderschönes Gesicht, ihre Haare, ihren Körper vor sich. Doch sie lächelte ihn nicht mehr, wie am Anfang seiner Fantasien, begierig und aufreizend an, nein, dieses kleine Miststück lachte ihn aus – aus vollem Herzen! Das konnte er nicht erlauben. Sie konnte sich das nicht erlauben. Wusste sie denn nicht, was er alles und nur wegen ihr, auf sich genommen hatte – wie er sich nach ihr und ihrem Körper, ihren Berührungen verzehrte? Wusste sie das denn nicht?

 

Seine Gedanken versetzten ihn mehr und mehr in erwartungsvolle, gierige Erregung, denn seine Geduld war schon so unendlich lange Zeit vorbei und doch war er wieder zum Warten verdammt, denn gerade jetzt waren sie seit bereits zwei Tagen wieder nicht vorwärtsgekommen. Laut der Karten mussten sie den Fluss, an dessen Ufer sie nun zwangsläufig rasteten, überqueren. Leider hatte es vor besagten zwei Tagen angefangen kräftig zu regnen und durch diese Wassermassen war der sonst so seicht hinfließende Fluss zu einem reißenden Strom angeschwollen, den sie so unmöglich überqueren konnten. Und dann dieses ständige Gefühl wieder Zeit zu verlieren und dadurch seiner Beute die Chance zu geben, noch weiter in den Dschungel zu verschwinden.

 

Scott glaubte zwar nicht, dass Lany es aus eigener Kraft schaffen würde, den Dschungel unbeschadet wieder zu verlassen, geschweige denn überhaupt irgendeinen Weg aus diesem Wirrwarr von Bäumen, diesem undurchdringlichen Grün zu finden, doch seine eigenen Chancen, sie nach so langer Zeit schnell aufzugreifen, schwanden dadurch natürlich ebenfalls beträchtlich. Aber was wäre er für ein Jäger, wenn ihm diese zusätzliche Herausforderung nicht noch mehr Spaß und Befriedigung verschaffen würde?

 

In ein paar Stunden würde sich die Lage hoffentlich wieder normalisieren – so zumindest, wenn es nach der landläufigen Meinung der anderen ging – und dann wäre er endlich wieder im Spiel. Aber jetzt, da er sowieso nichts anderes tun konnte, als starrsinnig in die Gegend zu starren, beschloss Scott noch ein kleines Nickerchen zu halten. Wenn er Glück hatte, würde er wenigstens in seinen Träumen sein Ziel bereits erreicht haben und endlich seine Gier befriedigt finden.

 

„Los … aufstehen! Mann, wach endlich auf! Curtis hat was entdeckt!“, schrie Ed Scott an und unterstrich seine Worte noch mit einigen Fußtritten in Scotts Seite. „Wie kann man nur so verpennt sein?“, wollte er von Mike, der gerade ebenfalls das Zelt betrat, wissen.

 

Scott wusste erst gar nicht, wie ihm geschah und wo er überhaupt war, so war er in seinen Fantasien, seiner Traumwelt gefangen. Und was das für ein Traum gewesen war? Mann o Mann, da war keiner seiner Wünsche offen geblieben! Und verdammt noch mal, wieso wurde er immer noch von Ed in die Seite getreten? Er war doch schon wach!

 

„Hör endlich auf, du Schwachkopf! Wir brauchen ihn noch und außerdem mehr als wach kann er nicht werden!“, schnauzte nun Mike Ed an, der anscheinend gar nicht mehr mitbekam, dass er immer noch Tritte in Scotts Seite austeilte. So ein Idiot!

 

Aber Scott musste sich ruhig verhalten und selbst die Füße stillhalten. Er konnte sich an diesem Punkt ihrer Jagd keinen Fehler erlauben. Also stand er schwungvoll auf, was allein schon ausreichte, um Ed ein wenig zu erschrecken. Ed war wirklich nicht der Hellste auf diesem Planeten. Aber leider war er besser im Umgang mit den mitgeführten Waffen, als Scott es war und so wollte er auf keinen Fall eine Auseinandersetzung mit diesem Idioten riskieren. Schließlich hatte er für sich und die süße Lany noch andere Pläne – und was das für Pläne waren – o Mann o Mann!

 

„Und was hat Curtis denn entdeckt?“, fragte Scott Mike.

„Wir sind auf der richtigen Spur … Curtis hat einen Weg gefunden, der nicht in den allgemeinen Karten verzeichnet ist … Anscheinend wurde er von Einheimischen angelegt … Vielleicht sogar von denjenigen, die den Schatz, den wir suchen, versteckt halten … Sobald der Fluss sich wieder beruhigt hat, brechen wir auf. Also packt unseren Kram zusammen und haltet euch bereit! Wir wollen schließlich nicht noch mehr Zeit verlieren!“ Da der Eingang zum Zelt offen stand und alle, Mikes Worte gehört hatten, folgte jeder von ihnen augenblicklich seinen Anweisungen.

 

Tatsächlich dauerte es nur noch ganze zwei Stunden, bis der Fluss wieder auf sein Normalmaß zurückgeschrumpft war. Als sie aufbrachen, war jeder von ihnen von einer gespannten Erwartung ergriffen. Wenn Curtis recht behielt, waren sie dem Schatz bereits schon sehr nah und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihn endlich in Händen halten würden. „Warte! … Warte!! … WARTE!“, war der beständige Gedanke in Scotts Kopf, den er sich – einem Mantra gleich – immer wieder vorsagte. Hoffentlich würden seine Partner ihr Wort halten und ihm anschließend bei der Jagd nach Lany auch wirklich helfen. Aber darüber durfte er sich jetzt noch keine Gedanken machen.

 

Immer weiter drangen sie auf dem fast vollständig verborgenen Pfad in den Dschungel vor – tiefer und tiefer führte sie ihr Weg. Und als sie schon dachten, sie würden doch nur wieder auf Irrwegen wandeln, tat sich vor ihnen plötzlich eine Lichtung auf – die nebenbei bemerkt, ebenfalls auf keiner der Karten verzeichnet war. Froh, anscheinend doch auf der richtigen Spur zu sein, beschlossen sie, hier eine Rast einzulegen und ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Sie waren fast den ganzen Tag hindurch kreuz und quer durch diesen Wald gewandert – da hatten sie sich wirklich eine Pause verdient – zumal die Hitze sie alle langsam aber sicher an ihre Grenzen brachte.

 

Scott kochte gerade etwas Wasser über dem Bunsenbrenner ab, als ihm aus dem Augenwinkel heraus am Rand der Lichtung eine Bewegung, eine Art Schatten auffiel. Doch als er sich in diese Richtung drehte und den Waldrand mit Argusaugen beobachtete, war dort nichts dergleichen mehr zusehen. Schließlich tat er seine Beobachtung mit der Begründung ab, dass ihm wohl die andauernde Hitze einen Streich spielen würde. Doch auch wenn er sich wieder seiner Aufgabe widmete, hatte er doch immer wieder das Gefühl, irgendwer würde sie hier beobachten.

 

Nach dem Essen, als dieses Gefühl ihn immer noch heimsuchte, teilte er seine Beobachtung Mike mit. Schließlich war er der Anführer der Gruppe und wesentlich erfahrener als Jäger in einem Dschungel, als Scott das von sich behaupten konnte. So unauffällig, wie möglich suchte Mike nun seinerseits den Waldrand mit seinen Augen ab und gab seinen Männern ein Zeichen, sich ebenfalls unauffällig umzuschauen und auf jede noch so kleine Bewegung zu achten. Schließlich wusste man nie, was einen in solch einem Dschungel erwarten konnte und seien es nur andere Jäger, die ebenfalls auf der Jagd nach diesem verdammten Schatz waren.

Doch als auch nach Stunden keinem von ihnen etwas Ungewöhnliches auffiel, tat Mike Scotts Befürchtung mit einem süffisanten Lächeln und der Bemerkung ab, dass er wohl schon Gespenster sehe und sich nicht, wie ein Mädchen verhalten solle.

 

Dies brachte Scott natürlich zum Schäumen, aber so viel Selbstbeherrschung hatte er schließlich doch noch, sich nicht mit Mike hier und jetzt anzulegen.

 

Mike war es schließlich auch, der beschloss, dass sie erst am folgenden Tag weitergehen und die Nacht hier auf dieser Lichtung verbringen würden. Aber auch dazu sagte Scott nichts, sondern ging nur ein weiteres Mal alle möglichen Varianten durch, die ihm im Anschluss an seine bald erfolgreiche Jagd offen standen, um es diesen Idioten von Jägern gebührend heimzuzahlen. Und umso mehr Ideen er entwickelte, umso blutiger wurden sie. Jetzt war aber erst einmal Schlafenszeit und die würde er sicherlich nicht damit vergeuden, seine Kräfte für irgendwelche Zukunftsmusik zu opfern, wenn er sie doch noch so dringend für die süße, anbetungswürdige Lany benötigte. Also kroch er ebenfalls in sein Zelt, in seinen Schlafsack und driftete augenblicklich wieder ins Land der Träume ab – und was für Träume das wieder mal waren!

 

Und nachdem auch der letzte der Jagdgemeinschaft eingeschlafen war, bekam wirklich niemand von ihnen mehr etwas mit. Wie Schatten strömten sie aus dem Wald und schlichen sich ins Lager. Ihr Auftrag war es, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, zu sabotieren, wo es nur möglich war und dann wieder zu verschwinden. Alles andere würde später erfolgen. Als sie schließlich ihre Mission erfolgreich beendet hatten, verschwanden sie genauso lautlos, wie zuvor und verschmolzen mit den Schatten des nächtlichen Dschungels. Keiner der Schlafenden ahnte auch nur etwas von ihren nächtlichen Besuchern … Es war einfach perfekt!

Kapitel 14 – Die Katze ist aus dem Sack

„Wo ist sie?“, brüllte Warren mittlerweile vollkommen außer sich. Er war doch wirklich nicht lange fort gewesen. Und als er zurückkam, waren Lany und sein Vater verschwunden – einfach so. Das konnte sein alter Herr doch nicht machen – Clanoberhaupt hin oder her. Warren steigerte sich immer weiter in dieses ihm unbekannte Gefühl hinein. Was war nur los mit ihm. Er wusste doch, dass Lany bei seinem Vater nicht in Gefahr war. Und trotzdem – aus einem ursprünglichen, sehr tief sitzenden Gefühl heraus wollte er nicht, dass sie mit seinem Vater, nein, eigentlich mit gar keinem anderen Mann, als mit ihm selbst allein unterwegs war.

 

„Warren … Schatz … reg dich nicht auf. Sie kommen doch gleich wieder zurück. Es müsste jetzt wirklich nicht mehr lange dauern …“, versuchte Sarah ihren aufgebrachten Sohn zu beruhigen. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Er handelte vollkommen irrational. So unüberlegt und impulsiv war er normalerweise nicht. Dies konnte eigentlich nur eines bedeuten, aber warum sollte er ausgerechnet so auf seinen eigenen Vater reagieren? Ephraim würde doch nie im Leben auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, schließlich war er schon seit Jahren nicht mehr ungebunden. „Mein Kleiner, nun beruhige dich doch endlich! Du verhältst dich ja gerade so, als wärest du auf deinen Vater eifersüchtig!“ so nun war es raus, nun hatte sie es doch gesagt, aber Warren forderte es ja auch geradezu heraus.

 

„Eifersüchtig? … Mom – verflucht noch mal – wie kommst du nur darauf? Ich bin doch nicht eifersüchtig! Wie käme ich denn dazu? … Ich mag es einfach nicht, wenn Lany mit ihm allein da draußen irgendwo rumstreunt und wer weiß, was alles passieren kann! Das geht so einfach nicht! Punkt! Aus!“ Warren merkte selbst, wie er sich um Kopf und Kragen redete, denn eigentlich hatte seine Mutter recht, und dass es Eifersucht war, war ihm in dem Moment klar, in dem er das Wort selbst ausgesprochen hatte.

 

 „Ich denke, dein Vater wollte sie lieber allein in alles einweihen und ihr so einfach ein bisschen Zeit geben, mit sich selbst und dem, was er ihr zu sagen hat, ins Reine zu kommen … Warren, du müsstest deinen Vater doch wirklich besser kennen! … Komm, setz dich zu uns auf die Terrasse und trink erst einmal einen schönen frischen Tee … Na? Was hältst du davon? … Extra nur für dich aufgebrüht – so, wie du ihn magst …“ lockte Sarah ihren Sohn und wedelte mit dem frischen Tee vor seiner Nase herum.

 

Ach verdammt! Seine Mutter wusste auch immer wieder, wie sie ihn rumkriegen konnte und er hasste es zutiefst, dass sie seine bisher einzige Schwäche dermaßen gegen ihn verwendete. Aber sie hatte nun einmal auch recht damit. Im Moment konnte er rein gar nichts dagegen machen. Natürlich könnte er ihnen hinterher laufen, sie quer durch den ganzen Dschungel verfolgen und Lany damit garantiert einen riesigen und bleibenden Schrecken einjagen … natürlich könnte er das!

 

Aber was wäre dann? Würde er dann je eine Chance bei dieser wundervollen Frau haben? Bis vor Kurzem hatte er sich noch nicht einmal getraut, überhaupt daran zu denken, dass sie sich vielleicht für ihn und ein Leben hier in Brasilien entscheiden könnte. Doch jetzt war alles anders. Jetzt wusste er, dass sie durch Nathan zum Clan gehörte, wenn sie auch durch die Gene ihrer Mutter wahrscheinlich rein menschlich war.

 

Aber so gab es für sie beide zumindest eine verschwindend geringe Chance, dass sie zusammen sein konnten. Hauptsache niemandem von ihnen würde irgendwann der wahre Gefährte über den Weg laufen. Das würde er ihr niemals zumuten wollen, geschweige denn selbst ertragen können. Aber allein schon diese eine winzige Chance ließ sein Herz vor Aufregung schneller schlagen.

 

Der Tee und das leicht dahin schwappende, oberflächliche Geplauder von seiner Mutter und Nathan hatten es schließlich geschafft, dass Warren sich endlich etwas entspannte. Doch schon im nächsten Moment bemerkte er eine Veränderung an seiner Mutter. Durch die Vertrautheit zwischen ihnen wusste er auch, dass gerade sein Vater über die Gefährten-Verbindung Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, und wartete nun ab, was sie ihm gleich erzählen würde.

 

„Sie kommen zurück … Oh Götter sei Dank, sie hat es gut aufgenommen … es ist alles in Ordnung! … Ephraim meint, es wird wohl eine Überraschung für uns geben, aber mehr wollte er jetzt nicht sagen.“ berichtete Sarah gerade, als Warren auch schon die Witterung seines Vaters aufnahm. Eigenartig war nur, dass er allein zu sein schien. Hatte seine Mutter nicht gerade noch gesagt, dass sie beide zurückkommen würden? Kaum hatte er darüber nachgedacht, tauchte nun doch noch ein weiterer Geruch auf. Dieser gehörte aber ganz eindeutig ebenfalls nicht zu seiner Lany, sondern zu seinem kleinen Bruder, Jack. Was war hier los?

 

Jack, der sich schon immer ziemlich schnell auf neue und auch ungewöhnliche Begebenheiten hatte einstellen können, brauchte auch dieses Mal nur Sekunden, um die gesamte Situation zu erfassen und im wahrsten Sinne des Wortes, zu verdauen.

 

Eigentlich war er auf dem Weg zu Warren, um ihm von dem nächtlichen Besuch, den sie der Jagdgemeinschaft abgestattet hatten, zu berichten, als er auf dem Weg dorthin seinem Vater und unglaublicher Weise auch der süßen Lany begegnete. Und kleiner Junge, wie er manchmal eben immer noch war, musste er einfach vorlaufen und seinem großen Bruder brühwarm unter die Nase reiben, was er soeben entdeckt hatte.

 

Ephraim konnte und wollte ihn auch gar nicht daran hindern. Warren würde sich schon selbst darum kümmern und außerdem musste er hier auf Lany aufpassen. Sie war einfach zu wertvoll, zu einmalig, als dass ihr in den ersten Momenten ihres neuen Lebens etwas zustieße. Und sollte noch irgendjemand Zweifel daran gehabt haben, dass Lany diejenige war, die sie sein sollte, der wäre spätestens jetzt von Lanys Identität überzeugt.

 

„Warren! … Unglaublich … einfach unglaublich!“, brüllte Jack bereits beim Erklimmen des Baumes zum Haus herauf.

 

 „Jack, was gibt es? Was ist los?“, fragte Warren und zügelte mit großer Anstrengung seine eigene Aufregung. Er wollte sich nicht auf dieses alte Spielchen zwischen seinem Bruder und ihm einlassen und Jack somit die Genugtuung gönnen, nach der er ganz offensichtlich strebte. Und außerdem war es jetzt sowieso erst einmal wichtiger, herauszufinden, wo Lany abgeblieben war.

 

Doch bevor Jack auch nur einen Ton herausbringen konnte, kam auch schon Ephraim über die Terrassen-Reling geklettert und sah seine beiden Söhne eindringlich an. Allein dieser eine Blick von ihm demonstrierte sehr eindrucksvoll, warum er der Alpha-Mann des Clans war und Warren bezweifelte einmal mehr, jemals so viel Autorität, Kraft und Macht ausstrahlen zu können, um seinem Vater das Wasser zu reichen.

 

Trotzdem musste Warren sich dem jetzt widersetzen – es war ein innerer Drang, der ihn weitaus mehr zwang ihm zu folgen, als dem stummen Befehl seines Vaters. „Dad, wo ist Lany?“, kam seine Frage zu seinem eigenen Erstaunen fest und klar heraus. Den bestürzten Blick, den seine Mutter ihm zuwarf, ignorierte er. Nichts und niemand würde ihn jetzt davon abhalten, zu erfahren, was mit seiner Lany passiert war – auch nicht sein Vater!

 

Nach einem kurzen Moment des gegenseitigen Anstierens bekam Ephraim heute schon den zweiten, ihn alles durchschüttelnden Lachanfall. „Sarah, mein Schatz, es ist so weit. Endlich!“, mehr konnte er beim besten Willen im Moment nicht herausbringen. Und auf allen Gesichtern, außer bei Sarah, zeigte sich die gleiche Verwirrung über das momentane Verhalten ihres Clanführers.

 

Sarah aber musste nun auch schmunzeln. Sie ging zu ihrem Gefährten und umarmte ihn – auch sie war in diesem Moment überglücklich – hatte sie doch immer angenommen, dass, wenn dieser Tag irgendwann kommen würde, ihr Gefährte es ganz und gar nicht gut aufnehmen würde. Doch so, wie die Lage schien, würde alles mal wieder ganz anders laufen, wie ursprünglich gedacht. Typisch!

Kapitel 15 – Durch andere Augen

Es war alles so vollkommen anders, so wunderbar und berauschend, dass Lany hier und da stehen blieb und ihre Umgebung durch ihre neuen Augen betrachtete. Die zahlreichen Geräusche, die sie in ihrer jetzigen Gestalt hören konnte und die viel tausend unterschiedlichen Gerüche, die um sie herum waren, lockten sie immer weiter. Natürlich verlor sie nicht einen Moment ihren Begleiter aus den Augen, und selbst wenn er mal nicht mehr zu sehen war, hatte sie sich seinen Geruch so gut eingeprägt, dass sie ihn immer gleich wiederfinden konnte.

 

Sie fühlte sich wie neugeboren und wollte am besten alles auf einmal entdecken, erkunden und erleben. Mit ihrer Nase konnte sie selbst die kleinsten und verstecktesten Tiere aufspüren und es machte ihr erstaunlicherweise einen riesigen Spaß, diesen Tierchen einen kleinen Schrecken einzujagen, indem sie ihnen hinterherjagte.

 

Als sie dann aber das nächste Mal die Nase in den kaum vorhandenen Wind streckte, nahm sie einen außergewöhnlichen Geruch war. Dieser war so unglaublich anders, als alles was sie bisher wahrgenommen hatte. Er war wie warme, dunkle Schokolade, die mit einem Schuss Vanillesoße übergossen worden war … mmh … einfach nur lecker, aber wo kam dieser Geruch her?

 

Sie bezweifelte, dass hier irgendwo im tiefsten Dschungel irgendjemand so etwas zubereitete oder auch nur dabei hatte. Und sollte es sie in ihrer derzeitigen Gestalt nicht eher nach rohem, blutigem Fleisch dürsten, als nach so etwas? Ohne auch nur das Geringste dagegen machen zu können, folgte sie diesem unwiderstehlichen Duft, der sie immer weiter lockte … ihr schmeichelte … sie vollkommen umhüllte.

 

Plötzlich erschien direkt vor Ephraim Jack, der augenblicklich, aber schlingernd vor seinem Vater zum Stehen kam. Glücklicherweise war Lany noch einige Meter von den beiden entfernt, denn sie hatte sich fürchterlich erschrocken und wäre ihn wahrscheinlich aus einem Impuls heraus angesprungen. Doch so hatte sie genügend Gelegenheit sich wieder zu fangen, bevor auch sie zu den beiden Männern herantrat.

 

Ein kurzes überraschtes Leuchten erschien in Jacks Augen, bevor dieses durch ein breites Grinsen ersetzt wurde. Auch er trat genauso langsam und vorsichtig, wie zuvor Ephraim es getan hatte, an Lany heran, um ihr schon im nächsten Moment sanft, und voller Bewunderung über das seidige Fell zu streichen.

 

Dann war der Moment auch schon verflogen. Fast so, als wäre er von einer Hornisse gestochen worden, wandte sich Jack mit einem diabolischen Lächeln im Gesicht um und rannte in einem halsbrecherischen Tempo davon. Als Lany Ephraim anschaute, schüttelte dieser nur mit einem wissenden Lächeln seinen Kopf und ging ebenfalls in dieselbe Richtung.

 

Es dauerte auch nur noch wenige Augenblicke und Lany konnte in einiger Entfernung Warrens Haus auf dem mächtigen alten Baum erkennen. Auch war es ihr hier bereits möglich, Jacks aufgeregte Stimme zu hören, wie er anscheinend seinen großen Bruder versuchte aufzuziehen.

 

Doch das alles interessierte sie schon wieder kein bisschen. Viel wichtiger war, dass dieser betörende Duft hier eine Intensität angenommen hatte, die schon fast nicht mehr zum Aushalten war. Gerade noch nebenbei bekam sie mit, wie nun auch Ephraim an dem hohen Baum empor kletterte und wie oben, anscheinend auf der Terrasse, ein tiefes und sehr machtvolles Knurren zu hören war. Keine Sekunde später verstummte fast der ganze Wald um sie herum.

 

Doch auch wenn Lany die machtvolle und dominante Schwingung in diesem Knurren wahrnahm, hatte diese anscheinend keine besondere Wirkung auf sie. Aber verdammt noch mal, dieser Geruch bewirkte etwas, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Inzwischen war sie, ohne es zu bemerken, direkt unter dem Baum angekommen und der Geruch war nochmals um ein Vielfaches stärker geworden, als sie über sich die Stimme von Warren hörte.

 

Im Gegensatz zu den anderen hatte er seine Stimme anscheinend nicht verloren. Ganz im Gegenteil strahlte sie in diesem Moment ebenso viel Macht und Dominanz aus, wie zuvor das bestimmende Knurren. Lany hörte, wie Warren seinen Vater nach ihrem Verbleib fragte. In seiner Stimme schwang unüberhörbar eine tiefe Sorge um sie, um Lany mit und bewegte etwas ganz tief in ihrem Herzen.

 

Dieser eine Moment blendete sogar für wenige Sekunden den wahrhaftigen Zwang, den dieser Geruch auf sie auswirkte, aus, nur um anschließend mit voller Wucht zu ihr zurückzukehren. Ohne lange zu überlegen, kletterte auch sie nun auf dem Baum nach oben. Der Geruch führte eindeutig dort hinauf, und wenn sie dort nicht den Ursprung dessen finden sollte, was sie hier lockte, so würde sie auf jeden Fall weitersuchen – komme, was wolle.

Kapitel 16 – Aus zwei mach eins

Umso höher Lany auf den Baum kletterte, umso leichter fiel es ihr dem berauschenden Geruch, dieser alles betörenden Sinnesverlockung zu folgen. Ohne Schwierigkeiten las sie die Spur, wie in einem spannenden Kriminalroman. Ihr Jagdinstinkt war erwacht, doch nicht auf blutrünstige Weise. Dieser Instinkt weckte eine ganz andere Regung in ihr - sie wollte spielen und noch eine andere, tiefere Empfindung regte sich in ihr - totale, absolute Besitzgier.

 

Ganz am Rande ihrer Jagd ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie solche Gefühle in ihrem bisherigen Leben nicht kannte. Die Art dieser Gefühle war so neu und überwältigend, dass sie kurz vor ihrem Ziel nochmals innehalten musste, um sich ihrer neuen Gedankenwelt vollkommen bewusst zu werden.

 

Vielleicht wüsste sie dann auch, auf was sie ihren Besitz so dringend anmeldete? Was könnte es sein, was sie so intensiv begehrte, dass sie an fast nichts anderes mehr denken konnte? Und mindestens genauso wichtig: Würde es ab heute, da sie ihre wahre Natur entdeckt hatte, fortan immer so sein? Oh Mann, dass würde sicherlich eine Menge Probleme für sie bedeuten. Vor allem, wenn sie wieder zu Hause und zurück in ihrem Job wäre.

 

Diesem Gedanken folgte sogleich ein weiterer: Würde sie überhaupt jemals wieder in ihr altes Leben, ihren Job und alles, was sie früher ausmachte zurückkehren können?

 

Da sich die letzten Fragen erst einmal nicht beantworten ließen, kehrte sie zu ihrer eigentlichen Ausgangsfrage zurück: Was roch hier so verdammt lecker?

 

Kaum hatte sie diese Frage zu Ende gedacht, kehrte ihr Jagdinstinkt mit voller Wucht zurück. Alle ihre Sinne waren nun nur noch auf die Beantwortung dieser einen, essenziellen Frage ausgerichtet und das hieß, sie musste ihren Weg endlich fortsetzen und hier nicht zwanzig Meter über dem Erdboden an einem Baum hängen und grübeln. Also kletterte sie weiter empor und nach nur wenigen Metern hatte sie das Baumhaus endlich erreicht.

 

Langsam schlich sie dem Geruch nach, der auf der großen Terrasse tatsächlich seinen Ursprung zu haben schien. Ihre Bewegungen waren lautlos. Die samtigen Pfoten machten keinerlei Geräusche und auch ihre Atmung war in den Jagdmodus gewechselt, sodass selbst ihr Herzschlag extrem langsam und kontrolliert war.

 

Niemand schien sie von den Anwesenden zu bemerken. Sie alle waren auf Warren und Jack konzentriert. Warren schien seinem Bruder am liebsten das Fell über die Ohren ziehen zu wollen, doch er hielt sich mit äußerster Anstrengung zurück. Und warum ging eigentlich Ephraim nicht dazwischen? Wollte er unbedingt, dass seine Söhne sich stritten und wer weiß, was passieren konnte? Nein, so schätzte sie den Clanführer eigentlich überhaupt nicht ein. Aber warum verhielt er sich dann so still, die Arme nur liebevoll um seine zierliche Gefährtin geschlungen?

 

Doch eigentlich war es nichts, was Lany im Moment wissen musste, auch wenn es sich am Rande ihres eigentlichen Denkens in ihren Kopf einbrannte. Je näher sie der Gruppe kam, der auch ihr Vater nach wie vor angehörte, desto mehr steigerte sich der verführerische Geruch in seiner Intensität.

 

Mittlerweile war sie keinen Meter hinter Warren zum Stehen gekommen. Die anderen, wenn sie sie denn bemerkt hatte, zeigten keine Regung, die Lanys Anwesenheit hätte verraten können. Machten sie das mit Absicht - schließlich hätten sie sie alle inzwischen wittern müssen - oder waren sie doch zu sehr mit den beiden Kampfhähnen beschäftigt, dass sie sie tatsächlich nicht bemerkten?

 

Sie konnte es fast nicht glauben, aber je näher sie der Gruppe gekommen war, desto mehr hatte sich auch der Geruch verstärkt. Und nach und nach fielen ihr darin noch mehr Nuancen auf, die ihr aber nicht minder gut gefielen. Es war eine faszinierende Mischung von Düften, die sofort die dazu passenden Bilder in ihren Kopf projizierten.

 

Einer davon ließ in ihr den Gedanken an von der Sonne gewärmte Haut, die noch kurz zuvor in den Fluten des Atlantiks geschwommen war, entstehen. Ein anderer ließ sie an einen warmen Frühlingsmorgen und den Geruch von taufeuchtem Gras nach einem Hitzegewitter denken. Und all diese Gerüche mischten sich mit dem, der am intensivsten hervorstach - dunkle, warme Schokolade mit sahniger, saftig gelber Vanillesoße ... mmh, lecker!

 

Plötzlich, als hätte jemand ihr eine Augenbinde abgenommen, die sie die ganze Zeit über blind gemacht hatte, erkannte sie den Ursprung dieser Verlockung so glasklar, als hielte sie ein Vergrößerungsglas über eine winzige Ameise. Warren! Warren strömte diesen unbeschreiblichen Duft aus und in ihr regte sich abermals, nur noch stärker der Wunsch, ihn zu besitzen. Sich in seinem Duft zu aalen. Ihn überall an ihrem Körper anhaften zu haben, ihn zu kosten und ihn ganz allein für sich zu beanspruchen, ihn zu markieren, sodass niemand anderes auch nur auf den Gedanken kam, ihn ihr wegzuschnappen. Sie würde ihn, den wertvollsten aller Schätze schützen und wenn es sein musste, auch mit ihrem Leben verteidigen. Es war essenziell, dass ihm nie und nimmer etwas zustieße, dafür würde sie schon sorgen.

 

In ihren inneren Dialog vertieft, war sie Stück für Stück weiter an ihn herangetreten, wie von einer unsichtbaren Verbindung gezogen, sodass ihre Nase nun keine zehn Zentimeter mehr von ihm entfernt war. So tief sie konnte, zog sie diesen vollen und unglaublich leckeren Duft ein. Prägte sich jedes noch so kleine Detail, jede winzige Nuance ein, bis sie glaubte, ihre Nase würde gleich explodieren. Und leider tat sie das auch. Ohne weitere Vorwarnung musste Lany plötzlich niesen. Nur, dass es eben nicht das Niesen eines Menschen war, den alle Anwesenden nun hörten.

 

***

 

Ein prustendes Fauchen erscholl plötzlich und ohne Vorwarnung hinter Warren. Er war so sehr auf seinen Bruder fixiert gewesen, dass er nichts um sich herum wahrgenommen hatte. Ein großer Fehler, wie sich nun herausstellte. Schließlich hatte sich jemand unbemerkt an ihn und seine Familie heranschleichen können. Wie gut musste dieser jemand sein, denn selbst sein Vater und auch alle anderen wirkten genauso überrascht, wenn nicht sogar teilweise geschockt, wie er.

 

Seine Instinkte meldeten sich augenblicklich. Er schien dem Angreifer am Dichtesten zu sein und er musste die Seinen beschützen. Aber warum konnte er diesen Eindringling nicht riechen? Langsam, mit mehr als bedächtigen Bewegungen drehte Warren sich zu demjenigen um, der sich momentan hinter seinem Rücken befand. Es war in diesem Moment nicht wichtig, wie seine Familie reagierte. Er war einer der Wächter seines Clans. Er war der Thronfolger. Und hier und jetzt musste er seinen Mann stehen und schützen, was es zu schützen galt. Seine Familie.

 

Was ihn hinter seinem Rücken erwartete, verschlug ihm allerdings den Atem. Nur wenige Zentimeter von ihm entfernt saß ein weiblicher Panther – mit seidig schwarzem Fell – auf seinem Hintern und versuchte mit einer ihrer Vorderpfoten etwas unbeholfen und unglaublich entzückend zugleich, sich die Schnauze zu reiben oder die Nase zuzuhalten ... was auch immer, aber es entlockte Warren ein herzhaftes Lachen. Dieses Kätzchen stellte keine Gefahr für ihn und seine Familie dar. Sie war wahrscheinlich für sich selbst die größte Bedrohung - so unkonzentriert und auf sich und ein unglaublich süßes, tierisches Niesen konzentriert.

 

Die Aufmerksamkeit aller war nun auf sie gerichtet. Doch was machte sie? Es schien sie nicht im Geringsten zu stören. Lieber versuchte sie weiter, sich die Nase mit ihrer Pfote zu reiben und sah dabei immer mehr frustriert aus. Als sie anscheinend dieses schwierige Unterfangen aufgab und ihren Blick hob, konnte er in das unglaublichste Paar Augen blicken, dass er je gesehen hat. Und trotz dem er sie nach wie vor nicht an ihrem Geruch identifizieren konnte, kamen ihm diese Augen, dieser Blick irgendwie vertraut vor.

 

Und da sie keine Anstalten machte, ihn oder irgendjemanden aus der Gruppe anzugreifen, drehte sich Warren mit einem fragenden Blick halb zu seinem Vater um. Und was er da sah, ließ ihn vor Überraschung etwas zusammenzucken. Sein Vater, der große, mächtige und stets vollkommen ernste Clanführer lachte und seine Augen sprühten nur so vor Freude.

 

"Ich wollte es dir ja erzählen ... wollte es ja sagen, aber keiner lässt mich! Nie lasst ihr mich was erzählen ... immer soll ich still sein ... das reicht mir langsam!", plapperte Jack nun ganz aufgeregt vor sich hin. "Hättest du mir zugehört, Warren, dann wärest du jetzt nicht so baff! Aber nein, mein großer Bruder muss sich wieder als Boss aufspielen und ich darf nix erzählen. Aber jetzt hast du es. Und dein Gesicht in diesem Moment ist echt mehr als alles Gold der Welt wert!"

 

Warren ließ seinen Blick zwischen allen Anwesenden hin und her schweifen. Er kapierte einfach immer noch nicht, was hier vor sich ging und wieso um alles in der Welt, jeder von ihnen mehr zu wissen schien, als er selbst. Wer war dieses wunderschöne Panther-Weibchen und wieso konnte er sie nicht riechen. Sie saß doch unmittelbar vor ihm und trotzdem strömte sie keinerlei Geruch aus, der sie hätte identifizieren können.

 

Er wusste, dass es in seinem Clan kein schwarzes Panther-Weibchen gab. Alle waren normal gemustert, wie eben Jaguare aussahen. Und selbst unter den Männchen war dies eine Seltenheit. Nur er selbst war einer der seltenen schwarzen Panther. Also wer war sie?

 

Umso mehr er sie ansah und über ihre Identität nachdachte, desto mehr geriet alles andere in den Hintergrund. Er nahm nichts mehr wahr, nur noch sie. Sein Fokus lag allein auf diesem fremden Weibchen, die nach wie vor entspannt, und ohne Scheu vor ihm auf dem Boden saß. Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten ihn mit einer Mischung aus Neugierde und noch etwas anderem, dass er nicht richtig zu fassen bekam, an. War es Gier?

 

Ihr Blick nagelte ihn an Ort und Stelle fest. Er konnte und wollte sich nicht bewegen. In ihm regten sich Gefühle, die anscheinend den gleichen Ursprung hatten, wie sie aus ihrem eigenen Blick sprachen - Besitzgier. Dies war aber nur möglich, wenn ... Oh Götter! Sollte es möglich sein und hier vor ihm tatsächlich seine wahre und einzige Gefährtin, seine Seelenverwandte sitzen?

 

Nie hätte er gedacht, dass ihm dies so schnell geschehen könnte und mit ehrlichem Bedauern dachte er an Lany. Was würde nun aus ihr werden? Was würde sie nun von ihm halten? Aber dem Ruf eines wahren Gefährten konnte man sich nicht entziehen und so musste auch er sich dem uralten Gesetz beugen, auch wenn es Lany und auch ihm wahrscheinlich das Herz brechen würde.

 

Während ihm gerade noch diese Gedanken durch den Kopf strichen, strich etwas anderes plötzlich an seinem Bein entlang. Das Weibchen war aufgestanden und schmiegte nun voller Sanftheit ihren Kopf an seine Seite. Er konnte gar nicht anders, als ihr prächtiges Fell, die Anmut ihrer Bewegungen und das warme und brennende Bedürfnis, dass sie in ihm weckte zu bewundern. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

 

Sie nahm seinen gesamten Geist, sein ganzes Sein ein - füllte ihn vollkommen aus. Zärtlich strich er ihr mit einer Hand über den Kopf und folgte ihrem Rückgrat runter bis zum Schwanz, der aufreizend langsam hin und her zuckte. Ein tiefes, wohliges Schnurren entrang sich ihrer Kehle.

 

Im nächsten Moment zupften ihre Zähne spielerisch an seinem Hosenbein und ihre Pfote schlug auffordernd nach seinen Füßen. Ganz klar! Sie wollte spielen und nichts und niemand würde ihn jetzt davon abhalten, ihr das zu geben, was sie begehrte. Ohne auf die anderen, die wahrscheinlich immer noch da waren, zu achten, verwandelte er sich kurzerhand ebenfalls in sein tierisches Selbst, um sie dann seinerseits zum Spielen aufzufordern.

 

Ganz am Rande seines Verstandes bemerkte er, dass er noch immer nicht ihren Geruch wahrnehmen konnte, aber sein Spieltrieb und der langsam erwachende Jagdinstinkt lenkten ihn von diesem Gedanken schon wieder ab, bevor er sich auch nur festsetzen konnte. Und schon ging die Jagd los. Sie umkreisten einander, schlugen hin und wieder mit den Pfoten nach dem jeweils anderen und täuschten Scheinangriffe vor. Das Ganze ging nur ein paar wenige Minuten – dann, wie vom Blitz getroffen, sprang seine Gefährtin in hohem Bogen von der Terrasse herunter.

 

In einem seiner Gedankengänge hoffte er, dass sie einen Halt vor ihrem Sturz gefunden hatte, doch dieser verschwand ebenso schnell wieder, wie alle anderen Eindrücke, die nichts mit ihr direkt zu tun hatten. Im nächsten Moment sprang er ihr auch schon nach und freute sich über die sich ihm bietende Chance zur Jagd. Erst recht, da ihn solche reizenden Aussichten erwarteten, wenn er sie erst einmal zur Strecke gebracht hatte.

 

Ohne es zu ahnen, hatte in diesen Sekunden das heilige Ritual der Gefährten für sie beide begonnen, zu dessen Ende hin, sie eine unzerreißbare Verbindung ein Leben lang und wahrscheinlich darüber hinaus verband. Und früher oder später würden aus dieser Verbindung die Nachkommen des Clans entstehen, die ihrerseits ihrer Bestimmung folgen würden. So war es schon immer und so würde es auch immer weiter gehen ... bis in alle Zeiten.

 

***

 

Er schien sie wirklich nicht erkannt zu haben und genau das reizte sie am Meisten an ihrem Spiel, dass sie zu genießen beschlossen hatte. Er war auf ihre spielerische Aufforderung eingegangen und nun verfolgte er sie quer durch den Wald. Hin und wieder erwischte er sie fast, doch manchmal lief er auch an ihr vorbei, als würde er sie nicht wittern können, und wie ein naives Kätzchen in den Milchtopf fallen. Dann saß sie still in ihrem Versteck und bewunderte das Prachtexemplar eines männlichen schwarzen Panthers. Es war unglaublich. Sie begehrte dieses wunderschöne Tier mit jeder Faser, mit jedem Sinn ihres Seins.

 

Doch sie wollte noch immer spielen. Der Drang danach war so stark, dass sie ihm einfach nicht widerstehen konnte. Also preschte sie immer wieder aus ihren Verstecken hervor und lief kurz vor seiner Nase entlang, damit er wieder ihrer Richtung folgen konnte.

 

Ohne es wirklich zu wollen oder überhaupt bemerkt zu haben, hatte sie ihr Weg immer tiefer in den Dschungel hineingeführt, bis zu einem Ort, der vor Magie nur so zu schwingen schien. Als sie zwischen den Bäumen hervortrat, breitete sich vor ihr eine Art Lichtung aus, die trotz allem von den hohen Bäumen und ihren Kronen verdeckt wurde. Wahrscheinlich würde niemand in einem darüber fliegenden Flugzeug diesen verwunschenen Ort je entdecken können.

 

Auf der anderen Seite dieser Lichtung türmten sich schroffe Felssteine empor, aus denen Wasser hervorquoll und sich in einem üppigen Wasserfall hinab in einem kleinen See sammelte. Um den See herum standen, einem anscheinend geheimen Muster folgend, fünf aufrecht stehende Steinsäulen. Lany ging vorsichtig näher, zu fasziniert von diesem Ort, um noch weiter an ihr gemeinsames Jagdspiel mit Warren zu denken.

 

Sie blieb direkt vor dem See stehen. Hier erkannte sie, dass in jeder der fünf Säulen ein anderes geheimnisvolles Zeichen eingraviert war. Dies musste also von Menschenhand erschaffen worden sein. Und als sie sich weiter umblickte, konnte sie hinter dem Wasserfall eine Art Öffnung erkennen. War da etwa eine Höhle hinter?

 

Ohne ihre Neugierde zügeln zu können, begab sich Lany in den See. Immer tiefer und tiefer, bis sie in ihrer tierischen Gestalt keinen Boden mehr unter den Pfoten spüren konnte. Ohne große Anstrengungen verwandelte sie sich zurück in einen Menschen und watete weiter hinüber zum Wasserfall. Es war, als würde sie von diesem Ort magisch angezogen werden.

 

Doch kaum hatte sie die Mitte des Sees erreicht, wurde sie von einer unsichtbaren Barriere genau an Ort und Stelle festgehalten. Sie konnte weder vor noch zurück und im ersten Moment schnürte ihr ihre Angst die Luft zum Atmen ab. Doch als sie spürte, dass anscheinend nichts weiter geschah, versuchte sie sich zu entspannen. Es würde ihr nichts bringen, wieder in ihr altes Muster zurück zu verfallen. Jetzt mit dem Wissen über ihre wahre Natur hatte sich ihr früheres Selbstvertrauen stärker als je zuvor, zurückgemeldet.

 

Sie musste sich entspannen. Dies sagte sie sich in Gedanken wie ein stetiges Mantra vor. Und tatsächlich funktionierte es. Stück für Stück entspannten sich ihre Muskeln. Stück für Stück wich jegliche Angst, Besorgnis, Anspannung und jeder noch so negative Gedanke von ihr. Sie schien geradezu mit dem Wasser, mit diesem Ort zu verschmelzen. Sie WAR nun das Wasser, die Felsen, das Gras, die Bäume und die Luft um sie herum.

 

Es war ein berauschendes Gefühl. Euphorie erfasste ihr ganzes Selbst. Und ein Gedanke suchte sich seinen Weg von den tiefsten Tiefen ihrer Seele empor an die Oberfläche: zu Hause! Endlich war sie zu Hause. Heimgekehrt zu ihrem Ursprung, zu ihrer Bestimmung, ihrem wahren Selbst. Nichts hätte sie auf diese Erkenntnis, diese Gefühle vorbereiten können und mit einer alles durchdringenden Freude warf sie ihre Arme empor gen Himmel und ließ einen Freudenschrei, der halb Mensch, halb Tier war durch den Dschungel hallen.

 

***

 

Es konnte doch nicht wahr sein, ständig trickste sie ihn aus, versteckte sich geschickt und sehr effektiv vor ihm. Schließlich war er immer noch nicht in der Lage, sie anhand ihres Geruches ausfindig zu machen, aber gerade dieser Nervenkitzel spornte ihn weiter an, seine Beute zu verfolgen.

 

Sein Blut wallte heiß durch seine Adern. Er spürte mit jedem Atemzug die zunehmende Begierde, sie endlich als die Seine in Besitz zu nehmen und für jeden anderen wahrnehmbar zu markieren. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten können und wehe es sollte doch jemand versuchen. Er wüsste genau, was er mit demjenigen anstellen würde.

 

Noch immer suchend und teilweise in seine eigenen Gedanken vertieft, erschrak er ein wenig, als dieses wunderschöne Weibchen über seinen Weg sprang und wieder in den Tiefen des Waldes verschwand, wie ein Phantom in dunkler Nacht. Doch nicht mit ihm!

 

Dieses Mal würde er sie nicht aus den Augen verlieren. Nein, dieses Mal nicht! Gerade als ihm bewusst wurde, wohin sie ihr Weg führte, kam er auch schon schlitternd am Rand der großen Lichtung zum Stehen. Sie war wahrscheinlich ohne es zu wissen, direkt auf das große Geheimnis gestoßen, welches sein Clan mit aller Macht versuchte vor der Außenwelt zu schützen. Sie hatte den geheimen Pfad gefunden, hin zum Ursprung allen Seins.

 

Hier war der Quell allen Lebens. Der heiligste aller Orte. Und der Clan der Panthera war allein dazu geschaffen worden, um dieses Heiligtum zu schützen. Sie meisterten ihre Aufgabe so gut, dass dieser Ort bereits seit Jahrtausenden ein wohl behütetes Geheimnis war. Denn würde irgendjemand außerhalb seines Clans jemals hierher gelangen, würde den immensen Schatz entdecken, den er barg, würde die Welt, so wie sie war, aufhören zu existieren.

 

Doch es war kein Problem, dass sie diesen Ort entdeckt hatte, schließlich war sie seine Gefährtin und würde diesen Ort genauso schützen, wie der Rest des Clans. Doch zuerst musste diese Verbindung endgültig besiegelt werden.

 

Noch während dieser Gedanke in seinem Kopf Fuß fasste, wurde er durch einen Schrei auch schon wieder von ihm fortgerissen. So in seine Gedanken vertieft, hatte er gar nicht mitbekommen, dass sich seine Gefährtin in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt hatte und nun mit weit emporgestreckten Armen und mit ihm zuwandten Rücken in der Mitte des Sees stand. Sie schien keine Schmerzen zu haben. Vielmehr hörte sich der Schrei nach purer und unverfälschter Freude, ja sogar Erleichterung an.

 

So wie sie da in dem See stand, nackt und mit weit bis zu ihren Hüften hinunterfließenden nassen pechschwarzen Haaren, raubte es ihm bei ihrem Anblick den Atem. Heiße Begierde pulsierte durch ihn hindurch, während er Zentimeter für Zentimeter ihrer sahneweißen Haut, die durch die Wassertröpfchen glitzerte wie Abertausende Sterne, mit seinen Augen verschlang.

 

Gerade wollte er zu ihr gehen, als mit einem leisen Zischen aus jedem der fünf Steinsäulen, die um den See herum standen, ein gleißendes Licht hervorschoss, direkt auf die Mitte des Sees zu – direkt zu seiner Gefährtin. Und zwischen ihren Händen der immer noch ausgestreckten Arme trafen diese Lichtstrahlen zusammen ... zischten ... umflossen einander in einem scheinbar ewigen Tanz ... bis sie sich plötzlich zu einem einzigen grellen Lichtball vereinten, der nun wie eine riesige Lichtkugel zwischen ihren Händen pulsierte.

 

Er sah, wie sie ihr Gesicht in Richtung dieser Kugel nach oben richtete und hörte ein kurzes Luftschnappen bevor ihr Atem wieder vollkommen ruhig und anscheinend entspannt zu fließen begann. Den Blick nicht von der Kugel nehmend, bewegte sie ihre Hände dichter zum Licht. In dem Moment, als sie die pulsierende Kugel berührten, schien das Licht in alle Richtungen zu explodieren, um Sekunden später direkt in ihre Hände, in ihren ganzen Körper hineinzufahren.

 

Unschlüssig, ob er ihr helfen solle, blieb Warren am Rande der Lichtung wie angewurzelt stehen und betrachtete das Schauspiel, was sich ihm an diesem Ort bot. Die Kugel war verschwunden, doch das Licht pulsierte nach wie vor, doch nun im Körper dieser atemberaubenden Frau. Er musste sich zwingen einen Schritt vorwärts zu machen, da er nun das bezwingende Bedürfnis hatte, zu ihr zu gehen. Als er seinen Fuß wieder auf dem Boden aufsetzte, drehte sie sich in einer langsam fließenden Bewegung zu ihm um. Ihr Blick bohrte sich in seinen, und als er erkannte, wer da vor ihm stand, konnte er vor Überraschung und Bewunderung nur leise ihren Namen flüstern: „Lany!“

 

Sie blieb genau dort stehen, wo sie war und lockte ihn allein mit ihrem Blick. Diesem Ruf konnte er nicht widerstehen. Er musste zu ihr. Jetzt!

 

Langsam, wie das Tier, das er war, schlich er auf das Wasser zu. Jeder seiner Muskeln war nun angespannt. Jede seiner Bewegungen sandte nur eine Botschaft, er würde seine Beute hier erlegen. Und als auch er keinen Boden mehr unter den Pfoten spüren konnte, verwandelte er sich, genauso wie Lany zuvor es getan hatte, in seine menschliche Gestalt, um sich weiter auf den Mittelpunkt des Sees zu zubewegen.

 

Die ganze Zeit über hielten die beiden den Blickkontakt aufrecht. Als er bei ihr angelangte und sie in eine besitzergreifende Umarmung zog, die von ihr nicht minder stark erwidert wurde, begann sich das geheiligte Band zu knüpfen, das zwei getrennte Seelen zu einer einzigen verband. Als er seine Lippen über ihre streifte und sie sich seinem Kuss ergab, flutete das Licht auch durch ihn, sodass sie einer einzigen Lichtgestalt glichen.

 

Und während das Wasser sie leicht durch seine seichten Wellen trug, verbanden sich schließlich auch ihre Körper in dem ältesten aller Tänze in ihrem ureigenen Rhythmus miteinander, und das heilige Band wurde endgültig geschlossen ... verschweißt und auf ewig versiegelt.

Kapitel 17 – Thronfolge

Der Tag neigte sich dem Abend zu. Lany und Warren lagen aneinander geschmiegt am Ufer des Sees, während Warren mit einer Strähne ihrer Haare spielte. Er konnte es eigentlich immer noch nicht glauben, dass er so viel Glück haben sollte. Doch es war so, unbestreitbar und bestätigt, Lany war seine geheiligte Gefährtin, seine Seelenverwandte und nun waren sie für immer miteinander verbunden. Auch wenn er vorher hätte nie sagen können, wie es wäre auf diese besondere Art an jemanden gebunden zu sein, was man dabei spürte, wie man dann fühlte ... so wusste er es jetzt mit einer Intensität, die ihn früher hätte verbrennen können. Denn er hatte sich immer geweigert, daran zu glauben, dass auch ihm eine Gefährtin vorbestimmt war. Schließlich war er der beste Wächter des Clans. Er war da, um die anderen und ihr Geheimnis zu schützen. Er war allein nur dazu da. Und doch war es so. Lany lag neben ihm, noch vollkommen erschöpft und schläfrig von ihrem gemeinsamen Liebesspiel und genoss es augenscheinlich von ihm gekrault zu werden.

 

Sie hätten hier ewig liegen bleiben können. Immer wieder ihr gemeinsames Spiel aus Jagd, Spiel und Sex wiederholend, aber jetzt, da beide verbunden waren, drängten sich Warren auch wieder seine Pflichten, seine Verantwortung und damit unweigerlich ein Name in seinen Kopf: Scott Whitney. Warren wusste, dass Lany nun außer Gefahr war, nachdem sie ihre tierische Seite entdeckt hatte, aber trotzdem mussten er und die anderen Wachen dafür sorgen, dass Scott und diese Söldner nie ihr Ziel erreichen würden.

 

Lany bekam mit, wie Warrens Gedanken immer mehr abschweiften. Er streichelte zwar immer noch zärtlich durch ihre Haare, aber sein Geist war nicht mehr anwesend, zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Was sie hier noch vor ein paar Stunden und sogar Minuten erlebt hatte, war einfach unbeschreiblich und sie hätte sich liebend gerne noch mehr von diesen unglaublich dekadenten Ausschweifungen hingegeben, aber sie wusste auch, dass nun der Aufbruch nahte. Seit sie in dieses Licht getaucht und es sie schließlich vollkommen ausgefüllt hatte, konnte sie Warrens Gedanken erspüren, als wären es ihre eigenen. Ob er davon Ahnung hatte, wusste sie allerdings nicht. Auch war ihr nicht ganz klar, ob diese Veränderung im Zusammenhang mit der Gefährtenverbindung stand, die sie mit Warren teilte. Aber letztendlich war es auch egal. Wichtig war nur, dass sie ihn spürte und noch bevor er einen Satz sagen konnte, sagte sie "Wir müssen gehen." Es war keine Frage, sondern lediglich eine Feststellung, die Warren neben ihr kurz die Stirn runzeln ließ, bevor sie sich augenblicklich wieder entspannte und er mit dem Kopf nickte.

 

"Wir sollten uns verwandeln, dann kommen wir schneller voran und können uns auch besser vor ungewollten Blicken verbergen.", murmelte er in ihr Haar, während er noch einen tiefen Atemzug nahm, vollkommen berauscht von ihrem Geruch. Denn seit sich ihre Seelen miteinander verbunden hatten, konnte er sie endlich riechen. Ihr Duft war eine berauschende Mixtur aus den verschiedensten exotischen Gerüchen. Doch sie alle wurden von den drei hervorstechendsten Nuancen dominiert - einem Hauch von Jasmin, Orangenblüte und Rosmarin. Und die Komposition aus allen diesen Duftnoten bot einen explosiven Cocktail, der sein Blut schneller als alles andere zum Brodeln bringen konnte.

 

Minuten später war das Paar von der Lichtung verschwunden. Zwischen den Bäumen waren gerade noch so zwei mitternachtsschwarze Schatten zu erkennen, als sie auch schon ihren Weg zurück zu Warrens und nun auch Lanys Baumhaus einschlugen.

 

Als sie wenig später dort eintrafen, war die Nacht bereits eingebrochen, und wie nicht anders zu erwarten war, waren alle Besucher nach wie vor auch dort. Warrens Vater und seine Mutter saßen eng umschlungen auf einer Bank auf der Terrasse, während vor ihnen auf dem kleinen Tisch, zwei Tassen frisch aufgebrühten Kaffees vor sich hin dampften. Lanys Vater hatte sich zusammen mit Jack ins Hausinnere zurückgezogen. Sie waren ganz in eine Runde Schach vertieft, sodass Lany und Warren – gerade durch einen kleinen Hintereingang im Hausinneren angelangt, sich noch schnell und von den anderen fast unbemerkt ein paar Sachen überziehen konnten. Denn auch wenn Lany ahnte, dass alle anderen mit der zwangsläufigen Nacktheit nach einer Verwandlung im Allgemeinen mehr als ungezwungen umgehen würden, wäre ihre dies doch noch etwas zu peinlich gewesen.

 

Als sie dann anschließend gemeinsam auf die Terrasse hinaustraten und Warren kaum einen Fuß darauf gesetzt, veränderte sich die Spannung in der Luft schlagartig. Ihre Umgebung schien geradezu elektrisiert und jeder in seiner Nähe spürte eine unbestimmte Gefahr, die jede Sekunde über sie hereinbrechen konnte.

 

Ephraim hatte natürlich Warrens Kommen bereits vorausgeahnt und war nicht überrascht, ihn so plötzlich unweit seines Sitzplatzes vorzufinden. Er hatte geahnt, was geschehen würde, sobald Warren zusammen mit Lany das Baumhaus verlassen hatte. Und er war unendlich erleichtert gewesen, dass nun endlich die Zeit des Umbruchs angebrochen war. So hatte er sich mit Sarah gemütlich zurückgezogen und die letzten Stunden der alten Zeit zusammen mit ihr verbracht, bevor nun das Unausweichliche folgen musste. Er wusste, dass Sarah vor diesem Tag Angst gehabt hatte. Sie dachte wahrscheinlich, dass er es unnötig verkomplizieren würde, aber nichts lag ihm ferner.

 

Langsam, sodass er seinen Sohn nicht verschrecken würde, nahm er seinen Arm von seiner Gefährtin und erhob sich von seinem Platz, um Warren gegenüber zutreten. Aus dem Augenwinkel nahm er das Näherkommen von Nathan und Jack wahr, die ebenfalls die Spannungsänderung in der Luft wahrgenommen haben mussten. Doch er konzentrierte sich allein auf seinen ältesten Sohn. Wie würde er es angehen? Würde Warren seine Aggressivität hervorbrechen lassen? Der Weg, den er am ehesten von ihm erwarten würde, denn auch er hatte es seinerzeit so gehalten.

 

Ohne den Blick von Warren zu wenden, trat Ephraim einen weiteren Schritt auf seinen Sohn zu. Es erfüllte ihn mit Stolz, seinen Sohn nun so stark und mächtig vor sich stehen zu sehen. Warren strahlte nur so vor Autorität und Kraft. Er hatte also wirklich recht behalten, was Lany anging und sein Herz wurde um noch ein Vielfaches leichter. Es war genau richtig, so wie es lief - hier und jetzt. Im ganzen Haus herrschte eine angespannte Stille, keiner regte sich. Vater und Sohn maßen sich gegenseitig mit Blicken und noch sah es so aus, als wären sie sich ebenbürtig. Doch dann drang aus der tiefsten Tiefe von Warrens Kehle nur ein einziges leises Knurren hervor. Luft wurde vor gespannter Erwartung eingesogen und angehalten. Jeder der Anwesenden wartete auf die nächste Reaktion.

 

Und dann war es soweit. Ephraim bewegte sich, doch nicht so, wie es anscheinend die meisten Anwesenden erwartet hätten, denn er ging nicht zum Angriff über. Nein, der einst so mächtige Clanführer entblößte ohne Abwehrreaktion seine blanke Kehle vor seinem Sohn und erkannte ihn so als neuen unangefochtenen Clanführer an.

 

Die Thronfolge war erfolgt – endlich!

 

Keine Sekunde später lagen sich Vater und Sohn in den Armen. "Ich bin so stolz auf dich, mein Sohn!" Ephraims Augen schimmerten bei diesen Worten verdächtig und auch Warren musste einen dicken Frosch im Hals hinunterschlucken. Als Ephraim einen Arm von Warren löste, winkte er mit diesem auch Lany zu sich und schloss sie ebenfalls mit in die Umarmung ein. Endlich war er von seinen Pflichten als Clanführer befreit. Endlich konnte er sich ganz und gar seiner wunderschönen Gefährtin, seiner Sarah widmen - na ja, nachdem er natürlich trotzdem weiterhin seine Aufgaben im Clan wahrnahm, eben nur ohne den ganzen Druck, der auf ein Clanoberhaupt lastete. Vielleicht würde er, wenn alles vorbei war, mit Sarah eine schöne Reise machen? Sie waren schon so lange nicht mehr fort gewesen und er vermisste die Zweisamkeit mit seiner Gefährtin jeden Tag mehr.

 

Aber erst musste dieses eine Problem noch gelöst werden. Zuerst mussten die Eindringlinge noch von ihren Plänen abgebracht werden. Und wenn sie dies nicht schaffen sollten, müssten sie sie leider ganz von der Bildfläche verschwinden lassen. Es wäre ja nicht das erste Mal und bedauerlicherweise auch nicht das letzte Mal, dass sie ihre Pflicht auf diese Weise erfüllen mussten.

 

Also hieß es jetzt Pläne schmieden ...

Kapitel 18 – Scharade

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Ephraim die beiden endlich wieder aus seiner Umarmung freigab. Jeder der Anwesenden konnte seine unendliche Erleichterung über die aktuellen Ereignisse spüren und freute sich mit ihm.

 

Natürlich würde jetzt wahrscheinlich vieles im Clan anders laufen. Niemand hatte eine genaue Vorstellung davon, wie Warren zukünftig gedachte, seine Aufgabe als Oberhaupt wahrzunehmen. Aber dies war nur eine kleine Nebensächlichkeit, die früher oder später immer mal wieder nach einem Führungswechsel auf sämtlich Clanmitglieder zukam. Einfacher gesagt, jeder hatte sich über die Jahre, Jahrzehnte oder sogar über einige Jahrhunderte hinweg daran gewöhnt.

 

Nachdem nun also alle Anwesenden Warren und Lany nicht nur gratuliert, sondern ihnen ebenfalls die Anerkennung als neues Alpha-Pärchen gezollt hatten, kehrte wieder Ruhe im Baumhaus ein.

 

Ohne irgendeine Absprache treffen zu müssen, waren sich alle einig, dass sie dem neuen Paar vor dem unweigerlich bevorstehenden Kampf noch ein wenig die Möglichkeit auf eine einsame Zweisamkeit lassen wollten. Immerhin hatten sie gerade erst zueinander gefunden und jeder gebundene Gefährte wusste aus eigener Erfahrung, was das bedeutete, sodass bereits nach kurzer Zeit zum Aufbruch geblasen wurde.

 

„Wir treffen uns dann morgen am besten bei Rosa in der Kneipe. Ich werde schon einmal alle anderen informieren … ehm, … natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist, mein Sohn.“, sagte Ephraim beim Verabschieden an Warren gewandt.

 

Er hatte gerade noch die Kurve gekriegt. Schließlich war ja nun Warren derjenige, der solche Dinge entschied. Wahrscheinlich würde es noch ein wenig dauern, bis Ephraim die neue Situation vollkommen verinnerlicht haben würde. Immerhin hatte er mehr als einhundertfünfzig Jahre den Clan angeführt und da war es bei Weitem nicht so einfach, alte und besonders lieb gewonnene Gewohnheiten abzulegen.

 

Endlich waren sie allein. Es war noch nicht einmal das leiseste Geräusch von irgendwelchen Eindringlichen in ihrem Revier zu hören. Ihrem Revier – Lany begann erst langsam zu begreifen, was das bedeutete. Aber alles fühlte sich so gut und vollkommen richtig an, dass sie in diesem Moment keinen weiteren Gedanken daran verschwendete. Vor allem nicht, da direkt vor ihr und lässig an den Küchentresen gelehnt, ein unglaublich lecker aussehendes Jagdobjekt stand. Und das Allerbeste daran war – es gehörte ausschließlich ihr!

 

Lany spürte, wie sich das Raubtier in ihr zu regen begann. Ihre Katze war ganz dicht unter der Oberfläche und kratzte mit den Krallen an ihrer Haut – sie wollte raus und mit ihrem Männchen spielen, wie sie es zuvor bereits im Wald auf der Lichtung getan hatten. Und natürlich hatte Lany absolut nichts dagegen!

 

Langsam und geschmeidig, wie die Raubkatze, die sie nun einmal war, pirschte sie sich an ihr Opfer heran. Unter Warrens Blicken fühlte sie sich unwiderstehlich … sexy und vor allem mächtig. Etwas was ihr früher nie in den Sinn gekommen wäre, da sie sich selbst nie als besonders begehrenswert betrachtet hatte, schien nun ihr gesamtes Wesen auszufüllen. Wehe dem, der sich hier und jetzt dazwischen stellen wollen würde … Sie war zwar in der Stimmung zum Spielen, aber auf keinen Fall in der Stimmung für ungebetene Unterbrechungen.

 

Warren war gerade noch dabei, sämtliche Ereignisse der letzten Tage und der vergangenen Stunden in seinem Kopf zu ordnen und vor allem zu verdauen. Er hatte Wasser für Tee aufgesetzt und sich, während er wartete, an den Tresen in der Küche gelehnt. Auch wenn ihm gerade eigentlich nur nach einer einzigen Sache gelüstete, musste er sich erst einmal beruhigen und die neue Situation objektiv und von allen Seiten betrachten. Schließlich traf man nicht alle Tage seine von je her vorbestimmte Gefährtin und wurde dann auch noch Clanoberhaupt. Genau genommen fühlte Warren sich etwas aus seiner Mitte geworfen und was konnte dabei besser helfen als eine schöne heiße Tasse Tee. Ja, ja, er wusste, dass das für einen Kerl eigentlich nicht normal war und ihm war ebenfalls bewusst, dass seine Kameraden ihn für seinen Umgang mit solcherlei Situationen wieder einmal kräftig aufziehen würden, aber es war ihm egal – jeder hatte irgendeinen Spleen und seiner war eben die beruhigende Wirkung von Tee.

 

Während er am Tresen seinen Gedanken nachhing, bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Lany von der Terrasse hereinkam. Und wie konnte es anders sein, natürlich sprang sein Panther gleich auf seine Gefährtin an und versuchte mit aller Macht an die Oberfläche zu drängen. Doch noch hatte Warren die Oberhand und bei allen Göttern, er würde sie auch behalten. Noch nie in seinem Leben hatte er mehr Schwierigkeiten gehabt, seine wilde Natur im Zaum zu halten, wie es seit dem Zusammentreffen mit Lany der Fall war.

 

Eigentlich war er immer derjenige gewesen, der sein inneres Tier von allen anderen am besten unter Kontrolle hatte halten können. Doch nun? Und noch viel schlimmer war, dass ihm das drängende Verlangen der Raubkatze absolut nichts ausmachte – er hatte noch nie in einer Sache mehr mit ihr übereingestimmt, wie in diesem Moment.

 

Als der Wasserkessel anfing zu pfeifen, interessierte es Warren schon keinen Deut mehr. Der Tee war vollkommen vergessen. Seine komplette Aufmerksamkeit galt dieser unglaublich sinnlichen Katze, die mit lasziv schwingenden Hüften und einem verführerischen Lächeln auf diesen anbetungswürdigen Lippen auf ihn zu geschlendert kam. Jede ihrer Bewegungen war weich fließend, geschmeidig und strotzte nur so vor unterschwellig schwelender Energie.

 

Sein Panther war kurz davor durchzudrehen, so stachelte ihn ihr Anblick und noch schlimmer ihr Geruch an. Seine Haut spannte unter den Versuchen des Ausbruchs, doch er drängte ihn wieder zurück – noch.

 

Warren stieß sich vom Tresen ab und schlich nun seinerseits auf sie zu. Ein träges Lächeln breitete sich über seine Lippen aus und erreichte bereits nur Sekunden später seine verführerischen Augen, in denen bereits mehr die Katze als der Mensch zu erkennen war.

 

Direkt voreinander blieben sie stehen und schauten sich an … ein leises Knurren bahnte sich seinen Weg hinauf aus Lanys Kehle, welches mit einem genauso leisen Fauchen durch Warren beantwortet wurde. Keiner wollte nachgeben und so stierten sie sich weiterhin stillschweigend an und bewegten sich keinen Zentimeter aus ihrer Position fort.

 

Es machte Lany einen unglaublichen Spaß, ihre Kräfte auf diese Weise mit Warren zu messen. Denn auch wenn die anderen Clanmitglieder sie bereits als ihr Alpha-Weibchen anerkannt hatten, war der eigentliche Kampf um ihre Position im Clan und an der Seite des Oberhauptes noch nicht gewonnen. Diesen musste sie hier und jetzt mit dem Mann, den sie liebte, der unwiderrufbar schon zu ihr gehörte, ausfechten und sich ihm als würdiges Weibchen an seiner Seite erweisen.

 

Und auch Warren musste seine Position ihr gegenüber behaupten. Er musste ihr zeigen, dass er ihrer würdig war, sie beschützen konnte.

 

Es war ein reines Kräftemessen, ein uraltes Ritual, was sich weit oben in den Kronen der alten Bäume und zu so später Stunde abspielte, doch letztendlich ging es für beide Unentschieden aus. Und das war auch gut so! Denn nur so war es möglich, dass sie sich als gleichberechtigte Partner die verantwortungsvollste aller Positionen im Clan teilten und dauerhaft von den anderen, als ihre Anführer anerkannt wurden.

 

Als das nun also geklärt war, griff Warren wie aus heiterem Himmel nach Lany und riss sie lachend in seine Arme. Trotz ihrer beider Unerfahrenheit in diesen Dingen schienen sie bis jetzt zumindest alles richtig gemacht zu haben, denn ansonsten hätte ihre jeweils wilde Seite sich bereits lauthals zu Wort gemeldet.

 

Auch Lany lachte überglücklich. Sie war wie berauscht von ihrem kleinen Machtkampf und fühlte sich nur umso lebendiger. Und erst recht hatte er dazu beigetragen, dass das drängende Verlangen in ihnen beiden nur noch weiter aufgewallt war.

 

Mit einem stürmischen Kuss versiegelte Warren Lanys Lippen, um sie im nächsten Moment auf den Tresen zu setzen. Lany schlang vollkommen automatisch ihre Beine um Warrens Hüften, sodass sie ihn noch intensiver spüren konnte. Sein verführerischer Geruch und seine Wärme elektrisierten ihre Sinne. Unruhig fuhren ihre Hände an seinem Körper entlang, erkundeten jede noch so kleine Stelle von ihm. Sie spürte das Fauchen ihrer Katze, der es nicht schnell genug zu gehen schien und auch da war Lany wieder ihrer Meinung. So sehr sie auch dieses Vorspiel genoss – und oh ihr Götter, ja, das tat sie wirklich – so sehr wollte sie ihn nun endlich auch ganz spüren. Sie verzerrte sich nach ihm, nach seinen Berührungen, seinen Küssen, nach dem Verschmelzen ihrer Körper …

 

Unruhig rutschte sie auf dem Tresen hin und her, spürte seinen Händen nach, die ebenfalls ihren Körper erkundeten und schließlich fest aber zärtlich ihren Hintern kneteten … doch wann wollte er denn nun endlich mal einen Schritt weitergehen? Es war schon fast nicht mehr zum Aushalten. Kapierte er es denn nicht? Wollte er sie mit aller Macht in einen unbefriedigten Wahnsinn treiben?

 

Kurz entschlossen biss sie ihm in die Zunge und schaute ihn, als er deshalb den Kuss unterbrach, bereits leicht frustriert aus funkelnden Augen zornig an.

 

„Aua … Was ist denn los, Kätzchen?“, fragte Warren mit einem schelmischen Lächeln um die Lippen.

 

„Du treibst mich noch in den Wahnsinn, Warren! …“, knurrte Lany mehr, als dass sie sprach „Willst du mich unbedingt quälen?“, und ihre Augen blitzten gefährlich, als Warrens Lächeln nur noch breiter wurde und er sie mit einem spielerischen Biss in die empfindliche Stelle am Übergang zwischen Hals und Schulter weiter neckte.

 

Warren wusste nicht genau warum er sie noch weiter reizte – er wusste doch genau was sie von ihm wollte, denn es ging im schließlich nicht anders – und doch musste er es einfach tun. Er betrachtete fasziniert ihre eindrucksvollen Augen – sie hatten inzwischen den Wandel zum Raubtier, das in ihr wohnte und ein gerade erst in ihr erwachter Bestandteil ihrer Seele war, schon vollkommen vollzogen. Sie vollzog die Wandlung so mühelos und selbstverständlich, dass man hätte glauben können, sie würde dies bereits seit vielen, vielen Jahren tun und nicht erst seit so geringer Zeit.

 

Lany hatte trotzdem ihrer sie zutiefst erschütternden Erregung noch die Kraft, sich ein zuckersüßes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Es erreichte zwar nicht ihre Augen, die wie ihre Beute bannend auf Warren starrten, aber es schien ihn lang genug abzulenken – lang genug, um das zu tun, was die Katze in ihr vehement verlangte …

 

In einem Moment lächelte sie ihn noch an und im nächsten Moment stand er mit zerschlissenem Shirt und so entblößtem Oberkörper vor ihr. Warren schaute an sich herab und betrachtete das zerfetzte Kleidungsstück. Scharfe Krallen blitzten in seinem Augenwinkel auf, wie sie ungeduldig auf die Arbeitsplatte des Küchentresens klackten. Natürlich hatten diese Krallen nicht nur sein Shirt zerstört – lange rot glühende Striemen zogen sich über seinen Oberkörper, die zwar nicht schmerzhaft waren, doch ihn seinerseits bis aufs Blut reizten.

 

Mit einer unsagbar quälenden Langsamkeit hob Warren seinen Kopf und haftete seinen starren Blick aus gelbgoldenen Augen auf seine Gefährtin. Lany stockte für einen kurzen Moment der Atem. Sie hatte rein instinktiv gehandelt, hatte sich vollkommen der Führung ihrer wilden Seite überlassen und nicht weiter darüber nachgedacht, was ihr Verhalten für eine Wirkung haben würde. Sie hatte darauf vertraut, dass ihre Katze genau wusste, was sie tat.

 

Doch nun, als sie Warrens Blick sah, war sie sich nicht mehr so sicher. Ihr logischer Menschenverstand schaltete sich wieder ein und drängte ihre andere Seite in den Hintergrund. Natürlich ließ diese es nur mit Fauchen und Kratzen zu, aber gab sich schließlich geschlagen.

 

Lany sah, dass Warrens Aggressivität, sein natürliches Dominanzverhalten sich Bahn zu brechen versuchten. Der Panther war, so wie kurz zuvor noch bei ihr, ganz dicht unter der Oberfläche. Sie war offensichtlich zu weit gegangen und verfluchte sich und ihre Unerfahrenheit innerlich für diesen Fehler. Alles war doch gerade noch so gut gelaufen. Sie spürte immer noch die schwelende Erregung, die Spannung und das Knistern zwischen ihnen, aber anscheinend hatte sie mit ihrer Tat eine Grenze überschritten und Warren gegen sie aufgebracht.

 

Was sollte sie nur tun? Instinktiv nahm sie eine unterwürfige Haltung ein. Und aus menschlicher Sicht sicherlich vollkommen korrekt, zeigte sie ihm ein zaghaftes und wie sie hoffte, beruhigendes Lächeln. Welches wiederum ihre eigene Katze zum Fauchen brachte. Sie war mit Lanys Verhalten ganz und gar nicht einverstanden und versuchte nun wieder verstärkt, die Kontrolle zu übernehmen – doch Lany schlug sie abermals zurück und hoffte, dass sie damit richtig lag.

 

Warren hatte seinen stierenden Blick nicht einmal von ihr abgewandt und als nun auch noch dieses leise kleine Lächeln ihre verführerischen Lippen umspielte, war es endgültig um ihn geschehen. Er wollte es mit ihr langsam angehen. Das war wirklich sein fester Vorsatz gewesen. Er wollte mit ihr spielen, wie noch zuvor an dem kleinen See – seine Gefährtin nicht gleich mit alldem, was ihn als Mann und auch als Panther ausmachte, sein raues, ungestümes und teils auch gefährliches Wesen überrumpeln, aber dieses nach außen hin zarte kleine Wesen, was sich seine Gefährtin nannte, kehrte mit ihrem unschuldigen und doch zugleich hoch erotischen Verhalten sein Innerstes nach außen. Und hatte anscheinend noch nicht einmal eine Ahnung davon, was sie mit ihm tat.

 

Wie konnte sie das nur schaffen? Was hatte sie mit ihm gemacht, dass er plötzlich sämtliche Disziplin, sämtliche Selbstbeherrschung, die er über die Jahre, die Jahrzehnte, sogar über fast ein ganzes Jahrhundert perfektioniert hatte, einfach aus der Welt schaffte, als hätte er sie nie besessen? Er spürte ein tiefes, drohendes Grollen seine Brustkorb emporsteigen und sah in Lanys Augen kurzzeitig so etwas wie Angst aufblitzen. Aber allein das reizte, forderte seinen Panther noch mehr auf, die Jagd endlich zu eröffnen und sich endlich das zu holen, was ihm zustand – was ihm gehörte und den Bund erneut zu besiegeln – immer und immer und immer wieder …

 

Er wollte, nein er konnte nicht mehr warten – egal wie Lany ihn gerade anschaute, egal wie sich ihr Geruch gerade veränderte – sie hatte diese Seite in ihm heraufbeschworen, wenn wahrscheinlich auch nicht absichtlich, aber sie hatte es getan. Und das Gefühl ihrer Krallen und dieses verdammte kleine Lächeln hatten ihn endgültig über die Klippe seiner ach so tollen Selbstbeherrschung gestoßen. Nun war er nur noch wilde, ungehemmte Kraft. Seine animalische und auch seine menschliche Begierde waren zu einer einzigen, fast schmerzhaften Form verschmolzen, die zwanghaft nach Erlösung verlangte.

 

Lany entwich ein heiserer Aufschrei, als Warren sie plötzlich in einer für das menschliche Auge schwer wahrnehmbaren Bewegung vom Tresen in seine Arme riss. Sie konnte sich kaum bewegen, kaum Luft holen, so sehr spannte sich Warrens starker Griff um ihren Körper und seine Erregung war in dieser Position mehr als deutlich zu spüren.

 

Leidenschaftlich, drängend und unnachgiebig senkte er seinen Mund auf ihren und nahm sie im Rausch der Gefühle gefangen. Von einer Sekunde auf die andere brannte Lany lichterloh. Ihr inneres Feuer hatte alle Furcht und Bedenken, aber auch jeden rationalen Gedanken vollkommen verbrannt, sodass nun auch in ihr nur noch das Bedürfnis – nein, das Verlangen nach der Inbesitznahme durch ihren Gefährten bestand.

Kapitel 19 – Rosas Kneipe

Es war früh in den Morgenstunden als sich dicht in die Schatten geduckt mehrere Gestalten ihren Weg durch den Ort hin zur einzigen Kneipe der Gegend bahnten. Sie waren sowohl auf zwei Beinen als auch auf vier Beinen unterwegs, je nachdem welcher Aufgabe sie kurz zuvor noch nachgegangen waren.

 

Der ganze Ort war nach wie vor in tiefem Schlaf versunken, als die kleine Hintertür zur Kneipe leise einen Spaltbreit geöffnet wurde. Einer nach dem anderen schlüpften sie lautlos und ungesehen hindurch und wurden sofort von der alles vereinnahmenden Dunkelheit im Inneren des Gebäudes verschlungen.

 

Sie waren fast vollzählig und das wollte bei ihnen schon etwas heißen. Bis auf diejenigen, die in den unzähligen Firmen die Stellung hielten bzw. über den Nachwuchs wachten, waren alle hier erschienen – ausnahmslos. Doch keiner von ihnen ahnte auch nur, was sie bei diesem Treffen erfahren würden.

 

Ephraim wartete zusammen mit Rosa an der kleinen Hintertür, während die anderen bereits zu ihrem Versammlungsraum hinabstiegen. Tja, Rosas Kneipe steckte wirklich voller Überraschungen. Es gab keinen einzigen Hinweis darauf, was für Geheimnisse dieses kleine und augenscheinlich heruntergekommene Gebäude barg – genauso wenig wie es bei seiner Besitzerin selbst der Fall war.

 

Da es die jetzige Situation und die neuesten Informationen über die Jäger zwingend erforderten, hatte Ephraim, so wie mit Warren abgestimmt, ausnahmslos alle ohne große Erklärungen hierher bestellt. Er war extrem gespannt, wie der Clan auf den Führungswechsel reagieren würde. Würden die anderen Warren und auch Lany als ihre neuen Alphas akzeptieren und ihnen ebenfalls die Treue schwören oder würde einer von ihnen Warren um diese Stellung herausfordern? Das versprach auf jeden Fall, spannend zu werden.

 

Noch in seine Gedanken vertieft und weitere Ankömmlinge begrüßend, bemerkte Ephraim plötzlich, wie sich Sarah in einer zärtlichen Umarmung an ihn schmiegte. In einer katzenhaften Geste rieb sie ihren Kopf zur Begrüßung unter seinem Kinn an seiner Kehle und flüsterte zu ihm empor „Du solltest schon mit runter kommen … Warren weiß, wo wir zu finden sind und Rosa kann die beiden nachher zu uns führen.“

 

„Aber sie werden merken, dass ich nun nicht mehr ihr Anführer bin … und ich möchte Warren nicht seinen großen Auftritt nehmen, Sarah. Das ist verdammt wichtig für ihn und seine jetzige Stellung im Clan, das weißt du doch! … Und du solltest besser ebenfalls hier mit uns warten. Wir gehen dann alle gemeinsam hinunter, damit niemand etwas in den falschen Hals bekommt.“ antwortete Ephraim entschieden.

 

Und tatsächlich sollte es nicht mehr lange dauern, bis nun auch das neue Alpha-Paar bei der Kneipe eintraf.

Sarah bemerkte mit einem weichen Lächeln, dass anscheinend beide nicht sonderlich viel geschlafen hatten. Sie freute sich, ihren ältesten Spross endlich glücklich zu sehen. Noch nie zuvor hatte Warren so gelöst, so entspannt gewirkt wie zum jetzigen Zeitpunkt.

 

Er schien sich keinerlei Gedanken darüber zu machen, ob ihn jemand als neuen Alpha infrage stellen könnte. Und das war auch gut so. Denn wenn er auch nur einen Moment der Schwäche oder des Zweifels zeigen würde, wäre seine Position schneller gefährdet, als er auch nur bis drei würde zählen können.

 

Doch es war wirklich nichts dergleichen bei ihm und erstaunlicherweise auch nicht bei Lany zu erkennen. Sie waren ein starkes Paar und würden sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen können. Davon war Sarah überzeugt.

 

***

 

„Da seid ihr beiden ja endlich! Ich dachte schon, ihr würdet gar nicht mehr aus den Federn kommen.“ begann Sarah mit dem glücklichen Paar zu scherzen, nachdem der heikle Moment des Aufeinandertreffens zwischen Vater und Sohn verflogen war. Tief in ihrem Inneren hatte Sarah auf diesen glimpflichen Ausgang gehofft und zu den Göttern gebetet, dass Ephraim nach wie vor den Machtwechsel unterstützte.

 

Immerhin wäre es durchaus möglich gewesen, dass ihr Gefährte es sich doch noch hätte, anders überlegen können. Aber da dem nicht so war, begrüßte sie nun ihren Sohn und ihre neu dazugewonnen Tochter mit einer herzlichen Umarmung.

 

Auch Ephraim nahm Lany in einer mehr als herzlichen Umarmung gefangen und pfiff auf das miesepetrige Gesicht seines ältesten Sohnes. Er würde sich damit abfinden müssen, schließlich war sie nun einmal ein ganz reizendes Geschöpf, demgegenüber auch Ephraim als Schwiegervater in spe einen starken Beschützerinstinkt und tief empfundene fürsorgliche Gefühle hegte.

 

„Vater … bist du nun fertig?“ quälte Warren seine Frage durch zusammengebissene Zähne hindurch. Es war einfach zu lächerlich, wie er sich gerade gebärdete, das wusste er nur zu gut. Aber um nichts in der Welt wollte er seine Lany mit irgendwem anderen teilen. Erst recht nicht mit anderen männlichen Lebewesen – egal ob es sich bei diesen um seinen eigenen Vater handelte!

 

Dass er eines Tages mal solch starke Eifersucht verspüren würde, hätte er im Traum nicht gedacht. Aber sei es drum … nun war es ebenso und er wollte es auch auf gar keinen Fall je wieder anders haben. Sollten sie allerdings irgendwann einmal Nachwuchs bekommen – wovon Warren felsenfest überzeugt war – dann müsste er sich irgendetwas einfallen lassen. Schließlich war die Eifersucht auf seinen Vater schon lächerlich genug. Was wäre dann mit seiner Eifersucht auf seine eigenen Kinder? Daran mochte er jetzt noch gar nicht denken.Aber vielleicht würde er auch irgendwann wieder etwas entspannter damit umgehen können. Schließlich gab es genügend Gefährtenverbindungen in ihrem Clan, wo die Männer nicht ständig fast vor Wut platzten, wenn ihre Gefährtin auch nur mit dem eigenen Schwiegervater sprach!„Nun mal ganz ruhig, mein Junge! Ich werde doch wohl meine beiden Kinder noch gebührend begrüßen dürfen? … Aber du hast recht – wir sollten beginnen!“ meinte Ephraim mit einem schmunzelnden Lächeln zu der zierlichen Frau in seinen Armen hinabblickend und entließ diese wieder aus seiner Umarmung.

 

Rosa schloss nun die den Seiteneingang und begab sich als Erste der kleinen Prozession hinab in die Katakomben ihrer Kneipe. Ihr auf dem Fuße folgten Sarah und Ephraim. Lany und Warren gingen als Letztes und gewährten so, wie es nach alter Sitte bestimmt war, dem ehemaligen Herrschaftspaar ihren letzten ersten Auftritt.

 

Am Ende eines langen düsteren Tunnels konnte Lany verhalten einige flackernde Lichter erkennen. Warren war mit ihr etwas zurückgefallen. Sie vermutete, dass er seinen Eltern genügend Vorlauf lassen wollte, sich mit ihrer neuen Rolle im Clan vertraut zu machen.

 

Die leise murmelnden Stimmen wurden von den Wänden zurückgeworfen und fanden so ihren Weg zu ihr. Dass Warren diese ebenfalls hören konnte, stand außer Frage. Doch im Gegensatz zu ihr schien er in keinerlei Bedenken zu haben. Er strahlte Kraft und Selbstbewusstsein aus, wie sie es vor kurzem noch bei seinem Vater gesehen hatte. Doch nun strahlte die Macht nicht mehr von Ephraim wie in Wellen ab, sondern von ihrem Warren.

 

Und wenn sie mich nicht anerkennen? … Oh ihr Götter … was tue ich dann? Wie wird Warren reagieren? … Wird er … Lanys Gedanken schlugen Purzelbäume, während sie sich eine Szenerie schlimmer ausdachte als die andere. Da sie sich noch nicht komplett an ihre eigenartige, aber wundervolle Verbindung zu ihrem Gefährten gewöhnt hatte, erschrak sie über die Maßen, als plötzlich Warrens Stimme in ihrem eigenen still geführten Monolog erklang.

 

„Nein, mein Schatz. Ich werde dich nie wieder aus meinem Leben herauslassen. Mach dir nicht so viele Sorgen! Sie werden dich anerkennen und dir ebenso die Treue schwören, wie sie es bei mir tun werden … wie es Mom und Dad bereits getan haben! … Glaube mir, deine Bedenken sind vollkommen unbegründet.“

 

***

 

Die Menge verstummte in dem Moment, als Rosa gefolgt von Ephraim und Sarah den großen Raum betrat. Jeder der Anwesenden neigte seinen Kopf, bis sie ein kleines Podium am anderen Ende des Raumes erreicht hatten. Rosa trat als Erste auf das Podium, während die anderen beiden am Rande stehen blieben und nicht wie gewöhnlich ihre Plätze auf den beiden Stühlen darauf einnahmen.

 

Ein Raunen ging durch die Menge. Nie, auch nicht eine einzige Sekunde seiner Führerschaft, war Ephraim je vom Zeremoniell abgewichen. Irgendetwas musste geschehen sein. Bevor allerdings die entstandene Unruhe sich weiter unter den Anwesenden ausbreiten konnte, hob Rosa mit einer harmlosen, aber alles umfassenden Geste beide Arme empor und brachte damit die Menge zum sofortigen Verstummen.

 

Sie wählte bewusst die alte Sprache. Denn die heiligen und den Wandel einleitenden Worte konnten nur in dieser ihre volle Wirkung entfalten. Auch wenn nicht jedes Clanmitglied dieser Sprache mehr mächtig war, so verstanden doch alle, die sie nun hörten, sofort ihren Inhalt. Sie fühlten die Worte tief in ihrem Inneren, wie sie jeden Einzelnen einfingen, um ihn im großen Gefüge des Clans neu einzuweben.

 

Auch Sarah und Ephraim spürten die erlösende Wirkung der gesprochenen Formeln. Endlich waren sie frei von der Verantwortung des Alpha-Paares. Endlich waren sie nur ganz normale, wenn auch nach wie vor wichtige Mitglieder des Clans. Ephraim war wieder einmal mehr froh, dass ihnen die gute alte Rosa zur Seite stand. Sie war die Einzige, die das Geflecht der Panthera neu zu verspinnen wusste und sobald diese Initiation von Warren und Lany stattgefunden hätte, würden sie auch in das Geheimnis um Rosas Rolle im Clan eingeweiht werden.

 

Absolute Stille herrschte nun im Raum. Nur das leise Atmen aller Anwesenden war zu vernehmen, als Rosa abermals ihre Arme emporstreckte und mit kräftigerer Stimme, als man ihr je zutrauen würde, verkündete „Erhebt euch und empfangt euer neues Alpha-Paar!“

 

Und wie ihnen geheißen, erhoben sich alle und blickten sich nach dem Eingang um, wo in dieser Sekunde Warren und Lany den Raum betraten. Das Rosa ihre Aufgabe wieder einmal perfekt erfüllt hatte, merkte man daran, dass es nicht eine einzige aggressive Regung gegen Warren gab. Alle waren vollkommen entspannt und hießen ihn und Lany als ihre neuen Clanführer willkommen und erwiesen ihnen mit ihren leicht geneigten Häuptern den ihnen gebührenden Respekt.

 

„Was passiert jetzt, Warren? … Die starren uns an. Müsste jetzt nicht irgendein Tumult um die Rangfolge stattfinden?“ Selbst wenn Lany Warren nur in ihrem Kopf ansprach, flüsterte sie aus Angst, es könnte jemand anderes hören.

 

„Ich sagte doch bereits, dass alles gut gehen wird. Deine Sorgen waren wirklich vollkommen unbegründet. Lany, sie erkennen uns an und respektieren den Führungswechsel!“ In Warrens Worten schwang ein leises Lächeln mit, welches Lany mit einer mehr als willkommenen wohligen Wärme umfing.

 

Nie hätte sie auch nur vermutet, dass es für sie so einfach werden würde, wo ihr doch in ihrem bisherigen Leben ständig nur Steine in den Weg gelegte worden waren. Doch dies hier schien so leicht zu sein wie das Atmen. Als sie diese Erkenntnis durchflutete, strafften sich ihre Schultern und ihr unsicherer Blick wich einem entschlossenen. Endlich war sie auch hier angekommen – in ihrem neuen Leben und ihrer neuen Aufgabe.

 

Aus dem Augenwinkel konnte sie in der vordersten Reihe am äußersten Rande ihren Vater stehen sehen. Sein Blick war warm und seine Haltung spiegelte den Stolz wider, den er für seine Tochter im Herzen trug. Als Lany und Warren weiter auf das Podium zugingen, erkannte sie, dass an ihres Vaters Seite eine Frau stand, die sie vorsichtig über die Schulter beäugte.

 

„Das muss Nesta sein … Warren?“, fragte Lany ohne den Blick von der Frau neben ihrem Vater zu nehmen. „Ja, Schatz, das ist sie … Schau sie nicht so zweifelnd an … du machst ihr noch Angst.“ Und wieder durchflutete Warrens warmes Lachen Lanys Geist, die gar nicht bemerkt hatte, dass sie sie anstierte. „Sie ist wunderschön!“ Lany blieb beinahe der Atem vor Bewunderung weg.

 

„Ja, das ist sie …“ Warren hatte gerade zu seiner Antwort angesetzt, als ein tiefes Grollen durch den Raum fegte und alle Anwesenden den Atem anhalten ließ. Als Warren sich zu Lany umdrehte, die abrupt stehen geblieben war, konnte er nicht länger an sich halten – die ganze Zeit über hatte sie es bereits geschafft, ihn fortwährend zum Schmunzeln zu bringen und nun brach sich sein Lachen auch Bahn nach außen.

 

Er war unglaublich stolz auf seine Partnerin. Den Wandel, den sie seit ihrer Ankunft hier vollzogen hatte, war unglaublich. Und als er nun auch noch seine eigene starke Eifersucht in ihr wiedererkannte, fiel ihm nicht nur ein riesiger Stein vom Herzen, sondern brachte ihn herzhaft zum Lachen.

 

Lany schaute ihn verwundert, aus zu schmalen Schlitzen geformten Augen an und wartete. Ja, worauf eigentlich? Darauf, dass ihr Gefährte aufhörte, sich den Bauch vor Lachen zu halten und sich dem Ärger, den er so mir nichts dir nichts heraufbeschworen hatte zu stellen? „Ich bin furchterregend … ich bin furchterregend … oooh, ich bin so wütend UND furchterregend … Verdammt noch mal Warren, merkst du das nicht?“ Doch leider hatte sie über die ganze Aufregung schon wieder vergessen, dass sie ab sofort anscheinend keine mentalen Monologe mehr führen konnte, denn Warren bog sich danach noch mehr vor Lachen.

 

Dann, als wäre ein Schalter in ihm umgelegt worden, verstummte er und kam wieder auf sie zu. Dicht vor ihr stehend, gestand er ihr leise und doch wie in diesen Kreisen für jeden Einzelnen hörbar „Ich liebe dich, Lany Briscott! Oh ihr Götter, und wie ich dich liebe!“, und im Geiste fuhr er fort „Ich wollte sagen … ja, sie ist wunderschön, aber sie kann sich in nichts mit meiner Gefährtin messen. Für mich gibt es ab sofort und für immer nur eine Frau, und das bist und bleibst nun einmal du, Lany! Ob du es willst oder nicht, jetzt hast du mich an der Backe.“

 

Nun ebenfalls lachend fiel Lany Warren um den Hals und küsste ihn stürmisch. Alle anderen um sie herum hatte sie vollkommen vergessen. Dies wiederum führte aber dazu, dass ein leises Räuspern aus den Reihen der hier Versammelten, sie wie einen verschreckten Hasen hochfahren ließ und ihr Gesicht mit einem zarten Rosé-Ton überzog. „Und ich soll eine Anführerin sein …“

 

Ihre Augen verdrehend widmete sie sich dem, weswegen sie überhaupt hergekommen waren und überbrückte zusammen mit Warren die letzten paar Meter zum Podium … und zwar im Eiltempo.

 

Ein kurzer Blick zur Seite zeigte Lany, dass Ephraim und Sarah ganz entspannt am Rand des Podiums standen und ihnen zunickten. Ihr nächster Blick ging zu ihrem eigenen Vater, der ihr seinerseits aufmuntern zunickte. Und als Warren dann noch zärtlich ihre Hand drückte, schaffte es Lany endlich, sich zu entspannen.

 

Endlich konnte Lany auch das ganze Ausmaß der Versammlung wahrnehmen. Der Clan muss wirklich riesig sein!

 

„Ich freue mich, euch alle hier versammelt zu sehen … dass ihr alle dem Ruf meines Vaters gefolgt seid, und möchte euch zusammen mit meiner geliebten Gefährtin, Lany, hier und heute willkommen heißen!“ erhob Warren zum ersten Mal als Clanführer seine Stimme. Während vorher noch einiges Getuschel durch die Reihen lief, war es nun mucksmäuschenstill. Die geballte Aufmerksamkeit lag vollkommen auf Warren und dem, was er der Menge mitzuteilen hatte.

 

„Es gibt mehrere Gründe, warum ihr hierher gerufen wurdet. Einen davon, den Führungswechsel habt ihr mittlerweile ja schon mitbekommen. Ich weiß, die meisten von euch hätten nie gedacht, dass dieser so schnell kommen würde … und dazu zähle ich mich auch mit dazu … aber das Schicksal wollte es anders. Meine liebe Gefährtin ist wie ein Orkan in mein Leben getreten, vollkommen unvorhergesehen und doch nicht mehr daraus wegzudenken. Und für diejenigen, die sich sicherlich nach ihrer Herkunft fragen … bei Lany handelt es sich um die schon seit langen Zeiten als vermisst, wenn nicht sogar noch schlimmer, als tot geglaubte Tochter von Nathan Sheridan und damit auch Enkelin unseres hochverehrten weisen Mannes, Ernest Sheridan. Sie ist nicht nur für mich ein riesiges Geschenk der Götter, sondern für den ganzen Clan und damit meine ich nicht ihre Position als Alpha-Gefährtin. Lany wurde von unseren Göttern gesegnet. Sie war in der Quelle, am heiligsten aller Orte und ich durfte mit eigenen Augen ihre Initiation durch unsere Götter miterleben. Wir haben in ihr also auch endlich, nach so vielen Jahren, wieder jemanden gefunden, der die wichtige Aufgabe der Schamanin übernehmen kann.“

 

Nach Warrens letzten Worten ging erneut ein aufgeregtes Raunen durch die Menge. Seit Ernest Sheridan verstorben war, hatte es bis heute nie wieder jemanden in ihren Reihen gegeben, der diese Position hätte einnehmen können. Alle möglichen Clanmitglieder hatten versucht, die Gunst der Götter zu erlangen, damit die geistige Führung weiterhin gesichert gewesen wäre, aber niemand war von ihnen anerkannt worden. Doch die lange Wartezeit war nun endlich vorbei und das sorgte natürlich für freudige Aufregung. Warren ließ sie eine Weile gewähren, doch musste auch noch der Punkt mit den Eindringlingen besprochen und anschließend schnellstmöglich geklärt werden. Nie zuvor waren so viele Söldnergruppen so kurz aufeinander folgend in ihr Gebiet eingedrungen und dabei dem geheimen Pfad so nahe gekommen wie in den vergangenen Monaten. Dem musste unbedingt Einhalt geboten werden, sonst stünde das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel.

 

Mit einer einfachen Geste seiner Hand brachte Warren die Menge augenblicklich zum Schweigen. „Ich kann eure Aufregung und Freude verstehen und teile sie selbstverständlich, doch heute heißt es auch, ein Problem von enormer Dringlichkeit zu besprechen! Es ist kein Problem, welches allein durch die Wächter behoben werden könnte. Dafür brauchen wir die gesammelten Energien des gesamten Clans! … Jack wird uns daher nun alle auf den aktuellen Stand bringen.“

 

Mit einem auffordernden Blick zu seinem Bruder nahm Warren seinen Platz neben Lany ein und bedeutete Jack damit, ans Rednerpult vorzutreten. Und ganz entgegen seiner sonst jedermann bekannten Art, begann Jack direkt und ohne um Umschweife zu sprechen.

 

„Die Lage ist sehr ernst! Zurzeit befindet sich erneut eine Söldnergruppe in der Nähe des geheimen Pfades. Trotz mehrfacher Ablenkungsmanöver haben wir es nicht schaffen können, sie von ihrem Weg lange genug abzubringen. Irgendwie haben sie es immer wieder geschafft, die richtige Richtung einzuschlagen. Es handelt sich um eine Gruppe von insgesamt fünfunddreißig Mann, darunter auch nach wie vor ein Kerl namens Scott Whitney …“ Bei diesem Namen drehte sich Jack zu Lany um und schaute sie direkt an. Er wollte von ihr das OK, über diesen Kerl weitere Informationen preisgeben zu dürfen, denn schließlich hatte er für sie eine besondere, wenn auch negative Bedeutung. Nach einer kurzen Schrecksekunde, die er deutlich in ihren Augen erkennen konnte, nickte sie ihm mit nun festem Blick zu. Das Ganze geschah so schnell, dass es nur eine kaum merkliche Pause in seiner Rede gab.

 

„… der zusammen mit Lany hier angekommen ist. Er verfolgt sie anscheinend schon seit Längerem. Anfangs schien er sie einfach nur für sich zu wollen, doch nun ist sein Vorhaben radikaler geworden … Er will sie unbedingt bestrafen, und wenn das heißt, dass er sie töten muss, dann wird er auch dabei nichts unversucht lassen! … Glücklicherweise ist ihm Lanys wahre Identität, ihr Naturell nicht bekannt, sodass wir uns um ihre direkte Sicherheit keine großen Sorgen mehr machen müssen. Lany, es liegt vollkommen in deinem Ermessen, wie mit ihm bei Aufgreifen der Gruppe verfahren werden soll! Solltest du ihn selbst zur Rechenschaft ziehen wollen, wird sich niemand vom Clan dir in den Weg stellen. Wir stehen geschlossen hinter dir! … Das zweite Problem, die Söldner, stehen auf einem ganz anderen Blatt … Warren, ich habe zwischenzeitlich rausbekommen können, dass anscheinend alle bisherigen Gruppen, so wie auch diese, durch einen einzigen Auftraggeber geschickt werden. Da steht jemand mit extrem viel Geld hinter. Aber er hat sich auch bei seinen Lakaien noch nicht zu erkennen gegeben und zieht nur im Hintergrund an den Fäden. Nikolai ist bereits informiert und versucht über die Geldtransaktionen einen Weg zu ihm zurückzuverfolgen, bisher aber leider ohne nennenswerten Erfolg. Er meldet sich sofort bei uns, sobald ihm was vor die Füße fällt.“

 

Mit einem kleinen Räuspern meldete sich in diesem Moment auch Ephraim zu Wort. „Ich habe weiträumig dafür gesorgt, dass erst einmal keine Flugzeuge landen dürfen, auch nicht auf den größeren Flughäfen in den weiter entfernten Städten.“ Mit einem leisen Schmunzeln fügte er hinzu „Der Ausbruch des Tungurahua vor zwei Wochen war nun doch noch zu etwas gut … immerhin musste doch der komplette Flugverkehr wegen der herüberziehenden Aschewolken eingestellt werden! Was würde das sonst für eine Gefahr im Luftraum bedeuten? So ist auf jeden Fall schon einmal sichergestellt, dass sie keinen Nachschub geliefert bekommen können. Was allerdings den Landweg angeht, da konnte ich leider nicht so viel erreichen, außer das vermehrt Straßenkontrollen wegen Schmugglern und Wilderern durchgeführt werden.“

 

„Das sind doch schon einmal gute Aussichten, die uns sicherlich ein wenig mehr Zeit verschaffen werden.“ Warren war mit der momentanen Entwicklung sehr zufrieden. „Jeder von euch wird einer bestimmten Gruppe zugeteilt werden. Informiert auch alle, die heute nicht an der Versammlung teilnehmen konnten. Auch ihre Unterstützung werden wir benötigen, um im Falle des Falles, den Auftraggeber zu finden, zu verfolgen und ihn schließlich zur Strecke zu bringen. Für mich sieht es immer mehr danach aus, dass diese Flutwelle an Söldnerübergriffen die ganze Zeit über schon immer nur von diesem einen Unbekannten ausgelöst wurde. Finden wir ihn, so werden sicherlich auch die ständigen Übergriffe aufhören. Also sollte unsere erste und allerwichtigste Aufgabe darin bestehen, diesen Auftraggeber, wie Jack sagt, zu finden und auszuschalten. Vielleicht wissen ja einige der älteren unter euch oder auch unter euren Familien etwas aus der Vergangenheit, das uns behilflich sein könnte. Wem irgendetwas dazu einfällt, der meldet sich unverzüglich bei mir! … Nun aber lasst uns die Einteilung vornehmen und anschließend umgehen aufbrechen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“

Kapitel 20 – Zweifel und Glauben

„Bist du dir ganz sicher? Vielleicht sollte Lany doch lieber bei unserer Mutter bleiben. Sie hat noch keine Kampferfahrungen und wer weiß, wie sie reagieren wird, sobald sie diesem Scott gegenübersteht. Vielleicht wäre es noch etwas viel für sie und du wärest aus Sorge um sie auf jeden Fall so abgelenkt, dass du dich vielleicht nicht richtig auf den eigentlichen Kampf konzentrieren könntest. Warren überleg´ es dir bitte noch mal. Ich weiß, du bist nun unser Oberhaupt und ich will auf keinen Fall deine Entscheidungen infrage stellen, aber ich mache mir ernsthaft Sorgen … um euch beide!“

 

„Jack! Du hast recht, ich bin der Alpha und ich treffe hier die Entscheidungen. Sicherlich habe ich mir diese Sache auch schon durch den Kopf gehen lassen, aber glaube mir, es ist für uns beide sicherer, wenn Lany mit uns kommt. Ich würde mir ansonsten nur noch mehr Sorgen darum machen, ob nicht doch jemand den Weg zu ihr finden und sie uns wieder entreißen würde. Auch wenn es meine eigene Konzentration im Gefecht vielleicht etwas minimieren wird, wenn sie dabei ist, so wäre diese noch wesentlich geringer, wenn sie weit entfernt von mir wäre, wo ich ihr auf keinen Fall sofort helfen könnte.“ Aus jedem seiner Worte konnte man Warrens Verzweiflung darüber, Lany könnte etwas zustoßen, heraushören. Doch ihm blieb keine andere Wahl und so musste auch Jack seine Entscheidung ohne weitere Kommentare hinnehmen.

 

Jack konnte eh froh sein, dass sein Bruder sich seine Worte überhaupt erst angehört hatte und ihn nicht gleich zum Teufel gejagt oder ihm seine Stellung im Clan neuerlich zugewiesen hatte - was sein absolutes Recht gewesen wäre.

 

Warren hatte um sich herum einen Trupp seiner besten Kämpfer gescharrt. Darunter seine Brüder Jack und auch Lucian, der erst kurz vor Ende der großen Ratssitzung in Rosas Kneipe eingetroffen war. Sein Vater führte eine andere Truppe an, die sich auf die Suche nach dem eigentlichen Auftraggeber machen sollte, sobald Nicolai das Zeichen dazu gab.

 

Jeder bereitete sich auf seine ganz eigene Art auf die bald beginnende Schlacht vor. Warren selbst war mit Lany zusammen ins Baumhaus zurückgekehrt, um die letzten Stunden bis zum Aufbruch mit ihr allein zu verbringen. Auch Jack machte sich nun von dort auf den Weg zu seiner eigenen Behausung und um sich seinerseits vorzubereiten.

 

Diejenigen, die hier in den Wäldern keine eigenen Unterkünfte besaßen, waren überwiegend in Rosas Kneipe geblieben oder nutzten noch einmal die Gelegenheit, gemeinsam durch die heimischen Wälder zu streifen, die sie schon so lange Zeit nicht mehr betreten hatten.

 

Bei allen war eine gespannte, ja sogar fast euphorische Aufregung zu spüren. Endlich ging es vorwärts. Endlich hatten sie das erste Mal überhaupt eine reelle Chance darauf, das alles zu beenden. Nachdem nun immer klarer wurde, dass all diese Angriffe auf das heiligste aller Heiligtümer auf eine einzelne Person zurückzuführen waren. Und Nicolai, ihr Computergenie, war zuversichtlich, dass er demjenigen schon ganz dicht auf den Fersen war.

 

In friemeliger Kleinstarbeit tastete er sich Stückchen für Stückchen durch all die verschlungenen und unglaublich geschickt verworrenen Wege der Transaktionen, die  ihn zum Ursprung des Geldflusses, zum Kern allen Übels führen würden. Wie im reellen Leben pirschte er sich, Jäger, der er nun einmal war, an seine Beute heran. Jeder noch so kleine Schritt brachte ihn näher an sein Ziel und er war sich mehr als sicher, dass er dieses Ziel tatsächlich in nur noch wenigen Minuten, maximal Stunden erreicht haben würde. Er hatte Blut gerochen und würde nicht eher ruhen, bis er seine wohlverdiente Jagdtrophäe erhalten hätte.

 

Und über all diese Euphorie spürte jeder Einzelne des Clans auch ein ganz anderes Gefühl. Es war wie eine große Decke, die sich um alle ihre Seelen wickelte und sie in ihre schützende Wärme einschloss. Eine neue Zeit war für den Clan angebrochen. Sie hatten zwei neue Oberhäupter und die bereits schwindende Hoffnung auf einen neuen Auserwählten der Götter, der ihren Clan geistig führen würde, war mit dem Auftauchen der Enkeltochter des weisen Ernest nicht nur zurückgekehrt, sondern hatte sich auch mit ihr in Realität verwandelt.

Kapitel 21 – Schlachtengetümmel

Lany fühlte sich, als ob sie neben sich selbst stehen würde und auf das Ganze als ein entfernter Beobachter schauen würde. Alles war auf einmal so schnell, so überstürzt vonstattengegangen, dass sich ein Teil ihrer selbst an einen anderen Ort zurückgezogen hatte. Sicher, sie fühlte sich in Warrens Nähe absolut geschützt und behütet. Nie würde sie auf die Idee kommen, er würde nicht absolut alles zu ihrem Schutz Notwendige tun und doch war sie verängstig. Nicht im Traum konnte Lany sich vorstellen, was in so einem Kampf auf sie zukommen würde und doch wollte sie keine einzige Sekunde von Warrens Seite weichen. Nicht auszudenken, was sie tun würde, sollte er irgendwie verletzt oder gar schlimmer noch, getötet werden. Nein, sie musste bei ihm sein, egal, was es für sie selbst bedeuten würde. Sie beobachtete ihn mit niedergeschlagenen Lidern durch ihre dichten Wimpern. Wie er mit geschmeidigen Bewegungen von der Terrasse herein und zur Küchentheke trat. Er hatte sich soeben von Jack verabschiedet. Lany hatte nur ansatzweise das Gespräch zwischen den beiden Brüdern hören können, das trotz der ruhigen Art und Weise sie derart beunruhigt hatte, dass sie nun ganz still auf dem Rand des großen Bettes saß und sich zu beruhigen versuchte. Dabei half es ihr ungemein, die anmutigen und kraftvollen Bewegungen ihres Gefährten zu beobachten. Sein ganzes Auftreten war von Kraft und Stärke geprägt. Bei ihm musste sie sich einfach sicher fühlen. Besonders wenn sich die ständig unterschwellig anwesende Erregung Bahn nach außen brach, wenn sie Warren in ihrer Nähe wusste und ihn so beobachtete, wie sie es gerade tat. Sie war noch nie eine Frau gewesen, die sich viel aus dem anderen Geschlecht gemacht hatte. Nicht, dass sie überhaupt nicht auf Männer stand, aber es war ihr in ihrem bisherigen Leben noch nie einer begegnet, der es bei ihr geschafft hätte, dass sie sich von ihm derart angezogen fühlte, um ihn jede Sekunde des Tages nackt in ihrem Bett hätte haben zu wollen oder gar nur die Finger hätte von ihm lassen zu können. Dafür hatte eine Zeit lang auch die Familie ihrer Mutter gesorgt, die zu allem Überfluss auch noch an einer Verbindung zwischen ihr und ihrem Cousin Derkland mit seinen 54 Jahren – der sowieso viel zu alt für ihren Geschmack war – mit einer Vehemenz festhielt, dass es sie schon gruselte. Doch bei Warren war es, wie sie sich nun immer wieder eingestehen musste, von Anfang an vollkommen anders gewesen. Es war, als hätte sie ein Leben lang nur auf diesen einen Mann gewartet, als wäre er nur für sie und sie nur für ihn geschaffen worden. Ihr war klar, wie kitschig sich dies anhörte und bei ihren Gedanken daran, huschte immer wieder ein leises Lächeln über ihre sanften Gesichtszüge, aber es schien nun einmal tatsächlich so zu sein.

 

Und das machte es umso wichtiger, das Problem mit den Söldnern und diesem großen Unbekannten aus dem Weg zu räumen, damit sie endlich ihr Leben mit Warren richtig beginnen konnte.

 

***

 

Früh am nächsten Morgen wurden Warren und Lany mehr oder weniger unsanft aus ihrem viel zu kurz andauernden Schlaf gerissen, nachdem sie fast die ganze Nacht noch ihre ungestörte Zweisamkeit ausgiebig genossen hatten. Ein Anrufer auf Warrens Satellitentelefon machte es unmöglich, auch nur eine Sekunde ans Weiterschlafen zu verschwenden.

 

Es war Nikolai, der von seinem Jagderfolg berichten wollte. Er hatte tatsächlich die Spur bis zu einem Großunternehmen zurückverfolgen können. Ihm fehlte nur noch der letzte alles entscheidende Hinweis, um mit Sicherheit den Auftraggeber zu entlarven.

 

„Leider hat die Firma mehrere Eigner. Das macht es natürlich schwieriger, denjenigen zu finden, der der Urheber allen Übels ist. Aber das sollte nun eigentlich auch kein großes Problem mehr darstellen.“, hörte Lany gerade Nikolai am anderen Ende der Leitung zu Warren sagen.

 

„Was genau ist das für ein Unternehmen, Nik?“, wollte Warren wissen.

 

„Das ist ja das Eigenartige. Nach außen hin sind sie in der Agrarwirtschaft angesiedelt. Sie verkaufen alles was mit Viehwirtschaft und Ackerbau zu tun hat. Allerdings haben sie sich auch vor ein paar Jahren dahingehend erweitert, dass sie für privilegierte Gruppen Abenteuerurlaube mit dem besonderen Kick vermitteln. Ich bin nur noch nicht dahinter gestiegen, was das für privilegierte Gruppen sind und was genau die Veranstalter unter dem besonderen Kick verstehen. Ihr Hauptsitz ist in Alabama, nahe dem Taladega National Forest in Rainbow City. Der Name der Firma lautet Company for organic farming and more – old Ferrell and sons …”, weiter kam Nikolai nicht, als Warren plötzlich das Telefon von einer vollkommen verwirrten Lany aus der Hand gerissen wurde.

 

“Das kann doch aber gar nicht sein, Nikolai! Das ist unmöglich! Sie sind zwar Idioten, aber so etwas würden sie doch nie machen. Ich kann es nicht glauben!“, Lany war vollkommen außer sich und auch das beruhigende Streicheln auf ihrem Rücken durch Warren half nichts.

 

„Wen meinst du, Lany? Kennst du diese Firma oder jemanden der dort arbeitet?“, fragten nun Nikolai und Warren fast aus einem Munde.

 

„Ich … ich kenne nicht nur die Firma, ganz zu schweigen von den Inhabern. Ich … ich bin sogar mit ihnen verwandt! … O Gott, Warren! Was bedeutet das alles nur?“

 

„Bitte beruhige dich doch erst mal … komm bitte und setz dich … es wird sich schon alles aufklären.“

 

Während Warren sie hinüber zu einem Stuhl begleitete, nahm er ihr das Telefon wieder ab und verabschiedete sich mit letzten Anweisungen von Nikolai. Warren war aufgrund dieser neuen Informationen selbst wie vor den Kopf geschlagen. Was hatte seine süße, sanfte Lany mit diesen Leuten zu schaffen, die dem Clan schon seit so vielen Jahren zu schaffen machten.

 

Als er ihr einen frisch aufgebrühten Tee reichte, nahm sie die Tasse schweigend entgegen. Sie schien gerade in eine andere Welt abgetaucht zu sein. Vollkommen abwesend, ja fast apathisch saß sie nun vor ihm.

 

***

 

Lany musste erst einmal ihre vollkommen durcheinander geratenen Gedanken ordnen. Wie damals in ihrem Studium arbeitete sie sich nun Stück für Stück durch die einzelnen Schichten ihres Problems. Sie sezierte sie – jede einzelne ihrer Erinnerungen – und versuchte, alles in einem großen Zusammenhang zu betrachten.

 

Wie konnte sie etwas damit zu tun haben? Und noch viel wichtiger – wie konnte sie, Lany, all die Jahre nichts davon mitbekommen haben? Sicher, das allerbeste Verhältnis zueinander hatten sie beide nie gehabt. Lany hatte sich nie von ihr wirklich angenommen, geschweige denn geliebt gefühlt. Immer hatte sie ihr irgendwelche Steine in den Weg gelegt, wenn Lany versuchte auf eigenen Beinen zu stehen. Nie hatte sie sie in irgendetwas unterstützt. Für Lany sollte es nur einen möglichen Weg geben – und an erster Stelle auf diesem Weg stand eine Heirat mit ihrem Cousin Derkland, dem Ekel. Nie sollte sie ihre Erwartungen an ihr bescheidenes Dasein höher setzen, als irgendwann als brave Hausfrau, unterwürfige Ehefrau des besagten Derkland und hoffentlich mehrfache Mutter auf dem Land der Familie Ferrell zu enden. Zu etwas anderem wäre sie einfach nicht geeignet. Lauren Briscott, ihres Zeichen nach eine Ferrell der weiblichen Familienlinie, hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihrer Tochter nicht mehr als eben dieses Schicksal zutraute, und eben auch nicht mehr als das genehmigen würde. Und auch alle anderen Mitglieder der Ferrell-Familie hatten sie auf diese Weise behandelt – mehr wie eine gerade so geduldete Außenseiterin, denn wie ein Familienmitglied und gerade so dazu geeignet, die nächste Ferrell-Generation hervorzubringen. Aber warum nur?

 

***

 

Warrens Nerven waren allmählich bis aufs Äußerste gespannt. Er hatte noch immer keine Ahnung, was hier vor sich ging und was Lany mit diesen Leuten zu tun hatte. Er machte sich Sorgen, denn nach wie vor hatte seine Gefährtin noch kein einziges Wort gesprochen, geschweige denn irgendeine andere Reaktion gezeigt. Der zuvor noch heiße Tee in ihrer Tasse war inzwischen ungetrunken abgekühlt, während Lany nach wie vor in vollkommener Starre verharrte. Nichts schien sie von dort, wo sie sich gerade befand, zurückholen zu können. Was sollte er nur tun?

 

„Oh, ihr Götter! Das darf nicht wahr sein …“, brach es unvorbereitet aus Lany heraus. Ihre Augen weit aufgerissen – Erkenntnis und Trauer, Schock und Unglaube spiegelten sich in ihrem Blick, den sie nun auf Warren richtete wider.

 

„Ich muss noch einmal telefonieren, Warren – schnell!“

 

Während Lany eine Nummer ins Telefon eingab, flehten ihre Augen Warren um ein wenig mehr Geduld an. Als das Freizeichen ertönte, spannte sich alles in Lany in Erwartung dessen, was sie hoffte zu erfahren, an.

 

„Hey, Warren! Was gibt’s denn noch? So schnell bin ich nun auch wieder nicht …“, ertönte am anderen Ende der Leitung nochmals Nikolais Stimme.

 

„Nein, Nik! Ich bin es, Lany. Kannst du mir bitte einen Gefallen tun und gleich jetzt mal nachschauen, wo genau die Ferrells diese so genannten Abenteuerurlaube anbieten? Wie das Gebiet heißt?“, und noch während Lany ihre Bitte äußerte, beschlich sie ein ungutes Gefühl.

 

„Ah, Lany! Na klar … nur einen kleinen Moment, aber das sollten wir gleich wissen. Nur ist mir nicht ganz klar, wie uns das bei unserem Problem weiterhelfen sollte? Und wie meintest du das vorhin, du wärst mit dieser Familie verwandt?“

 

Während Nik mit ihr sprach, konnte sie im Hintergrund hören, wie er eifrig in die Tasten schlug, um die gesuchten Informationen zu erhalten.

 

„Bitte gib mir erst die Informationen. Alles andere werde ich danach erklären.“

 

„Es ist gar nicht so einfach. Diese Informationen werden anscheinend nur dem besonderen Klientel bekannt gegeben. Und es ist auch in den Grundbucheinträgen nichts verzeichnet, was der Familie Ferrell oder ihrem Konzern zugeordnet werden kann. Zumindest passt keins ihrer Grundstücke zu einem Gebiet, welches man für Abenteuerurlaube oder ähnliche Amüsements nutzen könnte …“, Nikolai hörte sich tatsächlich ein wenig verzweifelt an. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Lany darüber sicher geschmunzelt. Der große Nikolai, das Genie der Computer- und Internetwelt wusste endlich einmal nicht weiter.

 

Aber leider war die Lage ernst und somit musste das Schmunzeln auf später verschoben werden. Lany kam gerade eine Idee.

 

„Nik, wenn es zum Namen Ferrell keine Eintragungen für so ein Grundstück gibt, versuch es doch bitte mal über den Namen Briscott!“

 

„Ja, mache ich! Aber warum … Moment mal … ja, hier ist was! Oh, Wahnsinn! Das ist ja ein riesiges Gebiet …“, Nikolai schien kurzzeitig sprachlos zu sein.

 

„Nik, wie heißt dieses Gebiet und wer genau ist als Eigentümer eingeschrieben?“, bohrte Lany genauer nach.

 

„Du wirst es nicht glauben … oder … oder vielleicht doch?“, Nikolais Ton nahm einen eigenartigen Ton an, „Lany, was genau weißt du darüber? Was hast du damit zu tun?“ Der misstrauische Unterton trat nun vollkommen offen zu Tage.

 

„Nik, bitte! Sag mir erst, wer als Eigentümer ins Grundbuch eingetragen ist!“, flehte Lany nun schon beinahe verzweifelt. Auch Warren der mittlerweile ganz nahe bei ihr stand und ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, konnte ihre Nervosität nicht drosseln.

 

„Also gut! Es handelt sich um ein mehrere Tausend Hektar umfassendes Areal am Mount Brook Lake nahe der CR-412 im Taladega National Forest. Und der Name der Eigentümerin im Grundbucheintrag lautet: Lany Briscott! Überschrieben im Jahr 1998 durch Erbschaft von Ernest Sheridan.“

 

Nikolais Argwohn sprang sie förmlich schon durchs Telefon an. Würde er ihr gerade gegenüberstehen, würden sich vermutlich beide mit ausgefahrenen Krallen und gebleckten Reißzähnen gegenseitig anknurren.

 

„Nikolai, mach dich nicht lächerlich. Reiß dich zusammen, Junge! Lany wird das mit Sicherheit aufklären können. So, wie sie hier gerade sitzt, wusste sie selbst nichts davon. Also rate ich dir – warte erst einmal ihre Erklärung ab, bevor du hier irgendwelche Anschuldigungen in den Raum stellst!“, mischte sich nun Warren – Kraft seiner gesamten Alpha-Autorität – ein. Auch wenn er selbst einen leichten Schock von dieser Neuigkeit davongetragen hatte, sagte ihm doch ein Blick auf seine Gefährtin, dass sie absolut nichts mit all dem zu tun hatte. Trotzdem war nun auch seine Neugierde mehr als geweckt. Daher sagte er nun, „Ganz ruhig, Kätzchen … erzähl uns bitte, was es damit auf sich hat. Bitte vertrau mir, niemand will dir hier etwas Böses!“

 

Die Tränen, die sich mittlerweile in ihren Augen sammelten, wischte Lany mit einer energischen Handbewegung fort. Nichts hätte sie auf diese Neuigkeit vorbereiten können. Sie hatte eigentlich etwas anderes vermutet, aber dies hier war noch viel, viel schlimmer, als von ihr befürchtet. Als sie sich wieder einigermaßen gesammelt hatte, begann sie zu erklären. „Dieses Land hat tatsächlich einmal meinem Großvater gehört. Warren, du erinnerst dich sicher, was ich dir vor einigen Tagen darüber erzählt habe. Eines Tages wurde mir von meiner Mutter nur gesagt, dass die Zeiten mit meinem Großvater nun endlich vorbei wären. Und während sie darüber mehr als glücklich zu sein schien, hat es mir das Herz zerrissen. Ich war damals gerade 14 Jahre als gewesen und mein Großvater hat mir die Welt bedeutet und nun war er einfach nicht mehr da. Das Zweitschlimmste daran war allerdings, dass sie mir sagten, dass ich auch nie wieder auf das Land meines Großvaters gehen dürfte. Sie hatten es damals damit begründet, dass es verkauft werden musste, um angeblich seine ganzen Schulden begleichen zu können. Nie wurde auch nur ein Sterbenswörtchen darüber laut, dass das Land an mich überschrieben worden ist. Als ich nach Nikolais erstem Anruf darüber nachgedacht habe, sind mir aber einige Ungereimtheiten aufgefallen und so habe ich jetzt einfach aufs gerade Wohl kurzerhand geraten. Nikolai, sieh doch bitte noch einmal genauer nach, ob nicht noch irgendeine andere Information zu diesem Eintrag existiert!“, bat Lany schließlich.

 

Nikolai, nun wieder etwas ruhiger und anscheinend auch bereits besänftigt, tippte erneut auf seiner Tastatur herum, bis er schließlich bestätigte, „Ja, du hast recht. Hier gibt es noch einen gut versteckten Vermerk, der nur über Umwege zugänglich ist und gar nicht auf den ersten Blick auffällt. Da heißt es: ´Treuhänderisch – und zwar unbefristet bzw. bis auf Widerruf verwaltet durch Lauren Briscott, geborene Ferrell.´ Lany, weißt du, wer diese Frau ist?“

 

„Ja, allerdings – Lauren Briscott ist meine Mutter!“ ließ Lany nun die Bombe platzen.

 

Hinter Warren und Lany erklang nach diesen Worten ein entsetztes Luftschnappen. Ohne, dass die beiden etwas bemerkt hätten, waren nicht nur Warrens Eltern, sondern auch Lanys Vater zusammen mit seiner Gefährtin ins Haus getreten und hatten sich schon gewundert, dass Warren so gar nicht auf sie reagierte. Erst hatten sie angenommen, dass das frisch verliebte Pärchen einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, als dass sie etwas anderes außer sich wahrnahmen. Aber als sie dann auf der Terrasse und schließlich auch im Haus angekommen waren, hatten sie gerade noch so dem restlichen Telefonat folgen können, sodass nun Nesta und Nathan gemeinschaftlich vor Schreck die Luft einsogen und Ephraim ein bedrohliches Knurren entwich.

 

Davon nun endlich aufgeschreckt, schauten Lany und Warren sich um und erblickten ihre Besucher. Nikolai, der am anderen Ende der Leitung nur mitbekam, dass etwas geschehen sein musste, verhielt sich seinerseits nun still und lauschte angestrengt – jederzeit bereit, von seinem Platz aus, Hilfe zu seinem Alphapärchen zu schicken.

 

Mit einem Aufschluchzen sprang Lany von ihrem Platz neben Warren auf und floh in die offenen Arme ihres Vaters, der ihr beruhigend, aber doch etwas unbeholfen über den Rücken strich. Nur mit einiger Mühe konnte Lany die Tränen zurückdrängen, die sich vehement einen Weg aus ihren Augen und über ihre Wangen bahnen wollten. Sie musste nun Ruhe bewahren und rief sich daher energisch selbst zur Ordnung. Immerhin war sie nun nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich, sondern gleich für einen kompletten Clan. Auch wenn es ihr unglaublich schwer viel, aus dem schützenden Kokon, den die Umarmung ihres Vaters für sie bedeutete, herauszutreten, so straffte sie doch nach einem kurzen Blick in Nathans Augen ihre Schultern und trat wieder an die Seite ihres Gefährten. Ihr Vater sollte stolz auf seine Tochter sein können. Das war für sie nun wichtiger denn je.

 

Und genau dieser Stolz, den sie nun tatsächlich im Blick ihres Vaters erkennen konnte, ließ sie jetzt weitersprechen. „Soweit ich weiß, hat es keine Testamentsverlesung gegeben, jedenfalls nicht offiziell. Und wenn doch, dann haben sie mich auf jeden Fall davon ferngehalten. Wie sonst hätten sie es sonst arrangieren können, dass meine eigene Mutter als Treuhänderin für diese Erbschaft eingesetzt wurde. Was mir noch schleierhafter ist: Wie haben sie es geschafft, diese treuhänderische Verwaltung quasi unbefristet und bis auf Widerruf zu erlangen. Sämtliche Rechtsgrundlagen sind dabei übergangen worden. Normalerweise endet so eine Verwaltung grundsätzlich mit dem Eintritt des Erbschaftshalters in die Volljährigkeit. Nur wenn jemand geistig, zum Beispiel durch Behinderung, nicht dazu in der Lage sein sollte, kann diese Regelung ausgesetzt werden.“, bemerkte Lany grüblerisch.

 

„Aber natürlich! … Nur so kann es Ihnen möglich gewesen sein! Meine Mutter hat immer wieder allen möglichen Leuten gegenüber meine eigene „Einfachheit“ betont und hat mit allen Mitteln versucht, mich ebenfalls davon zu überzeugen. Sie hat immer mit größtem Bedacht darauf geachtet, dass alle denken, einschließlich mir selbst, dass ich dumm wie Stroh bin und zu nichts mehr tauge, als zum Heimchen am Herd und freudige Gebärmaschine für die nächste Generation der Ferrell-Linie. Doch ich habe mir selbst und allen anderen auch bewiesen, dass diese Verleumdungen durch meine Mutter und ihre Familie nichts als Lügengeschichten sind. Und schließlich bin ich bei einer Nacht und Nebel-Aktion aus diesem Gefängnis ausgebrochen und so weit wie möglich von ihr und dem Rest der Familie fort gegangen. Leider haben sie mich dann doch irgendwann ausfindig machen können. Nur da war es bereits zu spät. Ich hatte mein Studium der Rechtswissenschaften, welches ich nur dank eines Stipendiums und über einige kleinere Nebenjobs finanzieren konnte, bereits begonnen und war kurz vor dessen Abschluss. Dass ich inzwischen volljährig war, schützte mich zusätzlich vor deren Übergriffen. Denn auch wenn meine Mutter und später sogar ihr Vater versuchten, über gerichtliche Instanzen mich zu verunglimpfen und mir eine Vormundschaft durch sie aufzuzwingen, konnten doch alle das Gegenteil ihrer Behauptungen mit eigenen Augen sehen. Mit riesigen Krokodils-Tränen und vorwurfsvollen Blicken krönte meine Mutter schließlich den Abschluss der Gerichtsauseinandersetzungen. Sie wolle doch angeblich nur das Beste für ihre kleine unschuldige und vollkommen simple Tochter. Wie konnte ein Gericht und zig Gutachter etwas anderes in ihr sehen, als das, was ihre Familie schon seit Ewigkeiten wusste? Doch die Richter blieben hart und erlegten meiner so genannten Familie sogar Umgangsregeln im Zusammenhang mit mir auf, die, wenn diese nicht eingehalten werden würden, dazu führen würden, dass sie sich mir überhaupt nicht mehr nähern dürften.“

 

„Ja, aber was haben sie sich davon versprochen und wie hängt dies alles mit unserem eigentlichen Problem nun genau zusammen? Ich kann leider noch nicht das Große und Ganze hierbei erkennen. Sicherlich, sie haben sich über Täuschung und Betrug das Land von Ernest unter die Nägel gerissen. Dies ist aber ein Punkt, der sich sicherlich ganz schnell mit dem nötigen Kleingeld rückgängig machen lässt. Aber was haben nun diese Familie, ihr Konzern, das Land von Ernest und schlussendlich du, Lany, mit den Söldnern und deren Auftraggeber zu tun, die ständig näher an unsere heilige Stätte herankommen?“, fragte Nikolai nun, da das Telefonat nach wie vor noch nicht unterbrochen worden war.

 

„Ich glaube, dass wir das nur herausbekommen können, wenn wir zu ihnen hinfahren und uns die ganze Sache selbst anschauen.“, warf Warren daraufhin ein. „Keinem ist es mehr bewusst als mir, dass wir zurzeit alle verfügbaren Kräfte des Clans hier vor Ort benötigen, um der Bedrohung durch die Söldner entgegenzutreten … ABER, wenn wir das Problem bei der Wurzel packen können, wird ihr Geflecht wahrscheinlich schneller zerfallen, als wenn wir immer nur wieder an deren Enden ihre Reihen dezimieren. Finden wir den Verantwortlichen, den Geldgeber und schalten IHN aus, dann haben die Söldner keinerlei Gründe mehr, sich noch länger hier im Urwald aufzuhalten. Von diesem Scott mal ganz abgesehen … der wird so oder so zur Rechenschaft gezogen werden und seine Strafe erhalten. Doch erst einmal müssen wir uns um das schlimmere Übel kümmern. Vater, ich möchte, dass du während meiner Abwesenheit …“

 

„Nein, Warren! Du kannst nicht selbst dorthin reisen. Du bist zu wichtig für den Clan! Du musst …“, fiel Ephraim seinem Sohn ins Wort und wurde sogleich wieder von diesem unterbrochen.

 

„Doch, ich und nur ich, zusammen mit Lany und einigen unserer besten Männer werden das Problem lösen können. Das ist mein letztes Wort hierzu und ich dulde – auch von dir, Vater – KEINE Widerrede in dieser Angelegenheit! Du und Mutter werden Lany und mich während unserer Abwesenheit hier vertreten! … Nathan. Du wirst uns begleiten. Nesta, du bleibt unterdessen bei Rosa und auch da möchte ich keine Widerrede hören. Ansonsten möchte ich, dass alle anderen, die nicht mit uns kommen, versuchen, die Söldner so lange wie möglich aufzuhalten – egal mit welchen Mitteln und mit welchen Konsequenzen!“

Kapitel 22 – In der Höhle des Löwen

Nachdem Warren allen Beteiligten entsprechende Anweisungen gegeben hatte, waren er, Lany, Nathan und Nesta zu Rosa aufgebrochen, um dort auf ihre anderen Reisegefährten zu warten. Auch sollte das Flugzeug, das sie nach Alabama bringen sollte schon in Kürze eintreffen. Lanys Vater hatte sich mit Nesta kurz noch einmal abgesetzt. Nicht nur, um Warren und Lany ein wenig Zweisamkeit zu gönnen bevor sie aufbrechen würden, sondern um selbst noch einmal ungestört zu sein.

 

„Warren? ... Meinst du, dass diese Entscheidung wirklich richtig ist? Was ist, wenn hier vor Ort was geschieht? …Wenn sie uns brauchen und wir nicht da sind, um ihnen zu helfen?“, fragte Lany zögernd.

 

Mit einem kaum wahrnehmbaren Knurren löste Warren sich aus seiner Starre und erhob sich vom Barhocker, auf dem er eben noch gesessen und in sein, mit mittlerweile schalem Bier gefüllten Krug geschaut hatte. Hätte irgendjemand anderes aus seinem Clan ihm diese Frage gestellt, wäre er sofort zum Angriff übergangen. Denn es war niemandem gestattet, seine Integrität infrage zu stellen und so seine Autorität zu untergraben. Jeder Akt dieser Art hätte unweigerlich eine aggressive Handlung, eine Herausforderung an den Clanführer bedeutet.

Aber nicht bei IHR. Seine süße, bezaubernde Gefährtin, die ihn normalerweise mit einem aufreizenden Funkeln in den Augen anschaute, durfte ihn alles fragen was sie wollte – … wenn kein anderer zu gegen war, der die Unterhaltung zwischen ihnen falsch verstehen könnte. Und trotz Lanys Unerfahrenheit mit ihrem neuen Leben, mit dem Clan, mit den Gesetzen, die innerhalb dieser Gesellschaft herrschten, hatte sie eine unglaubliche Intuition, die ihr dabei half, sich genau richtig zu verhalten. Vielleicht war dies auch dem Erbe von Ernest geschuldet, das er an sie weitergegeben hatte und sie somit sensibler für solche Dinge war als andere.

 

Doch nun, als er sich ganz zu ihr umdrehte, war dieses Funkeln in Lanys Augen verschwunden. Er hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Damals, als sie ihm von Scott erzählt hatte.

 

Lany hatte Angst.

 

Sie fürchtete sich so sehr, dass noch nicht einmal die Stärke ihrer zweiten Natur ihr helfen konnte, diese Angst in den Griff zu bekommen. Was dachte sie, würde ihnen dort passieren? „Vertraue mir! Es war die einzig mögliche Entscheidung für uns. Wovor fürchtest du dich so sehr, Lany? Du weißt inzwischen, wozu du wirklich fähig bist. Und wir sind dort ja nicht auf uns allein gestellt …“

 

„Meine Kleine, Warren hat recht. Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird sich schon alles zum Besten wenden.“, warf plötzlich Nathan, der soeben wieder den Schankraum betreten hatte, ein. Der Seitenblick, den Warren ihm in diesem Moment zuwarf, sprach Bände. Aber auch wenn er sein Clanführer war, so musste er sich nun trotzdem als sein Schwiegersohn die Einmischung von ihm als Vater seiner Gefährtin gefallen lassen. Nathan würde Lany nicht noch einmal im Stich lassen. Er hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, was gerade in seiner Tochter vorging. Kurzerhand trat er auf sie zu und nahm sie in den Arm – trotz des Knurrens und Fauchens ihres Gefährten, der gerade in der ersten Zeit der Gefährtenbindung noch nicht einmal männliche Familienmitglieder an seine Frau ranlassen wollte. Nathan konnte sich noch gut daran erinnern wie es ihm damals mit Nesta ergangen war. Aber nun ging es um eine noch viel wichtigere Sache, eine, für die er sich auch gerne vom Alpha des Clans den Kopf abreißen lassen wollte: seine kleine Tochter!

 

„Du hast Angst vor deiner Mutter, nicht wahr mein Schatz?“, zärtlich strich Nathan seiner Tochter bei diesen Worten über den Kopf, „Und erst recht, da ich mit dir zurückkehren werde. Du weißt nicht, wie sie sich verhalten wird, wie sie zu dir steht oder je zu dir gestanden hat. Du möchtest auf all deine Fragen Antworten erhalten und fürchtest diese gleichzeitig so sehr, dass du nun vollkommen verwirrt, ja sogar verstört bist.“

 

Lany hatte das Gefühl, ihr Vater würde in ihr wie in einem offenen Buch lesen. Wie war so etwas möglich. All die Jahre haben sie sich nicht gesehen und doch schien er sie besser zu kennen, als irgendjemand sonst. Selbst ihre Mutter hatte sie nie verstanden – sie hatte ihre Ängste und Gefühle stets nur als Humbug, als nervtötend abgetan und ihr nie die Geborgenheit einer tröstenden Umarmung geboten. Und hier steht sie nun. Eine 28-jährige, erwachsene Frau und klammert sich in einem Schwall an überschäumenden Gefühlen, wie eine Dreijährige in der Umarmung ihres Papas fest.

 

„Woher weißt du das alles? Wie kannst du wissen, wie es in mir aussieht?“, fragte Lany nun etwas näselnd, da sie ihr Gesicht an der starken Brust ihres Vaters barg.

 

„Ganz einfach – weil ich genauso bin! Ich sehe zwischen uns viele Parallelen und dies ist nun einmal eine davon. Oh Mann, was habe ich in deinem Alter für Panikattacken durchlebt? … Kein Wunder, wenn man mit einem hypersensiblen Gespür für alles um einen herum geboren wird. Und damit meine ich nicht nur irgendwelche offensichtlichen, unmittelbaren Gefahren, die für jeden sichtbar, jeden Tag aufs Neue passieren. Nein, ich meine auch sämtliche feinstofflichen Schwingungen, Emotionen und Gedanken, die wir von anderen empfangen. Wenn diese ungebremst und ungefiltert auf uns einstürmen, kann unser Geist diese nicht komplett verarbeiten und SCHWUPS – da ist sie, die PANIKATTACKE!“, schloss Nathan schmunzelnd seine Erklärung.

 

Sein Gefährtengebahren durch seine Neugierde auf Nathans Erzählung vollkommen in den Hintergrund getreten, stand Warren nur da und staunte.

 

„Du hast nie etwas davon erzählt, dass du das alles wahrnehmen kannst, Nathan. Ich habe immer gedacht, dass Ernest der einzige von uns gewesen wäre, der solche Fähigkeiten besäße. Und ich habe an dir auch noch nie so etwas wie Panik gespürt. Wie ist das möglich?“

 

„Mach dir nichts draus! Du kannst es auch nicht wissen, da diese Panikattacken weit vor deiner eigenen Geburt bereits aufhörten. Vergiss nicht, dass ich altersmäßig sogar deinen eigenen Vater noch in den Schatten stellen könnte.“, versetzte Nathan scherzhaft, „Mein Vater erkannte damals die Notwendigkeit, mich zu lehren, wie ich mich selbst abschotten und damit mich selbst schützen konnte. Ohne seine Unterstützung wäre ich wohl früher oder später durchgedreht. Wahrscheinlich ist auch das der Grund, warum die Götter mich nie zum Nachfolger meines Vaters erwählten. Denn ich habe trotz allem nie die innere Stärke, die Kraft und den Mut für diese Aufgabe besessen. Nicht so wie meine kleine Lany hier. Denn auch wenn sie sich ängstigt, so mindert dies nicht ihre Stärke. Sie lässt sich davon über kurz oder lang nicht unterkriegen. Wahrscheinlich hat sie es nur diesem Umstand zu verdanken, dass sie das Leben bei ihrer Mutter und ihrer Familie überlebt hat.“

 

Wahrere Worte – auch wenn Nathan und alle anderen noch nicht wussten wie wahr sie waren – waren nie gesprochen worden.

 

„Kannst du mir beibringen, wie ich mich dagegen abschotten kann – … später, wenn wir das alles hier hinter uns gebracht haben?“

 

„Selbstverständlich werde ich es dir beibringen, mein Schatz. Dafür sind Väter doch schließlich da, oder nicht?“

 

Im nächsten Moment wurde die Kneipentür geöffnet und eine Frau – augenscheinlich um die 20 Jahre alt – mit goldblondem, wellig fließendem Haar, warmen goldbraunen Augen und einer Figur, die einen Waffenschein benötigen würde, trat ein. Hätte Lany diese Frau irgendwo in ihrer alten Heimatstadt getroffen, hätte sie sie sofort für eine reiche und wahrscheinlich ziemlich eingebildete Ziege gehalten und keinesfalls einen zweiten Blick, geschweige denn irgendwelchen Kontakt riskiert. Aber nun – mit ihren neuen Fähigkeiten – konnte sie erkennen, was sie früher übersehen hätte. Es waren ihre Anmut und die Geschmeidigkeit mit denen sie sich durch den Raum bewegte, die Lany nun neben dem ganz urtümlichen Geruch verrieten, dass diese Frau ebenfalls zu ihrer Spezies gehörte. Gespannt beobachtete Lany, wie die Frau sich weiterhin ihren Weg durch die einzelnen Tischgruppen und Stühle bahnte – direkt auf sie zu. Wer war das und was wollte sie hier bei ihnen?

 

Mit einem Mal spannte sich alles in Lany an. Ihre Augen fixierten das Gesicht der fremden Frau, das sich plötzlich unter einem strahlenden und zugegebenermaßen umwerfenden Lächeln erhellte.

 

Nathan nahm sofort die Änderung in Lanys Körperspannung wahr. Glücklicherweise hatte sie ihn noch nicht losgelassen und befand sich daher immer noch im Bereich seiner schützenden Arme. Doch nun würden diese Arme nicht mehr länger Lany als Schutz dienen – zumindest nicht vordergründig – sondern der Frau, die soeben eingetreten war. Hatte sie denn niemand informiert? Und konnte Warren sich nicht selbst denken, wozu sein jetziges Handeln führen würde? Sofort spannte Nathan seine Armmuskulatur an. Er wusste genau, was Lany gerade in dieser Frau sah und er musste sie davon abhalten, etwas zu tun, was sie später ein Leben lang bereuen würde.

 

Zu sehr mit der atemberaubenden Schönheit vor sich beschäftigt, bemerkte Warren anfangs nicht, was sich in den Armen von Nathan abspielte. Warum auch. Es gab schließlich keinen Grund zur Sorge. Einzig hatte er nicht erwartet SIE hier zu sehen. Es war einfach schon viel zu lange her und beinahe hätte er sie erst gar nicht erkannt. Als sich dann aber ihr wunderschönes Lächeln mit den kleinen Grübchen zeigte, konnte Warren nicht mehr an sich halten – er konnte nicht länger warten. Schwungvoll breitete er seine Arme aus, während sie fast auf ihn zuflog, sich in seine Arme warf und beide damit beinahe zum umstürzen gebracht hätte.

 

So standen sie nun dort und wussten nicht so recht was zu sagen – Warren konnte nur staunen und war überglücklich, sie endlich wieder in den Armen halten zu können – als plötzlich hinter ihnen ein gefährlich tiefes und wütendes Knurren ertönte.

 

„Au … verdammt!!!“

 

Als Warren zu Nathan blickte, hielt dieser sich seinen rechten Arm. Er war mit einigen blutigen Schrammen übersät, doch es waren keine ernsthaften Verletzungen. Aber warum stand Nathan allein dort? Er hatte doch noch gerade Lany in den Armen gehalten und sie getröstet. Wo war sie jetzt? Und warum blitzte in Nathans Augen solch ein Ärger auf? Würde er es nicht besser wissen, würde er annehmen, dass Nathan in herausfordern wolle. Ein Blick auf die Frau in seinen Armen verriet ihm, dass sie ebenfalls etwas verwirrt schien. Und als er sie nochmals anschaute, konnte er jemanden direkt hinter ihr stehen sehen.

 

„Was zur Hölle macht ihr da eigentlich gerade? … Wer bist du und was machst du in den Armen MEINES Mannes?“, zischte Lany gefährlich leise, nachdem sie nun direkt hinter der fremden Frau stand.

 

„Em … Lany …“, begann Warren zögerlich.

 

„Halt dich da raus, Warren! Ich habe SIE gefragt!“, knurrte Lany mit nur mühsam unterdrückter Wut. Erst wollte sie Antworten, dann konnte sie die fremde Frau, die sich immer noch an Warren festklammerte, ausschalten.

 

„Nein, La…“

 

„Warren! Sei verdammt noch mal RUHIG! … Also noch einmal … wer bist du und warum umarmst du IMMER NOCH MEINEN MANN?“

 

Glücklicherweise schien die Fremde endlich zu begreifen und ließ Warren ganz langsam los.

 

***

 

Sie war sich bewusst, dass sie vollkommen verwirrt dreinschaute, aber sie begriff das alles hier einfach noch nicht so ganz. Nur aus den Augenwinkeln wagte sie, Warren nochmals abschätzend zu betrachten, bevor sie ihren Blick erneut auf die Furie, die nach wie vor hinter ihr stand, zu richten. Wer war sie und warum sprach sie von Warren als ihren Mann?

 

„Mein Name ist Callista.“, versuchte sie die angespannte Situation etwas zu entschärfen. Sie traute der anderen nicht und daher stellte sie sich schützend, obwohl eigentlich unnötig, vor Warren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch Nathan anwesend war. Aber warum tat er nichts gegen diese Frau? Wieso ließ er sie einfach auf sie beide losgehen?

 

„Also gut, du heißt Callista. Und weiter?“, sprach die andere nun wieder.

 

Sie nahm einen tiefen Atemzug, um sich selbst zu beruhigen. Das war dringend notwendig, so wie sich ihr Aggressionspotenzial in den letzten Sekunden gesteigert hatte. Niemand durfte es wagen, so mit ihr und vor allem nicht mit Warren zu reden. Was bildete sich diese Frau überhaupt ein? Und erst mit diesem Atemzug nahm sie die Veränderung an Warren wahr. Vorher war sie zu aufgeregt, zu glücklich gewesen, ihn endlich nach so elendig langer Zeit wieder zu sehen. Sein Geruch war anders – irgendwie … ja … irgendwie verwaschen. Callistas Gedanken überschlugen sich, während sie einen weiteren tiefen Atemzug nahm. Im nächsten Moment riss sie erschrocken ihre Augen auf.

 

„Oh ihr Götter! Nein, das kann doch nicht wahr sein?! Warren! Wie … eh … wann … eh … wo …“, stotterte sie etwas verloren vor sich hin.

 

„Calli … es ist wahr! Ich habe es anfangs selbst nicht geglau…“

 

„Könnte mich hier bitte mal ENDLICH jemand aufklären? Ich weiß, ich komme hier total gereizt rüber … aber das liegt nur daran, dass ich wirklich total gereizt BIN! … Nein, Daddy. Lass mich …“

 

„DADDY? … Nathan?“, sprach Callista nun den Gefährtin ihrer besten Freundin, der soeben versuchte die andere Frau behutsam zu umarmen, verdutzt an.

 

„Ja, Calli. Lany ist mein Kind … meine lang verschollene und schon für tot gehaltene Tochter. Und ich bedauere sehr, dass man es anscheinend versäumt hat, dich über die aktuellen Geschehnisse ins Bild zu setzen … und zwar bevor du hier quasi ins offene Messer gelaufen bist! Und sie ist AUCH die Gefährtin DEINES BRUDERS, …“, mit einem väterlich strengem Blick auf Warren fuhr Nathan fort „… der anscheinend ebenfalls versäumt hat, dich rechtzeitig darauf hinzuweisen. Warren, also mal ehrlich! Hättest du dir nicht denken können, wie Lany auf Calli reagiert, wenn sie euch beide so sieht? Denk nur mal daran, wie es dir allein schon dabei geht, wenn ich als Lanys Vater hier so dicht bei ihr stehe und sie umarmen möchte!“, erklärte Nathan nun wieder an beide Geschwister gewandt. „Und eine der wichtigsten Informationen überhaupt, Calli: Warren und Lany haben vor ein paar Tagen zusammen und ohne Blutvergießen die Clanherrschaft von euren Eltern übernommen. Also würde ich ab sofort etwas vorsichtiger sein, wie du dich in ihrer Gegenwart verhältst, zumindest bis die beiden gelernt haben, ihre Eifersucht und gegenseitigen Besitzansprüche in den Griff zu bekommen.“

 

Beinahe fassungslos schaute Lany ihren Vater an. Sie war noch nie ein so maßlos überschäumendes Wesen gewesen, daher hatte ihre Reaktion auf diese Frau sie schockiert. Ihr war in dem Moment noch nicht einmal bewusst gewesen, wie sie auf alle Anwesenden wirken musste. Sie hatte nur das Rote Tuch in Form von Callista in Warrens Armen gesehen und da sind bei ihr irgendwelche Leitungen durchgebrannt, von deren Existenz sie noch nicht mal die geringste Ahnung hatte.

 

Mit einem nun nur noch leicht säuerlichen Blick, der allerdings auf Warren gerichtet war, sagte Lany, „Warrens Schwester … Callista … hm, so so …“ und befreite sich endgültig aus den Armen ihren Vaters, um auf Callista zuzugehen.

 

„Es tut mir leid …ich weiß auch nicht so recht, was da über mich gekommen ist … ich bin eigentlich nicht so …“, entschuldigte Lany sich nun bei Callista. „Ich freue mich sehr, dich kennen zu lernen. Warren hat mir schon einiges über dich erzählt.“

 

„Mir tut es auch leid. Aber Nathan hat recht, es hat mir niemand irgendetwas erzählt …“, grummelte Calli nun auch in Warrens Richtung, „aber ich freue mich auch dich kennen zu lernen. Ich hätte nie erwartet, dass mein großer Bruder tatsächlich jemals auf seine wahre Gefährtin trifft – so wie er sich immer im Wald verschanzt hat und in seiner Aufgabe als Wächter aufgegangen ist, wie kein anderer. Aber ich bin froh, dass sein Eremitendasein nicht verhindert hat, dass er dich getroffen hat. … Aber nun müssen wir langsam los. Deshalb bin ich eigentlich hergekommen – um Warren zu sagen, dass das Flugzeug gelandet und auch schon wieder startbereit ist. Lany, du musst mir unbedingt erzählen, wie ihr euch getroffen habt! Das wird sicherlich ein spannender Fl…“

 

„Wie jetzt? Du kannst nicht mit uns mitkommen! Calli! Wie stellst du dir das vor? Du bist meine KLEINE Schwester – meinst du, dass ich dich in eine solche Gefahr bringen möchte? Du bist einfach noch zu jung für solche Einsätze …“

 

„Oh ihr Götter – helft! Warren, ich bin nicht mehr das kleine Mädchen aus unseren Kindertagen, wie du vielleicht feststellen könntest, wenn du bedenken würdest, wie viele Jahre wir uns nicht mehr gesehen haben. Denkst du, ich hätte die ganze Zeit über nur bei unseren Eltern in deren geschützten Umgebung verbracht? Nein, Warren, ich habe meine Ausbildung als Wächterin absolviert und abgeschlossen, und auch wenn du es nicht glaubst, seit dieser Zeit habe ich schon unzählige Aufträge für den Clan übernommen. Was meinst du, warum wir uns so lange Zeit nicht gesehen haben? Nur weil du hier im Wald den Eremiten mimst, hätte es uns doch ansonsten nicht davon abgehalten, einander zu sehen! Ich komme mit – Punkt – Aus! … Und während unseres Fluges möchte ich über wirklich alle Neuheiten aufgeklärt werden!“, ereiferte sich Calli nun aus tiefstem Herzen.

 

Warren war sprachlos. Absolut sprachlos. Was war nur aus seiner süßen, kleinen und vollkommen unschuldigen Schwester geworden. Die Person, die hier vor ihm stand sah zwar aus wie seine Calli, roch wie seine Calli … aber dieses Mundwerk … Es war nichts mehr zu merken von dem zurückhaltenden, schüchternen kleinen Kätzchen, das sich viel zu häufig hinter ihm vor Jack und seinen Freunden in Sicherheit gebracht hatte. Das nie einen zu lauten Ton angeschlagen, geschweige denn irgendwem älteren widersprochen hätte. Und doch sah er wehmütig ein, dass aus seiner geliebten kleinen Schwester eine toughe, selbstbewusste und starke junge Frau geworden war, die, wenn ihre Kampftechniken genauso gefährlich waren wie ihr Mundwerk, sich auf jeden Fall gut allein zur Wehr setzen konnte.

 

Als Calli sich nun wieder mit Nathan und Lany unterhielt und der Aufbruch kurz bevor stand, musste Warren sich eingestehen, dass er trotz der anfänglichen Wehmut über den Verlust seiner „kleinen“ Schwester, von einem unglaublichen Stolz auf sie erfüllt wurde. Was hatte er nur alles verpasst?

 

***

 

Als sie es endlich geschafft hatten aufzubrechen und am Flugzeug ankamen, sah Lany neben dem Piloten noch zwei weitere riesig anmutende und ziemlich finster dreinblickende Männer.

 

„Wer ist das, Warren?“

 

„Das sind Jago und Jorge. Sie werden uns ebenfalls begleiten und sind zwei unserer besten und fähigsten Männer. Ich vertraue ihnen vollkommen und habe schon viele Jahre mit ihnen zusammen die Aufgaben als Wächter erfüllt. Und auch, wenn sie so griesgrämig schauen, lass dich davon nicht täuschen – du wirst schon sehen, was ich meine.“, schloss Warren mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen ihren gedanklichen Austausch.

 

„Wenn du meinst!“, antwortete Lany und bemerkte erst, als sie dem fragenden Blick von Calli begegnete, dass sie ihre letzten Worte laut ausgesprochen hatte.

 

Jago und Jorge begrüßten die vier Neuankömmlinge und staunten nicht schlecht, dass Warren seine Gefährtin mit auf diese gefährliche Mission nahm. Sie waren bei der Versammlung in Rosas Kneipe nicht dabei gewesen, denn sie hatten die Jäger im Auge behalten müssen und so hatten sie nur von ihr durch Erzählungen der anderen gehört. Aber nun stand sie leibhaftig vor ihnen – wunderschön, stark und mächtig. Ihre Energie strahlte nur so in Wellen von ihr ab und hüllte alle Anwesenden in eine Art schützenden und wärmenden Kokon. Sie fühlten sich ihr zugehörig und verspürten ihr gegenüber, obwohl sie sie noch gar nicht kannten, einen starken Beschützerinstinkt. So etwas war ihnen noch nie passiert – selbst bei Sarah war es anders gewesen. Aber wahrscheinlich deshalb, da Sarah auch nicht die geistige Führerin ihres Clans war, sondern „nur“ ihre Alpha.

 

„Jorge! … Jago! … Ich freue mich, dass ihr mit uns kommt. Da ihr noch keine Gelegenheit hattet, meine Gefährtin kennen zu lernen, möchte ich euch Lany jetzt vorstellen. Ich verlasse mich darauf, dass ihr, wenn es mir nicht möglich sein sollte, sie mit eurem Leben beschützen werdet auf unserer Mission!“

 

„Sei uns willkommen! Es ist eine große Ehre für uns, dich endlich auch kennenlernen zu dürfen, la Curandera!“, sprach Jorge an Lany gerichtet und beide Männer neigten dabei ihre Köpfe zum Zeichen ihres Respekts und ihrer Unterwerfung.

 

„Noch eine Neuigkeit, meine Lieben? Das wird ja immer interessanter, aber lasst uns nun endlich aufbrechen, bevor das Wetter wieder umschlägt und wir unseren Flug verschieben müssen. Aber ihr habt mir wirklich eine Menge zu erzählen – ihr ZWEI!“, verkündete Calli gespielt verärgert.

 

„Was bedeutet: la Curandera? Was meint Jorge damit?“, fragte Lany wieder nur über ihre Gefährtenverbindung, da sie sich nicht traute, ihre Frage laut zu stellen. Sie befürchtete schlichtweg, dass die anderen sie für ihre Frage auslachen würden. Obwohl, woher sollte sie dieses Wort denn auch kennen?

 

Leicht wie Seide und genauso zart wehte Warrens warmes Lächeln durch Lanys Körper bevor er ihr auf demselben Wege antwortete, „La Curandera bedeutet so viel wie Schamanin oder auch weise Frau, die du ja nun einmal für unseren Clan bist, nachdem die Götter dich erwählt haben. Es ist ein Zeichen großer Ehrerbietung und zollt von großem Respekt, dass die beiden dich mit diesem Titel ansprechen. Sie sind noch von der „alten Schule“, denn normalerweise wird dieser Titel in der heutigen Zeit eher selten benutzt, was aber vielleicht daran liegt, dass wir schon so lange Zeit niemanden mehr hatten, der diese Position bekleidet hat?! …“

 

Der Tag neigte sich allmählich seinem Ende zu. Die Schatten wurden länger und es war Zeit, sich auf die Mission zu konzentrieren. Das Flugzeug war ohne Schwierigkeiten gestartet und Lany hatte erneut einen atemberaubenden Blick über das üppige und unendliche Grün des brasilianischen Urwaldes, der von der langsam untergehenden Sonne in den Schlaf gestreichelt wurde. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte sie dieses Schauspiel das erste Mal beobachten dürfen. Damals war sie vollkommen unbedarft in dieses fremde Land gereist und hatte sich auf einen Abenteuerurlaub gefreut, von dem sie noch nicht einmal annähernd hatte ahnen können, wie abenteuerlich er werden würden. Was war nur alles schon in dieser kurzen Zeit geschehen? Nicht nur hatte sie ihren Vater wiedergefunden, sondern ihr Leben hatte sich grundlegend geändert – sie war noch nicht einmal mehr ein richtiger Mensch – sie gehörte einer vollkommen anderen Spezies an, hatte einen Gefährten an ihrer Seite und gleich einen ganzen Clan von Gestaltwandlern quasi geerbt. Und hach und schau, ein paar Götter, die ihr vorher vollkommen unbekannt waren, hatten sie auch noch zur geistigen Führerin dieses Clans erwählt! Und was wunderte sie sich da eigentlich noch darüber, dass anscheinend auch noch ihre Familie mütterlicherseits durch irgendwelche miesen Machenschaften mit diesem Clan in Verbindung stand?

 

Während Lany noch gedankenverloren aus dem Fenster schaute, erhob Warren sich neben ihr von seinem Platz, um nach vorne ins Cockpit zu gehen. Es hatte wirklich seine Vorteile, ein eigenes Flugzeug zu besitzen. Es war bequem und sie fühlte sich sicher – ganz anders als in dem Charterflugzeug mit dem sie hier gelandet war.

 

Eine Bewegung im Augenwinkel veranlasste sie, auf den Platz neben sich zu blicken. Dass es sich nicht um Warren handeln konnte war ihr vollkommen klar. Denn seit sie beide miteinander verbunden waren, schien sie einen unbestechlichen Radar für ihren Gefährten entwickelt zu haben, der ihr immer genau verriet, wie weit Warren derzeit von ihr entfernt war. Und auch dieses Mal hatte sie sich nicht getäuscht.

 

Calli streckte gerade ihre langen Beine entspannt nach vorne – auch ein Vorzug in diesen Privatjets … unglaublich viel Beinfreiheit … einfach himmlisch – und lächelte sie an.

 

„Ich habe gerade vom Piloten erfahren, dass wir, wenn das Wetter sich halten sollte, in etwa vier Stunden ankommen sollten.“

 

„Mir wäre es eigentlich lieber, wir würden eher früher als später ankommen. Ich will das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen und allein der Gedanke an meine Mutter und ihre Familie bereitet mir tierische Übelkeit. Die ganze Zeit über versuche ich, den genauen Zusammenhang zu erkennen, oder Anhaltspunkte zu finden, die mir hätten schon damals auffallen müssen. Aber bis jetzt ohne nennenswerten Erfolg.“

 

„Du darfst dich nicht zu sehr unter Druck setzen, Lany. Schau mal, du hast all die Jahre noch nicht einmal etwas von deiner wahren Natur, geschweige denn von der deines Großvaters und Vaters gewusst. Wie hätte dir da irgendetwas auffallen sollen? Du wusstest doch nichts von unserer Welt. Mach dich nicht verrückt und versuche dich noch etwas zu entspannen. Es wird noch früh genug alles aufgeklärt werden und spätestens wenn wir deiner Familie oder den wirklichen Drahtziehern gegenübertreten, wirst du all deine Kräfte noch bitter benötigen. Versuch doch einfach noch ein wenig zu schlafen. Vielleicht haben die Götter ja ein Einsehen mit uns und geben dir in deinen Träumen irgendeinen hilfreichen Hinweis?“, versuchte Callista Lany zu beruhigen und erhob sich gleichzeitig wieder von ihrem Platz, um ihr ein wenig Ruhe zu gönnen.

 

Lany lächelte ihre Schwägerin dankbar an und kuschelte sich tiefer in ihren Sitz. Irgendwoher hatte sie plötzlich auch eine Decke parat – wahrscheinlich hatte Calli sie mitgebracht – in die sie sich nun, wie in einen schützenden Kokon einwickelte und kurze Zeit später bereits die Augen schloss. Sie hatte bei dem ganzen Drunter und Drüber gar nicht gemerkt wie müde und erschöpft sie eigentlich war.

 

***

 

„Du musst dich besser beherrschen lernen. Es ist überlebenswichtig, dass niemand ahnt, was du kannst, meine kleine Wildkatze! Versprich mir, dass du auf dich aufpasst!“, versuchte der alte Mann seine kleine Enkeltochter zum gefühlten hundertsten Male zu warnen. Er hatte furchtbare Angst um sie. Sie war noch so klein und er genoss jede einzelne Sekunde ihres Beisammenseins, jedes noch so kleines Quäntchen Zeit, welches ihre Mutter ihnen beiden gestattete. Er hatte es seinem Sohn versprochen, kaum, dass dieser seiner großen Liebe begegnet und überstürzt abgereist war.

 

„Aber warum denn, Grandpa? Wenn Mom sehen könnte, was ich inzwischen alles kann, würde sie vielleicht nicht mehr so gemeine Sachen über mich sagen und sie hätte mich bestimmt viel lieber als jetzt. Ich möchte doch nur, dass sie mich lieb hat!“, schluchzte das kleine Mädchen unvermittelt los. Und obwohl sie gerade erst sechs Jahre alt war, war sie erstaunlich scharfsinnig und konnte vieles schneller und umfassender begreifen, als andere Kinder in ihrem Alter. Doch die Beweggründe ihrer Mutter, die blieben ihr verborgen – sehnte sie sich doch viel zu sehr nach deren Zuneigung und Liebe.

 

Doch der alte Mann hatte schon lange eine Vermutung, was ihre Mutter anging. Er hatte immer wieder Nachforschungen angestellt und so auch immer mehr den Zorn seiner ehemaligen Schwiegertochter heraufbeschworen. Ihm war inzwischen bewusst geworden, dass er nun noch viel vorsichtiger vorgehen musste, um weitere Informationen zu erhalten. Wenn er doch nur seine Enkelin aus der Schusslinie bekommen könnte. Aber das ging leider nicht. Die Mutter seiner kleinen Wildkatze hatte das alleinige Sorgerecht und so blieben ihm nur diese wenigen Momente mit seiner Enkelin, um ihr alles was er wusste beizubringen und zu hoffen, dass niemals jemand erfahren würde, wer sie wirklich war.

 

Mit einem warmherzigen Lächeln beobachtete der alte Mann nun, wie das kleine Mädchen den nächsten Baum in Angriff nahm. Sie kletterte für ihr Leben gerne und wenn sie nicht irgendwann Hunger bekäme, würde sie vermutlich ihr ganzes Leben auf Bäumen verbringen. Aber so lange sie bei ihm war, konnte er sie gewähren lassen und in seinem Stolz auf dieses kleine außergewöhnliche Wesen schwelgen.

 

Er hatte etwas entfernt auf einem umgestürzten Baum Platz genommen, um von dort aus den Fortschritt der Kleinen auf ihrer Erkundungstour zu beobachten, als neben ihm eine junge Frau stehen blieb und die Szene beobachtete.

 

„Setz dich! Ich habe schon so lange auf dich gewartet und nun bist du endlich hier.“, sprach er sie freundlich an und aus seinen Augen sprach reine Freude und Wärme.

 

„Aber wie kann das sein? Ich muss träumen …“, noch während die junge Frau grübelte, gehorchte sie dem alten Mann und setzte sich zu ihm auf den Baumstamm - immer wieder einen Blick auf das kleine Mädchen hoch oben in den Bäumen werfend.

 

„Das du jetzt hier bist, heißt, dass du endlich zu dir selbst gefunden hast. Und das wiederum bedeutet, dass du in viel größerer Gefahr schwebst als jemals zuvor. Du musst unglaublich vorsichtig sein, noch vorsichtiger als damals als kleines Mädchen! Aber was rede ich. Du hast ja schon damals nicht auf mich gehört.“, schmunzelte der alte Mann in sich hinein und richtete nun seinen Blick vollkommen auf die junge Frau neben ihm.

 

„Kannst du mir helfen, zu verstehen, Grandpa? Was passiert hier und wieso kann ich hier mit dir reden, wo du doch schon so lange tot bist? Und das dies kein richtiger Traum sein kann, spüre ich jetzt so klar wie ich dich vor mir sehe.“

 

„Ja, du hast recht. Es ist kein Traum im eigentlichen Sinne, Lany, aber die Götter nutzen oft diesen Weg der Kommunikation, wenn sie den Kontakt zwischen den verschiedenen Ebenen des Diesseits und des Jenseits herstellen wollen. Aber wir haben nicht viel Zeit, mein Schatz. Ich muss dir in viel zu kurzer Zeit so viel wie mir erlaubt wurde erzählen, sodass du und deine Begleiter für die Gefahr, die euch erwartet, gewappnet seid. Aber eines kann ich dir jetzt schon mit Gewissheit sagen: Du bist der Schlüssel zum Lösen des Problems und dein Gefährte das ausführende Werkzeug. Ihr seid von den Göttern bestimmt worden und wenn ihr es klug und geschickt anstellt, wird euch alles gelingen. Ich bin jetzt schon so unglaublich stolz auf dich - du wirst es schaffen!“, erklärte Ernest aus dem Brustton der Überzeugung. Schließlich stand auch er nach wie vor in direktem Kontakt zu den Göttern. Eine Quelle des Wissens, die seine geliebte Enkelin erst noch lernen musste, für sich zu erschließen, sodass sie ohne lange darüber nachzudenken, darauf zugreifen konnte. Aber so weit war sie noch nicht und daher war ihm erlaubt worden, ihr in diesem Falle zu helfen.

 

„Dann kannst du mir sagen, was meine Mutter und ihre Familie mit dem Clan der Panthera zu tun haben - sind sie überhaupt wirklich in die ganze Sache verstrickt oder sind es nur eine Reihe unglücklicher Zufälle und es steckt jemand ganz anderes dahinter? … Oh, Grandpa! Ich möchte dir so viel erzählen - alles was seit damals geschehen ist … sie haben mir dein Land weggenommen und noch so vieles mehr …“, Lany konnte ein schluchzen nicht unterdrücken, aber sie wusste, dass nun andere Dinge viel wichtiger - ja, sogar lebenswichtig waren. Also riss sie sich zusammen und schaute kurz wehmütig zu dem glücklichen kleinen Mädchen, dass nie genug vom Klettern hatte bekommen können und die Zeit mit ihrem Großvater mehr als alles andere geliebt hatte.

 

„Ich weiß, mein Schatz! Ich habe all die Jahre ihre niederträchtigen Taten beobachtet. Ich weiß, wie sie dich gequält und schikaniert haben. Doch mir waren leider die Hände gebunden. In unserem Clan war niemand anderes als du für meine Nachfolge als geistiger Führer bestimmt, sodass ich niemandem von ihnen hätte einen Hinweis über deine Not geben können. Aber alles, was sie dir antaten hat dich stärker werden lassen und eines Tages konntest du deinem Gefängnis entkommen und ich konnte endlich etwas aufatmen. Ich wusste schon immer, dass du ein schlaues Mädchen bist!“, sagte Ernest schmunzelnd und der Stolz zeigte sich in jedem seiner Worte. „Du musst wissen, Lauren und ihre Familie, sie sind sehr gefährlich - besonders ihr Vater und ihr Onkel, vor den beiden müsst ihr euch ganz besonders hüten. Sie nutzen mein Land für ihre üblen und abartigen Machenschaften, ABER dort dürft ihr nicht beginnen. Ihr müsst zuerst nach Rainbow City und sie dort ausschalten - sonst sind alle, die sie in ihrer Gewalt haben und die auf meinem Land von ihnen gefangen gehalten werden endgültig zum Tode verurteilt.“

 

Lany wollte darauf etwas erwidern, aber Ernest hob nur kurz die Hand und bedeutete ihr noch zu schweigen, denn ihnen rannte die Zeit davon, da gleich das Flugzeug landen würde und sie sich ihren Feinden stellen mussten. „Hör mir gut zu, Lany! Es sind nicht nur die Panthera davon betroffen. Sie haben noch andere Gestaltwandler unter ihre Kontrolle gebracht und viele von ihnen sind kurz davor ihre geistige Gesundheit, die sie schon so lange Zeit mühsam aufrechterhalten, zu verlieren. Es ist größte Eile geboten und ihr dürft mit Lauren und ihrer Familie keine Gnade walten lassen. Denn sie haben niemandem Gnade gegenüber gebracht. Sie haben abscheuliche Dinge getan und das muss endlich ein Ende finden! … Oh ihr Götter, die Zeit reicht nicht aus, aber lass dir noch eine letzte Sache sagen: Sie sind religiöse Fanatiker, die denken, dass sie über allen anderen Lebewesen, die nicht an den gleichen Gott glauben, wie sie selbst, stehen und alle anderen sich ihnen zu unterwerfen haben. Du musst unbedingt deine Verbindung zu unseren Göttern in deinem Inneren finden und den Kanal öffnen, über den sie mit dir kommunizieren und euch damit bei eurem Kampf helfen können. Sie werden dir die notwendige Stärke spenden, die du mit Sicherheit brauchen wirst, sobald du deiner Mutter und ihrer Familie gegenüberstehen wirst!“

 

***

 

Das Flugzeug musste bereits gelandet sein, denn es waren keine Motorengeräusche mehr zu hören und auch keine Bewegungen der Maschine zu spüren. Das einzige was Lany spürte war, dass jemand an ihr rüttelte und auf sie einredete. Die Stimme klang besorgt. Die letzten Worte ihres Großvaters hallten ihr noch in den Ohren „Ich liebe dich, meine kleine Wildkatze!“, und sie wollte sich am liebsten noch nicht von ihm trennen. Zu sehr hatte sie ihn all die Jahre vermisst und dieser kurze Moment nach all der Zeit reichte ihr bei Weitem nicht aus. Aber sie war jetzt kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau, die mit einer riesigen Verantwortung auf ihren schmalen Schultern geschlagen war. Sie wappnete sich innerlich und schlug endlich die Augen auf.

 

„Oh, ihr Götter … Lany, was war denn los? Wir haben dich nicht wach bekommen und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Du hast noch nicht einmal auf unsere Gefährtenverbindung reagiert!“, redete Warren sogleich auf sie ein, noch während er Lany in eine stürmische Umarmung riss. Ein Blick über seine Schulter zeigte ihr, dass auch alle anderen um sie herum standen und sich nun Erleichterung auf ihren Gesichtern abzeichnete.

 

„Ich habe mit Grandpa gesprochen.“, war das Erste, was sie sagte und erntete auf ihre Worte hin ungläubige Blicke. „Ihr braucht gar nicht so schauen, ich habe es erst auch nicht geglaubt! Aber er hat mir von Dingen erzählt, die für unsere Mission extrem wichtig sind und er sagte auch, die Götter hätten ihm erlaubt, mit mir in Kontakt zu treten, um uns dabei zu helfen.“

 

„Das erklärt auch deinen Zustand vorhin und dass wir dich nicht aufwecken konnten. Genauso war es damals auch immer bei deinem Großvater gewesen, wenn er in der Traumwelt unterwegs war und Visionen von den Göttern erhalten hatte. Einmal mehr zeigt sich, dass du wahrhaft unsere Curandera bist. Aber nun erzähl uns bitte, was hat er dir für Informationen geben können? Weiß er, wer hinter unseren Problemen steckt?“, fragte Nathan.

 

„Ja, allerdings. Es ist tatsächlich so, wie Nik und wir bereits vermutet haben. Ich wollte es die ganze Zeit nur nicht wahrhaben, aber er hat es leider bestätigt. Wir werden uns Mutter und ihrer Familie stellen müssen. Er sagte aber und das mit Nachdruck, dass wir nicht zuerst auf seinem Land beginnen dürfen. Sie haben anscheinend irgendwelche abartigen Dinge getan und tun sie immer noch und zwar nicht nur mit den Panthera, sondern auch mit anderen Gestaltwandlern - Ich wusste nebenbei bemerkt gar nicht, dass es auch noch andere gibt! - und dass sie all das einzig und allein aus religiösem Fanatismus machen. Sie sind wohl der Meinung, dass alle, die nicht ihren Gott als ihren alleinigen Führer anerkennen, dazu da sind, um sie sich untertan zu machen und für ihre Machenschaften zu missbrauchen. Deshalb hat Grandpa auch gesagt, dass wir ihnen zuerst in Rainbow City gegenübertreten und sie dort ausschalten müssen, da ansonsten alle auf Grandpa´s Land Gefangenen zum Tode verurteilt wären. Wir würden es nie rechtzeitig schaffen, sie dann zu retten. Und diese Option bin ich nicht gewillt zu akzeptieren!“, erklärte Lany anfänglich etwas zögerlich.

 

Doch mit jedem weiteren Wort schien sie zu wachsen und jeder in ihrer Nähe konnte ihre Macht nur so um sie herum flirren spüren. Vor ihnen saß nun nicht länger die noch unerfahrene und leicht zu Panikattacken neigende Lany Briscott. Jetzt hatten sie ihre Alpha und Curandera mit all ihrer Macht vor sich, die pure Entschlossenheit und Stärke ausstrahlte. Selbst Warren neigte bei all ihrer Macht den Kopf in Ehrerbietung ihres nun mit Wucht an die Oberfläche drängenden Erbes all derer, die vor ihr waren und nach ihr kommen würden.

„Dann lasst uns aufbrechen!“, beschied er daher einfach knapp und machte sich mit seiner Gefährtin Hand in Hand – denn er musste sie jetzt einfach körperlich spüren – auf den Weg.

 

Es war weit nach Mitternacht als sie alle in die für sie auf dem Rollfeld bereitstehenden Wagen stiegen. Ohne weitere Worte zu verlieren, setzten sich die beiden Fahrzeuge in Bewegung. Über das Funkgerät hörte Lany, wie Calli davon sprach, dass sich ihnen weitere Clanmitglieder auf ihrem Weg anschließen würden.

 

So wie es sich anhörte, würde ihnen eine ganze Arme bei dem Einsatz zur Seite stehen. Wie sehr Lany davon beruhigt wurde, wollte sie erst gar nicht weiter analysieren. In ihr hatte sich ein Gefühl ausgebreitet, dass sie so noch nicht kannte. So musste sich eine Mutter fühlen, die ihre Jungen zu schützen versuchte. Sie würde alles riskieren, um ihren Clan, ihre neue Familie zu schützen und dabei jedem, der ihnen Schaden zufügen wollten, den Hals umdrehen. Und es war vollkommen egal, dass es sich bei denjenigen um ihre eigene Mutter und deren Familie handelte.

 

***

 

Auf ihrem Weg nach Rainbow City hatten sie beschlossen, dass Calli sowie Jorge und Jago zum offiziellen Firmensitz der Ferrells fahren würden, um dort die Lage zu sondieren. Warren, Nathan und Lany hingegen machten sich direkt auf den Weg zur Farm der Familie, wo bereits mehrere ihrer Clanleute das Gebiet beschatteten und ihnen immer wieder kurze Informationen zu den Aktivitäten dort vor Ort durchgaben.

 

Warren hatte sie angewiesen, dass sie jeden dort vor Ort unschädlich machen sollten. Einzig Lauren Briscott sollte vorerst unbeschadet bleiben. Sie sollte sich noch in Sicherheit wiegen, denn er wollte Lany die Gelegenheit geben, ihrer Mutter persönlich gegenüberzutreten. Auch hatten sie von ihren Leuten vor Ort gehört, dass sich Laurens Vater und ihr Onkel nicht dort auf der Farm aufhielten. Und da sie auch nicht in ihrem Firmengebäude angetroffen worden waren, lag die Vermutung nahe, dass sie sich auf dem Land von Grandpa Ernest aufhielten.

 

Lany war sich bei dieser Sache sogar mehr als sicher. Sie hatte zwischendurch immer wieder versucht, ihre Verbindung zu den Göttern zu öffnen und es klappte nun auch schon viel besser. Dadurch war sie nun immer länger in der Lage auf das allumfassende Wissen der Götter zuzugreifen, soweit diese es zuließen.

 

Endlich war es soweit. An der Grenze zur Farm machten sie halt.

 

„Von hier aus werden wir zu Fuß weitergehen. Da es von hier bis zum Haus viel zu weit ist, werden sie den Wagen nicht entdecken.“, instruierte Warren ihre kleine Truppe. Und obwohl Lany sich allem, was zu geschehen hatte vollkommen bewusst war, beschlich sie trotzdem eine unangenehme Nervosität. In wenigen Minuten würde sie ihrer Mutter gegenübertreten müssen und wie dann alles ausgehen würde, daran wollte sie jetzt auf keinen Fall denken.

 

Als das Haupthaus in Sichtweite kam, konnten sie auf der Veranda bereits einige Männer stehen sehen, die ihnen in der Dunkelheit zuwinkten. Ihre empfindlichen Nasen verrieten ihnen das Ausmaß des hier noch vor kurzem stattgefundenen Kampfes. Der Boden war nur so vom Blut ihrer Widersacher durchtränkt worden.

 

Ein großer und sehr kräftig ausschauender Mann löste sich aus der Gruppe auf der Veranda und kam ihnen ein paar Schritte entgegen. Wieder einmal jemand, der Lany vollkommen unbekannt war, genauso wie die restlichen Männer hier auf dem Gelände. Doch ihr Geruch identifizierte sie als Angehörige des Clans und somit fühlte Lany sich ihnen sofort verbunden.

 

„Manuel, ich bin froh, dass ihr so schnell kommen konntet!“, begrüßte Warren den Mann vor ihm und ergriff dabei den Unterarm des Anderen.

 

„Natürlich! Dem Ruf unseres Alphas folgen wir sofort und sind froh nun an deiner Seite kämpfen zu können. Es waren etwas mehr als vierzig Mann auf dem Gelände und die Frau, so wie du schon vermutet hattest. Den größten Teil der Männer haben wir ausschalten müssen; einige wenige von ihnen haben wir vorerst im Stall unter Bewachung gestellt. Sie können uns vielleicht noch behilflich sein oder uns zumindest noch weitere Informationen geben. Die Frau ist im Haus. Miguel und Carlos bewachen sie.“ fasste Manuel das Vorgefallene kurz zusammen. Erst als er seinen Bericht beendete, ließ er seinen Blick auch über Warrens Begleiter schweifen. Nathan nickte er freundlich zu, ihn erkannte er wieder, aber als sein Blick an Lany hängen blieb, runzelte er kurz die Stirn. Mit nun leicht unsicherem Blick schaute er erneut seinem Alpha in die Augen.

 

„Wie ich annehme, kannst du dich an Nathan, den Sohn von Ernest dem Weisen, erinnern?“ fragte Warren nun. „Und die Dame an meiner Seite …“

 

„Entschuldige bitte, Warren! Ja … ja, natürlich kenne ich Nathan. Aber ich war gerade nur so überrascht.“, stotterte Manuel ein wenig unbeholfen vor sich hin, während er Lany mit bewundernden Blicken musterte. „Ich freue mich sehr, dich kennenlernen zu dürfen, Lany. Aber warum seid ihr zusammen hergekommen? Ehm, ich meine natürlich nicht, dass ihr nicht zusammen reisen sollt … ich meine, ich bin nur überrascht, dass Warren dich mitgebracht hat, wo es hier doch so extrem gefährlich ist. Keiner von uns würde wollen, dass dir, unserer Alpha und unserer seit so langer Zeit erwarteten neuen geistigen Führerin etwas zustößt …“ Manuel fühlte sich immer elendiger in seiner Haut, umso mehr Worte seinen Mund verließen und wollte am liebsten im Boden versinken. Er verhaspelte sich immer mehr in seinen Worten und befürchtete schon, dass Warren ihn gleich einen Kopf kürzer machen würde, als Lany ihn endlich erlöste.

 

„Ich freue mich auch sehr, dich kennenzulernen, Manuel. Und ich kann auch deine Überraschung verstehen. Im Normalfall hätte ich die ganze Sache auch Warren und euch anderen allein überlassen. Aber mein Gefährte und ich waren der Meinung, dass es in diesem speziellen Falle das Beste sei, was wir machen konnten. Sicherlich seid ihr noch nicht in alle Einzelheiten eingeweiht worden. Dazu war auch einfach die Zeit zu knapp. Aber ich bin mir sicher, dass du und die anderen sehr bald verstehen werdet. Ich verlasse mich darauf, dass ihr euer Bestes geben werdet, um uns bei diesem Problem zu unterstützen! Und noch wichtiger, ich verlasse mich darauf, dass ihr auch alles tun werdet, um Warrens und meine Sicherheit bei dieser Mission sicherzustellen. Um schon gleich vorab einige mögliche Fragen zu klären: Ich kann mir denken, dass alle im Clan darüber im Bilde sind, dass Ernest mein Großvater war und demnach Nathan mein Vater ist. Was aber sicher noch nicht alle wissen ist, dass die Frau, die ihr derzeit hier im Haupthaus unter Bewachung gestellt habt, meine Mutter ist.“, erklärte Lany zum Entsetzen von Manuel und den anderen, die durch ihr sehr gutes Gehör selbstverständlich alles von der Unterhaltung mitbekamen.

 

„Aber … aber, sie sind das Problem, mit dem unserer Clan seit Jahren zu kämpfen hat … und du bist demnach … wusstest du von diesen Dingen?“ Das reine Entsetzen schwang in Manuels Worten mit. Natürlich waren auch diese Clanangehörigen zur Recht misstrauisch, auch wenn sie Lany dies eigentlich nicht zutrauen wollten.

 

„Hör zu Manuel!“, mischte sich Warren in das Gespräch ein, denn er war es langsam leid, dass alle gleich immer vom Schlimmsten wegen Lanys Verwandtschaftsverhältnis zu diesen Leuten ausgingen. Er konnte es zwar bis zu einem bestimmten Punkt verstehen, aber irgendwann sollte auch mal Schluss sein. Und dieser Punkt war jetzt erreicht. Immerhin hatten sie hier eine weitaus wichtigere Aufgabe zu erledigen, als die Verwandtschaftsprobleme von Lany zu diskutieren. „Und alle anderen hier hören ebenfalls genau zu und um Himmelswillen tragt diese Informationen, die ich euch nun geben, auch an alle anderen weiter und zwar auf dem schnellsten Wege!“ Der Unmut über diese Situation war deutlich aus Warrens Stimme herauszuhören. „Lany hat bis vor ein paar Wochen noch nicht einmal etwas über ihre wahre Natur gewusst. Erst als sie zu mir in den Urwald kam und wir uns durch Zufall oder eher wohl durch göttliche Fügung begegneten, brach sich ihre zweite Natur Bahn nach außen. Durch Nik seine Recherchen haben wir überhaupt erst herausgefunden, dass Lanys Familie mütterlicherseits anscheinend die Drahtzieher hinter allem ist. Lany hingegen hat mit alldem nichts zu tun und als vollwertiges Mitglied unseres Clans genießt sie alle anderen auch unser vollsten Vertrauen. Und wenn ihr sie besser kennenlernt, werdet ihr das genauso sehen. Aber jetzt will ich darüber nichts mehr hören und verlasse mich, wie Lany bereits sagte, vollkommen auf euch und darauf, dass ihr sie mit eurem Leben beschützen werdet!“

 

Mit jedem weiteren Wort ihres Alphas hatten die Männer mehr und mehr ihre Köpfe eingezogen. Nun schauten sie mit schuldbewussten Blicken zu Lany und hofften, dass sie ihnen ihr Verhalten und ihre Zweifel verzeihen würde. Sie alle waren überspannt durch die plötzliche sich verschärfende Situation mit ihren Feinden und brannten darauf, das Problem endgültig aus der Welt zu schaffen. Und da sind ihnen einfach sprichwörtlich die Pferde durchgegangen, was sie nun zutiefst bereuten.

 

„Ist schon gut, Warren. Sie meinen es doch nicht böse. Ich hätte vermutlich genauso reagiert, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Doch viel wichtiger als diese unsägliche Diskussion ist doch, dass wir bei unser aller Problem vorwärts kommen und ich verspüre das dringende Gefühl, dass uns allmählich die Zeit davonrennt. Wenn wir die anderen noch retten wollen, dass müssen wir JETZT handeln, sonst war alles umsonst. Lasst uns also reingehen. Ich muss jetzt unbedingt mit meiner Mutter sprechen!“

 

***

 

Lauren Briscott saß mit gefesselten Händen und Füßen auf ihrem Sofa im Wohnzimmer und wartete. Alles war rasend schnell gegangen. Sie war gerade dabei gewesen, sich einen starken Kaffee zu brühen, um sich anschließend mit den neuen Aufzeichnungen ihres Onkels auseinanderzusetzen, als draußen ein Tumult ausgebrochen war. Verärgert, weil sie sich ob des Lärms nicht konzentrieren konnte, trat sie wütend hinaus auf die Veranda und wurde sogleich von zwei grobschlächtigen Männern attackiert und gefangen genommen. Keiner von ihnen hatte dabei ein einziges Wort zu ihr oder irgendjemand anderem gesprochen. Das Gemetzel was sie draußen zu sehen bekam, drehte ihr trotz ihrer Abgebrühtheit den Magen um. In diesem Augenblick verstand sie, dass es sich bei ihren Angreifern nur um dieses verdammte, flohverseuchte Ungeziefer von Gestaltwandlern handeln konnte. Wie hatten die auf ihre Farm gelangen können? Waren ihre Leute denn zu gar nichts zu gebrauchen? Leider hatten ihr Vater und ihr Onkel ihre besten Soldaten mitgenommen. Wie konnte auch nur einer ahnen, was hier geschehen würde. Für das Absetzen eines Notrufs war es leider zu spät, aber vielleicht würde sich das noch irgendwie regeln lassen. Sie musste ihre beiden Bewacher nur irgendwie austricksen und versuchen ins Badezimmer zu kommen.Während Lauren noch über einen Fluchtplan nachgrübelte, wurde es draußen plötzlich ganz still. Auch die beiden Kerle in ihrem Wohnzimmer schienen die Ohren zu spitzen und auf irgendetwas zu lauschen. Lauren selbst konnte nichts hören, merkte aber, dass dort draußen irgendetwas im Gange war.

 

Wenige Minuten später knarrten die Dielen der Veranda. Irgendjemand kam. Die Eingangstür wurde geöffnet und mehrere Leute betraten ihr Haus. Um sich den Anschein eines schwachen und unwichtigen Weibes zu geben, richtete sie ihren Blick auf den Boden vor ihren Füßen. Vielleicht würden sie ihr ja dieses Schauspiel abnehmen. Wer wusste überhaupt, was dieses Ungeziefer von ihr wollte. Sie hörte, dass nun mehrere von ihnen ebenfalls ins Wohnzimmer gekommen waren und hielt weiterhin den Kopf unschuldig gesenkt. Doch als sich die Stille immer mehr auszudehnen schien und keiner von denen irgendeinen Ton von sich gab, wuchs ihre Neugierde. Sie konnte sich kaum noch davon abhalten, den Kopf zu heben und diesem Abschaum anzuschauen.Fest hielt sie ihren Blick noch auf den Boden gerichtet und kämpfte mit ihrer Neugierde, als plötzlich ein paar Füße in ihr Blickfeld gerieten. Diese Füße gehörten auf keinen Fall irgendeinem von den Kerlen. Nein, diese Füße mussten zu einer Frau gehören. Alles wurde immer rätselhafter und sie konnte sich nun nicht mehr davon abhalten, mit ihren Augen von den Füßen über die Beine immer höher zu gleiten, bis sie schließlich der Person vor ihr ins Gesicht schaute.

 

Mit einem entsetzten Schnappen stotterte Lauren los, „Lany, mein Kind, meine kleine süße Tochter! Ich bin ja so froh, dass du hier bist! Wurdest du von diesen Kerlen auch gefangen genommen? Sieh dich nur vor, die sind gemeingefährlich!“, und an die Männer gewandt sprach sie, „Wehe Sie rühren mein Kind an! Dann gnade ihnen Gott!“, und drückte sich dabei sogar eine einzelne Träne ab, als würde sie sich tatsächlich um ihre Tochter sorgen.

 

„Hallo Mutter.“, grüßte Lany nun. „Wir haben uns lange nicht gesehen. Was treibst du denn so?“

 

„Wie meinst du das? Findest du nicht auch, dass jetzt gerade ein ziemlich unpassender Moment ist, um einfache Floskeln auszutauschen? Siehst du denn nicht, was hier gerade los ist? Verdammt! Ich wurde hier überfallen und gefesselt. Unsere armen Mitarbeiter draußen wurden gnadenlos von diesen Ungeheuern abgeschlachtet und du fragst mich hier seelenruhig und allen Ernstes, was ich so treibe?“, fuhr Lauren ihre Tochter an.

 

„Nein, Mutter. Ich finde nicht, dass es sich hier um einen unpassenden Moment handelt. Vielmehr glaube ich, dass es genau der richtige Moment ist, dir diese Frage zu stellen. Und weißt du was? Ich habe dir sogar noch jemanden mitgebracht. Du wirst dich sicher freuen, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen.“

 

„Ich weiß nicht, wen du damit meinen könntest. Du steckst doch nicht etwas mit denen hier unter einer Decke?“, Lauren drückte sich abermals ein paar Tränen ab, in der Hoffnung ihre Tochter täuschen zu können. Bisher hatte das immer fabelhaft funktioniert, diese dumme Person hatte es immer geglaubt. Was sollte man von ihr auch anderes erwarten, bei diesen Genen.

 

Lauren war gerade noch damit beschäftigt, ihr Schauspiel etwas auszudehnen, als hinter ihrer Tochter plötzlich ein großer Schatten auftauchte. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, denn der Schatten gehörte zu Nathan, dem Samenspender für ihre Tochter.

 

„Hallo, Lauren! Wie ich sehe, bist du vollkommen gefesselt von unserem Anblick! Schön, dass du dich so freust, uns wiederzusehen!“, spöttelte Nathan unverhohlen, was alle Anwesenden mit einem hüstelnden Lachen belohnten. Selbst Lany kicherte leicht vor sich hin.

 

„Mutter, leider sind uns ein paar wirklich unschöne Dinge zu Ohren gekommen, die wir nun hier mit dir klären möchten.“

 

„Wie redest du denn hier mit mir? Verhält man sich so seiner Mutter gegenüber?“, empörte sich Lauren lauthals.

 

„Nein, wahrscheinlich hast du recht. So redet man nicht mit seiner Mutter. Allerdings weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob ich dich noch länger als meine Mutter bezeichnen sollte. All die Jahre hast du mich nur belogen. Du und deine Familie haben mir alles genommen und sogar versucht mir einzureden, dass ich nichts wert sei und froh sein sollte, wenn mich mein Cousin zur Frau, oder besser gesagt, als Zuchtstute nehmen würde. Was habt ihr euch dabei gedacht? Kannst du mir darauf eine Antwort geben? All die verdammten Jahre habe ich nur darauf gehofft, deine Liebe und Zuneigung zu gewinnen. Und was kam von dir? NICHTS! Was habe ich getan, um solch eine Behandlung durch meine eigene Mutter und auch durch meine Familie zu verdienen? Los sag schon, WAS?“ Lany war den Tränen nahe und Nathan legte ihr zur Beruhigung seine Hand auf die Schulter, während Lauren nun endlich ihre Maske fallen ließ und sie beide mit einem hämischen Glitzern in den Augen anschaute.

 

„Was du getan hast?“, fragte Lauren nun mit einem gehässigen Lachen. „Du bist genauso ein Abschaum, wie ihr alle die hier so steht! Genauso ein verlaustes, dreckiges Ungeziefer, dass es nicht wert ist zu leben! Aber es war notwendig. Ich wollte nie Kinder und schon gar nicht so eines wie dich. Doch niemand anderes konnte diese Aufgabe übernehmen. Die anderen waren zu alt. Niemals hätte Nathan eine der anderen gewählt. Es war damals ein Leichtes ihn in mich verliebt zu machen, auch wenn ich mich in jeder einzelnen gottverdammten Sekunde davor geekelt habe. Aber es hat funktioniert. Das Zuchtprogramm, welches mein Vater und mein Onkel ausgetüftelt hatten, war erfolgreich gestartet, als ich endlich von diesem Widerling schwanger wurde. Ob du mich weiter Mutter nennen solltest? NEIN, natürlich nicht! Denn ich will und wollte nie im Leben deine Mutter sein. Ich hasse dich und deine Art.“, nach kurzem Schweigen fuhr sie unerbittlich fort. „Doch leider hat deine Entwicklung sich nicht so gestaltet wie wir es uns erhofft hatten. Die Gene des Samenspenders waren zu schwach ausgeprägt, denn du hast keinerlei Fähigkeiten entwickelt, die dieser Art zu eigen sind. Wir hatten gehofft, wenn wir dich mit deinem Cousin verpaaren, der selbst schwache Gene hat, treten die anderen stärker hervor. Doch du musstest uns ja einen Strich durch die Rechnung machen! Du verdammtes Miststück! Daher haben wir uns um andere Möglichkeiten bemüht und endlich auch welche gefunden.“ Lauren redete sich richtig in Rage. Sie schien nun vollkommen abgehoben und in ihren eigenen fanatischen Fantasien zu schweben, sodass sie niemanden um sich herum noch wahrzunehmen schien.

 

Lany, Nathan, Warren und alle anderen konnten kaum glauben, was diese Verrückte ihnen hier offenbarte. Natürlich war es für Lany ein Stich ins Herz, die Wahrheit aus dem Mund der Frau zu hören, von der sie die ganze Zeit geglaubt hatte, sie wäre ihre Mutter und nach deren Liebe sie sich verzehrt hatte. Doch insgeheim musste Lany sich eingestehen, dass sie sich bereits vor vielen Jahren von dem Gedanken an diese Familie und ihre Mutter losgesagt hatte. Sie hatte nie zu ihnen gehört und würde es glücklicherweise auch nie. Trotzdem tat die Wahrheit immer noch weh, aber das würde vergehen.

 

„Und was für eine Möglichkeit habt ihr gefunden? Hat diese Möglichkeit zufällig mit dem Land von meinem Großvater zu tun?“, fragte Lany kontrolliert unbeschwert an Lauren gewandt, um sie nicht aus ihrem Redeschwall herauszuholen.

 

„Du bist doch schlauer, als wir vermutet hätten. Hut ab! Natürlich hat das mit dem Land dieses neugierigen und überaus lästigen alten Knackers zu tun. Wir mussten ihn nur irgendwie aus dem Weg geräumt bekommen. Und die erstbeste Gelegenheit, die sich uns damals bot, haben wir natürlich sofort genutzt. Der Alte hatte uns nichts mehr entgegenzusetzen und so hatten wir leichtes Spiel mit ihm. Das Land dann an uns zu bringen, war danach ganz einfach. Wir haben dem Notar ein gefälschtes Attest vorgelegt, welches deine geistige Unzurechnungsfähigkeit bescheinigte, sodass ich als dein Vormund das Land zur Verwaltung überschrieben bekam. Damit hatten wir genug Fläche für unsere Forschung und die damit verbundene Zucht.“

 

„Was habt ihr nur getan?“, fragte Nathan beklommen, dem das gesamte schreckliche Ausmaß immer mehr bewusst wurde.

 

„Tu nicht so blöde. Immerhin hatten wir dich als einen mit etwas mehr Verstand eingestuft, als die anderen ihn besessen hätten. Also, kannst du es dir nicht denken? Da Lany für die Zucht vorerst nicht mehr infrage kam, mussten wir nach Alternativen Ausschau halten. Und die Alternative bot sich in Form von anderen Gestaltwandlern. Als wir erfuhren, dass es auch noch andere als eure Spezies unter den Gestaltwandlern gab, machten wir uns sofort auf die Suche nach ihnen. Das Ganze war ebenso einfach, wie dich seinerzeit um den Finger zu wickeln. Ihr alle zusammen seid uns einfach derart weit unterlegen, dass ihr noch nicht einmal ein Recht darauf haben solltet, die gleiche Luft wie wir zu atmen, geschweige denn überhaupt auf dieser Erde zu wandeln. Und ihr werdet es sehen. In nicht allzu ferner Zukunft werden wir eure geheimen Stätten ausfindig gemacht und eure Gottheiten zerstört haben. Dann wird sich uns nichts und niemand mehr in den Weg stellen. Dann herrschen nur noch wir, die Erhabenen auf dieser Erde!“ Hier sprach keine normale Frau mehr. Nein, hier sprach jemand vollkommen dem Wahnsinn verfallenen.

 

„Was sollen wir nun mit ihr machen, Lany?“, fragte einer der Clankrieger, während Lauren weiter wie irre vor sich hin faselte und vollkommen von Sinnen kicherte.

 

„Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Das Ganze überfordert mich im Moment ein wenig. Nie hätte ich diese Abgründe angenommen, die diese Frau hier und heute uns allen eröffnet hat. Vielleicht sollten wir sie erst einmal ruhigstellen und dann mitnehmen. In der Zwischenzeit werden wir überlegen, wie wir am besten mit ihr verfahren sollten.“

 

Die Männer wollten zuerst ihre Einwände kundtun, doch Warren brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Sicher, es wäre das Beste, sie sofort auszuschalten, aber er hatte sich vorgenommen, die Entscheidung darüber ganz allein Lany zu überlassen und dabei wollte er auch bleiben.

 

Wie Lany es bestimmt hatte, wurde Lauren Briscott kurzerhand mit der einfachen Holzhammer-Methode ruhiggestellt und zusätzlich geknebelt. Denn immerhin wollte niemand von ihnen, dass sie ihre Mission durch plötzliche Ausrufe gefährdete. Nachdem Manuel den Wagen von Lany und Warren zum Haus gefahren hatte, verfrachteten sie ihre Gefangene in den Kofferraum, wo sie keinen Schaden anrichten können würde.

 

Aus den anderen wenigen Gefangenen hatten sie nichts mehr herausbekommen können und diese daher ebenfalls beseitigt. Lany gefiel diese brutale Vorgehensweise nicht wirklich, sie sah aber ein, dass ihnen in dieser speziellen Situation keine andere Möglichkeit blieb, da all diese Leute viel zu verblendete und verbohrte Anhänger dieser fanatischen Gesinnung waren, als dass sie hätten davon kuriert werden können. Auch die Polizei konnten sie nicht einschalten, da sie ansonsten ihr Geheimnis hätten preisgeben müssen, welches um alles in der Welt gewahrt bleiben musste.

 

Nun setzte Warren sich per Telefon mit allen Einsatzkräften in Verbindung. Er hatte vorab von seiner Schwester erfahren, dass die Lage in Rainbow-City unter Kontrolle gebracht worden war und sie nun auch zu ihnen stoßen würden. Cally hatte zahlreiche Dokumente zu einem Projekt namens „Gottes-Plan“ gefunden und diese an sich genommen, um sie später zusammen mit dem Alpha-Paar durchzusehen.

 

Es wurde daher vereinbart, dass sich alle Einheiten erst einmal auf der Farm der Ferrells einfinden sollten. Von hier aus würde dann die weitere Operation anlaufen.

 

Kapitel 23 – Ein Blick in die Zukunft

 

Es würde einige Zeit dauern, bis alle Einheiten auf der Farm eingetroffen sein würden. Daher hatte Lany sich in einem unbeobachteten Moment in eine ruhige Ecke des Hauses zurückgezogen. Sie wollte sich vor dem finalen Schlag noch etwas ausruhen. Eine starke innere Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen und sie hoffte, dass sich diese mit ein wenig Schlaf wieder legen würde. Sie wollte um nichts in der Welt der Auslöser für ein mögliches Scheitern ihrer Mission sein.

 

Doch Warren war ihr Weggang aufgefallen und auch wie blass und abgeschlagen seine Gefährtin aussah, besonders seit sie hier auf der Farm eingetroffen waren. Als er Lanys Rückzug bemerkte, hatte er unauffällig zweien seiner Leute Bescheid gegeben, ihr zu folgen und auf seine Frau aufzupassen. Sie sollten jegliche Störung von ihr fernhalten. Lany hatte in letzter Zeit viel ertragen müssen. Warren war unglaublich stolz auf seine Gefährtin. Aber die Enthüllungen ihrer sogenannten Mutter waren dann doch ein zu großer Schlag für sie gewesen, sodass er ihr nun jede noch so kleine freie Minute gönnen wollte, sich davon zu erholen – jedenfalls soweit möglich in der kurzen Zeit. Er selbst machte sich anschließend zur Patrouille um das Gelände auf, mit der er nun an der Reihe war. Natürlich waren alle dagegen gewesen. Niemand von ihnen wollte ihren Alpha eine Gefahr ausgesetzt sehen, die sie bisher noch nicht komplett einschätzen konnten. Aber natürlich wussten sie auch alle um die Sturheit ihres neuen Anführers und konnten daher nicht vielmehr ausrichten, als später – im Falle des Falles – Schadensbegrenzung zu betreiben.

 

Wie sich dieses Haus verändert hatte. Oder hatte nur Lany sich verändert und daher eine andere Sicht auf die Dinge? In eine Decke aus ihren Kindertagen gekuschelt, saß sie an ihrem Lieblingsplatz in diesem Haus. Früher war sie häufig hier gewesen. Dies war der Ort, an den sie sich zurückzog, wenn ihr die Familie über den Kopf zu wachsen schien. Aus irgendwelchen Gründen hatte sich nie jemand von ihnen hier hoch gewagt. Das Erkerfenster auf dem alten Dachboden war immer schon ihr Zufluchtsort gewesen. Von dieser Stelle aus konnte sie einen Großteil der Farm überblicken und auch sehen, wer wann das Haus betrat. Und nun saß sie wieder hier. Nur war sie nun nicht vor ihrer Familie geflohen. Na ja, eigentlich ja doch. So sehr Lany sich auch einreden wollten, dass sie die Worte ihrer Mutter nicht verletzten, es wollte ihr einfach nicht gelingen, dies auch tatsächlich zu fühlen.

All ihre Gedanken kreisten unablässig um dieses eine Thema. Sie wusste, sie müsste sich eigentlich um viel wichtigere Dinge Gedanken machen, aber auch das klappte einfach nicht.

 

Hinaus auf die Felder der Farm blickend, wurden ihr nun doch endlich die Augen immer schwerer. Und als hätte die Begegnung mit ihrer Mutter ihr sämtliche Kräfte geraubt, konnte sie dem nahenden Schlaf nicht länger widerstehen.

 

Völlige Schwärze – erschreckend und undurchdringlich. Lany fiel immer weiter in diesem unendlichen Nichts. Aber wohin? Wo war sie und was hatte das alles schon wieder zu bedeuten? Wage war ihr bewusst, dass dies ein Traum sein musste. Aber sie konnte nicht aus ihm auftauchen, sosehr sie es auch versuchte.

Wäre Lany nicht so kraftlos gewesen, hätte sich die altbekannte Panik schon längst eingestellt, aber selbst dafür hatte sie keinerlei Energie mehr.

 

Irgendwann – Lany wusste nicht wie lange – wich ihre Anspannung einer resignierenden Gleichgültigkeit. Endlich konnte sie das Nichts annehmen. Es umschlang sie und hüllte sie in einen Kokon vollkommener Ruhe. Das Gefühl der Schwerelosigkeit war schier atemberaubend und plötzlich konnte Lany eine sanfte Umarmung spüren. Sie wurde wie ein Baby in den Armen seiner Mutter zärtlich hin und her gewiegt. Diese Arme versprachen Geborgenheit und Schutz, und Lany wollte am liebsten nie wieder fort von dort. Auch konnte sie hier ihre verlorenen Energien wieder auftanken. Sie flossen als Silber glänzende Fäden aus dem Nichts auf sie zu, umwanden ihren Körper und drangen schließlich in diesen ein, um sie von innen heraus zu erleuchten. „Das ist pure Lebensenergie, kleine Wildkatze, also lass sie gewähren. Die anderen brauchen dich, also nimm diese Energie in dich auf und verankere sie fest. Es ist ein Geschenk der Götter.“

 

Kleine Wildkatze“ hallte in Lanys Kopf wider. Doch es war nicht die Stimme ihres Großvaters. Diese Stimme konnte sie nicht richtig zuordnen, aber sie kam ihr zumindest bekannt vor.

 

Von einer zur nächsten Sekunde lief vor Lanys Augen eine schnelle Abfolge von Bildern ab. Sie erschrak gewaltig. Sie wollte diese Bilder nicht sehen.

 

Verfolgungen - Gewalt – Zerstörung – Krieg … Tod! Immer und immer schneller liefen die Bilder an ihr vorbei, bis ihr vor Schwindel und den gezeigten Gräueltaten schlecht wurde. Aber es war immer noch nicht vorbei. Die zuvor sanfte Umarmung hielt sie nun gnadenlos gefangen und ihr Blick wurde von irgendeiner äußeren Kraft auf die Bilder gezwungen. Sie konnte sich nicht rühren, geschweige denn wegschauen.

 

Als ihr Körper und ihr Geist endlich wieder in diese resignierende Starre verfielen, konnte Lany plötzlich den Inhalt der Bilder nicht nur sehen, sondern tatsächlich begreifen, was sie zeigten.

Es war ein Blick in die Zukunft – eine mögliche Zukunft; diejenige, die sie alle erwartete, wenn ihre Mission scheitern sollte.

Lany sah die schrecklichen Verstümmelungen ihrer Artgenossen, nicht nur ihres Clans, sondern aller sonst noch existierenden Gestaltwandlerarten. Sie hätte nie gedacht, welche Artenvielfalt die Gruppe der Gestaltwandler ausmachte. Es waren Bilder von schrecklichen Versuchen, die an ihresgleichen unternommen werden würden – von Kindern, Frauen und Männern – alten wie jungen. Die Kreuzungen, die dort gezüchtet werden würden, überstiegen jegliches Vorstellungsvermögen. Und über alldem thronte Laurens Familie als uneingeschränkte Herrschaftsriege. Selbst die normale menschliche Bevölkerung, die bis dahin von all den Machenschaften und der Existenz anderer Spezies keine Ahnung hatte, wurde in diesen Krieg mit hineingezogen. Und am Ende stand auch denjenigen die Versklavung, wenn nicht gar vollkommene Vernichtung bevor, die sich nicht der Ideologie der Briscotts anschließen wollten. Das letzte Bild, welches fast unendlich lange vor Lanys Augen zu schweben schien, war ein Bild von Warren und einem kleinen Bündel auf seinen Armen. Sein Blick war gehetzt, die Augen lagen tief in ihren Höhlen und sein Körper von Folter geschunden. Das Bündel auf seinem Arm war ein kleines Mädchen – nicht älter als vielleicht ein Jahr – und es bewegte sich nicht mehr. Das Leben war aus ihm herausgeflossen, wie die Tränen aus Warrens Augen.

 

Mit einem gequälten Schrei erwachte Lany schließlich und fand sich in den Armen ihres Gefährten wieder. Anfangs kämpfte sie gegen seine Arme an, doch als ihr bewusst wurde, wer sie da in den Armen hielt, verschwand ihre Gegenwehr. Tränen – reißenden Bächen gleich – flossen ihr über die Wangen und sie brauchte eine ganz Weile bis sie sich wieder beruhigen konnte.

 

Der Tumult auf dem Dachboden hatte eine ganze Horde ihrer Clanangehörigen angelockt. Alle hatten sie die verzweifelten Versuche Warrens verfolgt, seine Gefährtin aus diesem Koma-ähnlichen Zustand zu befreien. Ihrer aller Anspannung wuchs ins Unermessliche, während Warren anfangs auf seine Frau zärtlich einredete bis er sie schließlich sogar anschrie und schüttelte und am Ende selbst den Tränen der Verzweiflung erlag. Nichts schien Lany von dort wegholen zu können, wo sie sich befand und alle beteten ihre Götter um Hilfe an.

 

Als dann plötzlich dieser gellende, herzzerreißende Schrei von Lany ausgestoßen wurde und ihr ganzer Körper wieder zum Leben erwachte, ging ein einheitliches Aufatmen durch die Runde. Die Erleichterung aller war beinahe körperlich spürbar.

 

„Euch Göttern sei Dank!“, murmelte Warren in Lanys Haare, denn darin hatte er sein Gesicht vergraben und atmete ihren unverkennbaren Geruch in tiefen Zügen ein, wie ein Ertrinkender dem nur noch wenig Sauerstoff zur Verfügung stand. „Ich hatte solche Angst, Lany. Du lagst hier in meinen Armen, aber dein Geist, deine Seele waren fort. Um Himmels Willen, was ist bloß geschehen?“

 

Auch wenn sie alle wussten, dass dies ein Moment zwischen ihrem Alpha-Paar war und sie sie besser allein lassen sollten, konnte sich doch keiner von ihnen von seinem Fleck rühren. Die Angststarre, die sie alle ergriffen hatte, wich nur sehr langsam aus ihren Gliedern und ein jeder von ihnen wollte Lanys Worten lauschen, um das Geschehene besser verstehen zu können.

 

„Zuerst war ich nur unendlich erschöpft. Ich wollte mich hier oben ein wenig ausruhen. Dieser Ort hier war früher mein Lieblingsversteck gewesen. Hier hatte ich immer meine Ruhe und innere Ausgeglichenheit wieder finden können. Doch dann gingen mir so viele Gedanken durch den Kopf. Doch sie hatten alle nichts mit unserer Mission im Eigentlichen zu tun. Dabei hätte ich mir doch genau darüber Gedanken machen müssen. Ich hätte mir etwas einfallen lassen müssen, wie wir das Problem vielleicht lösen könnten, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Und dann wurde es plötzlich schwarz um mich herum und ich fiel – immer und immer tiefer. Ich hatte solche Angst, Warren, aber ich hatte auch keine Kraft mehr, um mich dagegen zu wehren. Irgendwann wurde ich von Armen sanft umfangen und eine Stimme sprach beruhigend auf mich ein. Sie sagte, ich würde jetzt die Energie der Götter empfangen, denn schließlich würdet ihr mich brauchen. Und so war es auch. Ich konnte spüren, wie meine Kraft zurückkehrte. Doch dann waren die Arme nicht mehr nur sanft. Sie hielten mich nun auch unerbittlich fest und ich wurde von irgendetwas dazu gezwungen mir schreckliche Bilder anzuschauen. Es gab keine Chance, diese Bilder nicht zu sehen! Ich schrie und kämpfte gegen diese Arme, diese Bilder an, aber ohne Erfolg. Irgendwann konnte ich mich beruhigen und da wurde es nur noch schlimmer, denn endlich konnte ich den Inhalt der Bilder begreifen! Die Götter haben mir diese Vision geschickt, das ist mir nun vollkommen klar. Es waren Bilder von unser aller Zukunft. Nicht nur die Zukunft unseres Clans steht auf dem Spiel, wenn die Briscotts gewinnen. Es wird alle Gestaltwandler, aber auch die normalmenschliche Bevölkerung betreffen und ihr könnt euch kein Bild davon machen, welche grausamen Taten sie noch begehen werden. Warren, wir müssen sie unbedingt aufhalten, am besten jetzt sofort. Wir sollten keine Sekunde länger warten. Die restlichen Teams, die jetzt vielleicht noch fehlen; sie sollen alle zu Großvaters Land kommen. Wir treffen uns mit ihnen dort und meine Mutter müssen wir auch mitnehmen. Sie wird für uns dort sehr wichtig sein. Wenn alles so läuft, wie die Götter mir gezeigt haben, dann haben wir genau jetzt die einzige Chance, das Ganze noch aufzuhalten.“

 

Kaum hatte Lany zu Ende gesprochen, als alle Anwesenden auch schon auseinander stoben, um schnellstmöglich aufbrechen zu können. Warren half Lany vorsichtig auf die Beine. Sie zitterte noch ein wenig, aber im Großen und Ganzen machte seine Gefährtin schon wieder einen recht stabilen und vor allem entschlossenen Eindruck.

 

Ohne großes Aufhebens wurde die Ausrüstung wieder verstaut. Binnen kürzester Zeit waren alle startbereit und warteten bei ihren Fahrzeugen. Warren hatte zwischenzeitlich auch die restlichen Teams benachrichtigt, sodass ihr Aufbruch tatsächlich unverzüglich stattfinden konnte.

Kapitel 24 - Weggefährten

 So weit wie möglich gemütlich in ihren Sitz gekuschelt, schlief Lany auf der Fahrt zum Zielgebiet immer wieder kurz ein. Aber dieses Mal ohne größere Zwischenfälle. Nur ihr Großvater tauchte hin und wieder auf, lächelte sie an oder strich ihr liebevoll über den Kopf.

Trotz der großen Anspannung war das rhythmische Schaukeln des Wagens auf eine tröstliche Weise beruhigend.

 

Während der Fahrt blieben alle stumm. Jeder war in seine eigenen Gedanken verstrickt und ging seine eigenen Abläufe immer und immer wieder durch. Sie waren zwar ein sehr gut eingespieltes Team, aber keiner von ihnen wusste, was sie auf Ernests Land wirklich erwarten würde. Lanys Worten zufolge, mussten sie sich auf das Schlimmste gefasst machen.

 

Auch Warren hing seinen Gedanken nach, während er hinter dem Lenkrad saß und immer wieder aus dem Augenwinkel heraus, seine Gefährtin beobachtete. Er wusste, sie hatte keinerlei Kampferfahrung und wenn sie erst einmal dem Rest ihrer Familie gegenübertreten musste, war nicht klar, wie sie darauf reagieren würde – ob sie diese Konfrontation durchstehen würde. Doch sie war die Einzige, die sich auf diesem Land wirklich auskannte. Daher war es unerlässlich, dass sie sie begleitete. Aber er würde darauf achten, sie immer aus den eigentlichen Gefechten, die ihnen mit Sicherheit bevorstanden, herauszuhalten. Und er wusste, dass er sich dabei blind auf seine Leute verlassen konnte. Ein jeder würde sie beschützen.

 

Im Rückspiegel konnte er die anderen Wagen sehen, die mit ihm an der Spitze in Kolonne fuhren. Es waren alle samt gute Männer. Und die wenigen Frauen, die zur Einsatztruppe gehörten, sollte wirklich niemand unterschätzen. Aber würden sie alle unversehrt aus diesem Kampf wiederkehren? Mit vielen von ihnen war Warren seit seinen Kindertagen teils sehr eng befreundet und um nichts in der Welt wollte er jemanden von ihnen verlieren. Aber jetzt, da er der Clanführer war, wog seine Verantwortung dem gesamten Clan sowie auch allen anderen Spezies gegenüber, weit schwerer als einzelne Freundschaften und er konnte das erste Mal überhaupt, die Bürde, von der sein Vater immer gesprochen hatte, wirklich verstehen. Er hatte die Verantwortung für sie alle und er musste sie, so gut es eben in seinen Kräften stand, durch diese Situation hindurch manövrieren. Da dies eine unabänderbare Tatsache war, schloss Warren schließlich Frieden damit und mit sich selbst.

Wesentlich beruhigter, widmete er sich wieder ganz der Fahrbahn, als sich plötzlich aus dem Dickicht am Rand der Straße ein Koloss von einem Mann der Wagenkolonne in den Weg stellte.

 

Warren trat die Bremsen durch und kam mit quietschen Reifen gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Dabei schlingerte der Wagen so stark, dass sie vom Straßenrand leicht in die Böschung rutschten. Die anderen Wagen, durch Warrens Manöver irritiert, blieben ebenfalls schlingernd stehen. Nathan, der im zweiten Wagen der Kolonne gesessen hatte, sprang sofort aus diesem heraus, um zu seiner Tochter zu laufen. Er hatte den Mann, der sich nach wie vor mitten auf der Straße befand, gesehen und auch wie dieser sich nun ebenfalls in Richtung Warren und Lany zu bewegen begann. Schnell wie der Blitz war Nathan an Lanys Seite, die zwar ob des überraschenden Manövers etwas geschockt, aber nicht verletzt war. Warren war unterdessen ebenfalls aus dem Wagen gestiegen und stellte sich nun seinerseits schützend vor seine Gefährtin und ihren Vater.

 

Es lag ein eigenartiger Geruch in der Luft, der Warren vollkommen unbekannt war. Argwöhnisch beobachtete er den Fremden, der mittlerweile mit ein wenig Abstand vor ihm stehen geblieben war. Mit einem Blick zu seinen Leuten, die bereits alle kampfbereit waren, bedeutete er ihnen, sich vorerst zurückzuhalten.

Hinter seinem Rücken spürte er, dass Lany den Wagen nun ebenfalls verlassen hatte. „Warum tust du das? Im Wagen wärst du erst einmal sicherer, Lany!“, fragte Warren über ihre Gefährtenverbindung. Aber er erhielt keine Antwort. Stattdessen legte sich ihm eine kleine Hand federleicht, einem Schmetterling gleich, auf seinen Rücken und er wusste, dass er, was die noch nicht einmal richtig begonnene Diskussion betraf, bereits verloren hatte. Lany hielt sich leicht hinter ihm, aber auch nicht soweit, als das es nach sich verstecken aussah. Auch sie beobachtete den Fremden genau. Der Geruch, der von ihm ausging, war irgendwie eigenartig, er kam ihr vage bekannt vor. Dieser Geruch bedeutete aber auf jeden Fall, dass er eindeutig kein normaler Mensch war und wie er da vor ihnen stand, ließ sie doch ein wenig erschaudern. Dieser Mann war hoch gewachsen, größer als die Männer in ihrem Clan. Er hatte strubblige braune Haare und fast nachtschwarze Augen. Seine Oberarme waren breiter als ihre eigenen Oberschenkel und unter dem dunkelblauen Wollpullover, den er trug, zeichneten sich die vor Kraft vibrierenden Muskeln überdeutlich ab. Die mächtigen Arme vor der Brust verschränkt, musterte er sie drei still und mit grimmigem Blick. Dieser wirkte im ersten Moment maßlos einschüchternd. Und so, wie Warren auf ihn reagierte, schien er auf die sie umgebende Männerwelt, sogar aggressiv und noch schlimmer, angriffslustig zu wirken. Aber wenn sie ihn betrachtete, verspürte sie nichts von alldem. Es ging keinerlei unmittelbare Gefahr von ihm aus. Und noch etwas bemerkte Lany – sie waren umzingelt worden. Zwischen den am Straßenrand stehenden Bäumen tauchten überall Gestalten auf, die dem Mann vor ihnen in Statur und Verhalten ähnelten. Doch sie hielten sich ebenso zurück, wie ihre eigenen Leute. Sie hatte den Blick des Mannes gesehen, woraufhin diese Männer in Sekundenschnelle an Ort und Stelle verharrten. Er war eindeutig ihr Anführer.

 

Als sich Warrens Rückenmuskeln unter Lanys Hand anspannten, wusste sie, dass auch er die Neuankömmlinge bemerkt hatte und sich für den Kampf bereitmachte. So überlegt und bedacht ihr Gefährte auch in den meisten Situationen sein mochte, sobald es um seine Gefährtin oder seine Clanangehörigen ging, setzte irgendwie was bei ihm aus. Sie würde irgendwann noch einmal ein Wörtchen mit ihm darüber reden müssen. Aber nun hieß es erst einmal handeln, bevor diese Situation aufgrund einer unbedachten Reaktion zu etwas eskalierte, was sie alle nicht gebrauchen konnten. Immerhin hatten sie eine Mission zu erfüllen und konnten hier nicht ihre Zeit mit Kräftemessen verschwenden. „Männer!“, dachte Lany, bevor sie sich in der nächsten Sekunde – gerade noch rechtzeitig – vor Warren schob und ihn so mit ihrem Körper vor seiner nächsten Handlung abschirmte. Er konnte schließlich nicht einfach durch sie durchrennen.

 

***

 

Grigorij war angespannt. Die Situation könnte jeden Moment kippen. Seit sie von ihrer Ankunft erfahren hatten, hatten sie sich beraten, wie man nun vorgehen sollte. Er wusste, er zählte nicht gerade zu den diplomatischsten Vertretern seiner Spezies und wenn ihn jemand erschreckte schon gar nicht, trotzdem hatte er sich für diesen drastischen Schritt gegen alle Bedenken der anderen durchgesetzt. Er war nicht direkt ihr Anführer, denn so etwas gab es in ihrer Gesellschaft nicht, aber seine Familie gehörte zu den ältesten überhaupt und so hatte seine Stimme doch immer noch etwas mehr Gewicht, wenn es darauf ankam.

 

Er hatte nicht gewollt, dass ihnen etwas passiert und irgendwie war ihren Spähern entgangen, dass sich auch Frauen in der Gruppe befanden. Rein instinktiv wusste er, dass gerade die Frau aus dem ersten Auto, eine für die Gruppe extrem wichtige Position bekleidete. Erst recht, nachdem der Anführer sich gleich schützend vor sie gestellt hatte und andere ebenfalls an ihre Seite eilen wollten. Hätte er es gewusst, wäre er vielleicht doch noch etwas anders vorgegangen. So hatte er sie nun nur noch zusätzlich provoziert und das war nie ein guter Start für neue Bekanntschaften.

 

Grigorijs Miene verfinsterte sich immer weiter, je mehr er über sein Manöver nachdachte. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er sich nicht rückversichert? Warum hatte er die ihm gebrachten Informationen einfach als gegeben hingenommen? Wahrscheinlich hatte selbst in ihm etwas ausgesetzt, als er erfuhr, dass Mitglieder des Clans der Panthera sich anscheinend auf einer Mission gegen die Briscotts befanden. Mitglieder des Clans, der den geheimen Pfad zu ihrer aller Geheimnis, zu ihrer aller Existenz schon seit Äonen bewachte. Doch nun war es zu spät für solche Überlegungen. Nun musste er zusehen, wie er die Situation entschärfen konnte. Vor allem, da es sich offensichtlich nicht nur um irgendwelche Mitglieder des Clans handelte, sondern um die Alphas höchstpersönlich. Auch wenn er geglaubt hatte, dass das Alpha-Paar der Panthera bereits wesentlich älter wäre. Aber wahrscheinlich hatte es zwischenzeitlich einen Wechsel in ihren höchsten Reihen gegeben, von dem sie alle noch nichts wussten. Als er dann auch noch sah, wie seine Leute aus den Baumreihen hervortraten und damit zusätzlich die Situation verschlimmerten, war er froh, als er sah, wie sie alle auf seinen Blick hin reagierten. Hätte er es nicht besser gewusst, müsste er annehmen, doch so etwas wie ihr Anführer zu sein. Dieser Gedanke hätte ihn fast schmunzeln lassen. Aber sein Schmunzeln sah nicht nur für Fremde furchterregend aus, auch seine eigenen Leute bekamen es dabei regelmäßig mit der Angst zu tun. Also bezwang er diesen Impuls und blickte offen und entspannt – so hoffte er zumindest – sein Gegenüber an.

 

Ein anderer Mann war zum Auto gelaufen und half nun dieser Frau dabei auszusteigen. Sie wirkten recht vertraut miteinander und er konnte die Besorgnis im Gesicht dieses Mannes erkennen. Doch anstatt sie aus der möglichen Schusslinie zu bringen, hörte er nun ein ergebenes Schnaufen des Mannes und sah, wie die Frau sich halb verdeckt hinter ihren Gefährten stellte, um sich nur wenige Sekunden später direkt vor ihn und damit genau in eine mögliche Schutzlinie zu stellen. Wie konnte dieser Mann das nur zulassen? Und auch der andere wirkte nicht so, als ob er sie davon abhalten wollte. Es war nur dieses von beiden wieder dieses eigenartige Schnaufen zu hören, dem sich anscheinend auch alle anderen der Kolonne anschlossen. Was war nur los mit ihnen? Grigorij war verwirrt.

 

„Wer seid ihr und wieso versperrt ihr uns den Weg?“, sprach ihn dieses zierliche Geschöpf nun vollkommen ruhig und mit glockenheller, melodischer Stimme an. Ihr Gefährte wollte gerade seine Stimme erheben. Er bebte vor unterdrücktem Zorn, welches sich in dem drohenden Knurren seiner Gefolgsleute widerspiegelte. Doch eine einzige leichte Berührung ihrer Hand hielt seine Worte zurück. Er war zwar immer noch aufgebracht, aber seine Kampfbereitschaft war augenblicklich abgeflacht. Dies alles geschah, ohne dass sie ihren Blick von Grigorij abwandte.

 

„Entschuldigt unseren Auftritt! Wären unsere Informationen besser gewesen, hätten wir auf jeden Fall versucht, auf anderem Wege mit euch in Kontakt zu treten. Seid versichert, dass wir euch nicht feindlich gegenüber gesinnt sind!“, versuchte Grigorij sich zu rechtfertigen, da er das dringende Bedürfnis verspürte, dass diese Frau ihn und seine Kameraden im richtigen Licht sah. Er hatte so etwas noch nie erlebt, na ja vielleicht doch … einmal; doch das war lange her. Seine Gedanken drifteten zu dieser lange vergessenen Zeit ab.

 

„Schön und gut, aber das sagt mir leider immer noch nicht, mit wem ich mich hier gerade unterhalte. Ich weiß, dass ihr uns nicht feindlich gesinnt seid und ihr keine schlechten Absichten verfolgt. Doch auch wenn ich es schon weiß, so sind doch mein Gefährte und unsere Clanmitglieder nicht so leicht zu überzeugen. Du siehst, wie ihnen das ganze hier zu schaffen macht und sie nur mit Müh und Not ihre Aggressionen im Zaun halten. Daher möchte ich dich noch einmal bitten, uns zu sagen, mit wem wir hier das Vergnügen haben. Das würde unsere weitere Kommunikation wesentlich erleichtern, zumal wir wirklich nicht mehr viel Zeit haben. Dazu ist das, was wir erledigen müssen wirklich viel zu wichtig.“

 

Durch diese Worte aus seinen Gedanken gerissen, schaute er nun Lany wieder bewusst an. „Eh .. ja, natürlich! Ich bin Grigorij, Grigorij Kuznewski.“

 

„Gut, Grigorij Kuznewski, ich bin Lany und dies hier sind mein Gefährte, Warren Lang und mein Vater, Nathan Sheridan …“, weiter kam Lany nicht, denn mit einem irgendwie erschrockenen Luftschnappen fuhr Grigorij ihr dazwischen. „Nathan Sheridan? Seid ihr dann mit ERNEST Sheridan verwandt?“ Witternd reckte er seine Nase in die Luft. „Doch, na klar, das müsst ihr sein! Euer Geruch! Das mir das nicht gleich aufgefallen ist.“ Immer noch innerlich mit sich selbst schimpfend, ging Grigorij nun, ohne es wirklich zu merken auf die drei zu.

 

Augenblicklich verspannte sich Warren wieder und ein bedrohliches Knurren stieg seine Kehle empor. Lany, die dies ebenfalls sofort registrierte und eine möglich Eskalation verhindern wollte, drehte sich nun ganz bewusst zu ihrem Gefährten um – wohl wissend, dass Grigorij so die perfekte Möglichkeit bekam, sie anzugreifen – wenn er das denn wollte. Doch hier und jetzt war es wichtig, Warren direkt in die Augen zu schauen und auch um allen zu beweisen, dass von Grigorij keine Gefahr drohte. Denn davon war sie nach wie vor felsenfest überzeugt; erst recht, nachdem der Name ihres Großvaters gefallen war.

 

„Warren“, sagte sie sanft, aber ihr Gefährte reagierte nicht sofort. Er war zu sehr in seiner Wut gefangen, sodass Lany bei ihrem zweiten Versuch etwas energischer sprach. „Warren! Sieh. Mich. An!“ Wie von ihr erhofft, wandte er ihr nun seinen Blick zu und die Augen, die gerade noch voller Härte waren, wurden sanft und liebevoll.

 

„Warren, hör sofort auf damit! Du verpestest die Luft geradezu mit deinen Aggressionen, dass alle schon ganz nervös werden. Dabei besteht überhaupt kein Grund dafür. Wenn du dich beruhigen würdest, könntest spüren, dass uns wirklich keine Gefahr droht. Aber wenn du weiterhin so reagierst wie gerade noch, dann könnte das leicht kippen.“

 

„Lany, Schatz, bitte komm doch erstmal hinter mich. Deshalb kann ich mich kaum beherrschen, weil ich solche Angst um dich habe. Ich kann nun mal leider noch nicht so gut mit deiner Impulsivität umgehen. Du jagst uns allen damit einen riesigen Schrecken ein“, versuchte Warren sich zu erklären. Und es war ja auch so. Lanys Handeln war einfach nicht vorhersehbar. So, wie sie, war keine ihrer Frauen bisher aufgetreten. Aber wahrscheinlich brachte das ihr Status als weise Frau nun einmal mit sich und sich daran zu gewöhnen viel ihnen allen immer noch recht schwer.

 

„Ich verstehe dich und auch die anderen ja, aber ihr müsst ebenfalls versuchen zu verstehen. Ich spüre ganz deutlich, dass von Grigorij UND seinen Männern keine Gefahr zu befürchten ist. Und dieses Treffen hier mit ihnen: Ich denke es ist unglaublich wichtig für unsere Mission; und für ihr Gelingen.“ Plötzlich spürte Lany einen leichten Windhauch in ihrem Nacken und durch den Blick den Warren über ihren Kopf hinweg hinter sie richtete, wusste sie definitiv, dass Grigorij nun direkt hinter ihr stand. Nach einem erneuten Blick in Warrens Gesicht, drehte sie sich langsam zu dem riesenhaften Mann in ihrem Rücken um.

 

Grigorijs Blick verriet, dass auch er erst jetzt bemerkte, was er gerade getan hatte. Wie hatte er nur all seine Aufmerksamkeit auf seine Gedanken und nicht auf sein Handeln lenken können. Kurzzeitig schwang wieder Gefahr in der Luft. Doch sobald Lany sich zu ihm umdrehte, entspannte sich auch Warren wieder. Durch seine unmittelbare Nähe zu ihr konnte er nun ihren Geruch noch besser aufnehmen und mit einem Mal wurde ihm schlagartig bewusst, wer da direkt vor ihm stand. Doch bevor er etwas sagen konnte, hob Lany erneut zum Sprechen an.

 

„Grigorij, meinst du nicht, dass es für uns alle besser wäre, wenn auch deine Männer nun aus ihrer Deckung zu uns treten würden. Ich glaube, das würde ungemein hilfreich sein, dass sich hier keiner in die Ecke gedrängt fühlen muss.“

 

„Ja, natürlich, sofort!“ Und nach einem kurzen Blick zu seinen Männern, traten sie alle aus den Schatten heraus. Es waren wohl an die vierzig Mann, die sich nun mit mehr oder weniger grimmigen Gesichtern – man konnte ihnen ansehen, dass ihnen diese Situation nicht wirklich gefiel – zu ihnen gesellten.

 

Diese geballte Muskelkraft war wirklich beeindruckend. Lany kam nicht umhin, ihren Blick zwischen ihrem Clan und diesen Muskelprotzen vergleichend umherschweifen zu lassen. Im Vergleich zu Grigorijs Männern waren ihre eigenen Clanangehörigen nicht so kompakt gebaut, sondern besaßen eine kraftvolle, geschmeidige, ja beinahe grazile Eleganz – nicht nur in ihren Bewegungen, sondern auch in ihrem Körperbau. Doch glaubte Lany keine Sekunde daran, dass nicht beide Seiten, wenn es darauf ankam, zu unglaublicher Schnelligkeit und Stärke fähig waren. Doch zu welcher Spezies Grigorijs Gruppe gehörte, hatte sie immer noch nicht rausbekommen.

 

„Entschuldige, dass es mir erst jetzt auffällt, Lany, aber ich glaube, du erinnerst dich sowieso gerade nicht an mich.“ Mit einem beinahe treuherzigen Blick schaute Grigorij zu der kleinen Person vor sich herunter. Sie ging ihm gerade mal bis knapp unter der Brust und musst nun, da er direkt vor ihr stand, ihren Kopf weit in den Nacken legen, um ihm überhaupt ins Gesicht sehen zu können. „Mr Lang, es tut mir wirklich ausgesprochen leid, dass wir Sie hier so in Empfang genommen haben. Wir wollten hier wirklich niemanden provozieren, doch die Zeit drängt derart, dass wir keinen anderen Ausweg wussten. Und nun, wo ich Lany vor mir stehen sehe, bin ich mir umso sicherer, dass es trotz allem der richtige Weg war.“

 

„Gut, Mr Kuznewski. Auch wenn Sie diesen etwas ungewöhnlichen Weg gewählt haben, um mit uns in Kontakt zu treten, bin auch ich inzwischen davon überzeugt, dass Sie tatsächlich keine feindlichen Absichten uns gegenüber verfolgen. Was können wir für Sie tun, aber für mich immer Moment leider noch viel wichtiger: Woher kennen Sie meine Gefährtin oder glauben, dass sie Sie kennen müsste?“ Auch wenn Warren mittlerweile wirklich ruhiger war, konnte er sich bei seiner letzten Frage ein leichtes Fauchen in der Stimme nicht verkneifen, welches von seiner Lany allerdings mit einem versteckten Kichern bedacht wurde.

 

„Ich werde Ihnen gerne Ihre Fragen beantworten, doch sollten wir unsere Unterhaltung trotz der Zeitnot an einem anderen Ort, als hier auf der Straße fortführen. Wenn Sie nichts dagegen haben, folgen Sie uns doch bitte zu unserer Unterkunft. Es ist nicht weit von hier und gemütlich ist es obendrein“, fügte Grigorij mit einem leichten Schmunzeln an Lany gewandt hinzu.

Kapitel 25 - Alte Freunde

Die Fahrt dauerte nicht lange. Schon nach einer knappen halben Stunde erreichten sie über einen nicht erkennbaren Weg durch waldiges Gebiet eine gut versteckte Blockhütte. Auf den ersten Blick eine 08/15-Hütte, wie in dieser Gegend überall in den Wäldern verstreut; die sich an hoch aufragendes Felsgestein schmiegte und insgesamt recht unscheinbar anmutete.

Doch schon beim Betreten der Hütte wurde klar, dass sich hier wahre Baumeister ans Werk gemacht haben mussten, denn die Hütte selbst war nur der Anfang. Die Rückwand der Behausung fehlte und machte so den Weg frei in ein Labyrinth aus höhlenartigen Gängen tiefer in das Felsgestein hinein. An den Felswänden hingen einzelne Fackeln, die mit ihrem Feuer den Weg beleuchteten. Fünf von Grigorijs Männern blieben in der eigentlichen Blockhütte als Wachposten zurück, während alle anderen Grigorij durch die Gänge weiter ins Innere des riesigen Höhlensystems folgten. Hie und da zweigten einige der Männer in angrenzende Räume ab, sodass die Gruppe immer weiter schrumpfte. Am Ende waren nur noch Grigorij und die Clanmitgliedern der Panthera übrig.

 

Lany kam aus dem Staunen nicht heraus. Das Gestein um sie herum musste sehr mineralhaltig sein, denn durch das Licht der Fackeln glitzerten die Wände an verschiedenen Stellen in den unterschiedlichsten Farben. Sie war so in ihre Betrachtungen versunken, dass sie beinahe in Grigorijs Rücken gerannt wäre, wenn Warren sie nicht schnell festgehalten hätte.

 

Sie waren inzwischen in einem großen Raum angekommen, der anscheinend als natürliche Höhle entstanden und nun in eine Art Saal oder vielleicht auch Besprechungsraum umgebaut worden war, denn in der Mitte stand eine lange Tafel mit Stühlen an allen Seiten. Auf der rechten Seite des Raumes hing eine große Landkarte an der Wand, auf der einzelne Punkte mit kleinen Pins markiert worden waren. Daneben stand ein Flipchart mit wilden Zeichnungen und Notizen darauf. An der kuppelartigen Decke, die sich weit oben über ihnen erstreckte, war über eine Verlängerung auch ein Beamer montiert, mit dem Bilder auf die rückwärtige Höhlenwand geworfen werden konnten. Hierfür war eigens eine Leinwand in Form eines Rollos angebracht worden, dass man bei Bedarf ausfahren konnte.

 

Als Lany ihren Blick weiter schweifen ließ, bemerkte sie ein wenig erleichtert, dass die linke Höhlenwand ausschließlich Bildern von der umliegenden Flora und Fauna überlassen worden war, was dem Raum letztendlich doch noch ein wenig Persönlichkeit einhauchte, statt ihn vor technischer und strategischer Kälte erstarren zu lassen.

Sie bemerkte, wie sich ihre Clanangehörigen im Raum verteilten, sich teilweise auf die Stühle setzten oder einfach nur ebenfalls staunend herumstanden. Warren hatte ihr seine Hand auf den unteren Rücken gelegt und schob seine nach wie vor staunende Gefährtin vorsichtig in Richtung eines Sitzplatzes.

 

Aus einem verdeckten Eingang am hinteren Ende des Raumes strömten nun mehrere Frauen hervor, die auf Tabletts diverse Erfrischungen und kleine Snacks für die Gäste brachten. Sie waren annähernd so kräftig und groß gebaut wie auch die fremden Männer, doch waren ihnen ihre weiblichen Formen trotz allem anzusehen. Einige von ihnen hatten einen leicht grimmigen Blick, den sie sich aber bemühten, nicht allzu sehr zu Tage zu treten. Vielleicht machten sie sich ja auch nur Sorgen, dass so viele Fremde ihr Domizil betreten hatten, von denen sie noch nicht so recht wussten, ob es sich um Freund oder Feind handelte. Ihre Blicke huschten immer wieder zu Grigorij und einer nun bei ihm stehenden Frau – anscheinend um die Lage besser einschätzen zu können.

 

So wie Lany es sich schon gedacht hatte, musste Grigorij hier so etwas wie der Anführer sein. Er stand mit der Frau etwas abseits zusammen. Da sie aber durch seinen Körper weitgehend vor ihrem Blick verdeckt wurde, konnte Lany sie sich nicht näher anschauen. Das einzige Auffällige war, dass die beiden einen anscheinend sehr vertrauten Umgang miteinander pflegten.

 

Lany legte ihre Hand auf den Unterarm ihres Gefährten, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er war neben ihrem Stuhl stehen geblieben, schaute sich aber im Raum um und ließ seine Sinne schweifen. Als sich sein liebevoller Blick, der nur ihr allein vorbehalten war, auf sie richtete, verspürte Lany wieder dieses inzwischen vertraute Prickeln auf der Haut. Diese Seite zeigte er allein ihr und das machte sie wie immer unglaublich glücklich und stolz.

 

„Grigorij erwähnte vorhin, dass ihr euch kennen würdet, du dich aber nicht mehr an ihn erinnern könntest.“, fragte Warren in ihrem Kopf, und mit zusammengezogenen Augenbrauen, was wirklich urkomisch aussah und Lany ein wenig zum Kichern brachte.

„Ich weiß nicht so recht, Warren, aber ich glaube es stimmt. Der Umgang mit ihm fühlt sich für mich vertraut an, und noch mehr als das. Ich fühle mich in seiner Nähe sicher. Ich glaube deshalb habe ich vorhin auch gefühlt, dass uns von ihnen keine Gefahr droht. Sobald wir können, sollten wir ihn danach fragen. Ich möchte unbedingt wissen, woher er mich kennt. Auf jeden Fall schien ihm Großvater Ernests Name vertraut zu sein. Vielleicht ist er ein Bekannter von ihm gewesen?“

 

„Unsere Spezies pflegt keine Bekanntschaften zu pflegen, mein Schatz. Entweder handelt es sich um Freunde oder um Feinde. Wir können es uns nicht leisten, durch etwaige »nur Bekannte« Gefahr zu laufen, unsere Identität zu verraten. Und ob Grigorij entweder das Eine oder das Andere für Ernest war, wird sich sicherlich in Kürze herausstellen. Dein Vater scheint ihn jedenfalls nicht zu kennen, denn in seinem Gesicht war bei Grigorijs Worten keinerlei Erkennen wahrzunehmen gewesen.“

 

Als Grigorij sich nun zu ihnen umdrehte und zusammen mit der Frau auf sie zukam, unterbrachen Lany und Warren ihren geistigen Dialog. Nun konnte Lany die Frau genau beobachten, da sie nicht länger durch Grigorij verdeckt wurde. Sie war fast so groß wie er, hatte ebenmäßige Gesichtszüge, große, fast schwarze Augen und langes, leicht gewelltes rostbraunes Haar, welches ihr in Kaskaden über Schultern und Rücken floss. Ihr Blick war direkt auf Lany geheftet, doch fühlte sie sich dadurch in keiner Weise herausgefordert. Vielleicht war ihr diese Frau ja auch bekannt, und sie konnte sich nur genauso wenig an sie erinnern, wie an Grigorij.

 

Endlich waren die beiden bei Lany und Warren angelangt. Grigorij bat die Frau und Warren sich nun ebenfalls zu setzen und nahm selbst gegenüber von Lany platz. Er schien entgegen ihrer ersten Begegnung auf der Straße, doch ein Gespür für den nötigen Abstand zu haben, um Warren nicht unnötig durch den zu engen Kontakt zu seiner Gefährtin zu provozieren und damit ein ruhiges Gespräch zwischen ihnen zu gefährden.

 

Als eine der Frauen die Viererrunde bemerkte, kam sie mit einem neuen Tablett herüber, um es wortlos in ihrer Mitte auf dem Tisch abzustellen. Nach einem kurzen Blick zu Grigorij zog sie sich wieder zurück, sodass ihnen ein gewisses Maß an Privatsphäre unter all den im Raum befindlichen Personen gegönnt war.

 

„Darf ich euch Luana vorstellen? Ich habe sie zu unserem Gespräch dazu gebeten, da sie einer der Gründe ist, weshalb wir den Kontakt zu euch gesucht haben.“, eröffnete Grigorij nun das Gespräch.

 

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Luana.“, entgegnete Lany offen und Warren nickte ihr freundlich zu. „Und bitte entschuldigt, dass ich das Offensichtliche nicht sofort anspreche. Aber Grigorij bitte erzähle mir oder besser noch uns doch erstmal, woher du mich kennst. Ich kann mich nämlich wirklich nicht mehr an dich erinnern, so sehr ich es bisher auch versucht habe. Das einzige was ich weiß, ist, dass du ein Gefühl der Vertrautheit bei mir auslöst. Aber warum?“

 

„Du warst damals noch ein kleines Mädchen von vielleicht zweieinhalb Jahren, als wir uns auf dem Land deines Großvaters das erste Mal begegnet sind. Ich habe auf meinen vielen Reisen immer gerne einen Abstecher zu Ernest gemacht, auch um ihn um seinen Rat in den verschiedensten Angelegenheiten zu fragen. Über die vielen Jahre, die ich ihn immer wieder besucht hatte, waren wir Freunde geworden – trotz unserer offensichtlichen Unterschiede. Ernest war wirklich großartig und ein weiserer und gütigerer Mann ist mir nie wieder untergekommen. Aber entschuldige, ich schweife ab. Jedenfalls warst auch du damals bei deinem Großvater zu Besuch und tolltest ohne jegliche Angst im Unterholz herum. Angst brauchtest du auf Ernests Land ja auch nie haben. Er hat dich stets wie seinen Augapfel gehütet und beschützt, wenn es nötig war. Sein Spitzname für dich war, wenn ich mich recht erinnere, kleine Wildkatze und genau das warst du auch – eine richtige kleine Wildkatze. Als du mich das erste Mal entdeckt hattest, bist du nicht, wie man es von jedem kleinen Kind erwartet hätte, weinend weggerannt. Nein, du warst zu neugierig. Deine kleine Nase schnüffelte unentwegt in die Luft und deine kleine Hand war ohne Furcht in meine Richtung ausgestreckt. Mir war damals nicht gleich bewusst, dass du Ernests Enkelin warst und da ich mich nicht gerne erschrecke – und du hast mir damals wirklich einen riesigen Schrecken eingejagt – habe ich leider … na ja, ich habe eben geknurrt und meine Zähne gefletscht. Woraufhin im nächsten Moment dein Großvater mich sofort angreifen wollte, um dich zu schützen. Er wusste wer ich war und dass wir Freunde sind … ich hatte dir wirklich keine Furcht einjagen wollen, doch noch bevor Ernest – der wirklich extrem schnell und wendig war – auch nur in meine Nähe kommen konnte, warst du schon – schwuppdiwupp – ganz dicht an mich herangetreten. Und nicht nur das; du hattest auch noch deine kleinen Finger in mein Maul gesteckt und dich an meinen Eckzähnen festgehalten. Du hast mich einfach wie ein Insekt unter dem Mikroskop untersucht. Ich wagte gar nicht mich zu bewegen – nicht einen Millimeter – so fasziniert war ich von der ganzen Situation. Und als du dann schlussendlich auch noch auf mich raufgeklettert bist und deinen Großvater gefragt hast, ob du mich nicht behalten könntest, fiel nicht nur ich, sondern auch Ernest endgültig vom Glauben ab. Ich musste deinem Großvater damals auf mein Leben schwören, dass ich mich nie vor dir verwandle, was ich anfangs nicht verstand. Doch als er mir von deiner Mutter erzählte …“, betrübt schüttelte Grigorij seinen Kopf. Er konnte noch immer nicht fassen, was dem kleinen Mädchen und wahrscheinlich auch der erwachsenen Frau vor ihm schon alles angetan worden war. „Seit unserer ersten Begegnung hast du mich jedes Mal wieder, wenn ich und du zeitgleich bei Ernest zu Besuch waren, vollkommen in Beschlag genommen. Wir sind zusammen mit deinem Großvater, manchmal aber auch alleine durch die Wälder gestrichen, während du es dir, wenn deine Beine nicht mehr wollten – oder du manchmal auch einfach nur faul sein wolltest – auf meinem Rücken bequem gemacht hast.“ In Grigorijs Blick wirkte verklärt und in seinen Augen konnte man die Vergangenheit funkeln sehen. Daher bekam er auch leider nicht gleich mit, was gleich über ihn hereinbrechen würde.

 

Für ihn vollkommen unvorhergesehen flog ihm plötzlich die zierliche Gestalt Lanys entgegen. Warren selbst aufgeschreckt, hatte ob der Impulsivität seiner Gefährtin trotzdem keine Chance, sie irgendwie zurückzuhalten. Alle seine Instinkte schrieen ihm die drohende Gefahr entgegen und doch konnte er nur tatenlos zuschauen, wie sich seine liebreizende, aber doch viel zu stürmische Frau auf diesen Berg von Mann hin zuschleuderte und ihm um den Hals fiel. Ein tiefes, bedrohliches Grollen erhob sich aus Grigorijs Brust; riesige schwarze, sehr scharfe Krallen sprossen aus seinen Fingern hervor und sein Blick verdunkelte sich zu vollkommenem Schwarz. Alle im Raum Anwesenden hielte in Habachtstellung die Luft an; jederzeit bereit ihrer Alpha zu helfen – auch wenn es mehr als eindeutig war, dass sie sich diese Schwierigkeiten selbst eingebrockt hatte.

 

Doch was als nächstes folgte, damit hätte niemand von ihnen jemals gerechnet. Die kleine, zierliche Lany ließ diesen gefährlichen Gestaltwandler nicht einfach los oder rannte gar schutzsuchend zu ihren Clanangehörigen, geschweige denn setzte sie ihre eigenen sehr effektiven Waffen ein. Nein, Lany Briscott lachte übermütig und küsste und herzte den Kollos von Mann, um dessen Hals sie sich nach wie vor klammerte.

 

„Meister PETZ! Du bist es!!!“, rief Lany voller Freude und mit einem verdächtigen Schimmer in ihren großen Augen. Dann schwang sie mit gespielter Ernsthaftigkeit ihre kleine Faust gegen seine Schulter und sagte mit einer Empörung, die sie selbst nicht empfand „Ich habe schon immer gespürt, dass mit dir etwas nicht stimmt!“, und schon im nächsten Moment lachte sie wieder ausgelassen.

 

Grummelnd, aber freundlich gab dieser zurück „Du sollst mich doch nicht so erschrecken. Ich mag das ganz und gar nicht!!! Aber du hast dir ja nie etwas daraus gemacht.“ Nun lachte auch Grigorij aus vollem Herzen und umarmte das zierliche Wesen, das schon damals sein Herz gestohlen hatte. „Ich bin so froh, dass du nun endlich weißt, wer und was ich wirklich bin. Doch sag mal, du weißt ja, ich bin nicht nur besonders schreckhaft – wie im Übrigen alle Bären – sondern auch fürchterlich neugierig … da du ja anscheinend nicht nur zu den Panthera, sondern auch zu deinem Gefährten gefunden hast … kannst du dich denn auch wandeln? Ernest hat sich darüber stets ausgeschwiegen. Er meinte immer, sobald er es aussprechen würde, könnte er dich nicht mehr schützen – gerade so, als würde er damit das Unglück über dich beschwören.“

 

Nun erhob Warren doch das Wort. Es hatte eine kleine Weile gedauert, bis er die gesamte Situation und ihre Folgen in Gänze erfasst und sein Tier wieder beruhigt hatte. Lany würde ihm irgendwann doch noch einmal einen Herzinfarkt bescheren, so unnormal derlei Krankheiten auch für ihre Spezies waren – seine Lany würde auch das schaffen. „Meister Petz?“, fragte Warren als erstes etwas ungläubig, aber mit einem schelmischen Funkeln im Blick. „Na ja, sie wusste ja nicht, wer ich wirklich war. Für sie war ich ein rumstreunender, aber gutmütiger Bär, den sie foppen und piesacken konnte, wie sie wollte und der ja irgendwie einen Namen brauchte. Ernest war dabei – wie du dir sicherlich vorstellen kannst nicht besonders hilfreich, da er die Situation einfach selbst zu komisch fand. Natürlich wäre es ihm ein leichtes gewesen, ihr meinen richtigen Namen zu verraten, aber das tat er offensichtlich nicht. Und so bin ich für die kleine Lany hier zu »Meister Petz«. Ich wäre euch aber überaus dankbar, wenn ihr diesen Namen nicht vor den anderen gebrauchen würdet. Auch du, Luana, wirst das freundlicherweise für dich behalten, sonst werden wir uns heute Abend ernstlich unterhalten müssen.“, erklärte Grigorij an Luana gewandt, aber mit einem beinahe liebevollen Blick in ihre Richtung.

 

„Wahrscheinlich wird es wirklich das Beste sein, wenn wir diesen Namen den anderen verschweigen.“, gluckste Warren – um ein richtiges Lachen zu unterdrücken – ein wenig. „Ich kann dich vollkommen verstehen, dass dies nicht gerade für deine Position von Nutzen wäre. Aber um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ja, Lany kann sich wandeln. Und was für ein anmutiges, kraftvolles und wunderschönes Tier ihr innewohnt!“, erklärte Warren nun wieder voller Stolz und Liebe zu seiner Gefährtin. „Ich bin froh, dass nun die Fronten geklärt sind. Entschuldige, dass ich euch misstraut habe, aber die Mission, auf der wir uns befinden, ist einfach zu heikel und wichtig, um jedem sofort zu vertrauen.“

 

Lany, die immer noch an Grigorijs Hals hin, musterte ihren Gefährten mit leicht zusammengekniffenen Augen und man konnte ihr ansehen, dass sie mit sich kämpfte, um in diesem Moment nichts zu sagen. Doch dann brach es doch aus ihr hervor. „Ich habe gleich gewusst, dass von Meister Petz und den anderen keine Gefahr ausgeht. Du hättest mir ruhig ein wenig mehr vertrauen können.“ Einen Schmollmund ziehend, kicherte Lany doch ein wenig, was die Wirkung ihrer Geste natürlich zunichte machte.

 

 

*** Fortsetzung folgt ***

Impressum

Texte: Ayaluna
Bildmaterialien: Ayaluna
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2012

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