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Leseprobe Kapitel 1

Ich hatte mir den Nachtzug ausgesucht, um meine Ruhe zu haben, doch es klopfte bereits zum dritten Mal an meinem Abteil. Diesmal streckte auch jemand seinen Kopf hinein: Es war ein lockiger Kopf, den ich im Halbdunkeln ausmachte und der mich gewaltig störte.

»Ich will nichts kaufen, zieh Leine, Junge.«

Ich kuschelte mich wieder unter meinen Parker und schloss die Augen. Draußen war es herbstlich kühl, genau wie die Fensterscheibe, an der meine Stirn klebte. Das tat furchtbar gut wegen der Schmerzen im Schädel, die mir die Sauferei verpasst hatte. So besoffen, wie ich letzte Nacht gewesen war, hatte ich noch ordentlichen Restalkohol intus. Heini hatte die Flasche aufgetrieben; eine verstaubte Wodkapulle, die gut und gerne noch aus dem Krieg hatte sein können. Heini war nicht der Typ, der gerne teilte, doch gestern hatte er eine Ausnahme gemacht. Ging ihm nicht gut, hatte er gefaselt.

War eine ganz schöne Memme. Wenn die Nächte immer kühler wurden, ging es niemanden von unserer Bande gut, aber Heini packte gern eins drauf und spielte den alten Zausel, der über sein Rheuma klagte und bedient werden wollte.

»Ich will Ihnen nichts verkaufen. Der Zug hat gehalten und der Strom geht nicht mehr. Berlin erreichen wir nicht pünktlich, oder?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe geschlafen.« Mit pochenden Kopfschmerzen ließ ich mich gegen die Lehne meines Sitzes fallen, während ich mit der Hand nach dem Lichtschalter suchte. Mehrmals drückte ich auf den Knopf, doch das Licht ging nicht an.

»Tatsächlich.« Ich seufzte genervt und angelte mir meine Wasserflasche aus dem Rucksack. »Ich habe es zur Kenntnis genommen, du kannst mich in Frieden lassen.«

»Ich soll Ihnen außerdem sagen, dass Sie ihren Ausweis bereithalten müssen. Vorhin war der Schaffner bei mir und meinte, die Polizei käme hier gleich durch.«

Das Hämmern in meinem Schädel wurde stärker. »Ausweiskontrollen? Wozu? Ich will doch nur nach Berlin.«

»Keine Ahnung, finde ich auch komisch. Aber der hat das so gemeint, und weil er Sie nicht wach bekam, sollte ich es Ihnen sagen. Ich glaube, er hatte es eilig. Ach, und die Verbindungstüren gehen nicht. Und die zum Klo, falls Sie … «

»Klappe, Mann. Warum haben wir angehalten?«

»Probleme mit den Oberleitungen, glaube ich. Der Schaffner sagte, es würden in der Gegend demnächst keine Züge mehr fahren. Genaueres wüsste er nicht, und ehrlich gesagt, sah der auch nicht aus, als würde er überhaupt irgendwas wissen.«

Das klang alles so nervig, dass ich mir am liebsten meinen Flachmann aus der Tasche geholt hätte. Ich wägte das Für und Wider ab, ließ es aber bleiben, damit Sophie mir nachher keine Szene machte. Weil ich aber dringend Geld benötigte, wäre es Mist, sie schon am Anfang ungnädig zu stimmen.

Wahrscheinlich kaufte sie mir meine Gründe ohnehin nicht ab. Vielleicht doch einen kleinen Tropfen? Ich langte zum Rucksack, bemerkte aber die Lichter in der Ferne.

»Wo genau sind wir? Zum Geier, das dort hinten ist doch Berlin.«

»Das hat der nicht gesagt, aber wenn es Berlin ist und die Strecke wieder freigegeben wird, dann sind es doch bestimmt nur noch ein paar Minuten, denken Sie nicht?«

»Wenn du es so eilig hast, lauf doch. Falls es wirklich Probleme mit den Oberleitungen sind und die ganzen Züge halten mussten, dann kannst du dir den Irrsinn nachher sicher vorstellen.«

Ungeduldig holte ich mein Telefon raus und sah aufs Display: Es war längst Mitternacht. In zehn Minuten würde mich Sophie am Hauptbahnhof erwarten. Ich wählte ihre Nummer, damit sie Bescheid wusste.

»Der hat gar nichts gesagt? Was kann so kurz vor der Stadt schiefgelaufen sein? Schicken die uns Busse oder sollen wir jetzt wie Idioten ausharren?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Ich wartete aufs Klingelzeichen, doch stattdessen erklärte mir eine automatische Frauenstimme, der Anschluss sei vorübergehend nicht zu erreichen. Stöhnend juckte ich mir den Dreitagebart und holte meine Zigaretten aus dem Rucksack.

»Sind die Türen nach draußen offen?«

Jetzt nickte er. Bildete ich mir zumindest ein. Verfluchte Dunkelheit.

»Wo gehen Sie hin?«

»Rauchen.«

»Aber der Schaffner sagte, wir sollen drinnen warten. Die Türen hat er nur für die Polizei aufgemacht, naja, und falls mal einer muss.«

»Wenn keine Züge fahren, ist es nicht gefährlich. Und dem Schaffner kann es am Arsch vorbeigehen, was ich tue.«

Ich quetschte mich an dem Plappermaul vorbei und betrat den dunklen Gang. Gähnend schlurfte ich am Fenster entlang und streckte meine müden Knochen. War mal wieder einer dieser Momente, in denen ich mich älter fühlte, als ich war. Sophie beklagte sich liebend gern darüber und zeterte in endloser Manier, weil ich mich in ihren stechend grünen Augen gehen ließ. Hatte doch was im Kopf, motzte sie immer. Warum nicht eine echte Ausbildung beginnen und von vorn anfangen?

Sophie hatte schon damals Probleme mit dem gehabt, was tat. Heute war sie kein Deut besser. Das Telefon hatte sie nur vorbeigebracht, damit sie mir dauernd auf die Nase binden konnte, wie verkorkst mein Leben war. Blöder Penner, schnauzte sie mich immer in ihrem scharfzüngigen Berliner Dialekt an. Hielt es für eine Beleidigung, diese herzensgute Seele von Schwester. Ich bezweifelte, dass sie irgendwann kapierte, dass die Wahrheit keine Kränkung war.

 Behände sprang ich aus dem Waggon. Der nasse Wind kroch mir sofort in den Nacken und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Zudem drang mir ein Geruch in die Nase, der einen bitteren Geschmack im Hals hinterließ. Was mich aber wirklich störte, war der simple Fakt, dass sich hier niemand rumtrieb: Nicht ein einziger Scheinwerfer beleuchtete die Gleise und auch kein Schaffner rannte rauf und runter, um gaffende Leute ins Abteil zu kommandieren. Wenigstens den Wagen der Polizei hätte ich erwartet oder ihre aufdringlichen Stimmen, aber nichts?

Bis auf die Lichter vom nächsten Kaff war die ganze Gegend in nächtlicher Stille versunken und nur durch den Vollmond konnte ich noch meine Hand vor Augen sehen. Wie es aussah, hatte der Zug dort gehalten, wo sich Fuchs und Hase die Pfoten reichten; das Einzige, das sich um uns herum befand, waren Bäume und Büsche in den Ausführungen, wie sie ein Mann zum Pinkeln brauchte: dicht beieinander und abseits der Straßen.

Ich angelte mir aus meiner Hosentasche die Kippen und suchte vergebens nach dem Feuerzeug. Meine Finger fassten durch das klaffende Loch; der Grund meines Mangels an Stauraum. Möglich, dass so etwas für Sophie der Anstoß war, mir Geld zu pumpen. Immerhin, wie stand sie da, wenn ihr einziger Bruder nur eine Hose besaß? Spätestens, wenn sie mich in ihr feines Heim nach Grunewald brachte und den Gestank nicht mehr aus den Zimmern bekam, würde sie die Geldbörse öffnen. Zumindest musste ich darauf setzen. Zu verlieren hatte ich nicht viel.

»Hoppla?« Ein wenig verdutzt hob ich meinen Kopf und blinzelte mir den Schlaf aus den Augen. Wenn ich mich nicht täuschte, war ich Zeuge, wie die Lichter der nahen Ortschaft flackerten. Oder es war gestern doch zu viel Kriegswodka; ich meine, eine komplette Stadt hat Stromprobleme?

»Haben Sie das auch gesehen?«

Der Junge stand jäh in der Tür und hängte seinen Kopf raus. Ungläubig starrte er mich an: seine Visage war im Mondlicht nicht schwer zu erkennen. Sein Gesicht passte zu seiner fiepigen Stimme; er war vielleicht sechszehn oder siebzehn und eine ziemliche Pfeife. Langes Gerippe, kein Fleisch. Erst recht keine Muskeln. Käme heute Nacht der Krieg nach Deutschland, dürfte einer wie der die Feldbetten im Lazarett aufklappen und Mullbinden auswaschen. Der Rückstoß einer G22 hätte ihm die Schulter ausgekugelt.

»Was soll ich gesehen haben?«, tat ich ahnungslos.

»Das Licht! Das ganze Licht war aus. Ich habe mich doch nicht verguckt? Ich meine, jetzt ist es ja wieder an, aber das Licht der ganzen Gegend da hinten?«

»Wir haben auch keinen Strom. Ist vielleicht was Größeres durchgebrannt.«

»Dann haben Sie es gesehen?« Er hangelte sich ungeschickt nach unten. Seine Stiefel knirschten auf dem Schotter; er stolperte, stellte sich zu mir und holte eine Schachtel Pall Mall raus. »Ich finde das unheimlich. Als wäre irgendwas im Gange.«

»Im Gange? Du rauchst das falsche Zeug. Los, gib mir mal Feuer.«

Er reichte es mir und ich zündete mir die Zigarette an. Das Rauchverbot im Zug und auf den Bahnhöfen ging einem auf die Nerven. Dem Teufel sei Dank, waren wir hier im Nirgendwo.

Aus dem Waggon weiter vorn drang plötzlich eine Frauenstimme. Scheinbar hatte der Schaffner alle Türen geöffnet, denn es sprangen drei Jugendliche raus. Als sie uns sahen, winkten sie und kamen auf uns zu.

»Hey. Das ist ein Mist, oder? Die suchen bestimmt jemanden, deswegen dürfen wir hier rumhocken. Von wegen Stromprobleme.« Das Mädchen des Teenietrios quetschte sich zwischen ihre Begleiter und schlotterte im dicken Steppmantel. Die Kapuze bis zur Stirn gezogen, wippte sie immer wieder von einem Bein aufs andere. Dann wandte sie sich dem rauchenden Jungen neben mir zu und grinste ihn breit an. »Lässt du mich mal ziehen?«

»Redest du von den Bullen?«, fragte ich, während die Zigarette ihren Besitzer wechselte.

Sie schüttelte den Kopf. Der Steppmantel raschelte. »Ach, die Polizisten standen nur rum und haben mit ein paar Leuten gequatscht. Ich kann mir nicht vorstellen, was die für einen Auftrag haben. Ich meine die von der Bundeswehr. Die haben Fragen gestellt und sich umgesehen. Bei Peter und Gordon haben sie sogar in die Ausweise geguckt und gefragt, wie sie sich fühlen. Wenn das mal nicht seltsam ist. Übrigens, ich heiße Nina.« Sie zwinkerte mir zu, während ihre beiden Freunde bloß die Hände hoben und aussahen, als würden sie gleich erfrieren.

»Ich bin Niklas«, sagte die lange Pfeife. Auch er hob die Hand, und ich musste mich unwillkürlich fragen, ob das heute in Mode war.

»Und du?«, wollte Nina von mir wissen.

»John«, gab ich zurück und sah an den drei Jugendlichen vorbei. Ganz vorn beim Waggon des Lokführers hatte sich was bewegt. Vielleicht kam jetzt endlich Leben in die ganze Sache und wir könnten weiterfahren. Hatte ohnehin keine Lust, mich mit den ganzen Fahrgästen in Ersatzbusse zu quetschen. Obwohl, wenn ich an den Bahnhof in Hannover dachte: Viele Leute waren nicht zugestiegen und in meinem Waggon war nur das Plappermaul gewesen. Die Glücklichen, die die Strecke mit dem Auto zurücklegten. War kein Geheimnis, dass Züge öfter als gelegentlich zu spät kamen. Nachts hatten darauf die wenigsten Lust.

»Ist dort was?« Niklas folgte meinem Blick, doch ich schüttelte den Kopf.

»Bin mir nicht sicher. Ist wieder verschwunden. Ich gehe mal nachsehen, vielleicht finde ich jemand, der Ahnung hat, wann es weitergeht.«

Ich ließ die anderen stehen und lief an den Waggons vorbei, die einem auf den Bahnhöfen und wenn man es eilig hatte, immer kürzer vorkamen als hier im Dunklen. Unter meinen Füßen knirschte Splitt und der Gestank, den ich vorhin schon gerochen hatte, wurde beißender. Gut möglich, dass in der Nähe ein Schweinehof war. Jedenfalls roch es ekelhaft.

Als ich den vordersten Waggon erreicht hatte, blieb ich einen Moment stehen und wunderte mich, dass weit und breit niemand zu Gange war. Dabei lauschte ich einige Sekunden und hielt Ausschau nach dem, den ich gesehen hatte. Doch es blieb ruhig und nichts regte sich. Ich hörte aber in weiter Ferne einen Hubschrauber, und es dauerte nicht lang, da zischte er über uns hinweg zur Hauptstadt. Ungewöhnlich schnell für einen zivilen Helikopter.

Ich drehte mich um und beobachtete die Umrisse der Teenies. Statt zu ihnen zurückzugehen, stieg ich durch die offene Tür des ersten Waggons.

Im Innern war es nicht viel wärmer als draußen, dafür umso lauter. Etliche Fahrgäste tuschelten miteinander, manche besaßen auch Taschenlampen und leuchteten mich an.

»Ich suche den Lokführer«, sagte ich. »Hat den einer gesehen?«

Ein fetter Fünfziger ließ den Lichtkegel seiner Lampe zu mir wandern. Ich musste mir die Hand vors Gesicht halten, ehe er bemerkte, dass er mich blendete.

»Der ist vorhin mit den Polizisten hier lang«, sagte er laut, als würde er für alle sprechen. Da traf ihn der Lichtkegel und ein anderer Mann, schick in Hemd und Krawatte, schüttelte den Kopf.

»Das war nicht der Lokführer. Das war einer von den Zugbegleitern. Der Lokführer ist schon ganz am Anfang mit einem Soldaten nach draußen gegangen.«

Ich blickte über meine Schulter in die dunkle Fahrerkabine. Die Tür stand leicht vor, weil sie nur angelehnt war. »Kann mir mal jemand eine Taschenlampe leihen?«

»Hier, bitte.« Der fette Fünfziger schleppte sich in den Gang und reichte mir seine. »Aber Sie wollen doch da nicht einfach rein, oder? Das ist sicher nicht erlaubt.«

Ich gab ihm keine Antwort, sondern drehte mich um und ging aufs abgeschottete Abteil zu. Das Licht voraus, beleuchtete ich die Klinke. Hinter uns raschelte es, weil wohl einige der Gäste genug vom Sitzen hatten und allesamt neugierig in den Gang traten. Das laute Atmen des fetten Fünfzigers trieb mir den Ekel in die Kehle, geriet aber in den Hintergrund, weil ein weiterer Hubschrauber laut über unsere Köpfe hinwegschoss.

»Schon der Vierte«, blies mir der Dicke ins Genick. Ich erschauerte. Die anderen beiden hatte ich wahrscheinlich verpennt.

»Auch nach Berlin?«, fragte ich ihn. Derweil griff ich die Klinke und schob die Tür auf. Das Licht der Taschenlampe beleuchtete die Armaturen, aber vom Lokführer war nichts zu sehen. Seine Tasche stand neben dem Stuhl, vollgeschnaubte Taschentücher und ein angebissenes Sandwich lagen drauf. Über der Lehne hing ein schwarzes Jackett. War der ohne Jacke raus?

»Jawohl. Wahrscheinlich so eine Botschaftergeschichte. Da fahren sie immer groß auf.«

Ich sagte nichts dazu und widmete mich den Apparaturen. Alles abgestellt, überlegte ich, während ich das Licht der Taschenlampe durch den kleinen Raum schickte. Auf dem Boden fand ich ein Smartphone Marke Blackberry. Ich hob es auf und wählte kurzerhand Sophies Nummer. Der Dicke sah mich verdutzt an, aber bevor er klagen konnte, hielt ich es ihm ans Ohr.

»Netz überlastet?«, riet er und gab in etwa wieder, was die automatisierte Stimme gesagt hatte.

»Geht hier von irgendwem das Telefon?« Ich zwängte mich am Dicken vorbei und leuchtete über die Köpfe der Gäste hinweg. Die Einzige, die auf meine Frage hin nicht in der Tasche wühlte, war eine alte Frau mit knittrigem Gesicht. Sie saß neben dem Dicken, der sich nun wieder setzte und ebenfalls nach seinem Handy suchte.

»Meins geht nicht.«

»Anschluss nicht erreichbar.«

»Bei mir auch, aber vor einer Stunde ging es auf jeden Fall.«

Das Getuschel untereinander nahm zu, manche standen wieder auf und wedelten mit ihren Telefonen in der Luft herum, als könnte das irgendwas ändern. Mir wurde das Gedränge zu groß, deswegen machte ich kehrt und stieg wieder aus dem Zug. Die Taschenlampe behielt ich ein; wer wusste schon, wie nützlich sie mir noch werden könnte.

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Tag der Veröffentlichung: 02.04.2018

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