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Die Lebenden



Es fing alles damit an, dass ich mich auf dieses blöde Treffen eingelassen hatte. Es war die Idee von Angie, meiner besten Freundin. Sie hatte alles arrangiert, mich vermittelt und so. Sicher steckte noch etwas anderes dahinter, aber den Plan hatte sie eigentlich nur geschmiedet, weil sie meinte, dass ich mich gar nicht mehr um Freundschaften und so etwas kümmern würde.
Ich muss zugeben, dass sie recht hat. Schon seit Monaten bin ich nicht mehr mit ihr weggegangen oder habe mich mit anderen Leuten getroffen. Ich verbrachte meine Tage damit zur Schule zu gehen, zu arbeiten, oder mich Zuhause in meinem Zimmer zu vergraben, wo ich Bücher las, Musik hörte oder malte. Etwas anderes interessierte mich nicht mehr und ich wollte auch gar nicht irgendwo hin gehen. Denn alles, einfach alles erinnerte mich an meine Mutter.
Sie war vor fünf Monaten bei einem Autounfall gestorben und seitdem stand mein Leben auf dem Kopf. Mit meinem Vater habe ich mich gestritten. So doll, dass ich ausgezogen bin und mir eine eigene Wohnung gesucht hatte. Ich arbeitete abends, um die Miete zahlen zu können. Von dem Lohn hätte ich vielleicht nicht leben können, doch die Trinkgelder retteten mich. Außerdem war da ja noch das Kindergeld. Zu meinem Vater zurückzukehren kam aber nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.
Fast vier Monate sind es nun schon, die ich mich in meinen eigenen Wänden vergrabe und mir denke, dass die Welt mich mal gehörig am Arsch lecken kann; Und das tut sie auch, immer wieder, aber das ist nichts neues für mich. Jede Pfütze, jeder Dreck, jeder Idiot scheint von mir angezogen zu sein, jetzt, genauso wie vor dem Tod meiner Mutter. Das ist auch ein Grund, weswegen ich lieber Zuhause bin, als irgendwo anders.
Jetzt jedoch befand ich mich auf dem Weg zu einem Treffen und zwar mit einem anderen Mädchen. Ich weiß wirklich nicht, was mich dazu bewegt hatte in diese Bar zu gehen, um mit ihr zu plaudern. Ein Fan von Smalltalk bin ich nicht und Interesse an anderen Frauen habe ich auch nicht – Nicht so wie sie. Angie meinte, sie sei lesbisch und würde mich gern kennen lernen. Natürlich hat sie das nicht in einem Satz formuliert sonst hätte ich sofort „Nein“ gesagt, aber diese beiden Aspekte fielen mir später auf und beunruhigten mich seitdem.
„Open“ schrie mir die Leuchtreklame des Hurricane-Inn entgegen. Bunte Farben flackerten und ließen meine Augen Schmerzen. Kurz überlegte ich, ob ich nicht doch einfach umkehren sollte. Wieder nach Hause gehen, mich einschließen und baden. Doch dann wäre Angie sauer. Ich hatte ihr immerhin versprochen, dass ich mich nicht wieder verkriechen würde. Augen zu und durch, hieß es also. Das würde alles schon irgendwie ganz gut laufen.
Ich drückte die Tür mit meiner behandschuhten Hand auf und trat ein. Wärme quoll mir entgegen und das unangenehme Gefühl, wenn man von frostiger Kälte in eine überhitzte Gegend wechselte. Noch bevor ich dieses fremde Mädchen erspäht hatte, öffnete ich meine Jacke, damit ich nicht in absehbarer Zeit einen Hitzschlag erlitt – bei meinem Glück wäre das wohl gar nicht so unwahrscheinlich. Dann begab ich mich auf die Suche und fand sie an einem Zweiertisch in einer Ecke. Sie stellte sich als Valerie vor und lächelte mir freundlich zu. Meinen skeptischen Blick versuchte ich so gut es ging zu verbergen. Sie musste ja nicht unbedingt erfahren, dass ich überhaupt nichts von diesem Treffen hielt.
„Also.“, begann ich, nachdem auch ich mich vorgestellt hatte. „Was gibt’s?“
Valerie lächelte nur, als würde sie darauf warten, dass ich noch etwas hinzufügte.
„Angie meinte, du wolltest mich unbedingt treffen.“, fuhr ich fort.
Die Brünette mir gegenüber nickte. „Ja. Es gibt da nämlich etwas, dass ich dir erzählen muss.“
„Aha.“, machte ich und bemühte mich um ein Lächeln. „Schieß los!“
„Ich hab neulich deine Mutter gesehen und dachte mir, ich sollte dir vielleicht Bescheid sagen.“
Bäm. Das traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Jegliche Farbe wich aus meinem Gesicht und mir wurde schlecht. So etwas passierte also, wenn ich das Haus verließ. Das war die Rache dafür, dass ich mich lange Zeit verkrochen habe und mir somit kein Unglück mehr geschehen, ich in keine Pfütze mehr stolpern konnte. Ich biss die Zähne zusammen.
„Toll.“, schnaubte sich, stand auf und begab mich auf den Weg hinaus. Nein, das würde ich mir nicht bieten lassen. Nichtmal für Angie war ich bereit das auf mich zu nehmen.
„Halt. Warte doch!“ hörte ich es hinter mir und beschleunigte meine Schritte nur noch. Dass wir von allen Seiten doof angeguckt wurden war mir dabei total egal.
„Ich mein's ernst Klay, wirklich!“
Wieder schnaubte ich nur. Jetzt war sie auch noch so unverschämt mich mit meinem Spitznamen anzureden. Ich kannte diese Irre ja nicht einmal! Wütend schmiss ich die Tür des Hurricane-Inn hinter mir zu und eilte die Straße entlang. Man konnte hören, wie energisch ich ging; meine Schuhe machten hörbare Geräusche, die durch die Gasse hallten. Leider waren das nicht die einzigen Schritte. Valerie folgte mir immer noch.
„Hör doch mal zu! Das ist echt wichtig!“
Ich ignorierte sie weiterhin, während Tränen in mir aufstiegen. Tränen der Wut und der Trauer. Wie konnte sich diese blöde Kuh erlauben in offenen Wunden von fremden herumzustochern? Das war wirklich unmöglich. Das konnte sie bei Leuten machen, die sie kannte, Leuten, die mir egal waren, die mich nichts angingen, die vielleicht darüber hinweg waren. Aber warum zu Teufel wollte sie mich treffen um mich auf diese Art und Weise fertig zu machen?
„Ich hab sie wirklich gesehen Klay. Jetzt bleib doch mal stehen verdammt!“
Apprupt drehte ich mich um und war drauf und dran ihr mitten ins Gesicht zu schlagen. Sie lächelte mich noch immer an, so als hätte sie mir nur gesagt, dass sie gerne Eis aß und Lieder sang. Diese Valerie ekelte mich an. Ich schnellte einen Schritt vor und griff mir den Kragen ihrer viel zu dünnen Weste.
„Pass mal auf!“, keifte ich sie an. „Halt die Klappe, geh zurück in die Bar und such dir irgendjemand anderen, den du fertig machen kannst. Bei mir bist du an der falschen Adresse.“
Mir war klar, dass ich ihr vor Wut wahrscheinlich ins Gesicht gespuckt hatte, aber das interessierte mich nicht. Stattdessen wandte ich mich um und ging weiter de Straße entlang in Richtung Zuhause. Valerie erschien allerdings nicht sonderlich beeindruckt von meinen Worten und folgte mir weiter. Sie hatte nicht einmal mit den Mundwinkeln gezuckt, lächelte immer noch.
„Echt, Klay! Es ist unglaublich wichtig, dass du mir zuhörst!“
Wieder blieb ich stehen und ballte die Fäuste. Nur langsam drehte ich mich um und starrte ihr wutentbrannt entgegen.
„WAS?“, schrie ich. „Was ist denn?!“
Valerie lächelte.
„Deine Mutter spaziert hier noch umher.“
Valerie lächelte.
„Ihr Körper ist vollkommen intakt. Die Wunden vom Autounfall sind verheilt. Sie ist gesund.“
Valerie lächelte.
„Sie erinnert sich sogar noch an dich! Obwohl ihr Kopf so aussieht, als hätte man ihn mit einer Abrissbirne präpariert.“
Ich lächelte, als ich daran dachte Valerie den Hals umzudrehen.
„Sie ist tot, ja. Aber jemand hat ihren Körper übernommen.“
„Miststück.“, knurrte ich, drehte mich um und ging weiter. Ich wollte nach hause, nur nach Hause. Weg von dieser Irren, vor ihren Worten fliehen und vergessen, was in den letzten Minuten geschehen war. Ich hätte alles getan um in diesem Moment eine Zeitmaschine zu haben. Aber Angie, Angie würde ich davon nichts erzählen. Falls ich überhaupt je wieder mit ihr reden würde.
„Klay... Warte doch! Hast du nicht gehört? Man hat ihren Körper übernommen! Du musst doch was dagegen unternehmen!“
Ich weigerte mich noch irgendetwas wahrzunehmen was diese Schlange von sich gab und doch konnte ich nicht weg hören. Innerlich raste ich vor Wut, doch mühsam hielt ich sie in Schacht. Es würde mir nichts bringen, wenn ich ihr weh tat. Das versuchte ich mir zumindest einzureden. Insgeheim war mir dennoch klar, dass es eine Erlösung wäre ihr den Schädel zu zertrümmern. Ihn am besten mit einer Abrissbirne zu präparieren. Weiter ging es, die Straße runter und Valeries Schritte hinter mir verstummten. Ich atmete auf. Kurze Zeit später schloss ich meine Wohnung auf, zog mir einen Pyjama an und schlief sofort ein.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als ich erwachte. Es war Samstag, fünf Uhr siebenunddreißig und ich war schweißgebadet. Was ich geträumt hatte konnte ich nicht mehr genau sagen, doch das Gefühl von heißem, stinkendem Atem an meiner Wange war noch immer da und ließ mein Herz rasen. Wenige Sekunden verharrte ich, ehe meine Angst überhand nahm. Ich wimmerte vor Furcht und tastete mit meiner Hand hektisch nach dem Schalte für meine Nachttischlampe. Immer wieder fürchtete ich einen Fremdkörper zu erfühlen, irgendetwas, dass da in meinem Bett lag oder neben meinem Bett stand. Etwas, dass faulig atmete, keuchte, stank. Das Licht ging an und ich riss die Augen auf, obwohl es schmerzte. Niemand war da. Kein Fremdkörper. Keine Quelle fauligen Atems. Mein Herzschlag beruhigte sich dennoch nur langsam.
Der Schock saß mir noch tief in den Knochen und das Gefühl war einfach viel zu real, als dass ich es einfach hätte verdrängen können. Mir war klar, dass ich das Licht nicht einfach wieder ausschalten konnte ohne das die Panik zurückkam, also entschloss ich mich dazu duschen zu gehen. Das würde mich sicher beruhigen. Auf dem Weg zum Bad knipste ich alle Lichter an, die ich finden konnte, ohne sie wieder auszuschalten. Es war schon beunruhigend genug aus der Dusche heraus nicht zu sehen, was hinter dem Duschvorhang vor sich ging. Ohne Schrecken sollte ich jedoch gar nicht erst bis dorthin kommen. Schon von weitem hörte ich, wie das Wasser der Dusche bereits lief, auch wenn das Licht nicht an war. Die Tür zum Badezimmer stand offen und der Duschvorhang prasselte unter dem Strahl des Duschkopfes. Ich bekam Angst und atmete schneller und so laut, dass ich mir eine Hand vor den Mund presste. Ich glaubte zwar nicht, dass da irgendein Einbrecher in meinem Bad stand und duschte, doch wollte ich keinen Laut von mir geben. Und warum sonst war die Dusche an?
Ich schlich mich vorwärts, bis ich mit den Fingerspitzen den Lichtschalter berührte und die Lampe im Badezimmer erst flackerte und dann ein künstliches, kaltes Licht verstrahlte. Der Duschvorhang war halb offen, der Boden war nass, doch es war niemand hier. Ich drehte mich herum, fühlte mich verfolgt und beobachtet, doch auch in meinem Rücken war niemand. Ein halbherziger Versuch mich zu Beruhigen brachte nichts. Vorsichtig und darauf bedacht nicht auszurutschen betrat ich das Bad, in der Hoffnung, dass ein Blick in den Spiegel mich beruhigen könnte, doch noch bevor ich mein Antlitz erblickte, erkannte ich etwas, dass mir einen Stich versetzte. Dort, auf dem Rand des Waschbeckens stand eine Flasche von dem Duschzeug meiner Mutter. Erneut stiegen Tränen in mir auf, wie so oft in den vergangenen Monaten. Ich ergriff die Flasche und roch an ihr. Ja, das war Mamas Duschzeug, abe-KRACH-Sofort drehte ich mich um und erkannte gerade noch wie die letzten Splitter meines Badezimmerfensters in die Tiefe stürzten. Die Duschcreme meiner Mutter landete unsanft in der Ecke, als ich aus dem Badezimmer stürmte. In Windeseile zog ich mich um, schmiss ein paar Klamotten in meinen Rucksack und löschte alle Lichter, während ich zur Haustür spurtete. Hinter mir schloss ich die Tür. Alleinsein erschien mir ausnahmsweise nicht sehr gut.


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Tag der Veröffentlichung: 15.10.2012

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