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Prolog

Nacht für Nacht höre ich diesen verzweifelten Schrei in meinen Träumen.

Es gibt keine Chance, dem zu entrinnen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrst du in meine Richtung.

Streckst mir deine Hand entgegen.

Tränen rinnen über deine blutverschmierten Wangen herab, die man durch den Regen kaum erkennt.

Kraftlos stehe ich vor dir.

Zittere vor Angst und kann mich vor lauter Furcht nicht rühren.

Mein Körper scheint versteinert worden zu sein.

Ich bin nicht im Stande, irgendetwas zu tun.

Die Situation überfordert mich.

Lachend fallen die drei Männer über dich her.

Sie haben viel zu leichtes Spiel mit uns.

Schlagen dir mit einem Baseballschläger auf den Kopf und halten dich mit festem Griff aufrecht.

Ich spüre, wie meine Beine einknicken und ich langsam auf den Boden sinke.

Du kannst keine Hilfe von mir erwarten, das wird dir inzwischen klar.

Immer wieder ertönt ein Schrei voller Schmerzen.

Doch ich bin nur fähig, tatenlos auf das Szenario zu blicken.

Ich bin schwach.

In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.

Dein Leben läuft wie ein Film noch mal vor deinen Augen ab.

Du hustest Blut.

Dein gesamter Körper ist übersät mit Wunden.

Noch ein letzter, kräftiger Schlag auf deine Schädeldecke.

Deine Augen fallen zu.

Dein Herzschlag verringert sich, kommt gänzlich zum Stillstand.

Schlaff lassen sie deinen Körper in den Dreck fallen.

Warum sie mich verschonen, kann wohl niemand sagen.

Stille.

Nur noch das prasseln des Regens ist zu hören.

Mein Blick ruht auf deinem regungslosen Körper.

Erst jetzt wird mir klar, dass unsere Freundschaft nun sein Ende gefunden hat.

Unglaubwürdig krabbele ich zu dir.

Ich lege meine zitternde Hand auf deine Schulter.

Rüttele an ihr, nach und nach immer kräftiger.

Doch du bewegst dich nicht.

Endlich schaffe ich es, die Situation zu realisieren.

Viel zu spät.

Leise flüstere ich deinen Namen, fange letztendlich an, ihn zu rufen.

Keine Reaktion.

Weinend lasse ich mich auf deinen toten Körper sinken.

Kralle mich in dein Blutgetränktes Shirt.

Ich war dir kein guter Freund gewesen, du hättest mir nicht vertrauen dürfen.

Es tut mir leid, dass ich dich im Stich ließ, als du mich am dringendsten brauchtest.

Mein Nichtstun ist unverzeihlich.

Die höchste Strafe habe ich für diesen Fehler erhalten.

Ich habe dich verloren, für immer.

Ich werde die Erinnerung an dich auf ewig in meinem Herzen tragen.

Kapitel 1: Abschied

Vom Schweiß durchnässt schreckte der Mitte Zwanzigjährige auf. Die Stille, die sich vor kurzem noch durch den gesamten Raum gezogen hatte, wurde durch seine schnelle Atmung durchbrochen. So viele Male hatte er bereits diesen Traum gehabt und dennoch schockierte ihn dieser jede Nacht aufs Neue. Er ließ ihn einfach nicht los. Sein Herz trommelte wie besessen in seiner Brust, als würde es aus ihm heraus wollen. Nur langsam beruhigte sich sein Zustand wieder, während er sich mit dem Handrücken über die mit Schweißperlen benetzte Stirn wischte. Seufzend schob er seine Beine über die Bettkante, schlüpfte mit den Füßen in seine Hausschuhe und schritt mit gesenktem Haupt aus dem Zimmer. Seine Gedanken kreisten um die Vergangenheit, die ihn quälte. Wie gern würde er die Zeit zurückdrehen, doch konnte es nicht.

Er erinnerte sich an die Beerdigung, die vor einem knappen Jahr stattgefunden hatte. Bis dahin war ihm noch alles wie ein Trugbild vorgekommen, als hätte ihm sein Verstand das alles nur vorgespielt, doch die Trauergäste versicherten ihm immer wieder, dass er sich in der Realität befand. Die Rede war furchtbar gewesen, nicht im Sinne von schlecht gehalten, sondern vielmehr durch die Tatsache, dass ihm mit jedem Wort klarer wurde, was tatsächlich um ihn herum geschah. Das er seinem besten Freund nie wieder ins Gesicht blicken oder sich sein vieles Gerede anhören konnte, welches er so Häufig als nervig abgetan und es nach einigen Sätzen ausgeblendet hatte. Wie sehr wünschte er sich nun, dies nicht getan zu haben. Er sehnte sich nach diesen bedeutungslosen Erzählungen, nach der vertrauten Wärme, die ihm der Andere immer gegeben hatte, sobald er sich in dessen Nähe befand. Noch während der Rede des Pfarrers brach er weinend zusammen, entblößte sich vor all den Gästen, die den Eindruck von ihm hatten, als wäre er unnahbar und verschlossen. Diese ganze Veranstaltung wäre nicht nötig gewesen, wäre er nicht so ein Feigling. Er wusste schon lange nicht mehr, wie oft er sich die Schuld an dem Tod seines Freundes bereits gegeben hatte, doch Reue und Schuldbekenntnis brachten ihn auch nicht mehr zu ihm zurück.

Abwesend legte er seine Hand um den Griff des silbernen Kühlschranks, öffnete ihn mit einem kleinen Ruck, worauf er sich die Wasserflasche nahm, die sich nun direkt vor ihm auf Augenhöhe befand. Obwohl er sich mit drei Personen eine Wohnung teilte, fühlte er sich einsam. Es war nicht so, dass sie sich alle nicht verstanden oder keine Freunde waren, dennoch wurde sein Körper von einer Leere durchzogen, die bisher niemand zu füllen vermochte. Vielleicht wollte er es auch gar nicht, um sich für sein Nichtstun an jenem Abend selbst zu strafen. Nachdem er drei vier Schlucke aus der Flasche genommen hatte, schraubte er sie wieder zu und legte sie an ihrem Platz zurück. Gedankenverloren starrte er noch eine Weile in das Innere des Kühlschranks, schloss diesen letztendlich und bewegte sich wie eine seelenlose Kreatur zurück zu seinem Zimmer. Der Weg dorthin erschien ihm dieses Mal regelrecht endlos, als er den langen Flur durchquerte. Ganz am Ende befand sich seine Tür, davor musste er an der von Kajiko, Yuuriko und Lelouch vorbei, mit denen er zusammen wohnte. Sie kannten sich alle bereits vor dem Unfall, standen bis dahin jedoch nicht besonders häufig in Kontakt und hatten sich vor der Beerdigung lange nicht mehr gesehen. Yuuriko war diejenige gewesen, die den Vorschlag zu einer Wohngemeinschaft an jenem Widersehen äußerte, welchem er nur klein bei gegeben hatte, weil die drei so sehr darauf beharrten. Vermutlich keine Fehlentscheidung, denn ansonsten würde er noch mehr vor sich hin vegetieren, wie es ohnehin bereits der Fall war. Im Gegensatz zu den Anderen arbeitete er nicht, er hatte seine Stelle aufgrund zu vieler Fehltage verloren, doch das empfand er nicht als tragisch. Er hatte die Arbeit als Empfangsherr in dem Hotel sowieso gehasst, zumal er nicht gern mit fremden Leuten sprach und langweilig war die Tätigkeit ebenfalls gewesen. Vielmehr interessierte er sich für den Job als Anwalt oder den eines Kommissars, doch war es in Japan nicht leicht ohne Beziehungen an so eine Stelle ranzukommen, zumal Japaner durchtriebene Workerholiker waren. Nur am Sonntag hatte man in diesem Land frei, wer nicht mindestens eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn in der Firma war und an einem Tag mal keine Überstunden machte, wurde gleich damit beschuldigt, das man seinen Job nicht ernst nahm und somit entbehrlich war. Schon einige Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, in sein Heimatland zurückzukehren, doch dort sah es nicht viel besser aus, zudem war es in einigen Regionen viel zu gefährlich. Recht ironisch das von Russland zu behaupten, wo seinem besten Freund doch hier im Land der aufgehenden Sonne so etwas Schreckliches widerfahren war.

Nachdem er endlich in seinem Zimmer ankam und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich vorwärts auf sein Bett fallen, worauf ihm die Hausschuhe von den Füßen rutschten und folglich auf dem Boden landeten. Ein kurzer Blick zum Wecker, der rechts neben ihm auf dem kleinen Nachttisch stand, verriet ihm, dass es bereits kurz vor vier Uhr morgens war. Groß interessieren tat ihn das jedoch nicht, er musste schließlich nirgendwo hin, wurde von niemandem erwartet und besuchen kam ihn ebenfalls keiner. Das sich seine Mitbewohner und Freunde um ihn sorgten, war ihm durchaus bewusst, und auch ihr Mitgefühl wusste er zu schätzen. Dennoch schien es keinem zu gelingen, ihn aus dem Loch der Dunkelheit, in dem er sich befand, wieder herausziehen zu können. Schwer seufzend drehte er sich auf den Rücken, schloss seine Augen und legte den rechten Arm quer darüber. Im Grunde war es ihm klar, dass es so nicht mit ihm weitergehen konnte, doch die immensen Schuldgefühle zerfraßen ihn und ketteten ihn regelrecht an seinem jetzigen Zustand fest. Von der Müdigkeit übermannt, fiel er letztendlich in einen traumlosen Schlaf, der seinem Körper und Geist wenigstens für ein paar Stunden Ruhe und Erholung gönnte.

Am nächsten Morgen wurde er durch die ständige Wiederholung seines Namens geweckt. Murrend drehte er der störenden Person den Rücken zu und legte sich auf die rechte Seite, sodass er sich mit dem Gesicht nun zur Wand befand. Doch so schnell ließ sich der Andere nicht abwimmeln.
    >>Nun steh‘ endlich auf Kai! Es ist kurz vor elf Uhr, willst du schon wieder den ganzen Tag in deinem Zimmer verbringen?<<, entgegnete ihm eine vertraute Stimme, die nur von Lelouch stammen konnte.
    >>Lass mich in Ruhe!<<, murrte der Russe. >>Wieso bist du überhaupt hier? Musst du gar nicht arbeiten?<<
   >>Heute ist Sonntag. Nun mach endlich, die Mädels warten auch schon.<<, mit diesem Satz zog der Schwarzhaarige dem zwei Jahre Jüngeren die Bettdecke weg, trat an dessen Fenster heran, öffnete die Vorhänge und betonte ein weiteres Mal, dass sie alle bereits auf ihn warteten, worauf er schließlich das Zimmer verließ. Kai seufzte in sein Kissen, setzte sich schwerfällig auf und fuhr sich durchs Haar. Dass schon wieder Sonntag war überraschte ihn, irgendwie war die gesamte Woche vollständig an ihm vorbeigezogen. Wenig verwunderlich, denn die meiste Zeit über befand er sich in seinem Zimmer, starrte abwesend in eine Richtung und trauerte um den Verlust seines Freundes. Inzwischen war das schon wie eine Art Trott geworden, der sich Tag für Tag widerholte und auch jetzt schweiften seine Gedanken wieder ab. Durch ein Rufen seines Namens wurde er jedoch schnell wieder in die Realität zurückgeholt, worauf er leise knurrte und sich endlich mal aus dem Bett bemühte. Kai dachte nicht daran, sich wegen den Anderen zu beeilen, schließlich wollten die ja irgendwas von ihm und nicht umgekehrt. Nachdem er kurzzeitig im Bad verschwunden war um sich zu erleichtern und sich anschließend einer Katzenwäsche zu unterziehen, zog er sich noch schnell um und begab sich letztendlich zu seinen Mitbewohnern. Er staunte nicht schlecht, als er dir drei nebeneinander aufgereiht vor sich erblickte.
    >>Wo brennt‘s denn?<<, fragte er eher desinteressiert nach, während er seine Arme vor der Brust verschränkte.
    >>Wir wollen in den Ueno Park und dort picknicken.<<, antwortete ihm Yuuriko lächelnd und hielt ihm eine, bereits in ein Tuch gewickelte, Bento-Box entgegen. >>Egal was du sagst, du wirst mitkommen!<<, verlieh sie ihren Worten dann noch mal etwas Nachdruck, jedoch schien Kai alles andere als einverstanden damit zu sein. Genervt verdrehte er die Augen und ging mit den Worten „Kein Interesse“ an ihnen vorbei, um im Anschluss in der Küche zu verschwinden. Kopfschüttelnd sah ihm Lelouch nach und auch Kajiko schien langsam genug von dem Theater des Russens zu haben, während Yuuriko eher schmollend wirkte. So viel Verständnis sie für den Anderen bisher auch aufgebracht hatten, allmählich war es an der Zeit für ihn, endlich mal sein Leben weiterzuleben. Sie konnten den Zustand des Dreiundzwanzigjährigen kaum noch mit ansehen, besonders der Schwarzhaarigen Yuuriko fiel es immer schwerer, da sie etwas für ihn übrig hatte. Sie vermisste den Kai, wie sie ihn von damals kannte, und es tat ihr leid, dass ihre ganzen Versuche, dem Anderen irgendwie durch diese schwere Situation zu helfen, scheinbar absolut nichts bewirkten. Ihre beste Freundin Kajiko wusste von den Gefühlen, die Yuuriko für den Russen hegte, doch leider hatte sie keine Ahnung, wie sie die beiden zusammenbringen sollte. Einige Denkanstöße hatte sie Kai gegenüber bereits geäußert, doch dieser schien sie weder verstanden, noch für voll genommen zu haben. Sie entschuldigte sich bei ihren beiden Freunden und folgte dem Jungen mit den bläulich gefärbten Haaren in die Küche, wo sie ihn an der Theke gelehnt erblickte.
    >>Ich glaube nicht das Ryan gewollt hätte, das du dich so gehen lässt. Sieh dich doch mal an! Du wirkst wie ein Häufchen Elend und verbringst jeden Tag damit, dich selbst zu bemitleiden.<<, äußerte sie seufzend, worauf sie einen regelrechten Killerblick des Anderen verspürte. >>Halte ihn gefälligst da raus! Du weißt doch überhaupt nicht, wie ich mich fühle. Immerhin-<<, Kajiko unterbrach ihn. >>Du hast recht, niemand von uns weiß das, weil du uns nicht an deinen Gefühlen teilhaben lässt. Stattdessen schließt du uns aus und distanzierst dich immer mehr. Findest du das etwa fair deinen Freunden gegenüber? Wir machen uns schließlich Tag ein Tag aus Sorgen um dich!<<
Stille kehrte zwischen ihnen ein. Kai wusste nicht so recht, was er auf diese direkten Worte erwidern sollte, wodurch er seinen Blick von ihr abwand und durch das Küchenfenster nach draußen sah. Die Türkishaarige verdrehte die Augen, denn allmählich war sie das Verhalten des Älteren leid. Natürlich konnte sie sich in etwa vorstellen wie schmerzhaft es sein musste wenn man einen Menschen verlor, der einem so nahe gestanden hatte, aber deswegen durfte man sich doch nicht komplett aufgeben. Sie hatte das Gefühl, als hätte Kai den Sinn seines Lebens verloren, als würde er wie ein umherirrendes Kind durch die Scherben seiner Vergangenheit schreiten und keinen Ausweg finden. Gerade als sie erneut das Wort ergreifen wollte, stießen Yuuriko und Lelouch zu ihnen. Die Schwarzhaarige probierte einen zweiten Versuch und trat recht dicht an den Russen heran, worauf sie den Kopf leicht zu ihrer rechten Schulter neigte und ihn warmherzig anlächelte.
    >>Wenn du nicht picknicken magst, wie wäre es dann, wenn wir Ryan besuchen gehen?<<, fragte sie vorsichtig und erhielt auch sofort die Aufmerksamkeit des Anderen, doch darauf sagen tat er vorerst nichts. Er schien darüber nachzudenken, denn seit der Beerdigung war er kein einziges Mal an dem Grab gewesen. Kai war der Meinung es stünde ihm nicht zu seinen verstorbenen Freund zu besuchen, was wohl eher wieder an seinen Schuldgefühlen lag. Letztendlich nickte er ihr dann aber leicht zu, wirkte dabei jedoch recht verunsichert. >>Okay.<<, antwortete er nur kurz und knapp, während sich die Gedanken in seinem Kopf mal wieder überschlugen. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, auf jeden Fall besser, als wieder im Zimmer zu sitzen und vor lauter Trauer halb umzukommen.

Während die Vier auf dem Weg zum Friedhof waren, war es um sie herum ziemlich ruhig. Yuuriko und Kai trotteten hinter Lelouch und Kajiko hinterher die Händchen hielten, wie es sich nun mal für ein Liebespaar gehörte. Jedes Mal, wenn die Schwarzhaarige die beiden zusammen sah, wünschte sie sich so etwas mit dem Russen, doch bei dessen jetzigem Zustand wollte sie ihn nicht mit ihren Gefühlen nerven und noch zusätzlich belasten. Oft hatte sie bereits versucht das Thema indirekt anzuschneiden, doch war der Andere bisher nicht sonderlich gesprächig gewesen und hatte ihr auch nicht richtig zugehört. Viel zu sehr war er mit dem Chaos in seinem Kopf beschäftigt, genauso, wie es jetzt auch der Fall war. Er stellte sich die Frage ob es wirklich angebracht war, dort nach der langen Zeit einfach aufzukreuzen und was Ryan wohl davon halten würde, wäre er an dem Abend heil daraus gekommen. Würde er ihm mit Hass gegenübertreten? Mit Enttäuschung? Im Grunde war Ryan nie der Typ gewesen, der Anderen Vorwürfe machte und schnell verzeihen konnte, doch hätte er das auch in diesem Fall getan? Er hatte Kai immer sein vollstes Vertrauen geschenkt, was sich letztendlich als Fehler erwiesen hatte. Lautlos seufzend fuhr sich der Russe durch sein Haar, welches von einer leichten Brise umschmeichelt wurde. Das Wetter war wirklich herrlich, kein Wölkchen ließ sich am Horizont blicken und die Sonne strahlte in ihrer vollen Schönheit auf die Erde nieder. Kirschbäume blühten und gaben dem Umfeld das gewisse Etwas, wie es nur in dieser Jahreszeit der Fall war.
    Letztendlich gelangte die Gruppe an ihr Ziel an und Kai spürte, wie sein unsicheres Gefühl zunahm. Als er von weitem den Grabstein erkennen konnte, blieb er abrupt stehen und schluckte, da sich ein Kloß in seinem Hals gebildet zu haben schien. Seine Freunde hielten ebenfalls an und beobachteten, wie der Russe von einer Sekunde zur Nächsten kreidebleich wurde. Er hatte ohnehin schon eine sehr helle Haut, die beinahe schon der Farbe von Porzellan glich, doch nun schien es so, als würde er seiner größten Angst gegenüberstehen. Gar kein so weit hergeholter Gedanke, denn nun wurde er mit seinem traumatischsten Erlebnis direkt konfrontiert. Sanft streichelte ihm Yuuriko über die Schulter, worauf sie sich mit den anderen beiden auf eine nahegelegene Bank setze. Kai sollte die Zeit bekommen die er brauchte, um mit den Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert werden zu können. Erst nach ein paar Minuten schritt der Russe ganz langsam auf den Grabstein zu, fixierte ihn mit seinem schuldbewussten Blick, bis er schließlich direkt vor ihm stand. Viele Male las er sich den Namen des hier Liegenden durch, schluckte erneut und biss sich fest auf die Unterlippe. Sein Herz fühlte sich unglaublich schwer an und schlug in einem unregelmäßigen Rhythmus in seiner Brust. Yuuriko merkte wie schwer das alles für ihn war, doch Lelouch hielt sie davon ab aufzustehen und zu ihm zu gehen. Er musste das allein durchstehen, sonst würde seine Trauer niemals ein Ende finden können. Zittrig streckte Kai seine rechte Hand nach dem Grabstein aus, berührte ihn zaghaft und sackte daraufhin auf die Knie, worauf er mit den Fingerkuppen über den eingravierten Namen fuhr.
    >>Es tut mir so leid…<<, wisperte er mit bebender Stimme. >>Ich war ein Feigling und habe dich im Stich gelassen. Du hättest an jenem Tag einen besseren Freund an deiner Seite haben sollen, dann wärst du nun nicht fort.<<
Tränen sammelten sich in seinen Augen, welche ihren Weg über die blassen Wangen des Russens suchten und diese langsam hinab zu seinem Kinn wanderten. Seine Hand ruhte nun auf dem Stein und er senkte seinen Kopf.
    >>Ich fühle mich schwach ohne dich an meiner Seite. Was soll ich bloß tun? Diese Ungewissheit, ob du mir jemals verzeihen könntest, zerreißt mich. Ich kann damit nicht umgehen.<<, hauchte er. >>Du fehlst mir so sehr.<<
In dem Moment, als Kai bitterlich zu weinen begann, umgab ihn plötzlich eine vertraute Wärme. Irritiert darüber blickte er auf, starrte auf den Grabstein und könnte schwören, die Stimme seines besten Freundes zu hören. Verlor er nun gänzlich den Verstand? Doch es kam ihn alles so real vor. Er hatte auf ihn gewartet, freute sich, dass er endlich zu ihm gekommen war und versicherte ihm, dass es nichts gab, wofür er ihn um Verzeihung bitten musste. Es tat ihm leid Kai zurückgelassen zu haben, doch er würde immer bei ihm sein. Dann verstummte Ryans Stimme. Unglaubwürdig starrte der Russe nach wie vor auf den Stein vor sich, doch irgendetwas war geschehen, dessen war er sich bewusst. Sein Herz, das all die lange Zeit so verzweifelt nach Hilfe geschrien hatte, schien nun von einer Riesigen Last befreit worden zu sein. Auch die Tränen in seinem Gesicht versiegten. Nach einigen Sekunden legte sich ein kleines, schwaches Lächeln auf Kais Lippen, was man seit Langem vermisst hatte.
    >>Ich danke dir.<<, sprach er leise, worauf er nochmals über den Namen strich und sich letztendlich erhob. Ihm war noch etwas mulmig zumute, doch war er sich sicher, nun einen Neuanfang starten und endlich wieder leben zu können. Auch seine Freunde bemerkten diese Veränderung und empfingen ihn liebevoll, umarmten ihn herzlich. Ein letzter Blick zum Grabstein, dann verließen die Vier den Friedhof wieder.

 Alles schien langsam wieder zur Normalität zurückzukehren, noch ahnte keiner von ihnen, dass dieser Zustand nicht mehr lange anhalten würde.

Kapitel 2: Begegnung

Die Tage verstrichen und endlich schien alles wieder seinen gewohnten, stabilen Alltag angenommen zu haben. Natürlich kreisten Kais Gedanken noch oft genug um seinen besten Freund, doch waren sie keineswegs mehr negativ. Durch die Familie Blake, welcher Lelouch angehörte, besaß er nun sogar wieder einen Job. Zwar war auch dieser nicht sonderlich nach seinem Geschmack, doch er verdiente ziemlich gut und das nur, weil er irgendwelche Luxuswagen von fremden Menschen einige Meter vom Restaurant entfernt auf einen Parkplatz fuhr und dort für sie parkte. Im Grunde ziemlich erstaunlich, wie merkwürdig und faul Menschen sein konnten, wenn sie Unmengen von Geld besaßen. Nachdem sich der Samstag seinem Ende zuneigte und auch Lelouch mit seiner Schicht als Koch fertig war, begaben sich die beiden Freunde gemeinsam zu der Wohngemeinschaft, die sie sich nach wie vor mit Yuuriko und Kajiko teilten. Obwohl es bereits kurz vor dreiundzwanzig Uhr war, hatten noch viele Geschäfte geöffnet und auch morgen würden sie diesen Zustand beibehalten. Das Kai und Lelouch am Sonntag nicht arbeiten mussten, verdankten sie wohl ausschließlich den Eltern des Schwarzhaarigen. Zu Hause angekommen kam ihnen Kajiko sofort entgegen und warf sich dem Engländer sehnsüchtig in die Arme, worauf ein liebevoller Kuss folgte.
    Der Russe verdrehte die Augen, zog sich seine Schuhe und Jacke aus und begab sich im Anschluss in die Küche, während er sich ausgiebig streckte. Aus dem Kühlschrank holte er sich eine Flasche Asahibier heraus, mit der er sich daraufhin auf das Sofa im Wohnzimmer setzte und es sich gemütlich machte. Er fühlte sich ziemlich verspannt, was wohl daran lag, das er immer kerzengrade vor dem Restaurant stehen und sich zwischendurch andauernd verneigen musste. Eine wirklich blöde Angewohnheit der Japaner, um ihren Respekt zu übermitteln. Eigentlich fielen ihm erstaunlich viele Sitten ein, die er für äußert kurios und teilweise massiv übertrieben hielt, doch darüber wollte er nun nicht nachdenken, also schaltete er den großen Samsung Fernseher ein und zappte etwas durch das späte Abendprogramm. Wie erwartet lief um diese Uhrzeit nichts Gescheites mehr, also machte er den Fernseher auch schon wieder aus und ging in sein Zimmer, um Musik zu hören, das Bier nahm er selbstverständlich mit. Kaum legte er seine rechte Hand auf die Türklinke, fing diese regelrecht an rot zu glühen, worauf er sie mit einem schmerzhaften Zischen ruckartig wieder zurückzog. Als er sich seine Handfläche besah und einige Brandblasen entdeckte, runzelte er unglaubwürdig seine Stirn.
    >>Was zum…?<<, hauchte er nur, während sein Blick nun an der Klinke haftete, jedoch konnte er keinen Unterschied zu sonst an dieser feststellen. Vorsichtig streckte er seine Hand ein weiteres Mal, berührte das silberne Metall kurz mit der Spitze seines Zeigefingers, doch von irgendeiner Art von Hitze fehlte jede Spur. Irritiert trat er in sein Zimmer ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, während er versuchte irgendeine logische Erklärung für das eben zu finden. Seufzend ließ er sich auf sein Bett nieder, stellte die Flasche in seiner linken Hand auf den kleinen Nachtschrank und stellte mittels kleiner Fernbedienung seine 5.1 Dolby Surround-Anlage an, worauf auch gleich ein Lied von einer recht bekannten, japanischen Band ertönte. Kurz sah er noch mal auf seine Handfläche, hob dann planlos seine Schultern und kümmerte sich nicht mehr weiter darum. Vielleicht hatte sich da bereits im Laufe des Tages eine Brandverletzung zugezogen und sie gerade eben erst entdeckt, als sie durch die Berührung von Metall zu schmerzen begann.

Am Sonntag hatten sich die vier Freunde dazu entschlossen endlich mal wieder ordentlich shoppen zu gehen, also fuhren sie mit der Bahn nach Shibuya, wo sich im Zentrum dessen unzählige Geschäfte aneinanderreihten, sodass für wirklich jedem was geeignetes dabei war. Während sich die Mädchen bereits total aufgedreht verhielten und mit teilweise schrillen, quietschenden Tönen besprachen, wo sie überall hinwollten, beobachteten die Jungs das Szenario, was sie immer wieder aufs Neue faszinierte. Besonders Kai konnte nicht begreifen, wie man wegen einer Shoppingtour so dermaßen ausflippen konnte, denn er persönlich hasste Gedrängel und Menschenmassen und gerade am Sonntag war genau das am Schlimmsten der Fall. Selbst im Zug kam er sich vor wie eine zusammengequetschte Dose, wodurch er umso erleichterter war, als sie diesen wieder verließen. Yuuriko und Kajiko harkten sich bei der jeweils anderen ein und somit nahmen Lelouch und Kai automatisch die Rolle derjenigen ein, die den beiden hinterhertrotten mussten. Nachdem sie den halben Tag in Shibuya Center-Town verbracht hatten, mutierten die Jungs zu Packeseln, sodass sie in jeder Hand mindestens drei vollbeladene Tüten hielten. Die Laune des Russens fiel immer weiter in Richtung Tiefpunkt hinab, zudem fühlte er sich ziemlich unwohl in seiner jetzigen Situation. Sollten sie das mit Lelouch ruhig machen, der war seiner Meinung nach ohnehin viel zu nett und ließ sich zu viel gefallen, doch ihn sollten sie da gefälligst nicht auch noch mit reinziehen. Gerade als er den Mädchen eine Standpauke verpassen wollte, kam ihnen ein recht großer Mann mit rotgefärbten, schulterlangen Haaren entgegen, der Kais Aufmerksamkeit auf sich zog. Da der Fremde stehen blieb, um sich an einem Stand die Ware ansehen zu können, neigte der Russe seinen Kopf etwas zur Seite, um bessere Sicht auf ihn zu haben. Seinen Zorn gegenüber seinen Freunden hatte er inzwischen vollständig vergessen. Erst, als der fremde Mann schmunzelnd vor ihm stand und ihn mit seinen eisblauen Augen ansah, kehrte er allmählich wieder ins Diesseits zurück, während die anderen drei fragend daneben standen und die beiden beobachteten.
    >>Da hat wohl jemand ein Auge auf mich geworfen, hm?<<, ertönte eine tiefe Stimme, die ziemlich selbstsicher klang. Kai schluckte und schüttelte leicht verneinend mit dem Kopf, doch nicht ein Wort verließ seinen Mund. Es sah allerdings nicht so aus, als würde das dem Fremden stören, im Gegenteil, denn nun beugte sich dieser zu dem ca. eineinhalb Köpfe Kleineren runter und kam diesem gefährlich nahe, sodass der Russe spüren konnte, wie dessen Atem gegen seine Lippen schlug.
    >>Wenn du wieder fähig bist zu sprechen, komm doch mal vorbei Hübscher.<< während er das sagte, holte er eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche, welche er nun in die Rechte von Kai steckte, immerhin hatte dieser ja keine Hand frei. Der Größere zwinkerte ihm zu und ging anschließend an den Jüngeren vorbei und verschwand letztendlich aus dessen Blickfeld, wobei der Russe hingegen einer Statue glich. Sein Herz schlug unfassbar schnell in seiner Brust, sogar den Atem hatte er angehalten, als der Fremde ihm so nahe gewesen war.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner besten Freundin Kamiko ♡

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