Cover

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Skyla Lane

 

Vampires Bleed

Die Vampirin und ihr Jäger

 

Roman

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Heimat,

wo bist du?

 

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Impressum

©2014 by Skyla Lane

Vampires Bleed

skyla.lane@web.de

Königs Wusterhausen, 15711

 

Coverdesign by D-Design Cover Art

 

Prolog


Nicht oft kam ein Mensch auf die Idee, mich nach meinem Namen zu fragen, oder wollte gar wissen, woher ich komme.

„Leonora“, war meine Antwort, hatte man mich ins Gespräch vertieft. „Leonora aus Griechenland.“

„Aus Griechenland?“ Es waren stets die gleichen neugierigen Augen, die über meine blasse Haut huschten. „Du magst die Sonne wohl nicht?“

„Die Nacht mag ich mehr.“

Eine schlichte Erwiderung, wenn auch nicht die Wahrheit. Ich mochte weder die Nacht, noch mochte ich die Dunkelheit. Beide aber gehörten zu mir, und beiden konnte ich nicht entfliehen.

Ich lächelte also, wenn ich meine Antwort gab. Ich dachte an jene hereinbrechende Dunkelheit, die meine Zeit ankündigte. Ich dachte, während ich mit meinem Gegenüber sprach, was sie mir bringen würde; daran, was sie den Menschen brachte. Jene Dunkelheit, die den Gruselgeschichten der Sterblichen ihren Charme verlieh. Sie waren es gewesen, die uns unseren Namen gaben. Mir und meinesgleichen. Wir, die anders sind.

Für die Menschen sind wir nichts weiter als die Protagonisten dunkler Märchen. Gesellen der Verdammnis, sterbend unter dem Licht der schützenden Sonne. Wir sind die seelenlosen Legenden der alten Tage, getrieben durch unsere Gier nach Blut. Der schlimmste Feind, die größte Gefahr. Und zu keiner Zeit bloße Geschichten.

Sie mögen uns vergessen haben, doch wir wissen noch. Und unser Wissen ist ein anderes als das der Sterblichen. Es gründet sich nicht auf Erzählungen, weil es nicht menschlich ist. Unser Wissen ist die einzige Wahrheit, die existiert, wissend, dass uns die Sonne nichts anhaben kann; dass uns nichts aufhält außer jenen, die uns seit Jahrhunderten jagen.

Sie sind der Grund für das Überleben der Menschen. Sie, uns sonst nichts, denn wir bleiben zu jeder Zeit die, die wir immer schon waren.

Ich bin ein Teil davon; ein Teil der düsteren Wahrheit.

Ich bin ein Vampir, und das seit nunmehr zweihundert Jahren.

Der letzte Tag im Juni

 

Noch immer hörte ich die Stimme des Jungen. Längst lag die Weite des staubigen Wüstensands zwischen uns, doch sein Flehen nach Hilfe ließ sich nicht aus meinem Kopf verdrängen. Wie das Echo in den Höhlen des Ayers Rock, klangen auch seine Rufe in meinem Innern nach, wo es etwas zu erreichen suchte, das seit Langem verdorrt war.

Mein Herz.

Für mich war es nicht von Belang, ob ihn die wilden Hunde fressen würden oder ob er einfach verdurstete, gefangenen in den Tiefen des riesigen Sandsteinfelsen Australiens. Es war unwichtig, ob er von mir gewusst und mich um Hilfe angebettelt hatte; ob er kaum ein Mann war oder Eltern besaß, die sich um ihn sorgten. All das interessierte mich nicht, denn ich selbst war die Dunkelheit und das Böse, böser noch als die, die ihn in die Höhlen getrieben hatte.

Der Junge wusste es. Er ahnte es nicht einfach, sondern kannte mein Geheimnis. Vielleicht das Ganze oder nur einen Bruchteil, doch in jedem Fall genug, um sein Schicksal in dem Moment besiegelt zu haben, als er nach mir rief.

„Hilf mir, Vampir.“

„Nein“, hatte ich zornig geantwortet; angewidert, weil ich von einem nutzlosen Sterblichen erkannt worden war.

Sein Flehen hatte er wiederholt, doch ich war davongerannt, als wären mir die wilden Tiere auf den Fersen gewesen. Er aber blieb zurück und fürchtete um ein Leben, das bald schon ein Ende haben würde. Sein Name war nicht von Bedeutung und schon gar nicht die unnütze Geschichte seines Lebens. Nur selten begegneten mir Sterbliche, die von unserer Existenz wussten. Der Junge hatte mich Vampir genannt. Er wusste zu viel, und ein Sterblicher, der zu viel wusste, musste sterben. Das war der Lauf der Dinge.

Das Echo der Jungenstimme verschwand aus meinem Innern. Ich lief entspannter, und Ayers Rock lag mir im Rücken. Obwohl ich mich nicht ein einziges Mal umdrehte, spürte ich seine wachsamen Augen auf mir ruhen. Der Wind trug seine flüsternde Stimme zu mir, und trotz der lauen Böen schienen es wuchtige Stürme zu werden, sobald sie mich erreichten. Ich aber ging weiter, Schritt für Schritt. Die Sonne näherte sich dem Horizont und ich ärgerte mich, dass ich nun nicht mehr auf dem großen Monolithen sitzen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte. Stattdessen zwang er mich, den staubtrockenen Sand des australischen Outback zu durchqueren. Das triste Land inmitten vom Nichts, das nur für diejenigen in vollkommener Schönheit strahlte, die wirklich hinsahen. Hier war es einsam und ruhig; es war lebendig und voll von greifbarer Wirklichkeit. Gegensätze, die mich anzogen und berauschten, denn in meinem ganzen Dasein war ich immer auf der Suche nach etwas gewesen, was mich mit Harmonie und Frieden erfüllen konnte. Nie hatte ich einen solchen Ort gefunden, doch dieser kam ihm sehr nah.

Jahr für Jahr zog es mich nach Australien zurück – in den Schatten, wenn es zu heiß wurde, und auf den roten Monolithen, wenn sich die Sonne von den Menschen trennte. Dann träumte ich von einer Welt, die sich mit meiner Existenz nicht vereinbaren ließ, und die dennoch für die wenigen Minuten existierte, in denen Ayers Rock und ich Eins wurden im Schatten der untergehenden Sonne.

Gleichwohl war ich ein Wesen der Dunkelheit; eine Gestalt der Nacht, genannt Vampir. Ich gierte nach Blut und verzehrte mich nach den Menschen. Gott schuf die Welt in Sieben Tagen, und Sieben Tage lang konnte ich es hinauszögern, ehe ich einem seiner Geschöpfe auflauerte und tötete. Am Ende blieb ich ein Raubtier, das nur für sein eines Ziel existierte. Auch wenn ich mein Dasein hasste, meinesgleichen verachtete, den Tag nicht mied und von Zufriedenheit träumte – Raubtiere ohne Krallen blieben Raubtiere, und ihre Zähne waren trotz allem scharf wie Klingen. Ich wusste das, denn meine Menschlichkeit hatte ich schon vor langer Zeit verloren, genau wie mein Herz. Nur ein Stück meines Gewissens war mir am Ende geblieben.

In einem Moment des Zögerns hielt ich inne und drehte mich dem Antlitz des mächtigen Monolithen zu, der sich inmitten des Nichts erhob und dennoch jeden glauben machen wollte, er wäre der Nabel der Welt. Sooft war ich auf ihn geklettert, sooft hatte ich von ihm hinab geschaut – und nun schien es seine uralte Stimme zu sein, die mich rief.

Der Altehrwürdige bat mich nicht um Hilfe oder flehte mich gar an. Er sah einfach nur von oben auf mich herab, als würde er sagen wollen:

„Ich habe dich gerufen, damit er überleben kann.“

 

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Ich bezweifelte, dass er noch auf dem Felsvorsprung saß und die wilden Tiere es nicht geschafft hatten, ihn zu reißen. Obwohl ich mich beeilte, hatte ich schon zu viel Zeit verloren. Der Weg war weit und die Höhlen lagen im Dunkeln. In einem verzweigten System aus Gängen und Sackgassen fand selbst ich mich nicht schnell genug zurecht. Ich verirrte mich, kam wieder auf den richtigen Pfad, verirrte mich wieder. Die Zeit rannte davon, und von allen Seiten hörte ich das widerhallende Fauchen der Hunde. Nur die Schreie des Jungen waren verstummt.

Die Gänge verengten sich und die herabhängenden Felsen reichten tief. Ich kehrte um und versuchte es erneut: Ein weiterer Weg führte ins Nichts, ein anderer tiefer ins Innere.

Ich tastete mich mühevoll voran und blieb abrupt stehen, als ich endlich die richtige Höhle fand. Vor mir wachte das Rudel, das sich auf sein Opfer fixierte. Der Junge kauerte noch immer auf dem Felsvorsprung und schien von mir keine Notiz zu nehmen. Die Tiere aber, dich sich wie Bestien gebaren, bemerkten mein unwillkommenes Erscheinen und stierten mich knurrend an.

Bevor sie mich erwischten, kletterte ich unweit des Jungen in Sicherheit. Gierige Augen und schwarze Mäuler folgten meinen Bewegungen wie wartende Aasgeier. Allein das beschrieb sie am besten. Das Rudel war der sichere Tod.

„Bist du das? Bist du wieder da?“

Seine hohe Stimme bereitete meinen Ohren Schmerzen. Zwischen all dem tiefen, grölenden Lauten in der Höhle kam es einem Glöckchen gleich, das neben einer Turmuhr erklang. Es mochte rührend und lächerlich zugleich sein, kündete von der Winzigkeit der Sache selbst und blieb doch das Läuten eines kleinen, hellen Glöckchens.

Auch das konnte zum Lauf der Dinge gehören, redete ich mir ein. Vampire, die auf Felsen saßen und Menschen beim Sterben zusahen. Es war sicher nicht meine Art, mich einzumischen. Doch in meinem tiefsten Innern spürte ich, dass mich die Versuchung kitzelte, ihn nicht zurückzulassen. Heute war ein anderer Tag, und seit vielen Jahren passierte wieder etwas, das nicht vorhersehbar gewesen war. Nicht gleich, wie sonst, und vielleicht deshalb der Grund, warum ich zurückkehrte, als mich die Stimme des Monolithen rief. Vielleicht der Abwechslung wegen; vielleicht, weil der Junge anders schien; oder vielleicht, weil ich ein Gewissen besaß, und ganz tief in mir auch noch ein Stück meines Herzens.

 

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Eine halbe Stunde verging, in der ich mich dem Jungen nicht zeigte und es dabei beließ, ihm beim Fürchten zuzusehen. Er schlug sich wacker, denn nur einmal hatte er aufgeschrien, weil ein paar der Hunde ihre Krallen am Felsen gewetzt hatten. Ich war mir sicher, dass er blind wie ein Maulwurf sein musste, denn er hätte längst geweint, hätte er mit meinen Augen gesehen. Dass er es auf den Felsen geschafft hatte, war eines dieser eigenartigen Menschenwunder, doch andererseits war er dürr und schlaksig und konnte sicher schnell rennen. Nur Muskeln fehlten ihm, wahrscheinlich auch Verstand. Unwahrscheinlich, dass er gegen die Tiere eine Chance besaß. Seine Gabe schien mir eher im sinnlosen Nichtstun zu liegen.

Die Wildhunde dagegen zeigten langsam ihre Ungeduld. Auch ich konnte im Dunkeln nicht alles sehen, doch es reichte, um mir von ihnen ein Bild zu machen.

Das Rudel bestand aus fünf Tieren, die allesamt das gleiche, zottligbraune Fell besaßen. Entweder waren sie ihren Herren schon vor langer Zeit entlaufen oder wurden nicht gepflegt, denn überall an ihnen klebte der eigene Kot. Sie stanken so erbärmlich nach Dreck und Urin, dass es mir beinah Tränen in die Augen trieb. Mir schenkten sie mittlerweile wenig Aufmerksamkeit, den Jungen dagegen stierten sie unentwegt an. Das seltsamste an ihnen aber waren diese Augen, die nichts mit den Hunden gemein hatten, die ich kannte.

Am Menschen fiel mir nichts außergewöhnliches auf. Abgesehen davon, dass er meine Anwesenheit zuvor erraten hatte, war er der typisch australische Junge von nebenan. Etwas zu dürr für meinen Geschmack, aber nicht wirklich unattraktiv. Sein Haar bestand aus blonden Fransen, die er nicht zu kämmen wusste; seine Kleidung war abgetragen und zwei Nummern zu groß, sein hageres Gesicht dagegen freundlich. Seine Augen aber, von denen ich nicht viel erkennen konnte, schienen etwas zu verbergen.

Ich überlegte in einem schwachen Moment, ob ich mit ihm sprechen sollte, doch weil dazu noch kein Anlass bestand, nahm ich mich zurück. Meine Einmischung war ihm unbemerkt geblieben, darum stand es mir noch frei, davonzurennen und ihm seinen Schicksal zu überlassen. Gäbe es noch ein Zurück, wenn ich einen Schritt nach vorne tat? Für Vampire gab es ihn immer, doch ich hatte mich im Laufe der letzten Jahrhunderte so weit von meiner eigenen Art distanziert, dass ich verunsichert war. Vorerst wollte ich mich damit begnügen, weiterhin die erbärmliche Gestalt zu beobachten; es war ein bisschen, als würde ich auf welkende Blumen blicken. Am meisten störte mich, dass diese Blume in mir das Gefühl von Mitleid weckte.

Während ich still meinen inneren Kampf ausfocht, kam erneut Regung ins Rudel. Ein Rüde urinierte am Felsen und erregte damit die Aufmerksamkeit eines anderen. Zuerst bekundete der seine Wut mit gehaltvollem Knurren, doch weil der andere sich nicht unterordnen wollte, kamen sich die beiden immer näher, stellten ihre borstigen Nackenhaare auf und fletschten die Zähne. Das gesamte Rudel wurde von der Angriffslust des einen gepackt, lief durcheinander und ging plötzlich aufeinander los. Fünf Tiere bissen sich ineinander fest, kratzten und krallten sich, und brachten nicht nur den Sterblichen zum Weinen, sondern alarmierten auch meinen instinktgetriebenen Argwohn. In ihren Augen sah ich nun mehr als den verwilderten Hund; ich sah die besessenen Bestien in ihnen.

Besessene Tiere waren auch unter uns Vampire keine willkommene Gräueltat der Natur. Die Geschichten, wir würden sie heranzüchten, waren nur lächerlicher Aberglaube. In Wahrheit fürchteten wir sie wie die Menschen, weil sie ihre Kraft auch am Tage nicht verloren. Nachts und gegen einen einzelnen hatten wir leichtes Spiel; tagsüber jedoch zerfetzten sie uns wie die Wölfe wehrlose Hasen. Allerdings waren sie selten; Besessenheit vererbte sich nicht in den Genen. Und meistens schritten die Venatoren ein, bevor die Menschen von ihnen Wind bekamen. Venatoren kümmerten sich um alles, das Sterbliche angriff, und obwohl sie genauso verstreut lebten wie wir Vampire, unterstanden sie doch einer Hierarchie: einer organisierten Macht, die sich dem Tod der dunklen Kreaturen verschrieben hatte.

„Geht weg!“

Der Aufschrei des Jungen ließ mich erschrecken, so sehr war ich in Gedanken vertieft gewesen. Schlagartig drehte ich mich ihm zu und bemerkte in letzter Sekunde, wie sich einer der Hunde von den anderen getrennt hatte und am Felsen hinaufgekletterte. Sein Maul hatte der Wildhund weit aufgerissen, gierig auf das Fleisch des Sterblichen, den sogar ich unter all dem Gestank wahrnehmen konnte. Sabber tropfte raus, vermischt mit Blut vom letzten Kampf. Ich hörte das Geräusch, als eine seiner Krallen brach, gefolgt von seinem schmerzhaften Winseln. Doch obwohl der Hund erneut an einer Kante abrutschte und sich einen spitzen Fels in den Unterleib rammte, trieb ihn der Hunger nach oben. Er hatte mehr erreicht als seine besessenen Freunde; er würde sich den Jungen schnappen und das Kerlchen allein genießen.

Ich sollte gehen, dachte ich. Ich sollte verschwinden, bevor es mich erwischte.

Aber ich verschwand nicht. Für die Kluft zwischen mir und dem Menschen brauchte ich keinen Anlauf; ich sprang hinüber, landetet weich auf meinen Füßen und stieß dem heraufkletternden Hund so mächtig ins Gesicht, dass er rücklings herunterfiel. Jaulend kam er unten auf, heulte aus tiefster Kehle und wurden von den anderen bemerkt. Was dann kam, jagte sogar mir einen Schauer über den Rücken; ich wandte mich ab, als sie den verwundeten Hund auseinanderrissen und fraßen. Vielleicht ahnte der Mensch, was sich vor sich ging. Jedenfalls begann er zu wimmern.

„Hör auf damit, Sterblicher! Bist du ein Kind oder ein Mann?“

Der weinende Junge sah mich schlagartig an. Er konnte nur ahnen, wo ich mich befand, und dennoch trieb mir sein Gesichtsausdruck eine Gänsehaut über die Arme. Er ist nur ein Mensch, sagte ich mir. Nichts weiter, nur ein Mensch.

„Du weißt also von uns. Wer bist du?“

„Matt“, antwortete er mit einer ängstlich, quietschenden Stimme. „Matthew Evans aus Sydney.“

„Du bist weit von zu Hause weg, Matthew Evans. Was treibt dich ins Outback?“

Matthew zitterte gewaltig. Er hievte sich auf die Beine und drückte sich fest gegen die Höhlenwand. Seine Augen sahen an mir vorbei, doch als er wieder sprach, wirkte er seltsam erleichtert.

„Ich bin mit einem Freund verabredet gewesen. Aber hör zu, das dort unten sind keine Hunde. Keine Ahnung, was die sind, aber irgendwas stimmt nicht mit ihnen.“

„Ich weiß. Das nennt man besessen. Noch nie davon gehört?“

„Besessen?“, wiederholte Matthew langsam. Auch das trieb mir eine Gänsehaut über die Arme. Diese Langatmigkeit der Sterblichen; für alles brauchten sie ewig, vor allem, wenn es ums Begreifen ging.

„Ja, Matthew Evans, besessen. Und jetzt erkläre mir, warum ich dir grade das Leben gerettet habe.“

„Hast du das?“

„Kommt drauf an, wie es ausgeht.“

Der Junge nickte mir zu, als Danke er mir. Das kam mir suspekt vor und ich runzelte irritiert über seine Geste die Stirn.

„Kannst du sehen, was die vorhaben? Sagst du es mir bitte?“

„Im Moment sind sie mit anderen Dingen beschäftigt. Du hast etwas Zeit, dir über deine Alternativen im Klaren zu werden. Ich würde vorschlagen, du nimmst die Beine in die Hand und rennst, so schnell du kannst. Wenn du viel Glück hast, sind deine Chancen gut.“

„Denkst du wirklich?“

Ich blickte über den Rand des Felsens. Vier Augen glotzten jäh zurück.

„Nein, ich habe mich geirrt. Du hast keine Chance, ihnen zu entwischen.“

Matthew atmete tief durch und tat, als könne er sich trotz der Finsternis umsehen. Nutzlos wollte er sein wimmerndes Gesicht vor mir verbergen, doch mein Gehört war exzellent und ich bemerkte jedes noch so kleine Winseln.

„Wie heißt du?“, fragte er mich unerwartet.

„Mein Name braucht dich nicht zu interessieren. Lass uns lieber darüber sprechen, woher du weißt, was ich bin.“

Er schreckte bei meinen eisigen Worten nicht zurück. Vielmehr lauschte er auf das schmatzende Geräusch der Hunde, bis seine Miene aufgebläht wirkte und ich jeden Moment damit rechnete, dass er sich übergab.

„Was fressen die?“

„Einen von ihnen. Sei froh, es verschafft dir Zeit.“

„Zeit wofür?“

„Zeit, um mit deinem Leben abzuschließen.“

„Bist du deswegen wieder hier? Weil du mich zuerst töten willst?“

Noch immer klang er nicht wie ein Mensch, der seinem ärgsten Feind ins Auge sah. Er fragte mich, ob ich ihn töten wollte, zitterte aber nur wegen dem Rudel statt wegen mir.

„Du bist kein normaler Junge, hab ich recht? Wer bist du, Matthew Evans?“

„Matt Evans, Ma’am. Matt Evans aus Sydney. Nur ein Mensch, sonst nichts.“

„Ein Mensch, der einen Vampir weniger fürchtet als ein besessenes Rudel? Ich stehe neben dir, Sterblicher. Ich rieche deine Angst und dein Blut. Wie leicht wäre es für mich, dich hier und jetzt zu töten? Aber das weißt du, nicht wahr? Also verrate mir, junger Mensch, wieso macht dir das keine Angst?“

„Willst du mich denn töten?“, stellte er mir die Gegenfrage.

Überrascht musterte ich ihn. Witziges Bürschchen, dachte ich. Und gar nicht so dumm wie er aussieht. Mutiger, als ich erwartet habe.

„Nein“, antwortete ich ihm schlicht. „Das will ich nicht.“

Seine hagere Miene erhellte sich. Er ließ sich wieder auf den harten Felsen sinken und holte ein Handy aus der Hosentasche. Seufzend hielt er es mir entgegen.

„Kein Empfang und mein Akku ist auch gleich leer. Ich bin jetzt seit vier Stunden hier drin. Wäre mein Freund in der Nähe, hätte er mich gefunden und gerettet. Ich – ich habe Angst, dass ihm was passiert ist. Er ist noch nie zu spät gekommen.“

„Dein Freund“, presste ich durch meinen Kiefer hindurch, weil die Erkenntnis in mir Dämmerte. „Dein Freund, wer ist er?“

„Malik McCaw. Hast du schon von ihm gehört?“

„Malik“, zischte ich und ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. „Ein starker Name für einen starken Mann. Du glaubst, er könnte dich retten? Fürchtest das Rudel, aber keinen Vampir? Du ziehst das Bekannte, dem Unbekannten vor, nicht wahr, Sterblicher? Dein Freund, ist er wie ich? Oder ist er einer von ihnen?“

Ich musterte sein kindliches Gesicht, als er mich wieder ansah und Zeit für eine Erwiderung brauchte. Doch dann nickte er einfach und schien nicht versucht, mich anzulügen.

„Einer der Venatoren, also. Verstehe. Wäre es nicht klüger gewesen, wenn du mich angelogen hättest? Wenn du behauptet hättest, der Bluthund wäre gleich hier?“

„Dann wärst du schon gegangen, und ich wieder allein.“

Aus meiner Kehle drangen die wütenden Laute eines Vampirs, der sich überrumpelt fühlte. Mit Genuss bemerkte ich Matthews Gesicht von einer Sekunde zur nächsten erbleichen. Er kam wieder auf die Beine und warf mir einen Blick voller Angst zu; so wie ich es genoss. Doch statt zu tun, wozu ich existierte, zügelte ich meine Wut und drehte mich von ihm weg, weil er ein Gefühl in mir auslöste, das ich verachtete. Das Gefühl, ihm nicht überlegen zu sein.

„Ich heiße Leonora, Matthew Evans aus Sydney. Und du hast recht: du brauchst dich nicht vor mir fürchten. Das können nicht viele von sich behaupten, darum sieh es als Ehre an.“

Der Mensch ließ erleichtert die Schultern hängen. Er wirkte nun noch beklagenswerter.

„Wirst du mir helfen, Leonora?“, fragte er mich im kindlichen Ton.

„Nein“, sagte ich und blickte hinunter zu den dämonischen Wildhunden. Es war die einzige Antwort, die ich geben durfte.

Langsam schritt ich zu der vorderen Felskante und seufzte leise auf, als sich meine Augen mit denen des Rudels trafen.

„Bleib hier oben bis der Bluthund kommt. Jäger sind stark und sterben nicht so leicht. Wenn er dein Freund ist, wird er dich retten. Und vielleicht hast du Glück und sie folgen mir. Andernfalls hoffe, dass der Bluthund dich findet, bevor sie einen Weg hier rauf gefunden haben.“

Ich wusste nicht, wieso ich das sagte, doch irgendwie schien es mir wichtig. Ich wartete keine Antwort ab, sprang leichtfüßig vom Felsen und verschwand in die Finsternis.

 

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Ich konnte behaupten, dass ich mit meinen zweihundert Jahren nicht mehr die Jüngste war, selbst für einen Vampir. Und auch, wenn ich diese zweihundert Jahre größtenteils allein verbracht hatte, so habe ich doch einige andere Vampire getroffen und kennengelernt.

Vor etwas mehr als fünfzig Jahren zog ich eine Weile mit Elisabeth Dagmari durch die Gegend. Wir waren in etwa gleich alt, besaßen ähnliche Ansichten und verstanden uns gut. Damals war ich noch sorgloser gewesen und wir reisten vorwiegend durch Krisengebiete, führten Listen über Kriegsverbrecher und feierten alle paar Tage eine kleine Blutparty.

Später kamen wir nach Algerien. Die einheimische Bevölkerung bekämpfte die französische Besatzungsmacht und wir witterten Dutzende Appetithappen. Wir störten uns nicht am Krieg, denn die Konflikte der Menschen gingen uns schon lange nichts mehr an. Als Vampire besaßen wir nur ein schwaches Gewissen. Natürlich gab es Ausnahmen, aber Elisabeth und ich mischten uns nie ein.

Es war an einem sehr warmen Samstag, wenn ich mich richtig entsinne. Ich war alleine unterwegs und lief durch eine zertrümmerte Siedlung. Damals war ich noch öfter hungrig gewesen, deswegen hielt ich Ausschau nach etwas Brauchbarem.

Ich erinnere mich noch heute wie gestern, dass am Ende der Straße ein kaputtes Haus stand. Mein Geruch hatte mich dorthin geführt. Ich ging ins Haus hinein und folgte meiner Gier nach frischem Blut. Überall lagen brüchige Steine herum, Schilfrohr und bröckelnder Lehm. Von den Tischen und Stühlen, erbaut aus billigem Holz, waren nur die verkohlten Überreste zu finden. Niemand hätte unter all den Trümmern Überlebende vermutet, doch ich konnte ganz nah das schwache Klopfen zweier Herzen hören. Schließlich fand ich eine Frau, eher noch ein Mädchen, das mich durch ihre großen Kulleraugen wie einen rettenden Engel betrachtete.

„Du stirbst“, bemerkte ich, um die Stille zu durchbrechen. „Ich beende es für dich. Du brauchst nicht leiden.“

„Hilf mir“, bat sie. Es klang auf eine unwirkliche Art und Weise ernüchternd. „Ich bitte dich.“

Obwohl es gegen meinen Instinkt ging, schaute ich auf ihre Wunden. Auf meiner Zunge sammelte sich die Flüssigkeit, während ich das viele Blut beobachtete, das langsam aus ihrem Oberschenkel sickerte.

„In deinem Bein steckt ein großes Stück Eisen. Wenn ich den Pfeiler darunter bewege, wirst du verbluten. Wenn du nicht verblutest, wirst du an der Entzündung sterben. Dich lebend herauszuholen, wäre schon sehr mühsam. Zu überleben eigentlich unmöglich.“

„Ich bitte dich nicht, mir zu helfen“, sagte sie darauf. Ihr nüchterner Ton verflüchtigte sich und sie begann doch zu weinen. „Hilf nicht mir, hilf nur meinem Baby.“

Ich sah auf das eingewickelte Bündel neben ihr. Ich hatte recht behalten; es waren zwei Herzen, die mich hergeführt hatten.

„Mein Baby ist nicht schwer verletzt, aber es braucht Hilfe. Bring mein Baby zum Arzt. Bitte, bitte tu es. Bring es in Sicherheit!"

„Aber du wirst trotzdem sterben", gab ich zurück.

„Das ist egal“, flüsterte sie plötzlich, und ich glaubte, auch alles andere um mich herum wäre stiller geworden. Das Knarren der Hütte, das Herunterfallen von losem Gestein; alles verstummte zu Ehren einer sterbenden Mutter.

„Rette nur mein Baby.“

Eine ganze Weile starrte ich auf das verhüllte Kind und horchte auf sein kleines Herz, das schwach pochte und um sein Leben kämpfte. Als ich meinen Blick löste und zurück zum Mädchen sah, war es wieder bewusstlos geworden. Ich nahm das Bündel an mich und brachte es aus der Ruine.

Unterwegs begegnete mir Elisabeth, die mich fassungslos ansah. Sie wollte von mir wissen, woher ich das Kind hatte und wieso ich es bei mir trug. Ich erzählte ihr von der Bitte der Mutter, doch sie schüttelte nur den Kopf, und es schien, als hätte sie mir das Kind am liebsten entrissen.

„Wir mischen uns nicht ein, Leonora“, sagte sie aufgebracht. „Wir sind nicht für das Elend der Menschen verantwortlich, wir sind nicht ihre Beschützer.“

„Es wird sterben, wenn ich es zurücklasse“, erwiderte ich ruhig, damit es nicht aufwachte.

„Es wird doch immer jemand sterben, Leonora. Selbst wenn wir einen retten, werden wir andere zurücklassen müssen. Du kannst nicht entscheiden, wer leben und wer sterben soll. Wir leben ewig, und bis in alle Ewigkeit könntest du den Menschen helfen. Aber wenn du dem einen hilfst, wird der andere ohne Hilfe bleiben. Damit dürfen wir nicht beginnen, lass es liegen, ich bitte dich!“

Sie verfluchte mich, als ich den Kopf schüttelte und weiterlief. Ich brachte das Kind zu einem Arzt, und Elisabeth Dagmari sah ich nie wieder. Aber ich erinnerte mich später oft an ihre Worte, weil das Baby noch in dieser Nacht tot in seiner neuen Wiege lag. Doch hätte ich das Kind zurückgelassen und stattdessen der Mutter geholfen, hätte ich vielleicht einem anderen Menschen das Leben gerettet. Schließlich aber hatte ich falsch entschieden, und am Ende waren beide gestorben.

Seit jenem warmen Samstag habe ich mich nie mehr mit den Menschen abgegeben. Elisabeth hatte recht, und so interessierten mich die Belange der Sterblichen nur noch äußerst selten.

Aber heute war ein anderer Tag, und aus einem absurden Grund interessierte mich der Feigling Matthew Evans. Er hatte keine Chance, nicht nachdem, was ich gesehen hatte, als ich aus der Höhle des Ayers Rock geflüchtet war.

Ein weiterer wilder Hund, größer und gefährlicher, als ich je einen Hund gesehen habe; mit Zähnen, die scharf glänzten wie die eines trinkenden Vampirs. Seine Pranken, die klauenartigen Krallen – alles an ihm war unnormal. Kein Hund, nein, eine Bestie mit Verstand und blutgierigen Gedanken.

Ich hatte den Ausgang der Höhle erreicht, da nagte es an mir, und auch jetzt, wie ich im Wüstensand stand und die frische Luft roch, ließ es sich nicht verbannen.

Menschen nannten es Gewissen, doch mir war es ein lästiger Fluch. Es war nicht meine Aufgabe, den Jungen zu retten, weil der Freund meines Feindes doch auch mein Feind war. Aber warum tat ich mich so schwer damit, ihn als Feind zu Betrachten? Er war ein Niemand, ein Nichts. Nur ein Mensch unter Milliarden.

Und er war verloren, wenn ich ihm nicht half.

Verschwinde von hier, hörte ich meinen Verstand, der mir wütend gegen das Innere meines Schädels schlug.

Kehre um, sagte dagegen mein Gewissen, als ich unschlüssig stehen blieb.

Hilf ihm, bat der leise Wind, die Stimme des roten Monolithen.

Mein Gewissen nickte dem Winde zu, und da jagten sie den Verstand zum Teufel.

 

Ende der Leseprobe

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.01.2014

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