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Einen Augenblick lang...


Ich hätte im Bett bleiben sollen.




Heute war wieder einer dieser Tage gewesen, bei denen ich schon während des Aufstehens feststellte, dass der Tag nur schlimmer werden würde. Und das hatte schon was zu sagen, wenn man bedachte, dass ich soeben von einem ziemlich schrillen Piepsen – seit ich meinen Wecker einmal gegen die Wand geworfen hatte, klang er eindeutig krank - geweckt wurde und zudem aufstehen musste, was mir momentan so gar nicht gefallen wollte. Warmes, gemütliches Bett gegen kalte, grausame Welt? Ich frage mich immer noch, warum sich letzteres durchgesetzt hat...

Halb verschlafen schleppte ich mich dennoch zur Dusche und bemerkte prompt, dass heute etwas eindeutig und gar nicht stimmen konnte, denn ausnahmsweise funktionierte mein Duschkopf einmal in seinem Leben – oder zumindest dem Teil, welches er in meiner Gesellschaft verbracht hatte – einwandfrei und tröpfelte nicht nur vor sich hin. Schon einmal ein schlechtes Omen. Und zwar ein ganz schlechtes – und normalerweise bin ich nicht der Pessimist, der alles Gute in seinem Leben gleich schlecht machen muss.

Spätestens bei dem verschimmelten Brot und der sauren Milch im Kühlschrank hätte ich daher längst den Entschluss gefasst haben müssen, lieber gleich wieder umzudrehen und es morgen nochmal zu versuchen. Aber inzwischen war mein Bett eh schon wieder kalt geworden – ja, ich habe es getestet, auch wenn ich es schon geahnt hatte - und daher entschied ich mich natürlich nicht, die nächsten vierundzwanzig Stunden einfach zu überspringen, sondern stellte mich dem äußerst interessanten Abenteuer „Alltag“. Vorerst ohne Frühstück, das vorsichtshalber erstmal im Mülleimer landete, bevor es wieder mit dem Leben anfing.


Mit knurrendem Magen verließ ich also meine Wohnung auf dem Weg zur Arbeit. Kaum hatte ich die Haustür hinter mir verschlossen und mich wieder zur Straße gedreht, da sah ich auch schon, wie mein Bus langsam wieder von der Haltestelle abfuhr – das Teil kommt ja auch immer dann zu früh, wenn man selber gerade rechtzeitig angekommen wäre, aber nie, wenn man bereits seit zwei Minuten wartete. Doch auch das und die Tatsache, dass der nächste Bus erst in zwanzig Minuten kam, brachte mich nicht dazu, umzudrehen, obwohl ich diesen Gedanken am heutigen Tag nun schon so häufig hatte, dass ich meiner Trägheit langsam aber sicher nachgeben wollte. Ein Anruf mit der Entschuldigung, dass ich krank sei, wäre zwar nicht die beste Methode, um meinen Arbeitsplatz zu sichern, aber wenigstens hätte ich einen ruhigen Tag vor mir – und wahrscheinlich noch viele weitere, wenn mein Chef sich erstmal bei mir melden würde.

Doch stattdessen machte ich mich lieber gleich zu Fuß auf den Weg zur Bahnstation, denn mein Fahrad hatte seit geraumer Zeit einen Platten und ich kam nicht umher, innerlich darüber zu fluchen, dass ich bisher zu faul war, es zu reparieren. Oder reparieren zu lassen, denn für erstes wäre ich nicht nur ebenfalls zu faul, sondern auch noch zu ungeschickt und unbegabt. Ich war schon froh, wenn ich es schaffte, ein IKEA-Regal fachgerecht zusammen zu bauen – und das ohne die Schraube, die sowieso immer fehlte.


Unterwegs traf ich Menschen, denen ich noch nie in meinem Leben begegnet war – oder zumindest erinnerte ich mich nicht mehr daran, man traf ja doch mehr Menschen, als man glaubte -, denen ich aber teilweise gerne noch länger zugesehen hätte, hätte es mein Zeitplan erlaubt, denn über einige Leute konnte man sich einfach nur amüsieren, besonders morgens, wenn sie gerade erst aufgestanden waren. Oder gerade erst nach Hause kamen, bei einigen war ich mir da nicht so sicher.

Endlich an der Bahnstation angekommen, steuerte ich erstmal die nächste Bäckerei an, um meinem leeren Magen einen Gefallen zu tun. Die blonde Bedingung hinter der Theke – ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich absolut nichts gegen Menschen mit blonden Haaren habe - war freundlicherweise auch dazu bereit, mir, nachdem sie ihr Telefonat nach einer gefühlten Stunde beendet hatte und ich inzwischen schon mehr über ihre Beziehungsprobleme wusste als mir lieb war, mein gewünschtes belegtes Brötchen zu übergeben. Sollte sie doch froh darüber sein, dass sie überhaupt Beziehungsprobleme hatte, schließlich setzte das eine Beziehung voraus und da gab es genug Menschen, die sich nicht so glücklich schätzen konnten. Scheinbar war sie anderer Meinung, versteh einer die Frauen...


Schließlich führte mich mein Weg doch noch auf mein Bahngleis und, oh Wunder, ich war rechtzeitig – ja, ich gehöre zu dieser Art Mensch, die aus Bequemlichkeit lieber den Bus nehmen, wenngleich ich dadurch länger unterwegs bin, als wenn ich zu Fuß gegangen wäre -, würde meine Bahn nicht verpassen, würde pünktlich auf der Arbeit erscheinen, daher nicht gefeuert werden, meine Miete bezahlen und meinen Kühlschrank wieder füllen können – mit Dingen, die vorzugsweise nicht lebten. Da sah man den Tag doch gleich viel weniger schwarz, obwohl tristes Grau auch nicht unbedingt als Verbesserung durchging.

Und mal ehrlich, was hatte ich eigentlich? Immerhin hatte es nicht einmal geregnet, als ich mich zu Fuß auf den Weg machen musste, da konnte man doch glatt sagen, ich hätte es gut erwischt, denn zumindest das Wetter schien auf meiner Seite zu sein - zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als gerade dann ein Windstoß aufkam, als eine Taube (ich nannte sie gerne „Ratten der Lüfte“) sich gerade erleichtern musste. Natürlich landete ihr abgeschiedenes Exkrement freundlicherweise auf meiner linken Schulter, aber ich ließ es gleich bleiben, mich darüber aufzuregen, denn ich hatte einfach keine Lust mehr dazu. Langsam aber sicher konnte ich den Morgen einfach als „misslungen“ abstempeln und fertig.
Wenigstens konnte der Tag nur noch besser werden, was in gewisser Weise doch auch als Lichtblick galt, oder nicht? Wozu sich über Dinge aufregen, die ich sowieso nicht mehr ändern konnte.

Mit dieser Erkenntnis stellte ich mich also an den Bahnsteigrand, etwas, was ich normalerweise auch nicht machte, aber ich gab meiner Laune in diesem Fall einfach mal nach. Intuition, Eingebung oder Schicksal... inzwischen würde ich es am ehesten als Dummheit bezeichnen.

Wahrscheinlich hätte ich es so wie immer machen und mindestens zwei Meter entfernt von diesem Rand, der mir sowieso noch nie geheuer gewesen war, stehen bleiben sollen, bis der Zug eingefahren wäre.

Wahrscheinlich hätte ich mich über die Taube lauthals aufregen und zur nächsten Toilette rennen sollen, um zu versuchen, den Fleck wieder aus meiner Jacke zu bekommen.

Wahrscheinlich hätte ich mich in die Beziehungsprobleme der Brotverkäuferin doch einmischen sollen, anstatt genervt weiter zu meinem Bahngleis zu gehen.

Wahrscheinlich hätte ich doch auf den Bus warten sollen, wenngleich der Fußweg um einiges kürzer war. Oder ich hätte endlich den Entschluss fassen sollen, mein Fahrrad reparieren zu lassen.

Wahrscheinlich hätte ich meinen Duschkopf erst einmal reklamieren sollen mit der Angabe, es könne nicht angehen, dass er funktioniert.

Wahrscheinlich hätte ich mich heute in meinem Bett einfach noch einmal umdrehen sollen.

Und wahrscheinlich wäre alles besser gewesen, als gerade jetzt

an diesem Bahnsteig zu stehen, während meine Bahn einfuhr - der bisher einzige Faktor des Tages, der mir vielleicht etwas Glück hätte bescheren können, weil es „richtig“ erschien.

Das Ironische an der ganzen Sache ist fast schon, dass ich alles an diesem Morgen haarklein erzählen könnte, nur nicht, wie es zu dem Augenblick gleich kommen wird.
Ich weiß, welche Farbe der Bus hatte – Blau mit der Werbung für das nächste Musical in der Stadt -, wie vielen Menschen ich heute Morgen bereits über den Weg gelaufen war – 12 Frauen, 19 Männern und zwei Personen, bei denen ich mich lieber nicht näher festlegen will – und ich weiß, welche Augenfarbe die Blondine in der Bäckerei hatte – Grün mit braunen Sprenkeln, in gewisser Weise fazinierend.
Aber ich weiß nicht, ob ich ausgerutscht bin, ob es der Wind war oder mich jemand angestoßen hat. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich anfing, mit den Armen zu wedeln. Alles, was ich davon noch weiß, ist, dass ich plötzlich das Gleichgewicht verlor und in der Luft hing und das dieses Moment, dieser kurze Augenblick mein Leben verändern würde.

Es war vielleicht nur die Dauer eines Wimpernaufschlags, aber es kam mir vor, als sei die Zeit stehen geblieben, die Sekunde zog sich zur Stunde und ich hatte das Gefühl, als könne ich fliegen... und es ging ein gewisser Reiz davon aus, zu glauben, man könne fliegen, und gleichzeitig zu wissen, dass man nie schneller und tiefer fallen würde.


Und ich wusste, ich würde fallen.


Ich hätte definitiv im Bett bleiben sollen.

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2009

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